Julia Royal Band 14

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  • Erscheinungstag 21.10.2022
  • Bandnummer 14
  • ISBN / Artikelnummer 9783751507592
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Barbara Wallace, Maisey Yates, Jennie Lucas

JULIA ROYAL BAND 14

1. KAPITEL

Das Portemonnaie war weg.

Arianna wurde schlecht. Sie lehnte sich zitternd gegen eine Mauer und atmete tief ein. Dann durchwühlte sie ihre Handtasche noch einmal.

Lippenstift. Handdesinfektionsgel. Pass.

Kein Portemonnaie. Und kein Handy.

Wie hatte das passieren können? Nach dem Frühstück waren sie sicher noch drinnen gewesen. Sie hatte doch die Tasche kontrolliert!

Aber Moment mal … am Times Square hatte eine Frau ihr einen Linienplan der U-Bahn vors Gesicht gehalten und um Hilfe gebeten. Ein Mann hatte sie genau in dem Augenblick angerempelt. Bestimmt waren die beiden Komplizen, und einer von beiden hatte Geldbörse und Telefon gestohlen, als sie, Arianna, abgelenkt war.

Wie hatte sie nur so dumm sein können?

Das passierte also, wenn man vor seinen Problemen weglaufen wollte: Man handelte sich noch mehr ein.

Sie schloss fest die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Zwei, drei Wochen, höchstens einen Monat – mehr hätte sie doch nicht gebraucht.

Zum mindestens hundertsten Mal verfluchte sie ihre Dummheit. Hätte sie auf ihren Instinkt gehört, hätte sie gar nicht erst weglaufen müssen.

Dann müsste sie sich jetzt nicht zwischen einer Ehe ohne Liebe und einem Skandal im Königshaus entscheiden. Dank der Taschendiebe eher früher als später. Ohne Geld konnte sie nicht in Amerika bleiben.

Ohne Geld kein Essen. Keine Unterkunft. Nicht einmal mehr in dem grässlichen Hotel, in dem sie abgestiegen war. Der Besitzer hatte sie informiert, sie müsse am Ende der Woche die Rechnung zahlen oder er würde sie auf die Straße setzen.

All das hatte ihr Kind nicht verdient!

Erstaunlich, wie eine kleine rosa Linie dein ganzes Leben ändern kann, dachte Arianna. Zuerst hatte sie Stress vermutet, als ihre Regel ausblieb. Immerhin hatte sie sich gerade erst von Manolo getrennt. Außerdem war sie nur zwei Mal mit ihm … nun ja, im Bett gewesen.

Zwei misslungene Versuche, Gefühle zu vertiefen, die gar nicht vorhanden waren.

Nach dem zweiten Monat konnte sie sich freilich nicht mehr mit Stress herausreden. Und als sie die rosa Linie sah, schien für einen Augenblick lang die Welt stillzustehen.

Arianna hatte nicht gewusst, was sie tun sollte. Also war sie weggelaufen. War verschwunden, um in Ruhe entscheiden zu können, welches das kleinere von den beiden Übeln war, die ihr zur Wahl standen.

Plötzlich fegte ein eisiger Windstoß die Straße entlang und erinnerte sie daran, wie prekär ihre Lage war. Sie schlug den Mantelkragen hoch und hob, mit echt königlichem Gleichmut, das Kinn.

Vielleicht fiel ihr ja auf dem Heimweg nach Corinthia im Flugzeug eine Lösung ein.

Arianna ging weiter und hielt dann an, weil ein Lieferant mit einer Sackkarre eben aus einem Lokal kam. Es hieß Fox Club, wie ein Schriftzug auf der Markise verkündete. Was mochte das wohl für ein Club sein? Egal! Das Lokal war offen, und drinnen durfte sie hoffentlich telefonieren.

Sie trat über die Schwelle – und in eine andere Zeit. Zumindest fühlte es sich für sie so an. Das Lokal sah aus wie eine der Kneipen in altmodischen amerikanischen Krimis: Nischen mit hochlehnigen Sitzen, die mit weinrotem Leder bezogen waren, dunkles, fast schwarzes Holz, funkelnde Kronleuchter, die den Raum mit einem weichen Licht füllten.

Links zog sich ein langer Tresen aus dunklem Holz mit Messinggeländer hin. Dahinter an der Wand Regale mit blitzblanken, funkelnden Gläsern in allen möglichen Formen und für alle möglichen Drinks. An der Kasse stand ein untersetzter Afroamerikaner im typischen Outfit eines Barkeepers. Er machte sich Notizen auf einem Klemmbrett und blickte erst hoch, als Arianna sich räusperte.

Sofort zog er ein Formular unter dem Tresen hervor und reichte es ihr mit den Worten: „Füllen Sie das schon mal aus. Ich sage dem Besitzer, dass Sie hier sind.“

„Wieso das?“, fragte sie verblüfft.

„Sie sind doch wegen des Jobs hier, oder?“ Er wies mit dem Daumen auf einen Zettel im Fenster.

Obwohl die Schrift spiegelverkehrt war, konnte sie die Buchstaben durch das dünne Papier entziffern: Aushilfe gesucht.

Ihr kam eine Idee. Eine dumme Idee … Nein, sie konnte nicht in einem Restaurant arbeiten! Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch keinen Tag gearbeitet. Nicht in einem richtigen Job.

Allerdings … wenn sie einen Job fand, konnte sie Geld verdienen. Geld bedeutete, sie konnte ihre Heimfahrt aufschieben. Sie würde mehr Zeit zum Nachdenken haben. Mehr Zeit, um die richtige Wahl zu treffen.

Eine innere Stimme teilte ihr mit, sie würde schon wieder einen vorschnellen Entschluss fassen, aber sie schenkte der Stimme keine Beachtung. Bevor sie ihre Meinung ändern konnte, sagte sie energisch: „Ja. Ja, ich würde den Job gern haben.“

„So viel Begeisterung weiß ich zu schätzen“, erklang nun eine Männerstimme, die nicht dem Barmann gehörte.

Arianna blickte hoch und hielt unwillkürlich den Atem an. Der Club wirkte wie ein Filmset, und dieser Mann war der Star des Films. Er war der Inbegriff männlicher Eleganz. Der zweireihige Anzug saß so perfekt, dass er nur maßgeschneidert sein konnte.

Der Mann hatte ausgeprägte Wangenknochen, seine Augen waren schiefergrau. Nur die etwas schiefe Nase bewahrte das Gesicht davor, absolut perfekt zu sein.

Und genau dieser kleine Mangel machte das Aussehen des Manns perfekt.

„Ich bin Max Brown“, stellte er sich vor.

Arianna wollte gnädig nicken, wie sie es immer tat, wenn sich ihr jemand vorstellte. Da fiel ihr ein, wo sie war, und streckte rasch die Hand aus.

„Ich bin Arianna.“

„Schön, Sie kennenzulernen, Arianna.“ Sein Griff war fest und warm. „Haben Sie auch einen Nachnamen?“

„Santoro“, antwortete sie, ohne zu überlegen. Es war ihr richtiger Name.

Zum Glück sagte der Max Brown offensichtlich nichts. „Sie wollen hier also Kellnerin werden, Miss Santoro?“

„Oh ja!“

„Das freut mich zu hören. Haben Sie schon ein Bewerbungsformular ausgefüllt?“

„Noch nicht“, mischte sich der Barmann ein.

„Ich bin gerade erst zur Tür hereingekommen“, erklärte sie.

Max lächelte umwerfend charmant. „Schon gut. Wollen wir uns setzen und das Formular gemeinsam ausfüllen?“ Er wies auf eine der Nischen. „Wir brauchen nicht viele Daten. Nur das Übliche: Name, Adresse, Sozialversicherungsnummer.“

Arianna hatte ein flaues Gefühl im Magen.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte Max sich besorgt.

„Ja, bestens“, erwiderte sie stockend.

Wahrscheinlich war ihr vor Nervosität so flau. Was sollte sie sagen, wenn er mehr über sie erfahren wollte? Sie atmete bewusst ein und aus und hoffte, die Übelkeit würde verschwinden. Es wäre bestimmt nicht verkehrt, etwas zu essen. Immerhin war es schon Mittagszeit.

„Könnte ich bitte einen Kamillentee haben und eine Scheibe trockenen Toast“, bat sie den Barmann.

„Sie sind hier bei einem Einstellungsgespräch und verlangen etwas zu essen und trinken?“ Ungläubig schüttelte er den Kopf.

Max hingegen schob ihr die Hand unter den Ellbogen. „Das finde ich eine gute Idee, Darius. Und wenn du schon dabei bist: Ich hätte gern eine Tasse Kaffee.“

Der Barmann murmelte etwas von seinem eigentlichen Job, den er sich anders vorstelle, aber er verschwand fügsam durch eine Schwingtür in irgendwelche Hinterzimmer.

„Also, setzen wir uns“, forderte Max Arianna auf und führte sie zu einer der Nischen. „Erzählen Sie mir etwas über sich. Zum Beispiel, warum Sie im Fox Club arbeiten möchten.“

„Warum wollen Menschen überhaupt arbeiten?“, entgegnete sie ausweichend.

„Üblicherweise, weil sie Geld brauchen“, antwortete er lakonisch. „Brauchen Sie Geld, Arianna? Suchen Sie deswegen einen Job?“

„Natürlich. Warum sonst?“

Nun setzten sie sich, und gleich darauf kam Darius mit einem Tablett, auf dem der Tee und der Kaffee standen. „Der Toast kommt gleich. Wird sonst noch was gewünscht?“

Die Frage war an Max gerichtet, der amüsiert lächelte. „Danke, nein. Möchtest du bei dem Einstellungsgespräch dabei sein, Darius?“

„Nein, Leute einstellen ist deine Aufgabe. Ich würde gern mit der Nachbestellung weitermachen. Flaschen stellen ja keine besonderen Ansprüche“, erwiderte er betont und blickte Arianna finster an, bevor er sich wieder hinter die Bar begab.

„Beachten Sie ihn nicht weiter“, empfahl Max ihr, zog das Jackett aus und krempelte die Ärmel seines blütenweißen Hemds hoch, wobei sich der Stoff über seinem beachtlichen Bizeps spannte. „Er wird nicht annähernd so schlimm ausgebeutet, wie er Leute gern glauben lässt. Und unter seiner rauen Schale schlägt ein sehr weiches Herz.“

„Wenn Sie das sagen.“

„Oh, der Kaffee duftet herrlich“, meinte Max erfreut. „Wir lassen uns eine Spezialmischung direkt aus Südamerika kommen.“

„Echt?“ Sie versuchte, begeistert zu klingen. Normalerweise liebte sie Kaffee, aber seit Kurzem wurde ihr allein vom Geruch übel.

