Julia präsentiert Weiße Weihnachten Band 2

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FEST DER LIEBE MIT DEM SINGLEDAD von ANNIE O'NEIL
Lichterglanz und Lebkuchenherzen: Mit einem Besuch auf dem Weihnachtsmarkt will Kiara dem verwitweten Dr. Lucas Wilde und seinem Sohn spontan eine Freude machen. Da überrascht der attraktive Singledad sie mit einem verlangenden Kuss. Aber ist er schon bereit für eine neue Liebe?

DU BIST DAS ALLERSCHÖNSTE GESCHENK von KARIN BAINE
Sophie stockt der Atem: Bei einem Noteinsatz kurz vor Weihnachten trifft sie ihre Jugendliebe Roman wieder. Einst hat der sexy Abenteurer ihr das Herz gebrochen – diesmal muss sie ihm widerstehen! Nur wie, wenn nicht nur das Feuer im Kamin immer verführerischer knistert?

NEUE HOFFNUNG UNTERM MISTELZWEIG? von ANN MCINTOSH
Ein Findelkind vor Carey House! Als die leitende Hebamme Nya sich mit ihrem guten Freund Dr. Theo Turner um die kleine Hope kümmert, wird sie jäh von ungeahnter Sehnsucht überwältigt. Hat das Schicksal ihr die Familie beschert, nach der sie sich bislang vergebens gesehnt hat?

PLÖTZLICH WERDEN WUNDER WAHR ... von RACHEL DOVE
Woher kommt plötzlich dieses unwiderstehliche Verlangen nach den zärtlichen Umarmungen von ihrem Kollegen Ash? Singlemom Marnie wünscht sich insgeheim, dass er sie nie wieder loslässt! Doch Ash wird bald fortgehen aus der Stadt – es sei denn, es geschieht ein Weihnachtswunder …


  • Erscheinungstag 21.10.2023
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783751522717
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

ANNIE O’NEIL, KARIN BAINE, ANN MCINTOSH, RACHEL DOVE

JULIA PRÄSENTIERT WEISSE WEIHNACHTEN BAND 2

1. KAPITEL

„Schneeglöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit …“ Kiara klebte eine Schneeflockenschablone auf das Fenster und schüttelte jetzt entschlossen die Spraydose. „Komm setz dich ans Fenster …“

Sie besprühte ein weiteres Dutzend Schablonen und summte dabei Weihnachtslieder, bis ihre Fenster voller Schneekristalle hingen. Die Wirkung wäre noch zauberhafter, wenn draußen echter Schnee fiele. Aber das Wetter war etwas in Kiaras neuem Leben in Cornwall, das sie nicht bestimmen konnte.

Obwohl …

Sie könnte noch ein wenig mehr in die Weihnachtsdeko investieren als ohnehin schon und zum Beispiel künstlichen Schnee kaufen. Oder … oh! Eine Schneemaschine. Schließlich heiligte der Zweck die Mittel, rechtfertigte sie sich schnell. Immerhin diente der ganze Schmuck einem guten Zweck.

Als Hebamme kannte sie sich mit der Beschaffung von Geräten aus. Die Wohltätigkeitsorganisation First Steps, für die sie arbeitete, unterstützte Familien bei der Anschaffung von medizinischen Geräten für Neugeborene. Beatmungsgeräte, spezielle Kinderbettchen, Monitore zur Überwachung der Atmung, alles, was den Kleinen in ihrem eigenen Zuhause ein glückliches und gesundes Leben ermöglichte.

Kiara zog ihr Handy aus der Tasche und setzte „Schneemaschine“ auf die unendlich Liste mit Weihnachtsschmuck.

Zufrieden lächelnd setzte sie sich auf die Armlehne ihres neuen Sofas und bewunderte ihr Werk. In ihrem Haus sah es bereits aus wie einen Tag vor Heiligabend. Strümpfe? Erledigt. Schornstein? Erledigt. Baum, Plätzchen, Krippe, kleines Leuchtrentier und Einhörner? Erledigt.

Sicher, es war erst Anfang November. Und ja, sie war sich der Seitenblicke einiger Dorfbewohner bewusst, die sich offenbar fragten, ob die Neue verrückt war. Sie war nicht verrückt, nur neu – und ein bisschen einsam. Auf diese Weise wollte sie hier Fuß fassen, indem sie ihr Cottage gemütlich einrichtete und auf Weihnachten vorbereitete. Vor allem weil sie von ihrem Fenster nicht länger auf die vertraute und lebhafte Straße in London blickte.

Sie drehte sich um und sah aus ihrem neuen Vorderfenster. Durch all die künstlichen Schneeflocken hindurch erkannte sie den klaren blauen Herbsthimmel über Carey Cove. In der warmen Nachmittagssonne leuchteten die Blätter in verschiedenen Rot-, Orange- und Gelbtönen und segelten sacht zu Boden. Die Bäume waren zwar noch nicht ganz entlaubt, doch es lag schon genügend Laub am Boden, in dem sie auf ihrem Weg in den Ort rascheln konnte. Sie unternahm täglich Ausflüge zu der Hauptstraße, wo sie die wenigen Geschäfte erkundete, die zum Glück weit weg von London waren.

London.

Dies war das erste Jahr, in dem sie nicht dort war, wenn die Weihnachtsbeleuchtung eingeschaltet wurde. Kein Besuch im Pub, um mit Freunden und Familie auf die Feiertage anzustoßen. Kein Spaziergang durch die festlich beleuchteten Straßen Londons, Arm in Arm mit ihrem Freund, vorbei an all den Geschäften, deren Eingänge geschmückt waren mit Zweigen von – Stopp!

Sie lebte nicht mehr dort. Sondern hier, in diesem Bilderbuchort Carey Cove. Ein wunderschönes Dorf am Meer, das so ganz anders war als das große, überfüllte London, wo man sich viel zu leicht in erstaunlich talentierte Chirurgen verlieben konnte. Chirurgen, die nicht nur durchdringend blaue Augen und flachsblonde Haare hatten, sondern auch Lügner waren.

Als habe es den Misston gespürt, der ihr noch zerbrechliches neues Leben überschattete, meldete sich ihr Handy mit dem verräterischen Klingelton ihrer Mutter – einem Bollywood-Song, den ihre Mum immer begeistert falsch sang, mit einer Stimme, die Kiaras ähnelte.

„Hallo, Mum. Perfektes Timing, wie immer.“

„Hallo, Liebling …“ Ihre Mutter klang sofort besorgt. „Alles in Ordnung? Ich störe doch nicht?“

„Überhaupt nicht. Ich wollte sagen, es ist einfach schön, deine Stimme zu hören.“

Und das stimmte. Auch wenn sie schon achtundzwanzig war und seit Jahren ein eigenständiges Leben führte, stand sie als Einzelkind ihren Eltern sehr nahe. Ihre Mutter hatte ihr in den vergangenen zehn Monaten endlos Taschentücher in die Hand gedrückt. Und sie hatte sich auch nicht gescheut, ihre Bedenken zu äußern, als Kiara verkündete, an einen anderen Ort ziehen zu wollen, da der Wechsel in ein anderes Krankenhaus in London ihren Schmerz nach der gescheiterten Beziehung nicht lindern würde.

Ein neues Zuhause an einem neuen Ort. Weit weg von London. Selbst ihr Vater, der sich sonst nichts anmerken ließ, hatte seine Sorge ausgedrückt, dass es vielleicht nicht die vernünftigste Entscheidung war, eine fünfstündige Zugfahrt von ihrer Familie in London entfernt zu leben.

„Geht es dir gut?“, fragte ihre Mutter und holte nicht einmal Luft, bevor sie hinzufügte: „Du weißt, dass du jederzeit zurückkommen kannst.“

„Was?“ Allein bei dem Gedanken, wieder von hier fortzugehen, wurde Kiara kalt. „Nein, Mum. Es gefällt mir hier sehr gut, wirklich. Außerdem habe ich den Arbeitsvertrag für Carey House bereits unterschrieben.“

Ihr Blick flog zu dem Hügel und den Baumkronen. Durch die nur noch schwach belaubten Äste konnte sie die goldenen Spitzen der Schornsteine an dem zum Krankenhaus umgebauten Cottage sehen, das alle Blicke in dem Hafenstädtchen auf sich zog. Zum ersten Mal in ihrem Leben lebte und arbeitet sie in einem Ort, der so klein war, dass sie tatsächlich jeden beim Namen kennen würde.

Nachdem ihr Leben im letzten Jahr zerbrochen war, hatte Kiara den Drang verspürt, das riesige Krankenhaus mitten in der Stadt zu verlassen, in dem sie fünf Jahre gearbeitet hatte. Scham und Reue hatten sie dazu getrieben. Und Wut. Sie hatte eine ganze Reihe von befristeten Stellen in Geburtsstationen überall in London angenommen in der Hoffnung, irgendwo irgendetwas zu finden, das ihr das Gefühl gab, ihr Leben wieder neu in Angriff zu nehmen.

Schließlich hatte sie es gefunden. Hier in Carey Cove. Und sie konnte es kaum erwarten, ihre neue unbefristete Stelle als Hebamme in Carey House anzutreten.

