Julia Royal Band 8

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MASKENBALL AUF DER INSEL DER LIEBE von VALERIE PARV
Maskenball auf dem Schloss: Prinzessin Giselle fühlt sich wie verzaubert in den Armen ihres geheimnisvollen Verehrers. Wer ist der Mann, dessen Berührung ein Feuerwerk der Sinne in ihr auslöst? Aber als um Mitternacht die Masken fallen, verschwindet er spurlos …

WENN TRÄUME WAHR WERDEN … von CYNTHIA RUTLEDGE
Als der attraktive Fremde Lauren für den Tanz in die Arme nimmt, schmilzt sie dahin. Aber schon nach einer unvergesslichen Nacht trennen sich ihre Wege. Bis Lauren ihrem Weltenbummler unverhofft ein zweites Mal begegnet – und erfährt, wer er wirklich ist: Philippe, Prinz von Carpegnia!

DIE SCHÖNE FREMDE MIT DER MASKE von BRENDA HARLEN
Einmal etwas Gewagtes tun: Unerkannt erscheint Prinzessin Marissa Leandres im verführerischen Göttinnenkostüm auf dem herrschaftlichen Ball und landet mit einem Fremden im Bett! Sie ahnt nicht: Hinter der Maske verbirgt sich König Dante Romero. Der Mann, den sie heiraten soll …


  • Erscheinungstag 01.10.2021
  • Bandnummer 8
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500753
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Valerie Parv, Cynthia Rutledge, Brenda Harlen

JULIA ROYAL BAND 8

PROLOG

Bryce Laws mühte sich mit der widerspenstigen Smokingfliege ab und musste sich schwer zusammennehmen, um nicht laut loszufluchen.

„Du könntest mir ruhig helfen, anstatt dich an meiner Ungeschicklichkeit zu weiden“, brummte er.

Seine Tochter bewegte sich mit einer anmutigen Grazie auf ihn zu, die sie viel älter als ihre dreizehn Jahre erscheinen ließ. Sie hob die Arme und band den schwarzen Satinstoff geschickt zu einer Fliege. „So … zufrieden?“

Bryce begutachtete das Resultat im Spiegel. Seiner Meinung nach sah er immer noch aus wie ein Pinguin, aber wenigstens wie einer mit Stil. „Dieses spezielle Gen zum Fliegenbinden scheinen ausschließlich Frauen zu besitzen“, stellte er mit einem flüchtigen Lächeln fest. „Deine Mutter …“

„Ist schon okay, Dad“, sagte Amanda, als er abrupt innehielt. „Du kannst ruhig über sie sprechen. Ich bin darüber hinweg.“

Der nüchterne, fast barsche Ton zeigte ihm mehr als tausend Worte, wie wenig diese Aussage der Wahrheit entsprach. „Sie fehlt dir immer noch sehr, nicht wahr, Liebes?“, fragte er mitfühlend. Ihm erging es schließlich nicht anders. Selbst jetzt noch, zwei Jahre nach Yvettes Tod.

„Sie hätte es bestimmt nicht zugelassen, dass du mich an diesen trostlosen Ort verschleppst“, erwiderte sie trotzig.

Bryce atmete einmal tief durch und legte seiner Tochter die Hand auf die Schulter. Wie zart und zerbrechlich sie wirkte, dieses wundersame Wesen, das er gezeugt hatte … halb Kind noch, doch auch schon fast Frau.

Yvettes lange, schwere Krankheit und ihr früher Tod brachten es mit sich, dass Amanda viel zu schnell erwachsen wurde. Deshalb hatte Bryce gehofft, durch seinen neuen Job und den damit verbundenen Ortswechsel seiner Tochter mit Château Merrisand eine Umgebung bieten zu können, in der sie wieder Anschluss an Mädchen und Jungen ihres Alters fand. Damit wollte er ihr wenigstens einen Teil der verlorenen Kindheit zurückgeben.

Doch einen Monat nach ihrem Umzug musste er sich eingestehen, dass sein Plan nicht so aufging, wie er es sich erhofft hatte.

„Du bist also immer noch entschlossen, das Château zu hassen?“

Amanda zuckte mit den Achseln. „Der Tierpark ist ziemlich cool. Er erinnert mich an zu Hause. Manchmal tue ich einfach so, als ob ich wieder dort bin, und alles ist in Ordnung … aber die Schlossschule ist der reinste Horror!“

Seine Tochter war nicht die Einzige, die ihrer unwiederbringlichen Vergangenheit nachtrauerte. Auch er hatte Eden Valley geliebt, ihr Anwesen auf der wundervollen fruchtbaren Nachbarinsel Nuee. Als seine Eltern nach einem Jacht-Unfall seines Großvaters, der den alten Mann an den Rollstuhl fesselte, zurück in die USA gingen, übernahm Bryce die Leitung des Betriebes.