„Ja. Schlechter Kaffee zum Abschluss kann ein ganzes Abendessen verderben. Und wir wollen ja, dass unsere Kunden wiederkommen.“

„Richtig.“ Sie hatte schon viele ausgezeichnete Gourmetmenüs verspeist, bei denen alles makellos gewesen war. Auch der Kaffee. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass es anders sein könnte. „Sie schenken also den Details viel Aufmerksamkeit.“

„Ja. Sie sind es, die den Erfolg oder Misserfolg eines Restaurants ausmachen.“

In dem Fall musste der Fox Club erfolgreich sein, denn Max Brown schien an alles gedacht zu haben. Die Nische zum Beispiel war so konzipiert, dass sie zwei Leuten ausreichend Privatsphäre bot und Gelegenheit zu ungestörten Gesprächen.

Max goss ihr Tee ein. „Was ist nun der Grund, warum Sie hier arbeiten möchten, Arianna? Abgesehen davon, dass Sie Geld brauchen.“

Der Geruch des Kamillentees stieg ihr in die Nase: wie Gras und noch etwas. Etwas Undefinierbares. Hatte der Tee schon immer so eklig gerochen? Wieder drehte sich ihr der Magen um.

„Also … ich habe … keinen besonderen Grund, warum …“

„Sie sind neu in der Stadt, richtig?“, unterbrach er sie.

„Ja, ich bin erst seit Kurzem hier“, erklärte sie. „Wieso wissen Sie das?“

„Weil jeder, der schon länger in New York ist, den Fox Club kennt“, antwortete Max und trank einen Schluck Kaffee. „Zumindest jeder, der mit Gastronomie zu tun hat. Also, Sie sind neu in der Stadt und brauchen einen Job.“

„Ja.“

„Wo wohnen Sie?“

„Im Dunphy Hotel“, antwortete Arianna.

Diese dreckige altmodische Absteige verdiente die Bezeichnung Hotel eigentlich nicht. Niemand würde dort nach einer Prinzessin suchen, was genau der Grund war, warum sie sich dort ein Zimmer genommen hatte.

„Interessante Wahl“, bemerkte Max trocken.

„Ich habe ein knapp bemessenes Budget“, erklärte sie.

„Verstehe.“

Wieder wurde ihr flau, und diesmal war auch Angst der Grund. Er hatte sie doch nicht erkannt, oder? In den Klatschblättern hatte bisher noch nichts von ihrem Weglaufen gestanden, aber ihr Vater würde natürlich alles daran setzen, das zu verheimlichen.

Und sie hatte ihr Aussehen verändert, so gut sie konnte. Ihre blonden Haare hatte sie einige Zentimeter gekürzt und schwarz gefärbt. Da würden selbst die Paparazzi und die Fans von Königshäusern sie nicht sofort erkennen. Die englischen Royals waren ja ohnehin viel beliebter bei der Presse als die Dynastie des kleinen Königreichs Corinthia.

Der forschende Blick aus Max’ grauen Augen verunsicherte sie jedoch. Ihr wurde immer schlechter. Sie spürte direkt, wie sich ihr Mageninhalt auf den Weg nach oben machte.

„Haben Sie Erfahrung?“, wollte Max nun wissen.

„Womit?“, fragte sie zurück und lächelte gepresst.

„Im Servieren. In der Vorweihnachtszeit ist bei uns sehr viel los. Wegen der Weihnachtsfeiern kommen oft größere Gruppen. Haben Sie damit Erfahrung?“

Arianna nickte. „Aber ja.“

Das war nicht einmal geschwindelt. Da sie seit dem Tod ihrer Mutter vor zehn Jahren für ihren Vater die Gastgeberin spielte, besaß sie genug Erfahrung in der Planung und Durchführung von Staatsempfängen. Sich Bestellungen zu merken war bestimmt nicht schwieriger als die Tischordnung für ausländische Diplomaten zu erstellen. Oder?

„Großartig. Wo haben Sie die Erfahrung gesammelt?“

„Ich? Ach so … in Italien.“

Jetzt kam also die Geschichte zum Einsatz, die sie sich ausgedacht hatte, falls jemand sie auf ihren Akzent hin ansprach. Italien war schließlich der nächste Nachbar von Corinthia und sprachlich und kulturell sozusagen eng verwandt.

„Im ganzen Land oder eher an einem speziellen Ort?“, hakte Max unerbittlich nach.

Um Zeit zu gewinnen, trank sie einen Schluck Tee. Beinah hätte sie ihn in hohem Bogen ausgespuckt, denn er schmeckte noch scheußlicher, als er roch. Rasch schob sie die Tasse weg.

„Miss Santoro?“, fragte Max besorgt.

„Ich …“ Oh nein! Nun wurde ihr so schlecht, dass sie wusste, sie würde sich gleich übergeben müssen.

Arianna sprang auf, die Hand auf den Mund gepresst.

„Zweite Tür links“, rief Max, als Arianna vom Tisch weglief.

„Was ist denn los?“, erkundigte Darius sich, der gerade einen Teller mit Toast aus der Küche brachte. „Normalerweise laufen Frauen erst nach dem zweiten oder dritten Date vor dir weg.“

„Sehr witzig! Sei so nett und hol ein Glas Wasser. Das wird sie gleich brauchen“, meinte Max. „Die Arme war richtig grün im Gesicht.“

Das hier war kein gewöhnliches Einstellungsgespräch. Oh nein! Auch keine übliche Jobsuchende. Er kannte nicht viele arbeitslose Kellnerinnen, die Kaschmir trugen. Noch dazu teure Designerware. Die erkannte er auf den ersten Blick, auch wenn er von Mode nicht viel verstand. Außerdem bewegte Arianna sich wie eine höhere Tochter. Allein schon ihre anmutige Haltung verriet, dass sie auf einem exklusiven Internat gewesen war.

Trotzdem war sie in einem Rattenloch wie dem Dunphy abgestiegen. Auch wenn sie sich in New York nicht auskannte, passte das nicht zu dem anderen. Dem Flair von Reichtum und Klasse. So schöne Frauen wie sie wohnten in einem Fünf-Sterne-Hotel in Luxussuiten. Begleitet von einem Stab von Untergebenen. Oder einem Mann.

Auf keinen Fall bewarben sie sich um Jobs als Aushilfskellnerinnen.

„Ist dir der Haarschnitt aufgefallen?“, fragte Darius, der mit dem Glas Wasser zurückkam.

Ja, sicher. Er war sichtlich selbstgemacht und das alles andere als gut.

„Sie versteckt sich vor jemandem“, vermutete Max.

„Wenn sie denkt, die Frisur hilft ihr dabei, ist sie verrückt.“

„Hochgesteckt sehen die Haare wahrscheinlich okay aus“.

„Sag bloß nicht, du willst sie einstellen!“ Darius klang bestürzt.

„Irgendetwas sagt mir, dass sie in der Klemme steckt.“

„Na toll! Noch so eine Schutzbedürftige, die du wie ausgesetzte Kätzchen aufliest.“ Darius verdrehte die Augen. „Hast du aus Shirleys Schicksal denn nichts gelernt? Du kannst nicht im Alleingang die Welt retten.“

„Ich habe nie gesagt, dass ich das will.“

Max wollte nur einige verzweifelte Seelen retten, die seinen Weg kreuzten, das war alles. Dass eine wie seine frühere Pianistin sich weigerte, gerettet zu werden, war kein Grund aufzugeben.

Schon gar nicht im vorliegenden Fall.

„Sie wohnt im Dunphy“, erklärte er leise.

Darius stieß einen Pfiff aus.

„Genau!“ Das war der eine Hinweis auf eine Notlage, in der Arianna steckte. Dazu kam Verzweiflung in ihrem Blick. Ein ängstlicher Schatten, der verriet, dass nicht alles so war, wie sie vorgab. Er kannte diesen Blick. Seine Mutter hatte ihn ihr Leben lang gehabt.

Na gut, Arianna lief vielleicht nicht vor einem gewalttätigen Ehemann davon, aber vor irgendetwas war sie auf der Flucht. Er, Max Brown, würde auf keinen Fall eine verzweifelte Frau auf die Straße setzen. Der Ausdruck in den Augen seiner Mutter verfolgte ihn schon zu Genüge, und das seit Jahren. Mehr davon brauchte er nicht.

„Außerdem musst du zugeben, dass sie fantastisch aussieht“, meinte Max nun.

„Schon, aber kann sie servieren? Willst du das Risiko eingehen? Du weißt doch, wie es in der Vorweihnachtszeit zugeht.“

„Ja, es ist die Zeit guten Willens gegenüber den Menschen“, erwiderte Max.

„Sehr witzig.“

Arianna kam zurück. Sie war weiß wie ein Laken und zitterte, trotzdem sah sie umwerfend und selbstsicher aus. Max fühlte sich wie magnetisch zu ihr hingezogen, und ihm wurde ganz warm ums Herz.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich.

Sie nickte. „Ja, bestens.“

Das war eindeutig gelogen. Er schob ihr das Glas Wasser hin.

„Danke!“, sagte sie leise.

„Gern geschehen. Also, wo waren wir stehengeblieben? Sie wollten mir gerade erzählen, wo Sie überall gearbeitet haben, Arianna.“

„Richtig. Wo ich gearbeitet habe. Es ist so, dass …“

„Es schon länger her ist“, ergänzte er den Satz, als sie nicht weiterwusste.

„Genau! Mit den Referenzen ist es also ein Problem. Ich glaube nicht, dass sich meine früheren Arbeitgeber an mich erinnern.“

Max lehnte sich zurück und betrachtete sie eindringlich. Er würde zehn zu eins wetten, dass ihre einzige Erfahrung mit Kellnern darin bestand, Trinkgeld zu geben. Es war wirklich keine gute Idee, ihr einen Job als Serviererin anzubieten.

Dann sah er, wie sehr sie sich bemühte, Haltung zu bewahren, und sein Gewissen überstimmte seinen gesunden Menschenverstand.