„Ich mache doch keinen Rückzieher, bevor ich überhaupt angefangen habe.“ Kiara legte die Zuversicht in ihre Stimme, die ihre Mutter zu hören hoffte, wie sie wusste. „Das Letzte, was Carey House jetzt braucht, ist zu wenig Personal, wenn all die Valentinstag-Babys auf die Welt kommen.“

Ihre Mutter stieß einen Laut der Verwirrung aus. „Tut mir leid, Liebes, das verstehe ich nicht ganz.“

Kiara lächelte. „Du kannst doch zählen, Mum. Ein Abend am 14. Februar mit Wein, Blumen und Romantik führt im November zu …?“

„Zu einem Baby!“ Ihre Mutter lachte, ehe sie vorsichtig noch einmal auf ihr Thema zurückkam. „Ich will einfach nur sicher sein, dass du dich stark genug fühlst, nach all dem, was …“

Kiara fiel ihr ins Wort, bevor ihre Mutter den Ex erwähnte, dessen Namen sie auf keinen Fall hören wollte. „Alles gut. Es gefällt mir hier sehr gut. Und erinnerst du dich noch an den Wohltätigkeitsverein First Steps?“

„Oh, ja …?“, entgegnete ihre Mutter in einem Ton, der verriet, dass sie sich nicht erinnerte.

Statt von ihrem Vorgarten zu erzählen, der vor lauter Weihnachtsdekoration fast aus allen Nähten platzte, verkündete Kiara stolz: „Ich habe ein Fenster voller Schneeflocken.“

„Ist es so kalt bei dir?“

Lachend erklärte Kiara ihre Mutter auf. Nachdem sie noch ein wenig geplaudert hatten, legte Kiara auf. Dann zog sie das Haargummi vom Handgelenk und drehte ihre schwarzen Haare geschickt zu einem Pferdeschwanz.

Die pechschwarzen Haare hatte sie von ihrer Mutter geerbt, die in Indien geboren und in England aufgewachsen war, die goldbraunen Augen von ihrem britischen Vater. Natürlich vermisste sie ihre Eltern, besonders jetzt in der Vorweihnachtszeit. Aber das letzte Jahr, in dem ihr der Teppich unter den Füßen weggezogen worden war, hatte ihr die Augen geöffnet. Und diese Veränderung in Gang gesetzt, das Beste, was sie je getan hatte.

Sie war erst seit vierzehn Tagen in Carey Cove, doch es war Liebe auf den ersten Scone gewesen. Sie strich sich über den Bauch. Ja! Sie hatte ein bisschen zugenommen. Die Menschen aus Cornwall waren zu Recht stolz auf ihre Backwaren. Sie hatte noch nie so köstliches Gebäck gegessen, mit Marmelade und Clotted Cream. Nur gut, dass sie morgen anfing zu arbeiten, denn sonst wäre sie bald kugelrund und nicht mehr der dünne Schatten, der sich liebeskrank und gedemütigt aus London geschlichen hatte.

Entschlossen riss sie sich zusammen und stimmte weiter ihren schiefen Gesang an. Sicher, sie war Single, und das acht Wochen vor ihrer liebsten Jahreszeit. Und nein, es schneite nicht … noch nicht. Doch alles andere in ihrem Leben hatte sie im Griff.

Wie zum Beweis sprühte sie noch mehr Schneeflocken auf die Fensterscheibe, ein Maß an Überfluss, bei dem ihr Ex sicher die Augen verdreht hätte. Sollte sie da nicht froh sein, keinen Freund zu haben, der nicht länger zu allem, was sie tat, seinen Senf abgab?

Sie legte Schablone und Spraydose beiseite und zog die hellrote Steppweste an, die sie am liebsten trug. Dann trat sie hinaus auf die kleine vordere Veranda mit dem Reetdach. Der Makler hatte gesagt, dass im Frühjahr hier Blauregen blühte, doch jetzt war die Veranda mit Tannenzweigen, roten Bändern und Lichterketten geschmückt.

Anders als Carey House mit seinen buttergelben großen Steinen war ihr Cottage weiß getüncht und hatte schöne grüne Fensterrahmen und natürlich ein traditionelles Reetdach. Kaum zu glauben, dass sie sich mit dem Verkauf ihrer Zweizimmerwohnung in London dieses wunderschöne, malerische Cottage hatte leisten können.

Sie trat vor das Haus, das am Ende einer kleinen Straße lag, zwei Straßen entfernt vom Hafen. Sowohl an dem Ort Carey Cove als auch an ihrem Haus, dem Mistletoe Cottage, gefiel ihr am meisten, dass alle Häuser einen Vorgarten hatten. Perfekt für Weihnachtsdekoration.

Kiara musterte die Figuren vor ihrem neuen Zuhause.

Bisher schmückten drei beleuchtete Hirsche die kleine Veranda. Sie wusste noch nicht, vor welchen Schlitten sie die Tiere spannen oder ob sie ein kleines Rentier mit einer roten Nase dazustellen sollte. Zuerst hatte sie einen Schlitten auf den Rasen stellen wollen, aber … einer auf dem Dach wäre viel besser. Vielleicht lernte sie auf der Arbeit jemanden kennen, der größer war als sie – was nicht schwer sein sollte – und der ihr beim Aufstellen half.

Noch besser gefielen ihr die drei Pinguine, die sie dank Kundenrabatt zu einem Schnäppchenpreis online gekauft hatte. Sollte sie noch einen bestellen? Oder lieber den Schneemann, der ein Tänzchen aufführte, wenn man auf seine Knopfnase drückte? Schwere Entscheidung.

Vielleicht half ein bisschen Singsang.

Sie zog die Fernbedienung aus der Tasche ihrer Steppweste. Sie sah sich verstohlen um, obwohl das ja eigentlich egal war, da sie hier niemanden kannte, und drückte auf Play.

Ihr wurde ganz kribbelig vor kindlicher Freude. Singende und tanzende Pinguine waren einfach großartig! Wobei ihr einfiel … Sie hatte noch ein paar riesige unechte Zuckerstangen, die sie vorne an den kleinen weißen Zaun hängen wollte, um so die Leute zu der Nikolaus-Spendenbüchse am Gartentor zu führen. Und diese Kugeln mit den Schneeflocken. Und der erste von drei echten Christbäumen, die sie noch schmücken wollte – all das vor ihrem ersten Arbeitstag morgen.

Und wer weiß? Vielleicht fand sie dort sogar ein paar Freunde.

„Harry! Denk daran, was ich dir gesagt habe. Fahr mit dem Roller nicht zu weit voraus!“, rief Lucas.

Sein Sohn war erst drei Jahre alt, aber bereits ein kleiner Draufgänger. Kurz, ganz kurz, drosselte Harry das Tempo … und nahm dann wieder Fahrt auf. Bergauf.

Trotz seiner Bedenken lachte Lucas. Er hatte seinem Sohn heute Morgen Frühstück gemacht, aber Raketentreibstoff war ganz bestimmt nicht dabei gewesen. „Harry! Wie lautet die Parole?“

Abrupt blieb der Kleine stehen, einen Fuß auf dem Roller, den anderen auf dem Boden, und drehte sich um. Seine blonden Locken lugten unter dem hellroten Helm hervor, den Harry auf Bitten und Betteln seines Sohnes in einen Nikolaushelm hatte verwandeln müssen, obwohl gerade erst Halloween war.

Harrys graue Augen, ein Spiegelbild seiner eigenen, leuchteten vor Freude. Mit einem beeindruckend herzlichen Lächeln, das er nur von seiner Mutter geerbt haben konnte, salutierte er und verkündete: „Sicherheit geht vor, Daddy.“

Lucas erwiderte das Lächeln, auch wenn seine Kehle eng wurde bei dem Gedanken an Lily und ihre lange Liste an Ermahnungen für die Zeit, wenn sie nicht mehr da war. Den Kleinen nicht erdrücken und nicht verhätscheln. Die Sorge um die Zerbrechlichkeit und Kürze des Leben von diesem unverwüstlichen und noch so jungen Energiebündel fernhalten.

Und das Härteste: den Ehering nach einem Jahr ablegen.

Er hatte geschummelt. Und den Ring noch gut anderthalb Jahre länger getragen.

Kaum hatte er ihn abgenommen, wurde ihm klar, dass der Ring nicht das war, was ihn mit seiner Frau verband. Vielmehr war das sein Herz. Und das würde immer so sein, wohin er auch gehen mochte. Also landete der Ring schließlich in der Andenkenschachtel. Die Schachtel war eine Idee seiner Frau gewesen noch aus der Zeit, als sie sich an der Uni kennenlernten. Die ersten Kinokarten lagen darin. Die ersten Flugtickets. Und nun der Ehering.

Lucas lief den Hügel hinauf, bepackt mit der Winterjacke seines Sohnes, seinem Rucksack und dem Pausenbrot. Oben angekommen umarmte er seinen kleinen Jungen. „Richtig, mein Sohn. Sicherheit geht vor.“

Liebevoll tätschelte er Harrys Helm. Und nachdem er ihn noch einmal daran erinnert hatte, nicht zu schnell und zu weit vorauszufahren, machten sie sich auf den Weg zur Kindertagesstätte, die zum Glück nur einen Katzensprung von seiner Arbeitsstelle entfernt war.

Lucas verkniff sich eine weitere Warnung, als Harry auf seinem Roller mit einer Hand versuchte, das aufgewirbelte Laub zu fangen.