Damals war Amanda drei Jahre alt und Yvette eine fröhliche und gesunde junge Frau, die ebenso begeistert von der Vorstellung gewesen war, Eden Valley ganz für sich allein zu haben, wie er. Das war es, wovon sie immer heimlich geträumt hatten.

Bryce schlüpfte in seine Smokingjacke und dachte an die Dinge, die ihm diesen Traum verleidet hatten, wie die Einmischung seines Großvaters in seine Geschäfte, selbst über den großen Teich hinweg. Amanda wusste zum Glück nichts davon, wie sehr es ihn all die Jahre frustriert hatte, jede noch so alltägliche Entscheidung von Karl Laws absegnen lassen zu müssen.

Auch wenn Bryce und seine Eltern ebenfalls Anteilseigner des Familienunternehmens waren, zu dem unter anderem auch Eden Valley gehörte, besaß sein Großvater die Mehrheit und damit die absolute Kontrolle über den Betrieb, die er sich keinesfalls nehmen ließ.

Absolute Kontrolle!

Bryce biss die Zähne zusammen. Damit war der alte Despot perfekt charakterisiert! Selbst vom Rollstuhl aus regierte er mit gewohnt harter Hand: die amerikanischen Niederlassungen offiziell mit seinem Sohn an der Spitze, die in Carramer mit seinem Enkel.

Doch das war vorbei. Und Bryce vermisste es kein bisschen.

Rasch konzentrierte er sich wieder auf seine Tochter. „Definiere ‚Horror‘“, forderte er sie auf.

Amanda schnitt eine Grimasse. „Die Schlossschule ist sooo spießig und langweilig. Alles nur Geschichte, Geschichte, Geschichte. Ich glaube, Carramer hat mehr Vergangenheit als Zukunft.“

Genau das dachte er manchmal selbst. „Aber du wirst auch in sehr gegenwartsnahen und modernen Fächern unterrichtet.“

„Woher willst du das denn wissen?“

„Ganz einfach … ich bin selbst dort zur Schule gegangen. Allerdings in grauer Vorzeit!“, fügte er mit einem Schmunzeln hinzu.

Jetzt musste auch Amanda lächeln. Die Veränderung auf ihren zarten Zügen war spektakulär. Schlagartig verwandelte sich der unwirsche Teenager in eine bezaubernde Schönheit. Die auffallende platinblonde Haarflut hatte sie von ihrer Mutter geerbt, und Bryce zweifelte keine Sekunde daran, dass sie sich in wenigen Jahren zur unwiderstehlichen Herzensbrecherin entwickeln würde.

„Dreiunddreißig ist nicht gerade ein Greisenalter, Dad. Und wenn wir an einem aufregenderen Platz als Merrisand leben würden, könntest du möglicherweise noch einmal heiraten.“

„Das steht für mich absolut nicht zur Debatte“, entgegnete er brüsk und bereute seinen barschen Ton sofort, als er sah, wie sich Amandas Gesichtsausdruck verschloss. Hatte sie ihm vielleicht nur durch die Blume zu verstehen geben wollen, dass sie nichts dagegen hätte, wenn es so wäre? Er streckte eine Hand aus und strich ihr über die Wange, als könne er so die bedrückte Miene aufhellen.

„Du bist meine Familie, Spatz. Mehr brauche ich nicht.“

Er wollte und konnte es nicht riskieren, noch einmal ähnliche Qualen und Trauer erleben zu müssen, die Yvettes schleichende Krankheit und ihr unausweichlicher Tod für ihn bedeutet hatten. Amanda war erst sieben, als bei ihrer Mutter eine sehr seltene Blutkrankheit diagnostiziert wurde, die sich als unheilbar herausstellte.

Bryces Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als er an den langen, aussichtlosen Kampf seiner Frau gegen dieses mysteriöse Leiden zurückdachte, das sie ihm Stück für Stück entfremdete und schließlich ganz nahm.

Die Wunde, die ihr Tod in seinem Leben geschlagen hatte, begann zwar langsam zu heilen, doch das beunruhigte ihn eher. Was, wenn ihm eines Tages vielleicht gar nichts mehr von Yvette blieb? Nicht einmal der Schmerz des Verlustes? Was, wenn er nie wieder etwas würde fühlen können …?

Bryce war tatsächlich so naiv gewesen zu glauben, dass sein Großvater ihn verstehen würde, als er sich während der schweren Zeit in erster Linie um seine Familie sorgte und kümmerte. Immerhin hatte Karl selbst seine Frau vor einigen Jahren durch einen Herzinfarkt verloren. Stattdessen schien dieser geradezu abgestoßen von Yvettes Krankheit zu sein, verhielt sich unnachgiebiger denn je und zeigte keinerlei Entgegenkommen, was den enormen Aufwand an Zeit und Geld betraf, den sein Enkel einsetzte, in der Hoffnung, Yvettes Leben doch noch retten oder wenigstens erleichtern zu können.