„Na gut, dann verzichte ich auf Referenzen“, sagte Max. „Meinen Sie, dass Sie sich morgen gut genug fühlen, um mit der Arbeit anzufangen?“

„Ich bekomme den Job?“, fragte sie erstaunt und sah ihn groß an. Ihre Augen strahlten wie Sterne.

Welche Wirkung das auf ihn ausübte, wollte er sich nicht anmerken lassen. „Das war doch, was Sie wollten, oder?“

„Ja!“ Sie beugte sich vor, von dezentem Parfümduft umweht, und nahm seine Hand. „Ich danke Ihnen, Mr. Brown. Sie haben keine Ahnung, wie viel mir das bedeutet.“

Widerstrebend löste er die Hand aus ihrem Griff und stand auf. „Darius wird Ihnen alles Nötige erklären. Willkommen im Team des Fox Clubs, Miss Santoro.“

Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Darius den Kopf schüttelte. Manchmal war sein Freund echt zu pessimistisch. Sie halfen doch nur einer tollen Frau aus der Klemme.

Was konnte da Schlimmes passieren?

2. KAPITEL

Arianna war die schlechteste Kellnerin, die Max jemals gesehen hatte. Möglicherweise war sie die schlechteste Kellnerin der Welt.

„Ich habe dich zu warnen versucht.“ Darius schob ihm eine Tasse Kaffee hin. „Aber du und dein Helfersyndrom habt nicht auf mich gehört.“

„Sie ist ein bisschen eingerostet, das gebe ich zu“, meinte Max.

„Eingerostet? In den vergangenen zwei Tagen hat sie drei Tabletts fallen lassen. Ganz zu schweigen von den Bestellungen, die sie durcheinandergebracht hat. Lorenzo und seine Küchentruppe drohten, von ihr keine mehr anzunehmen. Darlene und die anderen Kellnerinnen sind auch sauer“, berichtete Darius weiter. „Arianna verschwindet während ihrer Schicht ständig in den Aufenthaltsraum der Angestellten.“

Das war Max auch schon aufgefallen. Er hatte seiner neuen Angestellten in den vergangenen zwei Tagen sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei war ihm klar geworden, dass er sie nicht nur aus Hilfsbereitschaft engagiert hatte. Sie sah einfach hinreißend aus in dem schwarzen Satinkleid im Stil der Vierzigerjahre, das die Kellnerinnen im Club trugen. Er hatte diese Kleider extra anfertigen lassen, nachdem er ein Foto von Grace Kelly gesehen hatte, auf dem sie ein ähnliches trug: verführerisch, aber mit Klasse.

Bei Arianna kam es besonders gut zur Geltung. Bestimmt verfluchte jeder Mann den Ausschnitt des Kleids, der nicht mehr zeigte als den Ansatz des Dekolletés. Max jedenfalls tat es.

Die Haare hatte sie hochgesteckt, was ihren schlanken Hals betonte. Max hatte genug Dates mit schönen Frauen gehabt, aber keine war so hinreißend gewesen wie seine neue Serviererin. Normalerweise ließ er sich nicht mit Angestellten ein, aber bei Arianna war er schwer versucht, es doch zu tun.

„Darlene hat sie gefragt, ob sie krank sei, aber das hat sie verneint“, berichtete Darius weiter. „Glaubst du, sie nimmt Kokain?“

„Nein.“ Max war schon genug Drogensüchtigen und Alkoholikern begegnet, um die Anzeichen zu erkennen. „Eher hat sie einen nervösen Magen. Aber sag den anderen Serviererinnen, sie sollen es mich wissen lassen, wenn ihnen Seltsames auffällt.“

„Heißt das, du lässt sie weiterhin kellnern?“

„Wie soll sie es denn sonst lernen? Noch ein, zwei Tage, und sie wird es können.“

Ein lautes Krachen war zu hören.

„Ein, zwei Tage, ja?“, fragte Darius süffisant.

Am anderen Ende des Raums hatte die neue Angestellte gerade eine Schüssel Salat auf den Gast fallen lassen. Lieber Himmel! War das nicht der Zweite Bürgermeister?

Max fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Lass zwei Flaschen vom Amatucci an den Tisch bringen und sag, dass die gesamte Zeche aufs Haus geht.“

Er beobachtete, wie der Zweite Bürgermeister Ariannas Hand wegschlug und sich dann ein Blatt Rucola vom Revers zupfte. Hoffentlich genügten die zwei Flaschen exquisiten Rotweins und untertänigste Entschuldigungen, um den Mann zu besänftigen.

„Und was ist jetzt mit deinem neuesten Kätzchen?“, wollte Darius wissen.

„Setz sie für den Rest des Abends irgendwo ein, wo sie kein Unheil anrichten kann.“

„Das heißt, du wirfst sie nicht raus?“

Max hatte Angestellte schon wegen geringfügigerer Vergehen entlassen. Nur konnte er Ariannas hilflosen Gesichtsausdruck nicht vergessen und auch nicht, dass sie in der miesesten aller miesen Absteige wohnte. Abgesehen davon, dass er sich zu Arianna hingezogen fühlte, blieb die Tatsache, dass sie eine Frau war, die sich auf der Flucht befand. Wovor auch immer.

Was wäre er für ein Mann, wenn er sie jetzt vor die Tür setzte?

„Morgen versuchen wir es mit ihr als Empfangsdame“, ordnete er an und fragte sich, warum er das nicht gleich von Anfang an so angeordnet hatte.

Wer würde nicht gern von ihr zum Tisch geführt werden?

„Du bist der Boss. Ich hoffe nur, dass du weißt, was du tust, Max.“

Das hoffe ich auch, stimmte Max im Stillen zu.

„Arianna, kann ich Sie einen Moment sprechen?“, fragte der Oberkellner Javier mit seiner durchdringend nasalen Stimme.

Arianna wurde direkt übel davon. Genauer gesagt: noch übler. Was hatte sie denn jetzt wieder angestellt?

Javier stand an dem Empfangspult mit dem Sitzplan und winkte sie zu sich. Seine steife Haltung erinnerte sie an den Musiklehrer, den sie mit zwölf Jahren gehabt hatte. Bei dem hatte sie vermutet, dass er nebenbei als Gefängnisaufseher arbeitete. Wahrscheinlich hatte Javier einen Nebenjob im selben Kittchen.

„Ja, was gibt es?“, fragte sie höflich.

„Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen die Gäste in Sektor Vier setzen, oder?“

„Das habe ich doch!“

„Nein, das ist Sektor Drei!“

Drei oder Vier, was machte das schon? Vier Leute wollten einen Tisch, also gab sie ihnen einen mit vier Stühlen.

Javier seufzte theatralisch, also war es anscheinend nicht egal. „Die Sitzordnung in einem Restaurant ist wie eine mathematische Gleichung. Wenn man einen Fehler auf der einen Seite macht, wirft es das ganze Konzept über den Haufen. Nun muss ich die ganze Zuteilung neu planen. Wieder einmal!“

Trotzig hob Arianna das Kinn. Am liebsten hätte sie gesagt, man hätte ihr vielleicht mehr als fünf Minuten zugestehen sollen, um sich mit der Tischnummerierung vertraut zu machen. Normalerweise hatte sie keine Schwierigkeiten, sich Informationen sofort zu merken, aber in letzter Zeit war ihr Gehirn wie mit Watte vollgestopft. Erschwerend kam hinzu, dass sie viel Energie aufwenden musste, um nicht ständig auf die Toilette zu laufen und sich zu übergeben.

„Übrigens, haben Sie eben einem Paar gesagt, sie könnten nicht in einer der hinteren Nischen sitzen?“, fragte Javier weiter.

„Die hatten nicht vorbestellt“, verteidigte sie sich. „Und Sie haben mir gesagt, die Nischen seien alle reserviert. Ich soll doch nicht die Sitzordnung durcheinanderbringen!“

„Sie werden ab sofort zu mir kommen, wenn jemand einen besonderen Wunsch äußert,“, funkelte Javier sie an. „Auf keinen Fall will ich, dass Sie eigenmächtig Entscheidungen treffen.“

Er zog das Reservierungsbuch zu sich und murmelte etwas, das wie „nutzlos“ und „hohlköpfig“ klang.

Arianna sah plötzlich rot. Sie atmete kurz durch und blickte den Oberkellner von oben herab an. „Hören Sie mal gut zu, Sie …“

„Entschuldigung!“ Eine großgewachsene ältere Frau kam auf sie zu.

Das hinderte Arianna daran weiterzusprechen. Sie erkannte auf den ersten Blick, dass das Kleid der Kundin zwar altmodisch, aber ein maßgeschneidertes Designermodell war. In den Händen hielt die Dame eine Ledertasche und einen großen Behälter.

„Javier, es ist fünf nach sieben“, begann die Dame blasiert und übertraf damit sogar noch Javiers vornehmen Ton. „Mr. Riderman und ich haben unmissverständlich eine Reservierung für sieben Uhr vornehmen lassen. Ich habe es dieser jungen Frau hier mitgeteilt, aber sie sagte mir, ich müsse warten.“

„Der andere Gast ist noch nicht eingetroffen“, rechtfertigte Arianna sich.

Diese Regel hatte Javier schließlich selbst aufgestellt, also würde er doch gutheißen, dass sie sich daran gehalten hatte.

Das tat er nicht, sondern wurde gegenüber der Dame ganz beflissen. „Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Mrs. Riderman. Arianna ist neu bei uns. Ich hätte mich persönlich um Sie gekümmert, wenn ich Sie hätte hereinkommen sehen. Darf ich Ihnen und Mr. Riderman einen Cocktail auf Kosten des Hauses servieren?“

„Also, Mr. Riderman trinkt heute Abend nichts. Ich nehme einen doppelten trockenen Martini“, erwiderte die Dame.

„Kommt sofort.“ Javier verbeugte sich tiefer, als es die Palastwachen in Corinthia taten. „Wenn Sie mir jetzt folgen würden, Mrs. Riderman? Ihr üblicher Tisch ist bereit.“

Es gab also Ausnahmen bei den Regeln, die Javier aufstellte! Die sollte er besser auf einer Liste zusammenfassen und neuen Angestellten aushändigen, dachte Arianna rebellisch.

Javier kam zurück. „Sie haben Glück, dass Mrs. Riderman nicht nachtragend ist“, sagte er zu ihr und blickte sie finster an.

Das ließ sie nicht widerspruchslos durchgehen. Wie kam dieser verklemmte Wicht dazu, sie belehren zu wollen?