Zum tausendsten Mal, Junge, das Leben ist gefährlich. Pflaster gibt es aus gutem Grund. Und Knieschoner. Helme. Und Ärzte.

Gerade er wusste das. Nicht nur als Arzt, sondern auch als Ehemann. Wie könnte er vergessen, dass er und seine Frau geglaubt hatten, der Krebs würde nicht zurückkehren …

„Harry! Nicht zu weit!“

„Bin nicht zu weit, Daddy! Ich kann immer noch deine Barthaare sehen.“

„Hey! Ich habe mich heute Morgen rasiert.“

Stimmte das? Er strich mit der Hand über seine Wangen, um zu prüfen, ob er nichts übersehen hatte. Mich laust der Affe! Er hatte sich nicht rasiert. So viel dazu, wieder voll da zu sein. Wenigstens galten Bartstoppeln heute als sexy. Wobei ihm sein Aussehen nicht wichtig war. Anders als sein Sohn. Ihr Alltag. Und natürlich sein Beruf. Das Einzige, was ihm abgesehen von seinem Sohn ein Lächeln entlockte.

Nachdem sie von Penzance und all den Erinnerungen nach Carey Cove gezogen waren, verlief ihr Leben endlich wieder in normalen Bahnen. Kuscheln im Bett mit seinem Sohn. Duschen, während Harry spielte. Harry Arm um Arm und Bein um Bein anziehen. Harrys wilde Locken kämmen so gut es ging. Fertig und abmarschbereit.

Was war heute Morgen schiefgegangen?

Die Socken.

Das war’s.

Sie hatten einen riesigen Berg Socken, und trotzdem war kein passendes Paar darunter gewesen.

Nicht vergessen: Socken kaufen.

Er musste lachen. So viel dazu, dass ihr Leben wieder zurück auf der Spur war. Wenn etwas so Einfaches wie ein fehlendes Paar passender Socken ihre Morgenroutine durchkreuzen konnte – sei nett zu dir selbst.

Eine weitere freundliche Mahnung seiner Frau. Außerdem hatte er seit mehr als einem Jahr nicht mehr vergessen, sich zu rasieren. Und auch nicht mehr völlig resigniert, wie vor zweieinhalb Jahren, als er mit letzter Kraft ein weinendes Baby beruhigen musste, dessen Mutter es nie wieder in den Armen halten würde.

„Daddy, schau mal!“ Harry deutete nach vorne zum Ende der Straße, wo … ja … da war es. Mistletoe Cottage.

Und dieses Haus – eine Hommage an Weihnachten – war ein weiterer Grund, warum er jetzt neben sich stand.

Das Cottage erinnerte ihn jeden Tag unmissverständlich daran, dass Weihnachten näher rückte, ein Fest, das ihm keine Freude mehr machte. Nicht weil Lily Weihnachten so liebte oder weil sie um diese Zeit gestorben war. Nein. Sie war nach einem wunderschönen Frühjahr gegangen. Aber an Weihnachten ging es um Familie. Und das wichtigste Mitglied ihrer Familie war nicht mehr da. Und würde nie mehr da sein.

Auch wenn er sich geschworen hatte, die Weihnachtstage für Harry möglichst schön zu gestalten, brachte er nicht die gleiche Begeisterung für die Feierlichkeiten auf wie sein Sohn.

Zum Glück gab es im Dorf einen anderen Menschen, der genauso empfand wie Harry. Allerdings hatten sie den neuen Bewohner von Mistletoe Cottage noch nicht kennengelernt. Das Schild „Zu verkaufen“ war vor zwei Wochen entfernt worden, und kurz danach war der erste Weihnachtsschmuck aufgetaucht. Zuerst ein kleines Nikolaushaus. Dann immergrüne Zweige, Weihnachtskugeln und vor allem Lichterketten. Jeden Tag gab es etwas Neues. Auch heute, wo … waren das tanzende Pinguine?

„Pinguine!“, kreischte Harry.

Okay. Pinguine also. Was kam als Nächstes? Tanzende Eisbären?

Lucas hatte geglaubt, sein Sohn fahre eh schon viel zu schnell. Doch beim Anblick der tanzenden Pinguine schoss Harry davon, als hinge sein Leben davon ab.

Lucas ging schneller, den Blick auf seinen Sohn gerichtet, bis etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregte. Eine Frau trat aus dem Cottage, eine Schachtel mit Weihnachtsschmuck in den Händen. Klein. Dunkelhaarig. Er war zu weit entfernt, um noch mehr erkennen zu können. „Ah! Aua!“

Lucas war sofort alarmiert. Eine Sekunde lang hatte er Harry nicht im Auge gehabt, und schon waren, wie er befürchtet hatte, der Junge und der Roller getrennte Wege gegangen.

Er rannte los. Eine niedrige Hecke im Weg versperrte ihm den Blick und er konnte Harry nicht sehen. Aber er sah, dass die Frau die Schachtel auf die Veranda stellte und zu seinem Sohn lief. Als er das Cottage erreichte, hörte er keine Schmerzensschreie, sondern Stimmen. Die der Frau und die seines Sohnes. Und dann … Kichern.

Harry saß noch am Boden, und obwohl er sich das Knie angeschlagen hatte, schien er davon völlig unbeeindruckt. Normalerweise würde er jetzt brüllen. Doch die Frau hockte vor ihm, ihr Gesicht verborgen hinter glänzenden schwarzen Haaren, und redete mit ihm.

„Wie geht’s dir, Harry?“ Herzlich, aber förmlich schüttelte sie seine Hand. „Es freut mich sehr, jemanden kennenzulernen, der Weihnachten genauso liebt wie ich.“

Wenn sie dachte, Lucas würde sich dem Weihnachts-Fanclub anschließen, dann war sie auf dem Holzweg. Es war erst November. Und ihm fiel es schon schwer genug, selbst am Weihnachtstag Begeisterung aufzubringen.

Offensichtlich unbeeindruckt von seiner fehlenden Reaktion lächelte sie Harry an und deutete auf sein angeschlagenes Knie. „Nun … schwierige Entscheidung. Möchtest du ein Pflaster mit einem Nikolaus drauf? Oder mit Elfen?“

„Elfen!“ Erfreut klatschte Harry in die Hände.

Die Frau lachte und sagte, sie ginge ins Haus, um das Pflaster zu holen, außerdem ein Tuch, um die Grasflecken an Harrys Knien abzuwischen.

Ihre Stimme hatte etwas Verschmitztes und eine Freundlichkeit, die Lucas’ Herz erwärmte.

„Es tut mir leid. Harry ist verrückt nach …“, begann Lucas, doch als sie hochsah und seinem Blick begegnete, verschlug es ihm die Sprache.

Obwohl er ganz genau wusste, dass sie sich noch nie über den Weg gelaufen waren, kam es ihm vor, als sei er in einer Wirklichkeit gelandet, die nur auf ihn gewartet hatte. Die Augen der Frau waren von einem warmen Braun, beinahe bernsteinfarben. Sie hatte wunderschöne Haut, die perlmuttartig schimmerte. Gerötete Wangen, als sei sie aufgeregt …

Vielleicht lag es an der unerwarteten Begeisterung eines dreijährigen Jungen, der in ihren Vorgarten gesaust war. Oder an dem frischen Herbstwetter. Oder vielleicht … nur vielleicht … fühlte sie das Gleiche wie er. Ein seltsames, aber elektrisierendes Gefühl, wie er es noch nie erlebt hatte, erfasste ihn.

Sie blinzelte einmal. Dann noch einmal. Und richtet dann ihre Aufmerksamkeit wieder ganz auf Harry, als habe er sich diesen Moment nur eingebildet. Sie zog Harry hoch, wischte ihm ein paar Schmutzflecken ab, führte ihn zu den Stufen ihrer kleinen, kunstvoll geschmückten Veranda und setzte ihn dort ab. Dann bat sie ihn, die Sekunden zu zählen, die sie brauchte, um im Haus ein Pflaster zu holen, und half ihm auf die Sprünge. „Eins … zwei … drei.“

Sie war zurück, als Harry über elf und zwölf stolperte. Ohne Lucas einen Blick zu schenken, kniete sie sich vor den kleinen Jungen. Dann wischte sie sein Knie ab und klebte ihm das Pflaster auf.

Lucas fühlte sich seltsam überrumpelt und machte einen lahmen Versuch, mit ihr ins Gespräch zu kommen. „Eine ziemlich beeindruckende Vorstellung hier bei Ihnen. Sie mögen Weihnachten?“

„Es ist für einen guten Zweck“, sagte sie. „First Steps. Kennen Sie die Organisation?“

„Ich mag Weihnachten“, sagte Harry.

Obwohl Lucas ihr Lächeln nicht sehen konnte, hörte er es in ihrer Stimme, als sie seinem Sohn antwortete. „Es ist eine ganz besondere Jahreszeit, stimmt’s?“

„Da kommt der Nikolaus!“, rief Harry.