Natürlich hatte der Betrieb in Eden Valley in jenen Jahren gelitten. Und zwar in einem Maße, dass Karl sich dazu entschloss, den Besitz zum Verkauf anzubieten. Vielleicht hatte das Ganze auch nur ein Schuss vor den Bug sein sollen, um seinen Enkel wieder zur Vernunft zu bringen, aber der alte Mann hatte sich verkalkuliert.

Bryce war seinem Großvater viel ähnlicher, als er es sich selbst je eingestanden hätte. Zumindest, was Sturheit und Kompromisslosigkeit betraf. Also überraschte er Karl damit, dass er gleichmütig erklärte, ein Verkauf sei wahrscheinlich die beste Lösung des Problems.

Seine Eltern hatten versucht zu intervenieren, aber als sie merkten, dass es Bryce ernst damit war, endlich die alten Fesseln abstreifen und auf eigenen Füßen stehen zu wollen, gaben auch sie nach.

Fünf Monate war es jetzt her, dass Eden Valley seinen Besitzer gewechselt hatte. Und der Verkauf war auch der Grund dafür, dass Bryce und Amanda jetzt auf Merrisand lebten.

Prinz Maxim de Marigny, Geschäftsführer und Hauptverwalter von Château Merrisand und seiner Ländereien, war zum Versteigerungstermin nach Eden Valley gekommen, um den ungewöhnlichen Wildbestand auf dem Anwesen zu inspizieren, dessen Erfolg allein Bryces unermüdlichem Engagement und seiner Begeisterung für die sanften Wappentiere von Carramer zuzuschreiben war. Es war ihm gelungen, eine spektakuläre Neuzüchtung zu schaffen, den Mayathirsch. Eine Kreuzung aus dem Sonnen- und dem Axishirsch, die das Beste aus beiden Rassen in sich vereinigte.

Bryce und Maxim hatten stundenlang angeregt gefachsimpelt. Offenbar hatte er den Prinzen mit seinem Wissen und dem daraus resultierenden Erfolg beeindruckt, denn kurz nach der Versteigerung wurde ihm der Posten als Manager des königlichen Wildparks angeboten.

Bryce akzeptierte den Job und nahm sich vor, den royalen Wildbestand weiterzuentwickeln, bis er in Qualität und Quantität dem entsprach, den er in Eden Valley geschaffen hatte. Danach wollte er mit seinem Anteil aus dem Verkauf und jedem Cent, den er erübrigen konnte, einen eigenen Besitz erwerben und einen Neuanfang wagen.

Prinz Maxim hatte ihm zwar vollkommene Entscheidungsfreiheit gewährt, was den königlichen Wildpark betraf, aber es war nicht dasselbe wie ein eigenes Anwesen, auf dem er mit Amanda leben konnte.

Sie hätten natürlich auch nach Amerika gehen können. Seine Mutter war auf Nuee geboren, aber Bryces Vater war Amerikaner, und er selbst besaß die doppelte Staatsbürgerschaft, da er während eines Besuchs seiner Eltern bei den Großeltern in den USA als Frühgeburt das Licht der Welt erblickte.

Doch zeit seines Lebens hatte Bryce allein Carramer als seine Heimat angesehen.

Yvettes Eltern, die sich immer noch nicht mit dem Tod ihrer Tochter abfinden konnten, lebten auf Nuee. Ein weiterer Grund, warum er den Umzug nach Merrisand befürwortet hatte. Hier konnte Amanda eher Abstand zur Vergangenheit gewinnen, war aber nicht ganz außerhalb der Reichweite ihrer Großeltern mütterlicherseits.

„Heute Abend wirst du endlich Prinzessin Giselle kennenlernen“, platzte sie jetzt mitten in seine Gedanken hinein.

Bryce ließ sich auf die Bettkante fallen und schlüpfte in die schwarzen Schuhe, die er zuvor auf Hochglanz poliert hatte. Normalerweise assistierte die Prinzessin ihrem Bruder in allen Belangen von Château Merrisand, hatte sich aber vorübergehend nach Taures City zurückgezogen, um einen Beinbruch auszukurieren, wie er schließlich bei seinem Arbeitsantritt erfuhr.

Natürlich wusste Bryce schon vorher von Prinz Maxims jüngerer Schwester, der neben einem feurigen Temperament eine geradezu überirdische Schönheit attestiert wurde. Da die Prinzessin bei keinem der Vorgespräche anwesend war, vermutete Bryce, dass sie entweder dem Urteil ihres Bruders rückhaltlos vertraute oder Besseres zu tun hatte, als sich persönlich um seine Anstellung zu kümmern. Doch wenn er ehrlich war, gefiel ihm die Variante mit dem gebrochenen Bein irgendwie besser.