„Sie haben mir ausdrücklich mitgeteilt, dass eine Gesellschaft erst an den Tisch darf, wenn sie vollzählig ist.“

„Das ist hier der Fall.“

„Nein! Mr. Riderman …“ Sie verstummte, als ihr der große Behälter einfiel, den Mrs. Riderman mit sich führte. Ein schlichter Behälter aus Bronze, wie eine Vase. Mit Deckel! „Wollen Sie damit sagen, die Dame isst zu Abend mit den sterblichen Über…“

„Nicht so laut“, zischte Javier. „Mrs. Riderman ist eine unserer besten Kundinnen, und sehr einflussreich in der New Yorker Gesellschaft.“

Außerdem isst sie im Beisein der Asche ihres Mannes zu Abend, ergänzte Arianna im Stillen schaudernd. „Weiß Mr. Brown von ihrer Angewohnheit?“

„Natürlich.“

„Ach so.“ Und es störte ihn nicht? „Tut mir leid, Javier, ich werde den Fehler nicht noch mal machen.“ Selbst wenn die nächste Gesellschaft mitsamt einem Sarg daherkam, würde sie die prompt an den Tisch bringen!

„Sicher nicht. Sie haben für heute genug Schaden angerichtet.“

„Schicken Sie mich nach Hause?“

Er schüttelte den Kopf. „Das kann nur Max. Fürs Erste möchte ich Sie einfach aus dem Weg haben.“

Sie konnte sich denken, was auf sie zukam, und sie behielt recht: Sie wurde dazu abkommandiert, Besteck in Servietten zu rollen.

Innerhalb kurzer Zeit hatte sie den Dreh raus, und nach fünf Minuten hatte sie vor sich eine kleine Pyramide aus den Bündeln gebaut. Wenn sie so weitermachte, würde das Restaurant bis Neujahr damit versorgt sein.

Wie schön wäre es jetzt zu Hause, dachte Arianna und seufzte leise. Wenn sie im Palast wäre, könnte sie sich in ihr großes Bett kuscheln und einen Bediensteten nach einer Tasse Pfefferminztee schicken. Stattdessen taten ihr die Füße ebenso weh wie ihr Rücken, und ihr Magen rebellierte ständig gegen die Essensdüfte, die von der Küche herüberwehten.

Am liebsten hätte sie einfach die Augen zugemacht und die nächsten vierundzwanzig Stunden durchgeschlafen.

Einer Entscheidung war sie nach drei Tagen nicht näher gekommen.

Wieder einmal wurde ihr übel, und sie presste die Faust gegen die Lippen. Es war beinah so, als wollte ihr das Kind etwas sagen. Nur was? Bleiben oder Rückkehr? Wenn sie es doch nur wüsste!

Arianna wünschte, sie hätte Manolo nicht durchschaut und seinen wahren Charakter erkannt. Dann wäre der Gedanke, ihr ganzes Leben mit ihm zu verbringen, nicht so niederschmetternd.

Ihr Vater war von dem erfolgreichen Industriellen beeindruckt, und er war begeistert gewesen, als sie angefangen hatte, mit Manolo auszugehen. Hochzeit und ein Enkelkind würden ihren Vater unglaublich glücklich machen.

Dieser Wunsch, ihm eine Freude zu bereiten, hatte sie leider in die Klemme gebracht. Nur deshalb hatte sie ihre innere Stimme nicht beachtet, die Zweifel anmeldete. Sie hatte sich eingeredet, es würde nichts ausmachen, dass ihr bei Manolos Küssen vor Glück nicht schwindlig wurde. Es war pure Einbildung, sagte sie sich, wenn sie manchmal den Eindruck hatte, er wäre lieber mit ihrem Vater, dem König, zusammen als mit ihr.

Keine Beziehung war immer zu hundert Prozent perfekt. Vielleicht würden die Zweifel verschwinden, wenn sie Manolo wirklich nahe kam … und mit ihm ins Bett ging.

Das hatte sie getan – und dann den Slip einer anderen Frau in seiner Wohnung entdeckt. Die Schuppen waren ihr leider etwas zu spät von den Augen gefallen.

„Sie machen das falsch“, sagte Max hinter ihr, fasste ihr über die Schultern und nahm ihr das Bündel aus der Hand. „Die Enden müssen fest eingeschlagen werden, sonst rutscht das Besteck heraus.“

Arianna spürte seinen Atem im Nacken. In Corinthia galt es als respektlos, einem Mitglied der königlichen Familie so nahe zu kommen. Ein Höflichkeitsabstand musste eingehalten werden. Max’ Arme umfassten sie fast. Ihre Haut begann zu prickeln.

„So, und jetzt versuchen Sie es noch mal“, forderte er sie auf.

Sie tat das, was sie schon dutzendmal an diesem Abend – und zwar richtig – gemacht hatte, aber plötzlich schien sie zwei linke Hände zu haben und warf den ganzen Stapel um, anstatt ihn aufzubauen.

„Es wäre leichter, wenn Sie nicht so nahe bei mir stehen und mir auf die Finger schauen würden“, beschwerte sie sich.

„Oh, Entschuldigung.“ Er stellte sich neben sie und sah ihr weiterhin zu.

Sie atmete tief durch und rollte nun ein richtig schön festes Bündel zusammen.

„Gut“, lobte Max. „Nur tun Sie bitte bei den nächsten auch einen Löffel dazu.“

Arianna ließ die Schultern hängen.

„Ich höre, Sie haben Probleme damit, sich als Empfangsdame einzugewöhnen“, begann er sachlich und schaute in den Speisesaal.

Das war vermutlich eine nette Umschreibung für: Sie machen eine Menge Fehler.

„Ich konnte nichts dafür“, verteidigte sie sich. „Niemand hat mir gesagt, dass die Frau spinnt.“

„Wie bitte?“

„Ich meine die ältere Frau in dem grünen Kleid. Woher sollte ich wissen, dass der zweite Platz für ihren verstorbenen Gatten ist? Den sie in einer Urne mit sich führt?“

„Verstehe! Es geht um Mrs. Riderman. Ja, da hätte Javier Sie wirklich warnen müssen, dass sie und ihr ‚Gatte‘ jeden Freitag hier speisen.“

„Echt? Verletzt das nicht irgendwelche Hygienevorschriften?“

„Vermutlich schon.“ Er zuckte die Schultern. „Aber da Mrs. Riderman die meisten Häuser in dieser Straße gehören, sind wir bereit, den Verstoß zu riskieren.“

„Oh! Ich wusste nicht, dass die Dame so wichtig ist.“

„Alle unsere Gäste sind wichtig“, belehrte Max sie. „Ohne sie könnten wir nicht existieren. Hat Javier Ihnen denn gesagt, dass er jedes Mal den Sitzplan neu ausarbeiten muss, wenn Sie Kunden an den falschen Tisch bringen?“

„Ja, das hat er.“ Mehr als einmal, fügte sie im Stillen hinzu.

„Hat er auch erwähnt, dass es jedes Mal größere Verzögerungen nach sich zieht?“

„Nein, das nicht.“ Die Zurechtweisung gab ihr das Gefühl, völlig unfähig zu sein.

Max hatte wahrscheinlich in seinem ganzen Leben nicht so viele Fehler gemacht wie sie in den letzten zwei Tagen.

„Ich hatte Schwierigkeiten, mir den Sitzplan zu merken“, entschuldigte sie sich kleinlaut. „Mein Gehirn …“

Sie schüttelte den Kopf. Max brauchte nicht zu wissen, wie träge ihr Verstand arbeitete oder dass es sie sehr viel Willenskraft kostete, die Übelkeit im Zaum zu halten, die sie den ganzen Tag lang quälte.

„Es tut mir sehr leid“, sagte Arianna dann. „Ich werde in Zukunft besser aufpassen.“

„Ich fürchte, dafür ist es zu spät. Javier weigert sich, Sie weiter als Empfangsdame einzusetzen.“

Das war nicht fair! So schrecklich viele Fehler machte sie doch gar nicht!

„Was soll ich denn sonst tun?“, erkundigte sie sich.

„Ich weiß es nicht“, antwortete er nach kurzem Schweigen. „Sie können nicht als Empfangsdame arbeiten, aber ich kann Sie auch nicht mehr servieren lassen. Nicht nach dem, was Ihnen mit dem Zweiten Bürgermeister passiert ist.“

Sie sah ihn fragend an.

„Der Mann, auf den Sie gestern den Salat haben fallen lassen, Arianna.“

Ach, du lieber Himmel! In Corinthia gab es keine Zweiten Bürgermeister, aber sie wusste, wie bedeutend dieser Posten in New York war.

„Kein Wunder, dass er mich gefragt hat, ob ich nicht wüsste, wer er ist“, überlegte sie laut.

Um Max’ feste Lippen spielte ein Lächeln. „Ja, der Gute hält sich selber für eine lebende Legende.“

„War er sehr wütend?“, fragte sie besorgt.

Sie hatte sich zu entschuldigen versucht, aber der grässliche kleine Mann hatte das nicht akzeptiert, sondern sie angeblafft, sie solle ihn in Ruhe lassen.

„Na ja, nicht so schlimm. Zwei Flaschen besten Weins aus der Toskana haben ihn besänftigt.“

„Da bin ich aber froh!“

„Ich auch“, stimmte Max ihr zu. „Obwohl, so ganz unter uns gesagt: Der Mann könnte ab und zu eine Dusche mit knackigem Salat vertragen, damit er nicht zu überheblich wird.“ Nun lächelte er. „Also, Sie haben noch nie gekellnert, richtig?“

„Natürlich habe ich … Woher wissen Sie das, Max?“

„Haben Sie wirklich geglaubt, mir würde Ihre totale Unerfahrenheit nicht auffallen?“

„Nein, nicht wirklich.“ Vor allem nicht, da er sie ständig intensiv beobachtete. Sie wurde rot. „Ich hatte allerdings gehofft, ich würde es schnell lernen.“

„Und? Klappt es?“

„Eher nicht. Aber wenn Sie gewusst haben, dass ich unfähig bin, warum haben Sie mich dann überhaupt eingestellt?“, wollte sie wissen.

„Weil ich immer wieder auf rührselige Geschichten hereinfalle.“

„So eine habe ich Ihnen nicht erzählt!“, wehrte sie sich.