„Und wer mag den Nikolaus nicht?“, redete Lucas weiter und fühlte sich seltsam ausgeschlossen und völlig fehl am Platz. Er hatte mit Weihnachten nichts am Hut und wollte es nur für seinen Jungen so schön wie möglich gestalten, aber …

Er zwang sich zu einem Lächeln. Die Frau warf ihm einen schnellen Blick zu, als suche sie eine summende Fliege, um dann zu dem Schluss zu kommen, dass sie die Aufmerksamkeit nicht wert war. Oder vielleicht hatte sie ihn auch durchschaut und gemerkt, dass er all das eher für faulen Zauber hielt.

Wie auch immer, diesen Moment zwischen ihnen hatte er sich bestimmt nur eingebildet. Es mochte geknistert haben, aber nicht so, dass es zu einem romantischen Abend führen würde und … Brr!

Sein Leben drehte sich um seinen Sohn und dafür zu sorgen, dass sie gesund und glücklich waren. Ende vom Lied!

„Daddy?“

Die Miene seines Sohnes reichte ihm als Bestätigung, dass er an diesem Morgen auf der falschen Seite des Bettes aufgewacht war.

„So.“ Die Frau stand auf und zog den Reißverschluss ihres recht professionell aussehenden Verbandskastens zu. „Das wäre erledigt, junger Mann.“

„Sag danke zu der netten … ähm.“ Lucas ließ eine Leerstelle, damit die Frau sie mit ihrem Namen füllen konnte, aber Pech gehabt.

„Danke.“ Harry strahlte sie an und erntete ein herzliches Lächeln und eine kleine Zuckerstange für später.

„Viel Spaß heute“, sagte sie, den Blick auf Harry gerichtet. Ohne Lucas überhaupt anzusehen, verschwand sie in ihr Haus und ließ nichts als Luft und Rätsel zurück.

2. KAPITEL

Für ihren ersten Arbeitstag tuschte Kiara ihre Wimpern, zog dann das kastanienbraune Haargummi vom Handgelenk und drehte ihre Haare zu einem Pferdeschwanz. Als sie das Haargummi darüberzog, musste sie plötzlich an den gestrigen Morgen denken, als der kleine Junge in ihren Vorgarten gekracht war.

Obwohl alles sehr schnell gegangen war, schien es, als habe sie innerhalb von Sekunden alle Höhen und Tiefen einer neuen Beziehung durchlaufen. Als sie aus dem Haus gekommen war, hatte sich ihr Haargummi in einem der Tannenzweige verfangen und ihren Pferdeschwanz aufgelöst, ehe sie dem Jungen zu Hilfe gelaufen war. Und als sie dann hochsah, sah sie, dass der tolle kleine Junge zu dem heißesten Dad gehörte, den die Welt je gesehen hatte.

Kastanienbraune Haare, zwar kurz geschnitten, aber sie würden ihm in Locken ins Gesicht fallen wie bei dem Jungen, wenn er sie wachsen ließe. Erstaunliche graue Augen. Die perfekte Größe. Sie bräuchte einen Tritthocker, um ihn küssen zu können. Die dunklen Schatten unter seinen Augen deuteten darauf hin, dass ihn etwas bekümmerte.

Aber als Vater hatte er wahrscheinlich eine Frau oder Partnerin. Und damit war er tabu, und die Frage, wie groß sie sein müsste, um ihn küssen zu können, verbot sich von selbst. Oder sich ihn splitternackt vorzustellen, nur mit einem Nikolaushut bekleidet und einem verschämt platzierten Mistelzeig.

Sie hatte ihre Lektion auf die harte Tour gelernt und deshalb sofort dichtgemacht.

Dass der Mann wirklich scharf war und verloren wie ein kleiner Junge dreinblickte, sodass sie ihm am liebsten einen warmen Eintopf gemacht hätte, ließ unüberhörbar die Alarmglocken schrillen.

Sie wusste genau, wie die Sache sich entwickeln würde, wenn sie einem einzigen verlorenen Lächeln erlag. Denn das hatte sie schon einmal erlebt.

Ich bin so einsam. Mir bleibt nur, mich in die Arbeit zu stürzen und Kinder mit meinen unglaublichen chirurgischen Fähigkeiten zu retten. Aber am Abend ist niemand für mich da. Nur eine leere Wohnung … und ein leeres Bett …

Pah! Sie verdrehte die Augen, dann besann sie sich wieder darauf, dass sie den Schmerz und die Scham hinter sich gelassen hatte und dass heute der erste Tag an ihrem neuen Arbeitsplatz war. Und es würde ein guter Tag werden, egal was geschehen mochte.

Ein Spaziergang den Hügel hinauf in der frischen Herbstluft brachte Kiara wieder in Hochstimmung. Die Blätter waren bunte Vorboten eines glücklichen neuen Beginns. Und warum auch nicht? Sie war auf dem Weg zu ihrem neuen Job, in einem neuen Winkel von England. Und ein Blick auf einen tollen Dad, dessen bezaubernder Sohn offensichtlich Weihnachten liebte, würde sie nicht von ihrem Weg abbringen. Auf keinen Fall!

Als sie oben an der mit Schotter bedeckten Auffahrt angekommen war und die ganze Pracht ihres neuen Arbeitsplatzes in sich aufnahm, machte ihr Herz einen kleinen Freudentanz.

Carey House war einfach der perfekte Ort, um ein neues Leben anzufangen. Es gab einen kleinen Bereich für Allgemeinmedizin, aber der Großteil des Krankenhauses war dazu gedacht, Frauen dabei zu helfen, gesunde und glückliche Babys auf die Welt zu bringen.

Ein Cottage-Krankenhaus mit Blick auf das Meer und ein malerisches Dorf am Fuß des Hügels …

Perfekt.

Sie platzte förmlich vor Aufregung, endlich mit der Arbeit beginnen zu können.

Während sie sich gut gelaunt fragte, wann – oder ob – Carey House weihnachtlich geschmückt werden würde, zog sie die Tür auf und entdeckte Hazel, die warmherzige Rezeptionistin. Sie plauderte im Wartebereich für Allgemeinmedizin mit jemandem, den Kiara nicht sehen konnte.

Als Hazel hörte, dass die Tür aufging, drehte sie sich um und lächelte. „Sie werden Nya brauchen. Einen Moment, Liebes, ich hole sie für Sie.“ Sie streckte einen Finger in die Höhe, um anzudeuten, dass sie nur einen Augenblick weg sein würde.

Kiara lächelte. Sie hatte Hazel Collins bei ihrem Vorstellungsgespräch kennengelernt, und sie war noch genauso herzlich, wie sie sie in Erinnerung hatte. Hazel war um die sechzig und sah mit ihren dichten weißen Haaren, die sie zu dicken Zöpfen geflochten und mit Haarnadeln oben auf ihrem Kopf befestigt hatte, mit den rosigen Wangen und einem Lächeln, das das kälteste Herz erwärmte, wie die Frau vom Weihnachtsmann aus.

Hazel behauptete, sie würde hier schon seit Eröffnung des Krankenhauses arbeiten. Was offensichtlich nicht richtig war. Möglich war jedoch, dass ihre Vorfahren schon hier gearbeitet hatten. Carey House war einst ein großes Familienhaus und vor mindestens zweihundert Jahren errichtet worden. Um 1900 war es in ein Cottage-Krankenhaus umgebaut worden, um den Frauen der Gegend bei der Entbindung zu helfen.

Damals fanden Schwangere, die hier oder auf den entlegeneren Inseln vor der Küste Cornwalls lebten, oft keine gute medizinische Betreuung. Jetzt gab es das St. Isolde’s Hospital in Falmouth für Hochrisikoschwangerschaften und unvorhergesehene Komplikationen. Doch dank Nya Ademi als leitende Hebamme kamen in Carey House viele Babys gesund zur Welt. Die große Fotowand mit den wunderschönen kleinen Gesichtern legte Zeugnis davon ab.

Kiara verlor sich in den Anblick der vielen kleinen Stupsnasen, der fest zugekniffenen Augen, winzigen Fingerchen und pastellfarbenen Windeln, bis sie Hazel zurückkommen hörte.

„Sie sind hinreißend, nicht wahr?“, meinte Kiara.

„Ganz sicher“, antwortete eine sehr männliche Stimme. Die wie warmer Karamell ihren Rücken hinunterlief. Und die ganz sicher nicht Hazel gehörte.

Kiara wirbelte herum und fand sich Nase an Brust mit dem extrem heißen Dad wieder.

Dass sie kurz nach Luft schnappte, machte es noch schlimmer. Er duftete köstlich. Wie geschmolzene Butter auf einem frischen Brot, das gerade aus dem Ofen gekommen war.

Frische Luft und – mmh – Muskat.

Du lieber Himmel. Der Mann duftete köstlich wie ein Büfett im Skiurlaub.

Ihre Knie drohten nachzugeben. Sie war wie benebelt. Was wahrscheinlich nur gut war, denn die Worte, die ihr durch den Kopf schossen, waren höchst unpassend: Ich will dich besteigen wie einen Baum.

Was immer das bedeuten mochte.

Als ihr dämmerte, dass sie sich vorgebeugt hatte, um seinen betörenden Duft einzuatmen, zuckte sie zurück. Ihr Herz überschlug sich. Ihm aus der Nähe ins Gesicht zu sehen war noch besser als ihn zu riechen.

Heute war er frisch rasiert. Jetzt wurde ihr erst klar, dass sie gestern Bartstoppeln gesehen hatte. Wie würde es sich anfühlen, darüberzustreichen? Waren die Stoppeln kratzig?

Wie schaffte es dieser Fremde, sie so zu beeindrucken, dass sie nun verzweifelt versuchte, sich alle Einzelheiten einzuprägen?

Sie machte den Fehler, nach oben zu sehen.

Seine Augen waren von einem hypnotisierenden Grau. Wie vielschichtige Sturmwolken mit unzähligen Schattierung und jede einzelne forderte und erhielt ihre volle Aufmerksamkeit. Dunkle Wimpern verstärkten die Wirkung zusätzlich.

Ihr Blick wanderte über seine Nase und zu seinem Mund. Einer seiner Vorderzähne grub sich in seine Unterlippe, als hätte er Mühe herauszufinden, wie er sein Hirn und seinen Körper wieder zur Zusammenarbeit bewegen könnte.

Dort, wo ihr Herz sein sollte, war eine Leuchtbombe explodiert. Die sich auf dem direkten Weg in ihre erogenen Zonen befand. Und das erfüllte sie mit Entsetzen.

Sie hatte sich geschworen, dass ihr Herz mindestens ein Jahr lang nur normal seinen Dienst tun und alles Erogene ihr fernbleiben sollte – vor allem wenn es um einen attraktiven Mann ging, der bereits vergeben war.

Heiße Wut stieg in ihr auf. Dies hier war ihr Zufluchtsort. Ihr neuer Job. Ihre neuen Kollegen. Nach dem schmachvollen und schamvollen Ende der Liebesaffäre in London hatte sie ihr Herz mühsam wieder zusammengeflickt und zig Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, um sich künftig zu schützen. Und nun wurde ihr deutlich bewusst, dass die Flicken nicht hielten und die Nähte sich lösten.

Schmerz umklammerte ihre Brust, als sie zurücktrat und fragte: „Was machen Sie denn hier?“

Lucas hätte beinahe gelacht. Noch nie hatte er einen Menschen getroffen, der seine Abneigung ihm gegenüber so offen zeigte. Das gefiel ihm zwar nicht, aber …

Frustriert rümpfte sie die Nase, während sie auf seine Antwort wartete.

Meine Güte!

Verblüfft, sich in solch einer merkwürdigen Situation zu befinden, rieb er seine Wange.

Noch nie hatte sich jemand ihm gegenüber so abweisend gezeigt. Und das gleich bei zwei verschiedenen Gelegenheiten. Vielleicht hatte er einen Doppelgänger? Jemand, der dieser armen Frau wehgetan hatte? Er hoffte nicht, um ihretwillen. Doch um seinetwillen irgendwie schon. Weil … Verdammt, er wusste nicht, warum. Aber er wollte diese Frau kennenlernen, ohne sich erklären zu können, weshalb.

Würde er ihr erzählen, dass er in der letzten Nacht einen der erotischsten Träume seines Lebens gehabt hatte – mit ihr –, würde er sich wohl einen Schlag ins Gesicht einhandeln. Und er hätte es verdient. Er kannte ihren Namen nicht, ganz zu schweigen davon, wie weich ihre Brüste waren oder ob sie seinen Namen stöhnen würde, wenn er ihre Brustwarzen in den Mund nahm und …

„Tut mir leid“, begann er. „Ich glaube, Sie verwechseln mich …“

„Nein. Sicher nicht. Sie sind Sie. Ich meine …“ Sie schüttelte den Kopf, sodass ihr Pferdeschwanz hin und her schwang.

Er stellte sich vor, wie er mit den Fingern durch ihre Haare fuhr, und hätte schwören können, es schon einmal getan zu haben. Aber das musste Einbildung sein.

Trotzdem spürte er beinahe die seidigen Strähnen auf seiner Haut, obwohl sie ihm nicht einmal nahe war. Ihm war, als würde eine Erinnerung, die lange vergraben war, wieder an die Oberfläche steigen. Er schloss die Augen, und ein Bild tauchte vor ihm auf, das ihn erröten hätte lassen sollen.

Sie hatte sich wieder gefasst und fragte ihn mit einer scharfen Stimme wie eine strenge Lehrerin, die einen frechen Jungen tadelte: „Wer sind Sie? Und warum sind Sie hier in Carey House?“

Ehe er antworten konnte, wandte sie den Blick ab. Und er nutzte den Moment, um sie zu betrachten. Um irgendetwas zu finden, was diese offensichtliche Feindseligkeit erklärte. Doch ehe er etwas ausmachen konnte, sah sie ihn mit ihren goldbraunen Augen wieder scharf an.

Trotzdem war ihm bewusst, dass ihr angespannter Ton auf Unsicherheit zurückzuführen war. Und schlimmer noch … Angst. Sein Herz zog sich zusammen. Er wollte auf keinen Fall, dass jemand Angst vor ihm hatte. War Harrys Sturz der Grund? Hatte sie … Ihm blieb die Luft weg. Er hoffte bei Gott, dass sie kein Kind verloren hatte. Seine Frau zu verlieren war wie ein vernichtender Schlag, aber seinen Sohn zu verlieren … Er wollte sich diesen Horror nicht einmal vorstellen.

„Tut mir leid.“ Er streckte die Hand aus. „Ich bin Lucas Wilde. Der praktische Arzt in Carey House.“ Er deutete auf das Zimmer, aus dem Hazel gerade mit zwei Tellern voller Plätzchen kam. „Dort drüben ist das Sprechzimmer.“

Verständnislos sah sie ihn an, als sei es das Merkwürdigste der Welt, dass er ihr die Hand hinhielt. Was hätte er denn tun sollen? Sie auf die Wange küssen?

„Ah, Kiara“, rief Hazel. „Wie ich sehe, haben Sie Dr. Wilde schon kennengelernt.“

„Mhm …“, brachte Kiara nur heraus.

„Du liebe Güte, Dr. Wilde“, tadelte Hazel ihn gut gelaunt. „Haben Sie sich unserer neuen Hebamme nicht vorgestellt? Das ist Kiara Baxter. Kiara, das ist Dr. Wilde, unser leitender Allgemeinarzt.“

Sie plauderte weiter, doch Lucas bekam kaum etwas mit, weil er immer noch versuchte, seinen sinnlichen Traum mit der Frau in Einklang zu bringen, die ihn anstarrte, als sei er ein Stier, der kurz davor war anzugreifen.

„Ich habe gerade einen Teller mit Plätzchen in Ihr Sprechzimmer gestellt …“, hörte er Hazel nun sagen. „Kiara, Sie können sich gerne dort bedienen oder …“ Sie hielt inne. „Nein, noch besser, Sie nehmen einfach diesen Teller. Sie wollten wohl gerade nach oben in den Aufenthaltsraum gehen? Da sind auch die Spinde, in denen Sie Ihre Handtasche und persönliche Dinge einschließen können.“

Kiaras Blick flog zwischen den beiden hin und her, als versuchte sie herauszufinden, ob all das eine Art Scherz war. Doch dann trat sie vor und nahm den Teller entgegen. Mit Hazels Ingwerplätzchen, wie Lucas wusste.

„Greifen Sie zu! Plündern Sie die Plätzchen!“, sagte er mit frechem Grinsen.

Jetzt sah auch Hazel ihn an, als seien ihm Hörner gewachsen. Am liebsten hätte er die Zeit zurückgedreht, hätte sich wieder schlafen gelegt, um den Tag ganz neu zu beginnen. Aber dann hatte er vielleicht wieder einen dieser verwirrenden Träume.

Alle drei schreckten zusammen, als draußen ein Schrei ertönte. Die Plätzchenteller wurden hastig weggestellt, und Kiara hörte schnelle Schritte im Flur, als sie nach draußen lief, dicht gefolgt von Lucas.

Eine Frau krümmte sich in der Einfahrt, die Arme um ihren sehr schwangeren Bauch geschlungen.

Für Lucas kein seltener Anblick vor Carey House. Schon oft hatte er auch aschfahle werdende Väter hier hochjagen sehen, mit der Handtasche und Reisetasche der werdenden Mutter in den Händen und all dem anderen, was er ihr bringen sollte. Die Angestellten hier ermutigten alle Schwangeren, die Geburtserfahrung so persönlich zu gestalten, wie sie es wollten. Manchmal drang Musik in sein Sprechzimmer.

Kiara hatte die Frau inzwischen erreicht und half ihr, sich aufzurichten.

Moment mal.

Auch wenn er das Gesicht nicht sehen konnte, erkannte er doch die kleine Gestalt mit dem modernen blonden Kurzhaarschnitt. Die Frau, die eben Wehen gehabt hatte, war Marnie Richards, die hier selbst als Hebamme arbeitete. Lucas lief zu den beiden Frauen.

„Hallo. Ich bin hier Hebamme und heiße Kiara. Ich vermute, Sie haben Wehen?“

„Gut geraten.“

Kiara lachte.

Lucas vermutete, dass sie solche Situationen schon öfter erlebt hatte. Dass die werdende Mutter sich zwar über ihr Baby freute, aber von unbekannten Gefühlen überschwemmt wurde, sodass es ihr in dieser Situation an dem üblichen Charme und der Herzlichkeit fehlte. Über die Marnie im Überfluss verfügte. Auch wenn sie den Ruf hatte, die penibelste Hebamme des Krankenhauses zu sein.