„Das war nicht nötig“, informierte er sie. „Und ich hoffte wohl – genau wie Sie –, Sie würden das Kellnern schnell lernen.“

„Ich hatte keine Ahnung, wie kompliziert das Ganze ist“, gab sie zu. „Es muss alles so viel schneller gehen, als ich dachte.“

„Ja, es ist gerade die geschäftigste Zeit des Jahres. Ich brauche sofort eine Kellnerin, die das Tempo durchhält. Ich habe einfach keine Zeit, jemanden anzulernen.“

„Verstehe.“ Sie war also nicht nur blöd, sondern auch völlig nutzlos.

Der Gedanke tat weh.

In den vergangenen Wochen hatte sie alle enttäuscht. Bisher hatte sie auf der ganzen Linie versagt.

„Dann hole ich jetzt meinen Mantel“, verkündete Arianna und stand auf.

Max legte ihr die Hand auf den Arm. „Nicht so hastig! Sie müssen nicht sofort gehen. Das ist jetzt die letzte Runde an Gästen. Lassen Sie sich ein warmes Essen geben, und warten Sie, bis wir das Restaurant schließen. Ich bringe Sie dann nach Hause, und unterwegs überlegen wir uns, was Sie tun können. Einverstanden?“

Wie konnte sie Nein sagen, wenn sein Blick so viel Fürsorge verriet? So viel Wärme. Das milderte ihre Enttäuschung etwas. Ja, ihr würde eine gute Erinnerungen an New York bleiben: die an Max Brown, wie er sie jetzt anschaute. Mit sanftem, mitfühlendem und erstaunlich sexy Blick.

Außerdem wäre sie dumm, das Angebot eines nicht nur warmen, sondern exquisiten Essens auszuschlagen. Ihr Magen, der neuerdings unvorhersehbar reagierte, schien bei der Aussicht auf eine richtige Mahlzeit einen Freudensprung zu machen.

„Na schön“, erklärte Arianna sich einverstanden. „Ich warte.“

„Gut.“ Max sah zufrieden aus.

Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber er schien enttäuscht gewesen zu sein, dass sie gehen wollte. Ebenso enttäuscht wie sie.

„Ich schicke Darlene mit der Speisekarte zu Ihnen. Und, Arianna, Kopf hoch!“ Mit dem Zeigefinger hob er ihr Kinn an. „Es wird alles gut. Sie werden sehen.“

Max zog sich in sein Büro zurück. Was sollte er nur tun? Er konnte Arianna unmöglich im Team behalten. Sie war eine Katastrophe. Javier hatte beim Leben seiner Mutter geschworen, er würde nie wieder mit Arianna zusammenarbeiten. Das war etwas übertrieben, aber Max wollte nicht riskieren, dass Javier ihn verließ. Der war nämlich einer der besten Oberkellner von ganz New York.

Seinen Koch hatte sie ebenfalls dazu gebracht, mit Kündigung zu drohen. Max seufzte. Er war eben zu Arianna gegangen, um sie zu feuern, doch als er gerade die entsprechenden Worte hatte sagen wollen, waren sie ihm auf den Lippen sozusagen erstorben. Getötet von dem seelenvollen Blick aus blauen Augen.

Die Augen seiner Mutter waren braun gewesen – und häufig von violetten Ringen umgeben, die sie mit Make-up zu verdecken versucht hatte. Das hatte nie funktioniert. Er hatte immer gewusst, was passiert war. Die geplatzte Lippe hatte kein Lippenstift kaschieren können.

Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob Arianna auf der Flucht vor demselben Albtraum war: einem gewalttätigen Ehemann. Sein Instinkt sagte ihm Nein. Dazu kam die Tatsache, dass sie mit ihrer sehr hellen Haut Blutergüsse nicht hätte verstecken können.

Oder versuchte er sich das jetzt nur einzureden, um sein Gewissen zu beruhigen?

Sein Gewissen plagte Max auch noch, als Darius eine Weile später anklopfte und die Tür öffnete.

„Ich wollte dir nur mitteilen, dass die letzten Gäste jetzt aufbrechen, Max“, informierte er ihn.

„Danke. Ich komme gleich und mache die Abrechnung.“

„Okay. Übrigens: stimmt es, dass du dein neues Kätzchen wieder auf die Straße setzt?“

„Nenn sie nicht so!“, verlangte Max erbost. „Wer hat behauptet, dass sie geht?“

„Das Kätz… die junge Dame selbst. Als Darlene ihr ein Steak gebracht hat, sagte Arianna mir, es sei ihre letzte Mahlzeit im Club.“

„Oh!“ Anscheinend war seine Kritik auf fruchtbaren Boden gefallen. Nun plagte ihn sein Gewissen erst recht.

„Es ist am besten so“, sagte Darius tröstend.

„Ich weiß.“ Das bedeutete freilich nicht, dass es ihn glücklich machte.

Nun kam Darius herein und setzte sich auf die Schreibtischkante. „Schau mal, Max, niemand schätzt deine Hilfsbereitschaft mehr als ich, aber manchmal funktioniert es eben nicht so, wie man möchte. Schreib ihr doch einfach einen Scheck aus! Außer …“ Er verstummte.

„Außer was?“, drängte Max schließlich.

„Außer, es geht dir nicht nur darum, dem Mädchen zu helfen. Du hast selbst gesagt, sie sei heiß.“

„Das habe ich nicht gesagt, sondern nur, dass sie in dem Kellnerinnen-Outfit großartig aussehen würde. Und da hatte ich ja recht.“

Darius schnaubte, als wollte er andeuten, dass sei nur Haarspalterei. Was stimmte.

Die Wahrheit war, dass er, Max, sich tatsächlich zu Arianna hingezogen fühlte. Sie war so anders als die Frauen, die bisher seinen Weg gekreuzt hatten. Nicht nur, weil man ihr ansah, dass sie an Geld gewöhnt war, sondern weil sie eine ganz besondere Persönlichkeit besaß. Es war diese seltsame Mischung aus Herablassung und Unschuld, die sie hervorhob. In einem Moment war sie eisig wie eine Schneekönigin, im nächsten sah sie verletzlich und verängstigt aus.

Die meisten Frauen konnte er auf Anhieb einordnen. Sie stammten entweder aus derselben gesellschaftlichen Schicht wie er und wollten ihren lausigen Lebensumständen entfliehen, oder sie waren aus seinen jetzigen Kreisen und wollten sich einen erfolgreichen Geschäftsmann angeln. In beiden Fällen konnte er in ihren Gesichtern lesen wie in offenen Büchern.

Bei Arianna gelang es ihm nicht. Da blieb immer etwas, das sich ihm entzog. Das faszinierte ihn.

Und ja, sie erregte ihn auch. Sie trug ihre Uniform wie ein Modellkleid von Dior, und er hätte ja tot sein müssen, um nicht zu genießen, wie sich der glatte glänzende Stoff an ihre Hüften schmiegte und ihr der Rock beim Gehen um die Beine schwang. Wie verführerisch die cremeweiße Haut sich vom schwarzen Satin abhob. Wie gut der Ausschnitt ihr Dekolleté zur Geltung brachte.

Verlangen durchzuckte ihn allein schon bei dieser Vorstellung. Er lächelte.

„Oh, Mann! Gib doch einfach zu, dass du sie begehrst“, meinte Darius.

Max erwiderte nichts. Er drehte sich mit dem Stuhl so, dass er durchs Bürofenster schauen konnte. Draußen war nur eine Gasse zu sehen und der Notausgang des Nachbargebäudes, aber er kannte schlimmere Ausblicke.

Im Speisesaal war es nun ruhig, abgesehen vom Scharren der Stühle, die auf die Tische gestellt wurden. Dazwischen mischten sich die sanften Klänge eines Klaviers. Die Melodie kannte er nicht, aber sie erinnerte ihn ein bisschen an ein Weihnachtslied. Nett!

„Wann hast du denn das Radio angemacht?“, fragte er Darius.

„Das ist nicht an. Die Musik kommt vom Klavier auf der Bühne.“

„Ach ja? Ist Shirley da?“ Zuletzt hatte Max gehört, dass seine Pianistin hinter Gittern saß. „Hat man sie schon entlassen?“

„Das bezweifle ich“, meinte sein Freund. „Außerdem war sie nie derartig gut.“

Max stand auf und ging, gefolgt von Darius, in den Speisesaal.

„Was sagt man dazu?“ Er stieß einen leisen Pfiff aus.

Am Klavier saß Arianna und spielte mit der Hingabe und Fingerfertigkeit einer gut ausgebildeten Pianistin.

3. KAPITEL

Nach dem Essen wusste Arianna nichts mit sich anzufangen. Die meisten Gäste waren gegangen, das Personal war eifrig damit beschäftigt, alles für die Sperrstunde vorzubereiten. Den Blicken nach zu urteilen, die man ihr zuwarf, wurde auf ihre Hilfe gern verzichtet.

Sie konnte aber nicht einfach nur dasitzen und nichts tun. Das hielten ihre Nerven nicht aus. Bald würde Max sie nach Hause bringen, besser gesagt ins Hotel. Dann war ihre berufliche Laufbahn im Fox Club zu Ende und sie wieder am selben Punkt wie vor drei Tagen.

Sie würde erneut nach einer Möglichkeit suchen, ihre Heimreise aufzuschieben, und diesmal kam ihr bestimmt kein Ritter in schimmernder Rüstung zu Hilfe.

Arianna sah sich um und bemerkte das Klavier. Es war ihr schon am ersten Tag aufgefallen, aber da hatte sie keine Zeit gehabt, es sich näher anzusehen. Bestimmt hatte niemand etwas dagegen, wenn sie es jetzt tat.

So lange sie zurückdenken konnte, war das Klavier für sie so etwas wie ein guter Freund gewesen. Als kleines Mädchen hatte sie neben ihrer Mutter gesessen und Tasten nach dem Zufallsprinzip gedrückt. Später hatte ihr die strikte Disziplin des Übens dabei geholfen, die Trauer über den Verlust ihrer Mutter zu bewältigen – und danach auch beim Tod ihrer Schwägerin.

Das Klavier hier im Club war in ausgezeichnetem Zustand. Sie schlug ein paar Tasten an, und es kam ihr so vor, als würde sie einen lang vermissten Freund begrüßen. Zuerst spielte sie eine Tonleiter, dann ein Arpeggio. Ihre Finger waren etwas steif, aber das gab sich rasch. Mit neu erwachtem Selbstvertrauen begann sie, eins der Lieder zu spielen, die sie auswendig konnte.