„Ich habe Nya eine SMS geschickt. Sie ist meine Hebamme. Hoffentlich merkt sie, dass ich es nicht ganz hineingeschafft habe.“

„Ich kann sie holen, wenn Sie wollen“, bot Lucas sich an. „Ich bin sicher, Kiara würde Ihnen sehr gerne … oh, wieder eine Wehe?“

Als Marnie einen Schmerzensschrei ausstieß, nahm Lucas eine ihrer Hände in seine und stellte die Frauen einander schnell vor. Und während Kiara mit ihr die richtige Atemtechnik übte, warf er Marnie einen beeindruckten Blick zu.

„Sie haben einen ganz schön festen Griff, Marnie. Bei der nächsten Sommerparty können Sie in meinem Tauziehen-Team mitmachen.“

Marnie lachte. „Warten Sie nur, bis die Wehen wieder losgehen … oh … kommen … immer schneller.“

Während er und Kiara Marnie vorsichtig Stufe für Stufe bis zur Tür halfen, meinte die werdende Mutter: „Zeit, dass dieses Bay endlich auf die Welt kommt.“

„Marnie!“

Nya Ademi, die leitende Hebamme, lief herbei. Mit einem entschuldigenden Lächeln schob sie Lucas aus dem Weg. „Auf Sie warten sicher Patienten, Dr. Wilde?“

Lucas wusste, dass es nicht böse gemeint war, sondern dass Nya ihre Arbeit sehr ernst nahm.

Sie drückte Marnies Arm und übernahm dann das Händchenhalten. „Hallo, Liebes. So bald haben wir nicht mit dir gerechnet. Warum hast du nicht angerufen? Wir wollen doch nicht, dass du dein Baby hier draußen in der Einfahrt bekommst, oder?“

„Au!“, brüllte Marnie und versuchte vergeblich, ruhig zu atmen. Als die Wehe vorbei war, warf sie Nya einen erschöpften Blick zu. „Ehrlich gesagt ist es mir egal, wo ich es bekomme. Und wenn es auf einem Baum ist.“

Kiaras Blick flog zu Lucas, der sie fragend ansah. Ihre Wangen röteten sich, und schnell konzentrierte sie sich wieder auf Marnie.

Was war das denn?

Lucas kam ein verrückter Gedanke. Hatte sie auch einen unanständigen Traum von ihm gehabt? Nun, das wäre eine interessante Wende.

Hitze schoss in seine Lenden. Es war reizvoll, sich vorzustellen, dass sie die Nacht damit zugebracht hatte, sich ihn und sie auf zerwühlten Laken vorzustellen. Viel zu reizvoll.

Er zwang sich, wieder seine besorgte Arztmiene aufzusetzen, entdeckte eine Reisetasche ein paar Meter entfernt und lief hin, um sie zu holen.

„Auf einem Baum?“, meinte Kiara lächelnd. „Ich glaube, die Geburtsstation von Carey House ist eine weit angenehmere Option. Wir bringen Sie jetzt hinein.“

„Dr. Wilde?“, rief Hazel in diesem Moment vom Eingang. „Ihr Neunuhr-Termin ist da und sieht ein bisschen besorgt aus.“

„Bin gleich da, Hazel. Ich will nur sichergehen, dass es unserer besten schwangeren Hebamme gut geht.“

„Alles bestens, Lucas. Gehen Sie nur rein zu Ihrem … oh Gott“, jammerte Marnie. „Ich wusste nicht, dass es so wehtut.“

Kiara lachte erneut. Ein herzliches, mitfühlendes Lachen, das ihm gefiel. Allmählich gefiel ihm vieles an dieser Frau.

Er öffnete die Tür, stellte Marnies Tasche dahinter ab und bat einen Kollegen, einen Rollstuhl zu holen.

Während Marnie sich auf ihre Atmung konzentrierte, scherzte Kiara: „Als Hebamme wissen Sie sicherlich, dass es wehtut.“

Dann warf sie Lucas wieder einen Blick zu. Ihr Lächeln war so aufrichtig, dass er sich wie in Sonnenlicht getaucht fühlte.

Er wusste, dass Kiara ihre Sache gut machen würde. Nicht dass er daran gezweifelt hätte, denn Carey House engagierte nur die Besten.

3. KAPITEL

Kiara wusste, wie albern es war, ihm hinterherzusehen, als er zu seinem Sprechzimmer ging. Zu ihrer Überraschung wurde sie mit einem weichen Lächeln belohnt, als er sich noch einmal umdrehte. Ein Lächeln, das ihr Herz berührte und einen Schwarm unsichtbarer Vögel freisetzte, die fröhlich zwitscherten, als sei heute der erste Frühlingstag und nicht Anfang November.

Ja, er war umwerfend. Gut war auch, dass er im Gesundheitswesen arbeitete. Denn nicht viele Menschen verstanden, wie anspruchsvoll die Arbeit von Hebammen war und was der Beruf mit sich brachte. Schließlich hielten sich Babys nicht an Terminkalender und kamen meist nicht nach Plan zur Welt. Dennoch hatten ihre Alarmglocken gestern geklingelt, als sie und Lucas förmlich aufeinanderstießen. Lucas Wilde war Vater. Und wo Väter waren, gab es üblicherweise auch Mütter. Und Mütter mochten es zu Recht nicht, wenn ihre Ehemänner sie mit einer Hebamme betrogen, die eines Tages vielleicht eine eigene Familie gründen wollte …

Nyas ruhige Stimme lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder dorthin, wo sie gebraucht wurde. Auf Marnie. „Wir helfen dir jetzt beim Ausziehen und … immer mit der Ruhe, Liebes. Kiara, könnten Sie Marnie helfen? Ich gebe schnell Bescheid, dass wir bereit sind loszulegen.“

„Aber sicher.“ Kiara führte Marnie zum Bett. „Wollen Sie vielleicht Ihren Mantel ablegen? Dann können Sie sich setzen, und ich helfe Ihnen.“

„Nichts läuft nach Plan“, keuchte Marnie. „Ich bin Hebamme und Profi und dachte, ich hätte das im Griff.“

Das denken wir doch alle.

Kiara verkniff sich die schlaue Bemerkung. Das wollte Marnie jetzt bestimmt nicht hören. Außerdem erinnerte sie das an einen dunklen Fleck in ihrer eigenen Vergangenheit, die sie hinter sich lassen wollte. Und genau deshalb sollte sie Lucas die kalte Schulter zeigen, wenn sie sich wieder über den Weg liefen. Aber ihn anzulächeln war so natürlich! Vorhin hatte sie bemerkt, dass seine Augen funkelten, wenn er einen Witz riss. Unglaublich, dass Väter sexy Witze rissen. Witze von Vätern sollten niemals sexy sein.

Sie ging in die Knie, um sich Marnies Winterstiefeln zu widmen. „So ist es gut. Lehnen Sie sich in diese großen, flauschigen Kissen, während ich Ihnen die Stiefel ausziehe.“

„Tut mir leid wegen der Schnürsenkel“, entschuldigte sich Marnie. „War nicht so geplant.“

Kiara lächelte sie an, ehe sie die Stiefel in einen kleinen Schrank stellte, in dem die Habseligkeiten der werdenden Mütter verstaut wurden. „Es wäre toll, wenn die Babys auf unsere Pläne hören würden, stimmt’s?“

Dankbar lachte Marnie und strich liebevoll über ihren Bauch. „Ich bin spazieren gegangen. Ich dachte, ein bisschen Bewegung sei gut für das Baby und meine geschwollenen Füße. Die erste Wehe hatte ich unten am Strand, aber ich dachte es sei nur eine Vorwehe und habe mir nichts weiter gedacht. Hätte ich gewusst, dass es schon eine richtige Wehe ist, hätte ich mir keine Stiefel angezogen.“

Marnie lächelte, dann seufzte sie. „Weiß der Himmel, warum ich glaubte, ich wüsste alles besser.“ Sie deutete auf ihren Bauch, und für einen Moment verschattete sich ihr Lächeln: „Wahrscheinlich, weil ich das Ganze eingefädelt habe. Weil ich sie eingefädelt habe“, verbesserte sie sich und ihr Lächeln wirkte wieder wärmer. „Es ist ein Mädchen.“

„Ja?“, fragte Kiara in neutral-freundlichem Ton.

Kiara hatte schon früh gelernt, dass es am besten war, nicht zu viele Fragen zu stellen und die Mutter selbst von der Entstehungsgeschichte des Babys berichten zu lassen. Schließlich hatte nicht jede Familie eine Liebesgeschichte zu erzählen mit Diamantring und einem Kind, das neun Monate nach den Flitterwochen zur Welt kam.

Ehe Marnie weitersprechen konnte, erfasste sie eine neue Wehe. Als sie vorbei war, zog Kiara ihr die restlichen Sachen aus, half ihr in eines der weichen Krankenhausnachthemden und sah dann auf den leeren Stuhl, auf dem normalerweise der Partner saß. „Gibt es jemanden, den ich für Sie anrufen soll?“

Marnies Wangen röteten sich. „Nein“, antwortete sie kurz angebunden, ehe sie entschuldigend hinzufügte: „Ich bin auf eigene Faust durch künstliche Befruchtung schwanger geworden. Die meisten wissen das bereits. Ich musste also nicht erklären, warum ich wie ein gestrandeter Wal aussehe, ohne einen Freund zu haben.“

„Sie sagen mir einfach, was ich tun kann, um zu helfen, okay?“

Und das meinte Kiara auch so. Ein Baby zu bekommen war ein großer Schritt. Und ein noch größerer, es allein zu bekommen. Was Marnie getan hatte, erforderte Mut, und Kiara wollte ihre Entscheidung ganz sicher nicht beurteilen. Jeder schlug seinen eigenen Weg ein, und Marnie klang sehr entschlossen. Sie wollte ein Baby, und jetzt bekam sie eines. So wie Kiara sich schöne Weihnachten wünschte und das Fest dieses Jahr mit größter Hingabe feiern wollte.

Gut, das war vielleicht etwas anderes. Aber das Ergebnis war das gleiche. Sie und Marnie führten ihr Leben nach ihren eigenen Regeln. Und das respektierte sie.

Schweigend begann Kiara Marnie an die Monitore anzuschließen und überließ es ihr, wie viel sie erzählen wollte.

„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich nachsehe, wie weit Sie schon sind?“, fragte sie schließlich.

„Bitte“, sagte Marnie. „Ich würde es ja selbst tun, aber …“ Sie deutete auf ihren dicken Bauch. „Der ist mir im Weg.“

Kiara warf einen Blick zur Tür, denn sie war sicher, dass Nya jeden Moment zurückkommen würde. „Ich weiß, dass Sie hier arbeiten, aber ich glaube, Nya würde sich wünschen, dass Sie sich heute zurücklehnen und jemand anderem die Arbeit überlassen könnten.“

Die beiden Frauen tauschten ein herzliches Lächeln, und Kiara freute sich schon auf die Zusammenarbeit mit Marnie, wenn sie aus dem Mutterschaftsurlaub zurück war.

„Nya ist wahrscheinlich vorne aufgehalten worden und muss tausend Fragen beantworten. Wenn Sie übernehmen wollen, nur zu.“

„Sind Sie sicher? Wenn sie doch Ihre Hebamme ist …“

Marnie warf ihr ein Lächeln zu, dem gleich ein Stöhnen folgte. „Wenn man als Hebamme arbeitet, ist jeder deine Hebamme.“ Ihr Lächeln wurde weicher. „Nya hat alle Untersuchungen gemacht, aber jetzt ist Zeit für einen Schichtwechsel, also … oh.“ Ihre Hände flogen zu ihrem Bauch. „Sie können loslegen. Bitte.“

„Also gut. Aber wenn Sie wollen, dass ich Nya Platz machen soll, dann sagen Sie es einfach.“

Schnell führte Kiara die nötige Untersuchung durch, während Marnie wie ein Honigkuchenpferd strahlte. „Ich werde Mutter eines kleinen Mädchens.“

„So ist es.“ Kiara erwiderte ihr strahlendes Lächeln. „Und so wie es aussieht, werden Sie sie jeden Augenblick in den Armen halten und ihr einen Namen geben können.“

„Tut mir leid.“ Nya trat ein und ging zu dem Spender mit den Handschuhen, der an der Wand hing. „Eine Frau mit Zwillingen hat mich aufgehalten, aber ich wusste ja, dass du in guten Händen bist.“ Sie warf Marnie einen fragenden Blick zu. „Hast du schon einen Namen?“

Marnie nickte und brachte bei der nächsten Wehe stockend heraus: „Ich weiß … das ist meine erste eigene Geburt … aber ich bin ziemlich sicher …“

„Du machst das großartig!“, riefen Nya und Kiara im Chor.

Auf Marnies Bitte übernahm Nya das Händchenhalten. Und zwei oder drei Minuten und ein paar Aufschreie später hielt Kiara Marnies Baby in den Armen.

„Sie ist eine richtige Schönheit.“ Kiara hielt die Kleine hoch, damit Marnie sie sehen konnte, und wie aufs Stichwort stieß das winzige Mädchen einen lauten Schrei aus, um der Welt zu verkünden, dass sie da war.

Alle lachten, und Marnie fiel erschöpft zurück auf die Kissen.

Nya und Kiara wuschen und trockneten das Baby ab, ehe sie es in Marnies ausgestreckte Arme legten.

Kiara freute sich, wie leicht ihr die Zusammenarbeit mit Nya fiel. Obwohl Nya ihre Vorgesetzte war, behandelte sie sie gleichberechtigt und übernahm die Führung nur dann, wenn Kiara etwas nicht gleich fand. Immerhin brauchte Kiara hier ja noch Anleitung.

„Es gibt doch nichts Schöneres, als den ersten Arbeitstag mit einem Baby zu beginnen, das in zehn Minuten auf die Welt kommt“, sagte sie lächelnd.

Nya erwiderte ihr Lächeln. „Der beste Start für eine neue Stelle. Ein perfektes Baby an einem wunderschönen Tag.“

Wenig später lagen die frischgebackene Mutter und ihre frisch gewickelte Tochter in einem sauberen Bett. „Jetzt verstehe ich, warum manche Mütter zu Tränen gerührt sind“, sagte Marnie mit belegter Stimme.

Kiara schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Tausende Hormone toben jetzt in Ihrem Körper“, sagte sie. Außerdem war Marnie Single. Niemand teilte diesen lebensverändernden Moment mit ihr.

Sie stellte sich vor, wie es ihr in dieser Situation ergehen würde. Entsetzt stellte sie fest, dass Lucas derjenige war, der bei ihr war, nicht Peter, ihr Exfreund. Vor ihrem geistigen Auge sah sie weniger Lucas als hingebungsvollem Vater, sondern eher seine Anwesenheit. Sie malte sich seine ruhige, warme und humorvolle Ausstrahlung aus, die ihn umgab.

„Ich weiß …“ Marnie schniefte und hielt ihr Baby. „Aus meiner Arbeit ist mir das seit Jahren bekannt, aber jetzt erst erkenne ich das richtig. Hier drin.“ Sie klopfte auf ihr Herz. „Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat, aber dieses kleine Mädchen hat mich ganz gemacht. Ich habe das Gefühl, gerade zu dem Menschen geworden zu sein, der ich immer sein wollte.“

Schweigend lächelte Kiara, denn sie wusste, dass ihre Stimme belegt klingen würde, wenn sie etwas erwidern würde. Sie kannte die Sehnsucht und das Gefühl, dass etwas in ihrem Leben fehlte. Sie wusste aber auch, dass das Gefühl der Erfüllung und der Ganzheit von innen kam. Marnies Entscheidung, sich künstlich befruchten zu lassen und allein ein Baby zu bekommen, war ein Schritt in dem langen Prozess der Selbstfindung.

Kiara selbst wollte wieder einem Mann vertrauen und ihn lieben können. Und nicht alle Männer über einen Kamm scheren und mit ihrem Exfreund vergleichen, aber …

Erneut musste sie an Lucas denken.

Vergeblich versuchte sie, den Gedanken zu verdrängen.

Das war verrückt. Sie kannte diesen Mann kaum. Und doch reichten ein paar Minuten in seiner Gegenwart, um instinktiv zu wissen, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Im Beruf. Natürlich. Auch wenn bei seinem Anblick Schmetterlinge in ihrem Bauch flatterten, wusste sie doch einen guten Menschen als Kollegen an ihrem neuen Arbeitsplatz zu schätzen.

Sie klammerte sich an diesen Gedanken.

Der Respekt eines Arztes bedeutete ihr sehr viel. Vielleicht war sie deswegen so bezaubert gewesen von ihrem Chirurgenfreund. Ein Chirurg, der sich mit einer Hebamme traf … was für ein Klischee. Aber als Peter sie das erste Mal nach ihrer Meinung gefragt und dazu genickt hatte, als hätte sie ihm die Augen geöffnet, war sie begeistert gewesen. Der „Respekt“ war jedoch nur Show gewesen. Peter hatte immer nur seine eigene Meinung geschätzt.

Doch bei Lucas schien der Respekt aufrichtig zu sein. Nicht den Bruchteil einer Sekunde lang hatte sie den Eindruck gehabt, er hielte sie nicht für fähig, sich um Marnie zu kümmern. Und dafür respektierte sie ihn.

Es sprach für sein Selbstvertrauen, dass er nicht das Bedürfnis hatte, ihr genaue Vorgaben zu machen – einer Fremden, von deren Fähigkeiten er keinerlei Kenntnis hatte. Einer Fremden, die ein wenig unhöflich zu ihm gewesen war, wenn sie jetzt darüber nachdachte. Zu seinem Sohn war sie herzlich und nett gewesen, zu ihm jedoch abweisend … bis zu diesem Blick zwischen ihnen, der sie hatte dahinschmelzen lassen.

„Alles in Ordnung, Kiara?“, fragte Marnie.

Kiara schüttelte den Kopf, als könne sie so das Bild von Lucas verscheuchen. „Ich freue mich einfach nur, dass Ihr Baby das erste war, dem ich hier auf die Welt geholfen habe“, sagte sie.

„Sie und Lucas haben mich davor bewahrt, mein Kind draußen zu bekommen.“ Marnie lachte, ehe sie einen Seufzer ausstieß. „Haben Sie schon die Gelegenheit gehabt, mit ihm zu plaudern?“

Verneinend schüttelte Kiara den Kopf, auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Er hatte versucht, sich mit ihr zu unterhalten, sie hatte ihn jedoch abgewürgt.