Als sie es beendet hatte, bemerkte sie, dass alle Anwesenden sie beobachteten. Auch Max. Er stand nahe bei ihr.

„Bravo“, sagte er und applaudierte. „Das war großartig.“

Sie errötete, und Befriedigung durchflutete sie. Ihr Leben lang hatte man sie mit Komplimenten über ihr Klavierspiel förmlich überschüttet, und das hatte sie auch genossen, aber keines davon hatte ihr so viel bedeutet wie jetzt Max’ Bewunderung.

Er kam zu ihr auf die kleine Bühne. „Warum haben Sie bisher geheim gehalten, dass Sie ausgezeichnet Klavier spielen können?“

„Ich wusste nicht, dass es wichtig ist“, erwiderte sie. „Schließlich haben Sie eine Kellnerin gesucht, keine Pianistin.“

„Spiel noch was!“, rief einer der Kellner.

„Aha, Sie haben zumindest einen Fan“, meinte Max. „Also, haben Sie noch mehr Lieder im Repertoire?“

„Ja.“ Sie entschied sich für ein Volkslied aus Corinthia, das sie schon als Kind geliebt hatte.

„Hübsch“, urteilte Max, der sich ans Instrument lehnte, und lächelte sie an. „Wie lange spielen Sie schon?“

„Seit ich alt genug war, auf einer Klavierbank zu sitzen“, antwortete sie und beendete das Stück mit einem Glissando. „Zuerst habe ich meine Mutter beobachtet, irgendwann kam das Spielen dann wie von alleine dazu.“

„Können Sie auch singen?“

„Vielleicht.“ Wenn er wüsste! Sie und ihr Bruder hatten Gesangsstunden nehmen müssen, damit sie die Landeshymne niemals falsch sangen. „Warum fragen Sie, Max?“

„Nur aus Neugier. Ich muss mich jetzt um die Abrechnung kümmern. Würden Sie noch ein bisschen spielen? Ihre Kollegen genießen offensichtlich die Musik.“

Einige nickten im Takt mit den Köpfen, Javier klopfte den Rhythmus mit der Fußspitze. Ja, es wäre nett, ihre kurze Zeit im Club sozusagen mit einem harmonischen Ausklang abzuschließen, nachdem sie so viel Scherereien gemacht hatte.

Sie spielte eine bunte Mischung, die von Beethoven bis Bocelli reichte. Zum Abschluss stimmte sie das Lied „Du steigst von den Sternen herab“ an, ein italienisches Weihnachtslied, das sie von ihrer Nonna gelernt hatte. Und sie sang auch den Text, ohne lange zu überlegen.

Erinnerungen an Zuhause überfluteten sie förmlich. Wie sie kandierte Früchte für Babbo Natale, den italienischen Weihnachtsmann, machte und Pasteten für Heiligabend backte. Wie das ganze Land nach Stechpalmen und Glühwein duftete. Wie die Kerzen in den Fenstern leuchteten. Es gab so viele Weihnachtsbräuche in Corinthia, und sie liebte sie alle. Ja, sie war durch und durch Corinthianerin.

Plötzlich wurde ihr die Kehle eng, und sie konnte nicht weitersingen. „Entschuldigt“, flüsterte sie und stand vom Klavier auf.

Max kam aus dem Büro, als sie zur Garderobe eilte. „Alles in Ordnung, Arianna?“

Sie konnte nicht antworten, weil ihr noch immer ein Kloß im Hals steckte. Also lief sie an ihm vorbei und verbarg sich hinter den Mänteln. Dann machte sie die Augen zu. Ganz fest.

Wie albern, wegen eines Lieds sentimental zu werden! Es war ja nicht so, dass sie nie mehr nach Corinthia zurückkehren würde. Allerdings würde sie den Respekt ihres Volks verlieren, wenn sie Manolo nicht heiratete, und das war ebenso schlimm, wie nie mehr nach Hause zu kommen.

„Arianna? Was stimmt denn nicht?“, fragte Max hinter ihr.

„Alles gut“, versicherte sie und schnüffelte. „Ein bisschen Heimweh, das ist alles.“

„Aha.“ Er zog ein Taschentuch aus der Tasche und tupfte ihr die Tränen weg.

Die Geste war so altmodisch ritterlich, dass sie unwillkürlich lächelte. Das Tuch duftete nach Max’ Rasierwasser. Holzig herb und sehr maskulin. Ohne Nachzudenken drückte sie es ans Gesicht.

„Sind Sie immer so gut für alle Eventualitäten gerüstet?“, wollte sie wissen.

„Ein allzeit bereiter Pfadfinder bin ich nicht, aber ich habe immer ein sauberes Taschentuch zur Hand, falls mir zu Tränen gerührte Frauen über den Weg laufen.“

„Passiert Ihnen das oft?“

„Öfter, als man denken würde. Leider!“

Und weshalb weinten sie? Weil er ihnen das Herz gebrochen hatte? Sie würde sich nicht wundern, wenn der Blick aus seinen schiefergrauen Augen reihenweise Opfer unter den Frauen forderte. Manolo hatte ja auch eine ganze Menge Eroberungen gemacht. Dabei war er weder so gutaussehend noch so höflich wie Max.

Der nahm nun ihren Mantel vom Haken und hielt ihn ihr hin. „Wo genau ist denn Ihr Zuhause?“, fragte er. „Ich meine, wo in Italien? Sie sind doch Italienerin, oder?“

Arianna genoss es, dass er die Hände auf ihren Schultern ruhen ließ. Es war so tröstlich. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich nach Trost gesehnt hatte.

„Nein, ich bin keine echte Italienerin, sondern stamme von einer relativ kleinen Insel vor der Küste, von der Sie bestimmt noch nie gehört haben.“

„Das dürfte stimmen, denn ich bin in Erdkunde nicht sehr bewandert. So, jetzt hole ich meinen Mantel aus dem Büro, dann bringe ich Sie zum Hotel.“

„Das ist wirklich nicht nötig“, begann sie und folgte ihm durch den nur mehr schwach beleuchteten Speisesaal. „Ich schaffe das allein.“

„Wohnen Sie noch im Dunphy?“, erkundigte Max sich.

Sie nickte.

„Dann ist es nötig, Sie zu begleiten. Glauben Sie mir. Außerdem wollten wir doch über Ihre Zukunft sprechen, Arianna.“

Welche Zukunft? hätte sie fast gefragt. Sie war ja noch immer unschlüssig, was sie tun sollte.

„Ich dachte, ich hätte keine Zukunft im Fox Club“, erwiderte sie leise. „Sie haben doch klargemacht, dass Ihnen die Zeit fehlt, mich anzulernen.“

„Ja, als Kellnerin. Das stimmt“, bestätigte Max und nahm seinen Mantel von einem Haken an der Tür. „Aber als Pianistin brauchen Sie keine weitere Ausbildung.“

Ihr Herz pochte schneller. „Sie meinen, ich soll Klavier spielen? Hier im Club?“

„Nein, in der Carnegie Hall“, antwortete er scherzhaft. „Natürlich meine ich den Club. Jeder gute Nachtclub in alten Filmen hat eine Sängerin. Ich wollte jemanden nach den Feiertagen engagieren, aber das brauche ich nicht mehr zu tun. Sie, Arianna, sind perfekt für den Job.“

Oh nein, das war sie nicht! Am Klavier würde sie im wahrsten Sinn des Wortes im Scheinwerferlicht sitzen. Beim Servieren hatte sie ja immer nur jeweils kurz Kontakt zu den Gästen gehabt. Wenn jemand trotzdem gemeint hätte, sie zu erkennen, hätte sie sich auf eine zufällige Ähnlichkeit herausreden können.

„Nein, ich kann das Angebot nicht annehmen“, sagte sie eindringlich. „Tut mir schrecklich leid, aber es geht wirklich nicht.“

Schweigend zog Max den Mantel an und knöpfte ihn zu. „Ich habe geahnt, dass Ihre Antwort so ausfallen würde“, meinte er schließlich.

„Ach ja?“

„Ich bin, wie ich schon sagte, kein Idiot. Jeder Trottel würde merken, dass Sie nicht erkannt werden wollen.“

Sie hätte sich denken können, dass ihr stümperhafter Versuch, das Aussehen zu verändern, einen scharfsinnigen Mann wie Max nicht täuschen konnte.

„Wie sind Sie darauf gekommen?“, erkundigte sie sich.

„Meine Liebe, ich wusste es in dem Moment, als Sie durch die Tür kamen. Sie tragen einen Kaschmirmantel, aber Ihre Frisur ist unverkennbar selbstgemacht.“

Sie fasste sich in den Nacken.

„Keine Sorge, es sieht gar nicht so schlimm aus, wenn Sie es hochstecken“, beruhigte Max sie.

„Und ich dachte, ich wäre so schlau!“ Sie klang frustriert. „Trotzdem konnte ich Sie nicht täuschen.“

„Nur weil ich schon mehr im Leben gesehen habe als die meisten Menschen“, erklärte er.

Und was genau? hätte sie am liebsten gefragt. Was machte ihn zu einem besonderen Menschen? Denn das war er. Anders als alle anderen. Auf viele verschiedene Arten.

Wieder legte er ihr die Hände auf die Schultern. Sie lehnte sich an ihn, wie magnetisch von ihm angezogen, und Wärme durchflutete sie.

„Arianna, ich kenne Ihre Geschichte nicht, aber wenn Sie in Schwierigkeiten sind, dann …“

Sie atmete scharf ein. Max’ warmer Atem strich ihr über die Schläfe, sodass sie kaum mehr klar denken konnte. Eine Botschaft durchdrang jedenfalls den Nebel in ihrem Gehirn, und zwar, dass er sie nicht erkannt hatte. Er hatte nur gemerkt, dass sie sich vor etwas versteckte.

Entspannt lehnte sie sich weiterhin an ihn. „Danke.“

„Ehrlich, Arianna. Wenn ich helfen kann … falls jemand Ihnen wehtut …“

„Nein“, unterbrach sie ihn schnell. „Das ist ganz und gar nicht der Fall.“

„Wirklich nicht?“, hakte er nach.

„Großes Ehrenwort! Ich wollte nie den Eindruck erwecken, ich wäre in Gefahr. Und Sie haben recht: Ich möchte nicht gefunden werden, aber ich bin nicht in Schwierigkeiten. Nicht in denen, die Sie meinen“, betonte sie. „Ich brauche nur ein paar Wochen allein, um mir über einige Dinge klar zu werden.“

„Wieso mussten Sie dazu Ihr Aussehen verändern?“

Sie seufzte. „Es ist kompliziert.“

„Das sind die meisten Dinge.“ Nach kurzem Überlegen fuhr er fort. „Wenn Sie jemanden brauchen, dem Sie Ihr Herz ausschütten können, dann …“

„Danke, aber ich muss das alleine durchstehen“, fiel sie ihm ins Wort.

„Wie Sie meinen, Arianna. Wollen wir jetzt gehen?“

Sie nickte. Dann verließen sie den Club.

Draußen war es so kalt, dass man ihren Atem sehen konnte. Mit einer knappen Handbewegung hielt Max ein sich näherndes Taxi an.

„Ich weiß, es ist nicht weit, aber ich möchte lieber nicht zu Fuß gehen“, sagte er.

Das ging ihr ebenso. Es war erheblich kälter geworden. Die Temperatur lag bestimmt unter null. Auf dieses New Yorker Wetter war sie nicht vorbereitet.

Im Taxi war es angenehm warm.

„Ich vermute, auf Ihrer Insel wird es nie richtig kalt“, sagte Max.

„Nicht so wie hier“, bestätigte sie.

„Dann können wir nur hoffen, dass Sie Ihre Angelegenheiten rasch regeln und bald wieder ins Warme zurück können.“

„Ich dachte, wir wollten über dieses Thema nicht mehr sprechen.“

„Hatten wir das ausgemacht?“ Er lächelte breit. „Na gut, lassen wir es fallen. Nachdem ich noch eines gesagt habe: Sie wären eine viel bessere Barsängerin als Shirley.“

„Danke, Max.“ Die Gewissenbisse, dass sie sein Angebot abgelehnt hatte, ließen sie hinzufügen: „Tut mir leid, dass Sie jetzt eine andere Sängerin suchen müssen.“

„Mir auch.“ Er seufzte bedauernd. „Aber wie Darius mir immer wieder liebend gern sagt: Man kann nicht allein die ganze Welt retten.“

„Was ist mit Shirley passiert?“, wollte Arianna wissen. „Falls ich fragen darf.“

„Sie wurde festgenommen, als sie im Park am Washington Square Drogen zu kaufen versuchte.“

„Oh, wie schrecklich!“ Sie hatte angenommen, es hätte Meinungsverschiedenheiten gegeben oder Shirley wäre krank geworden. Aber Drogen? Sprach Max deswegen davon, die Welt zu retten?

„Ich hatte gedacht, sie hätte ihre Dämonen erfolgreich bekämpft“, erzählte er weiter. „Aber ihr Freund hat sie wohl wieder auf die schiefe Bahn gezerrt.“

„Vielleicht hilft man ihr im Gefängnis, die Sucht in den Griff zu bekommen.“

„Ja … Vielleicht. Wenigstens ist sie dort von ihrem koksenden Freund getrennt. Aber womöglich geht sie zu ihm zurück, wenn sie entlassen wird.“ Wieder seufzte er.

Sie hörte seiner Stimme an, wie schwer er sein Versagen nahm, und wünschte, sie könnte ihm über die Enttäuschung hinweghelfen. „Wenigstens haben Sie versucht, Sie zu retten“, meinte sie tröstend. „Das ist doch schon etwas.“

„Aber besser wäre gewesen, ich hätte Erfolg gehabt. Ich verstehe einfach nicht, warum es immer wieder Frauen gibt, die bei solchen Versagern bleiben, obwohl sie wissen, dass es sie letztlich umbringt.“

„Menschen tun aus Liebe nun mal verrückte Dinge“, erklärte sie philosophisch.

„Wird wohl so sein“, stimmte Max zu. „Ein Grund mehr, sich erst gar nicht zu verlieben. Dieses Gefühl bringt nichts als Ärger.“

Das klang als Argument ganz gut. Vielleicht war unter diesem Gesichtspunkt eine Vernunftehe mit Manolo gar nicht so arg. Da sie ihn nicht liebte, konnten ihr seine Untreue und Verlogenheit nicht das Herz brechen.

„Aber wenn man die Liebe meidet, muss man einsam durchs Leben gehen“, sagte Arianna nachdenklich.

„Es ist trotzdem der klügere Weg“, beharrte Max.

„Das klingt so, als gäbe es keine Happy Ends.“

„Kennen Sie eine Beziehung, die letzten Endes glücklich ausgegangen ist?“

„Meine Eltern waren echt glücklich“, antwortete sie. „Und mein Bruder und seine Frau auch.“

„Sie sagten ‚waren‘“, bemerkte Max.

„Ja. Meine Mutter und meine Schwägerin sind beide tot.“

„Also gab es kein glückliches Ende“, stellte er mitfühlend fest. „Für keinen von ihnen.“

Das stimmte. Beide Männer trauerten noch immer um ihre Liebsten und verbrachten ihre Tage in tiefer Wehmut. Ihr Vater hatte erst wieder ein wenig Freude gezeigt, als sie angefangen hatte, mit Manolo auszugehen.

Plötzlich fühlte Arianna sich zutiefst niedergeschlagen. Um sich abzulenken, blickte sie nach draußen. Sie kamen gerade über den Times Square, der jetzt noch heller und bunter schimmerte als sonst, da die Weihnachtslichter schon leuchteten und riesige Plakate ein frohes Fest wünschten. Das munterte sie etwas auf.

„Alles ist viel hübscher zu Weihnachten“, meinte sie.

„Warten Sie erstmal, bis die Lichter an diesem Baum Ende der Woche eingeschaltet werden“, sagte Max, als sie am Rockefeller Center vorbeifuhren. „Dann geht es mit der Dekoration erst richtig los.“

Der Baum stand vorerst noch als dunkle Silhouette zwischen all dem Glanz. „Da freue ich mich schon drauf“, verkündete Arianna. „Ich kenne ihn nur von Bildern. Unserer ist nicht so riesig.“

„Das ist kaum einer – außer man wohnt auf einem Herrensitz.“

Oder so wie ich in einem Palast, dachte sie und biss sich auf die Lippe. „Schmücken Sie einen Baum im Fox Club?“, erkundigte sie sich.

„Machen Sie Witze? Mein Team würde meinen Kopf fordern, wenn wir keinen Weihnachtsbaum hätten. Am Tag nach dem Einschalten der Lichter am Rockefeller schmücken wir unseren und haben gleichzeitig eine Party.“

„Klingt nett. Ich habe es immer schon geliebt, den Baum zu schmücken“, verriet sie Max.

Dieses Jahr würden ihr Vater und ihr Bruder den Baum ohne sie schmücken.

Und wie würden zukünftige Weihnachten sein? Würde das schönste Fest des Jahres für ihr Kind eine Zeit der Liebe und Vorfreude sein? Oder würde es die wunderbaren Traditionen mit einem Vater teilen, der es nicht liebte? Wären sie und ihr Kind eventuell ganz allein?

„Hallo? Alles in Ordnung?“, fragte Max.

Arianna blinzelte mit tränenfeuchten Augen. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn. Da legte Max ihr seine warme, feste Hand auf den Arm. Plötzlich hätte sie sich am liebsten an ihn gekuschelt, seinen Arm auf ihren Schultern gespürt.

„Ja, alles in Ordnung“, antwortete sie. „Ich hatte bloß einen Anfall von Heimweh.“

„Nicht zum ersten Mal heute Abend“, kommentierte er trocken.

„In der Vorweihnachtszeit neige ich nun mal zu Sentimentalität“, gestand sie. „Geht es Ihnen nicht auch so?“

„Zum Glück nicht. Ich konzentriere mich auf die Gegenwart. Der Vergangenheit trauere ich nicht nach. Auch nicht Weihnachten … Schon gar nicht Weihnachten“, fügte Max bitter hinzu.

Zum Glück erinnerte er sich nicht gern an seine früheren Weihnachten? Das fand sie seltsam. Wie er wohl als Kind gewesen war? Und wie seine Kindheit?

„Für meine Familie war Weihnachten immer eine ganz besondere Zeit“, erzählte Arianna. „Als ich klein war, blieben mein Bruder Armando und ich Heiligabend immer ganz lange auf, weil wir hofften, Babbo Natale zu sehen.“

„Wer ist denn das?“

„Unsere und die italienische Version des Weihnachtsmanns. Armando und ich haben immer auf ihn gewartet, aber egal, wie lange wir uns wachhalten konnten, er kam immer erst, als wir eingeschlafen waren.“

„Was für ein hinterhältiger Typ!“, kommentierte Max scherzhaft.

„Und wie ist es mit Ihnen? Haben Sie jemals – als Kind natürlich – dem Weihnachtsmann die halbe Nacht lang aufgelauert?“

„Eher nicht, weil er unser Haus nur zufällig gefunden hätte“, erwiderte er. „Ist das hier Ihr Hotel?“

Er zeigte nach vorn auf ein Gebäude, vor dem zwei Polizeiautos mit blitzenden Blaulichtern standen.

Alle Fragen, die sie Max gern gestellt hätte, waren mit einem Schlag vergessen. „Wieso ist die Polizei hier?“, wollte sie stattdessen verwundert wissen.

„Gute Frage. Ich gehe mal hin und erkundige mich.“

Sie war zu neugierig, um im Taxi zu warten, und stieg gleichzeitig mit ihm aus.

Ein Polizist stand vor der Tür und blockierte ihnen den Zugang, sobald er sie sah. „Tut mir leid.“ Sein Atem roch nach Kaffee und Zigaretten. „Sie können da nicht rein.“

„Ich wohne hier“, erwiderte Arianna. „Kann ich denn nicht in mein Zimmer?“

Der Polizist musterte sie – und Max – von oben bis unten. „Ach ja? Dann würden Sie vielleicht ein anderes Hotel finden wollen.“

„Warum? Was ist hier passiert?“, fragte Max streng.

„Eine Frau wurde in ihrem Zimmer überfallen.“

„Überfallen? Wie denn?“ Sie nahm an, es war einer der anderen Gäste gewesen. Oder jemand, der mit ins Zimmer gekommen war.

„Na ja, wie’s aussieht, hat einer die Tür eingetreten“, berichtete der Polizist.