„Er ist so ein guter Mensch“, fuhr Marnie fort. „Nicht jeder wäre in seiner Situation so nett und fürsorglich wie er.“

Kiara zog die Augenbrauen zusammen. „Welche Situation?“

Marnies Blick flog zu der offenen Tür, dann zurück zu Kiara. „Eigentlich sollte ich das nicht sagen, aber ein guter Mensch wie er verdient es wirklich, eine ganz besondere Frau kennenzulernen.“

Wie mich?

Marnie unterdrückte ein Gähnen.

„Warum ruhen Sie sich nicht ein bisschen aus?“ Kiara half ihr, die Decken und Kissen zu richten, während ihr Lächeln unweigerlich zu einem breiten Strahlen wurde, als hätte sie gerade das schönste Weihnachtsgeschenk ihres Lebens bekommen.

Lucas Wilde ist nicht verheiratet!

Sie versuchte, ihr Lächeln zu verbergen. Sich einen Freund zu angeln stand nicht auf ihrer Liste. Sondern Babys auf die Welt bringen und ihr Haus schmücken, um Spenden für einen guten Zweck zu sammeln.

Trotzdem … die paar Minuten mit Lucas heute hatten ihr eine Seite von ihm gezeigt, die ihr wirklich gefiel. Abgesehen von den sexy Haaren, den wunderschönen grauen Augen und diesen Lippen, die so einladend und wie zum Küssen gemacht aussahen …

Ein Bild schoss durch ihren Kopf. Sie selbst in einem sexy Elfenkostüm, ein Bein verführerisch um eine riesige Zuckerstange geschlungen. Und Lucas trug nichts als eine Weihnachtsmütze …

Kiara! Hör auf! Er ist ein alleinerziehender Vater, kein Lustknabe.

Sie deckte Marnie zu, die dabei war, einzuschlafen. Ihre kleine Tochter war bereits eingenickt. Dann ging Kiara zur Rezeption, um ihre Notizen zu machen.

„Das ist ja mal ganz etwas Neues.“ Nya lächelte, als Kiara näher kam. „Es kommt nicht oft vor, dass jemand erfreut hierher hüpft, um seinen Bericht zu schreiben.“

„Bin ich gehüpft?“ Kiara hatte es nicht einmal gemerkt. Der Lucas-Effekt? „Es war eine tolle Geburt“, sagte sie. „Das gibt mir immer Auftrieb.“

„Dann ist Hebamme ganz sicher der richtige Beruf für Sie, wenn er Ihnen so viel Schwung verleiht.“ Nya drückte ihren Arm, ehe sie ihr zeigte, wo sie ihren Bericht schreiben konnte. Dann fügte sie hinzu, dass sie sich bald zusammensetzen sollten, um über ihre zukünftigen Patientinnen zu sprechen.

Kiara begann, die Formulare auszufüllen, doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Hatte Lucas Wilde sie wirklich zum Hüpfen gebracht?

Sicher, er war umwerfend. Aber dass er Single war, wie sie herausgefunden hatte, konnte nicht der Hauptgrund dafür sein, dass sie so glücklich war. Drei Jahre lang war ein Mann schon einmal der Mittelpunkt ihrer Welt gewesen. Und das Ganze war gründlich ins Auge gegangen. Daran sollte sie sich erinnern. Und außerdem daran, dass sie sich vielleicht doch nicht so kühl gegenüber „Dr. Wilde“ verhalten sollte …

Lucas überflog die Testergebnisse seiner Patientin und die Symptome, die sie beschrieben hatte, ehe er ihr die Information gab, die sie nicht hören wollte, wie er wusste. „Ich fürchte, Sie sind in eine Phase Ihres Lebens eingetreten, die als Perimenopause bekannt ist, Mrs. Baxton.“

„Bitte …“, sagte die siebundvierzigjährige Frau und zog ein Taschentuch aus der Schachtel, die Lucas ihr hingeschoben hatte. „Sagen Sie Becky zu mir. Das tun alle. Es ist das Einzige, was mir das Gefühl gibt, noch jung zu sein. Na ja, das und mein gut dreißigjähriger Freund.“ Sie warf ihm ein Lächeln zu, tupfte ihre Tränen ab, putzte sich die Nase und lehnte sich schließlich seufzend auf ihrem Stuhl zurück. „Es war wohl ein bisschen verrückt zu glauben, dass ich vielleicht noch … Sie wissen schon …“

Lucas wusste Bescheid, aber er fand es besser, wenn Becky es selbst sagte.

„Noch ein Baby haben könnte. In meinem Alter.“

Er schob die Schachtel mit den Taschentüchern noch näher zu ihr. „Es ist nicht unmöglich, aber ich muss Sie darauf hinweisen …“

„Dass eine Schwangerschaft in meinem Alter ein Risiko ist.“ Sie warf die Hände in die Luft und stieß ein weinerliches Lachen aus.

„Es bestehen Risiken für Sie und das Baby.“ Eigene Kinder mochten für sie vielleicht nicht mehr infrage kommen, aber das hieß nicht, dass ihr Leben vorbei war.

Er tippte auf die Testergebnisse, die er ausgedruckt hatte. „Sie sind fit und gesund. Und das ist sehr viel wert.“

Lucas wollte ihr sagen, dass sie noch so viel erleben könnte, aber er wusste aus eigener Erfahrung, dass das Leben nicht immer wunschgemäß verlief. Also gab er ihr ein paar Broschüren und versicherte ihr, dass er gerne mit ihr die körperlichen Veränderungen besprach, die sie erwarteten. Und falls sie lieber mit einer Ärztin darüber sprechen wollte, könne er ihr gerne eine empfehlen.

„Du lieber Himmel, nein!“ Becky tat den Vorschlag ab. „Sie sind immer so nett, aber ich nehme an …. Ach, ich hasse es, so persönlich zu werden, aber als ich von Ihrer Situation hörte und gesehen habe, wie Sie Ihr Leben meistern, habe ich mir gedacht: Wenn der junge, attraktive Dr. Wilde einen so schrecklichen Tiefschlag verkraftet und trotzdem weitermacht … dann kann ich das auch.“ Sie schlug die Hand vor den Mund und sah ihn betreten an. „Ich hoffe, das ist nicht zu aufdringlich? Es ist nur … in einem kleinen Ort wissen die Menschen übereinander Bescheid. Aber auf freundliche Weise.“

„Ich weiß“, sagte er. „Man wird hier sehr herzlich aufgenommen.“

Unzählige Eintöpfe und Aufläufe waren nach seinem Einzug auf seine vordere Veranda gestellt worden. In Carey Cove war man noch eine Gemeinschaft. Er konnte sich nicht länger verstecken und seine Wunden lecken, wie er es in Penzance mit nicht einmal dreißig Jahren getan hatte, als Vater eines sechs Monate alten Sohnes und frisch verwitwet.

Er hatte am eigenen Leib schmerzlich erfahren müssen, dass es nach einem Todesfall nicht darum ging zu vergessen. Denn wie könnte man einen Menschen vergessen, dem man Liebe bis zum Ende des Lebens geschworen hatte? Das funktionierte nicht, weil man diesen Menschen immer noch liebte. Besonders, wenn man jeden Morgen neben einer dreijährigen Ausgabe dieser Person aufwachte.

„Wie machen Sie das nur?“, fragte Becky. „Ihr Leben weiterführen, auch wenn es nicht annähernd so aussieht, wie Sie sich das vorgestellt haben?“

„Gute Frage“, meinte er. „Für mich und Harry – meinen kleinen Jungen – ging es darum, einen Weg zu finden, mit der neuen Realität zu leben. Für ihn war es natürlich nicht so schwierig, aber …“

Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Er wusste nicht warum, aber irgendetwas sagte ihm, dass Kiara aus dem gleichen Grund wie er umgezogen war. Um einen Neuanfang zu machen.

Der Verlust seiner Frau war schrecklich, aber er konnte seine Liebe wenigstens seinem Sohn schenken und dafür sorgen, dass es ihm gut ging und er glücklich war, so wie sie es für alle ihre Kinder gewollt hatten – ihr Kind, verbesserte er im Stillen. Denn es würde keine weiteren Kinder geben. Nicht, wenn er sich nicht wieder verliebte. Das Risiko einging und daran glaubte, dass es diesmal für immer sein würde.

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Patientin. „Haben Sie schon mal an Adoption gedacht? Oder ein Pflegekind?“

Sie schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht.“ Becky nahm sich noch ein Taschentuch und setzte ihr übliches strahlendes Lächeln auf. „Es ist mir so peinlich, hier vor Ihnen zu heulen. Ich werde mir etwas üb...

Autor

Annie Oneil
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Karin Baine
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Ann Mc Intosh
<p>Ann McIntosh kam in den Tropen zur Welt, verbrachte einige Jahre im kalten Norden und lebt jetzt mit ihrem Ehemann im sonnigen Florida. Sie ist stolze Mutter von drei erwachsenen Kindern, liebt Tee, Basteln, Tiere (außer Reptilien!), Bacon und das Meer. Sie glaubt fest an die heilenden und inspirierenden Kräfte...
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Rachel Dove
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