Das ist doch sicher übertrieben, dachte sie. „Was ist mit dem Sicherheitsdienst?“, fragte sie kühl. „Warum hat der nicht eingegriffen?“

„Welcher Sicherheitsdienst, junge Frau?“, konterte der Mann, nicht ohne Mitgefühl. „Das hier ist kein Fünf-Sterne-Hotel. Übrigens, das Opfer ist gerade im Krankenwagen weggeschafft worden. Sie können rein, sobald die Spurensicherung mit dem Tatort fertig ist. Obwohl ich Ihnen, ehrlich gesagt, einen Hotelwechsel dringend empfehlen würde.“

Arianna entging der vielsagende Blick des Polizisten bei diesen Worten nicht.

„Das lassen wir uns nicht zwei Mal sagen“, erwiderte Max. „Kommen Sie, Arianna!“ Er nahm sie bei der Hand und führte sie rasch weg.

„Was haben Sie vor?“, wollte sie wissen.

„Sie glauben doch nicht, dass ich Sie in dieser Räuberhöhle bleiben lasse?“

„Ich kann mir kein anderes Hotel leisten“, entgegnete sie.

„Das lassen Sie mal meine Sorge sein.“

Es war aber nicht sein Job, sich Sorgen ihretwegen zu machen. Und er hatte nicht über sie zu entscheiden. Sie blieb stehen und zog die Hand aus seinem Griff, dann verschränkte sie die Arme.

„Ich weiß Ihre Fürsorge zu schätzen, Mr. Brown, aber finden Sie nicht, dass es allein meine Sache ist, wo ich schlafe?“ Sie klang jetzt sehr herablassend.

„Sind Sie denn völlig …“ Er ersparte sich das passende Wort. „Haben Sie nicht mitbekommen, wie der Polizist sagte, es geht um eine Frau.“

„Ja, das habe ich gehört.“ Und der Gedanke, allein hier in ihrem Zimmer zu bleiben, während ein gewalttätiger Irrer im Hotel unterwegs war, erschreckte sie fast zu Tode. Da würde sie bestimmt nicht eine Sekunde schlafen.

„Wieso sind Sie dann so dickköpfig, Arianna?“

Weil mich das Schicksal in den vergangenen Tagen schon genug gebeutelt hat und ich ein kleines bisschen Kontrolle über mein Leben behalten möchte, antwortete sie im Stillen.

„Der kommt bestimmt nicht zurück“, meinte sie. „Die Polizei ist da und passt auf.“

„Liebe Arianna, Sie glauben doch nicht im Ernst, dass dieser Bulle dort im Hotel bleibt?“ Er warf ihr einen nachsichtigen Blick zu, der sie normalerweise wütend gemacht hätte. „Wo Sie herkommen, würde man das vielleicht so regeln, aber hier sind die Polizisten viel zu beschäftigt, um länger als unbedingt nötig an einem Tatort zu bleiben.“

Wo sie herkam, würde es solche Angriffe gar nicht geben! Beim Palast hätten die Sicherheitskräfte einen solchen Menschen schon gestoppt, bevor er überhaupt am Tor gewesen wäre.

Aber hier war New York, und hier wohnte sie in einem billigen Hotel, in dem Männer Türen eintraten und Frauen krankenhausreif prügelten.

Der Gedanke nahm sie so mit, dass sie sich einfach auf den Bordstein setzte. Max setzte sich neben sie, sie spürte seine Wärme. Allerdings legte er nicht, wie sie erwartete, den Arm um ihre Schultern. Er hatte beide Hände in die Manteltaschen gesteckt.

„Sie halten mich für ein verwöhntes und stures Gör, richtig?“, fragte Arianna düster.

„Ich halte Sie für müde und glaube, dass Sie deshalb nicht klar denken. Außerdem vermute ich, dass Sie es in Ihrer jetzigen Lage schwierig finden, Fremden zu vertrauen.“

„Ich vertraue Ihnen“, versicherte sie und fand selbst, dass es seltsam klang.

„In dem Fall erlauben Sie mir doch, Sie an einen anderen Ort zu bringen. Wenigstens für heute Nacht. Ich würde ruhiger schlafen, wenn ich wüsste, Sie sind in Sicherheit.“

Arianna überlegte. Es ging nicht mehr nur um sie allein. Sie war verantwortlich für ein weiteres Leben, das gerade erst im Entstehen war, und doch schon ungeheuer kostbar. Aber vor allem war sie müde. Sehr müde.

„Ja, ich würde gern eine Nacht lang ruhig schlafen“, informierte sie Max.

„Mir geht es genauso“, stimmte er zu. Er stand auf und reichte ihr die Hände, um ihr beim Aufstehen zu helfen. „Also bringen wir Sie an einen sicheren Platz und können beide friedlich schlafen.“

Sie seufzte. „Wenn es nicht zu teuer ist: einverstanden.“

„Oh, keine Sorge. Was ich im Sinn habe, kostet Sie keinen Cent“, erklärte er.

„Wieso ist es so billig?“ Ihre Stimme klang plötzlich ungewohnt schrill. Alarmiert. „Wohin wollen Sie mich bringen?“

Zum Glück hatte er gerade ihre beiden Hände umfasst, andernfalls hätte sie ihm das Lächeln aus seinem unglaublich attraktiven Gesicht geschlagen, als er völlig gleichmütig sagte: „In mein Apartment.“

4. KAPITEL

„Ist das nicht besser als ein Hotel?“, fragte Max und wandte sich Arianna zu.

Es hatte ihn einige Mühe gekostet, sie von seinen ehrlichen Absichten zu überzeugen. Als er den Vorschlag machte, hatte er zum Glück ihre Hände gehalten, denn sie sah in dem Moment so aus, als hätte sie ihn am liebsten geschlagen. Jedenfalls ließ sich das Blitzen ihrer Augen so deuten.

Als er ihr erklärt hatte, um diese späte Stunde ließe sich kein passendes Hotel mehr finden, war ihr Blick argwöhnisch geblieben.

Max verstand das gut.

Er hatte ihr nämlich nicht die ganze Wahrheit gesagt: Es hätte keine Schwierigkeiten gemacht, ein Zimmer zu finden – nur wollte er sie nicht allein in einem Hotel lassen.

Der Überfall im Dunphy hatte Max’ schlimmste Befürchtungen bestätigt, die er hegte, seit er wusste, wo Arianna abgestiegen war. Er hatte sich sogar unwillkürlich ausgemalt, es wäre sie, die auf der Trage lag – mit zerschlagenem Gesicht – und zum Krankenwagen getragen wurde.

Da konnte er sie nicht mitten in der Nacht allein in einem Hotel einchecken lassen. Nicht einmal in einem luxuriösen. Er wollte sie im Auge behalten.

Na schön, er wollte auch versuchen, die Sache mit ihr ein bisschen voranzutreiben.

Er hatte zwar aus Mitgefühl gehandelt, aber nicht ganz ohne Eigennutz, gestand er sich ein.

Nun war Arianna also in seinem Wohnzimmer und sah sich um. Über der Lehne des breiten Sofas lag das Jackett des Anzugs, den er gestern getragen hatte; auf dem Couchtisch stand die Kaffeetasse von morgens; daneben lag die Zeitung.

„Tut mir leid, Arianna, ich hatte nicht damit gerechnet …“

Wieso entschuldigte er sich eigentlich? Sein Penthouse war eins der eindrucksvollsten der ganzen Stadt! Was machte da eine so minimale Unordnung aus?

„Das Gästezimmer ist hinter der Küche. Eine Extrazahnbürste und so weiter finden Sie im angrenzenden Bad“, erklärte Max.

„Haben Sie oft Übernachtungsgäste?“, erkundigte sie sich, noch immer misstrauisch klingend, und ging zu den hohen Fenstern, um hinauszublicken.

„Nicht in dem Zimmer“, antwortete er bedeutungsvoll und war sich sicher, dass sie ihn sofort verstand. „Ich habe das Apartment aber erst seit etwa neunzehn Monaten.“

Es war ein Geschenk gewesen, das er sich selbst zum Geburtstag gemacht hatte. Der Höhepunkt von Jahren voller Blut, Schweiß und Tränen – nicht unbedingt immer seinen eigenen.

„Es ist wunderschön hier“, lobte sie. „Vor allem die Aussicht.“

„Das war einer der Gründe, warum ich das Apartment gekauft habe“, erklärte er und ging zu ihr. In der Ferne blitzten die Warnleuchten auf dem Empire State Building rot und grün wie Weihnachtslichter. „Hier liegt mir fast ganz Manhattan zu Füßen. Es gibt einen Infinitypool auf der Terrasse, der jetzt natürlich leer ist, aber im Sommer glaubt man fast, man schwimmt in den Himmel.“

„Das kann ich mir gut vorstellen.“

Sie klang so von oben herab und unbeeindruckt, dass er sich wie ein prahlender Blödmann vorkam. Das alles war für die Dame also nichts Besonderes, nein? Weder das Penthouse im Wert von einer Millionen Dollar, noch die atemberaubende Aussicht?

Die Sache mit dem Dunphy Hotel hatte ihn vergessen lassen, dass sie ihm von Anfang an wie eine reiche Frau vorgekommen war. Nun fand er, dass sie hier in dieser luxuriösen Umgebung völlig richtig am Platz wirkte.

Bewundernd betrachtete er ihr feines Profil. Obwohl sie blass war und Schatten unter den Augen hatte, war sie die absolut bezauberndste Frau, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Einfach hinreißend. Sie stand ganz gerade da, den Kopf geradezu königlich erhoben.

Da erhob sich natürlich die Frage, warum eine Frau mit so viel Stil, Klasse und offensichtlich vermögend ihre eigene Sphäre verlassen hatte. Sie hatte doch beteuert, sie wäre nicht in Schwierigkeiten. Konnte das sein? Dummerweise hatte er vorhin das Thema fallen lassen.

Max ging zur offenen Küche, die vom Wohnraum durch einen Tresen getrennt war. „Machen Sie es sich bequem, Arianna. Ich hol mir was zu trinken. Möchten Sie auch etwas? Bier? Wein? Kräutertee?“

„Sie haben tatsächlich Kräutertee da?“

„Warum überrascht Sie das?“, erwiderte er. „Ich bin in der Gastronomie tätig. Da verbringt man seine Zeit damit, die Wünsche der Gäste zu erahnen.“

Autor

Barbara Wallace
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