Wie auch immer. Heute Abend würde sie auf jeden Fall viel zu beschäftigt mit ihren zahlreichen Gästen sein, um ihn überhaupt zu registrieren.

„Es werden sich eine Menge Leute auf dem Ball tummeln“, erklärte er seiner Tochter. „Wahrscheinlich werde ich die Prinzessin höchstens von Weitem zu Gesicht bekommen.“

Der einzige Grund, warum er sich überhaupt in das zu erwartende Getümmel stürzte, war der zarte Hinweis aus dem Château gewesen, dass man von den höheren Angestellten eine Teilnahme an dem Ball erwartete, der in erster Linie für wohltätige Zwecke veranstaltet wurde.

Außerdem bin ich auch ein bisschen neugierig, gestand Bryce sich ein. Ob die Prinzessin tatsächlich so schön war, wie behauptet wurde?

Amanda kletterte aufs Bett und rollte sich am Kopfende zusammen wie ein kleines Kätzchen. „Auf jeden Fall bist du der bestaussehende Mann auf dem Ball“, erklärte sie im Brustton der Überzeugung. „Und wenn die Prinzessin dich sehen sollte, wird sie unter Garantie hin und weg sein.“

Bryce warf einen zweifelnden Blick auf die schwarze Halbmaske, die zwischen ihnen auf der Bettdecke lag. „Wie soll sie das beurteilen können, wenn sie nichts von meinem Gesicht sieht?“, fragte er mit einem schiefen Lächeln.

„Frauen haben dafür ganz besondere Antennen. Weiblicher Instinkt, weißt du?“, wurde er altklug belehrt. „Findest du einen Maskenball nicht auch furchtbar romantisch?“, fügte Amanda übergangslos mit kindlicher Aufregung in der Stimme hinzu.

„Vielleicht von deiner Warte aus gesehen, Spatz“, stöhnte ihr Vater melodramatisch. „Aber du musst ja auch nicht einen ganzen Abend lang wie ein Pinguin mit Zorro-Maske herumlaufen!“

„Oder wie das Phantom der Oper?“

„Oder wie der Lonely Ranger?“, machte Bryce mit.

„Oder Superman?“

Bryce schüttelte den Kopf und legte mit einem resignierten Seufzer die Maske an. Dann stand er auf, um den Effekt im Spiegel zu überprüfen. Als Junge hatte er immer die Superhelden bewundert, die nach Belieben unerkannt auftauchten und wieder verschwanden. Jetzt war er verblüfft und nahezu überwältigt von der Wirkung der schwarzen Satinmaske, die nur seine Augen und den Mund freiließ.

Er erkannte sich selbst nicht mehr in dem geheimnisvollen, hochgewachsenen Fremden mit den breiten Schultern und der arroganten Kopfhaltung, die offenbar automatisch mit dem Anlegen des Helden-Requisits einherging.

Seine Einstellung zu dem Ball und der erzwungenen Teilnahme an dem pompösen Event hatte sich damit zwar nicht geändert, aber sich selbst als Superman zu sehen und zu fühlen ließ ihn die leidige Verpflichtung doch in einem etwas milderen Licht sehen.

Es läutete an der Tür. „Das wird Mrs. Gray sein“, vermutete Bryce. Er hatte die Haushälterin, die sonst nur tagsüber anwesend war, gebeten, an diesem Abend bei Amanda zu bleiben.

„Ich bin viel zu alt für einen Babysitter!“, murrte seine Tochter und sprang vom Bett.

„Ich weiß“, behauptete ihr Vater, der immer in Sorge um seine Tochter sein würde. „Sie soll dir ja auch nur ein wenig Gesellschaft leisten. Also sei nett zu ihr, bitte.“

Amanda murmelte etwas Unverständliches und trottete zur Tür, wo sie sich noch einmal umdrehte. „Du siehst wirklich großartig aus, Dad“, stellte sie mit einem schüchternen Lächeln fest. „Und ich weiß ganz sicher, dass du die Prinzessin von den Füßen haust.“

Bryce lachte. „Danke für dein überwältigendes Vertrauen in meine Durchschlagskraft. Aber jetzt lauf und lass Mrs. Gray ins Haus. Ich muss mich nämlich schleunigst auf den Weg machen.“

1. KAPITEL

Was für eine blödsinnige Idee! haderte Giselle mit sich, während sie den zahlreichen Gästen von der Höhe ihrer samtbezogenen Sänfte, die von vier Mitgliedern der königlichen Garde getragen wurde, huldvoll zunickte und lächelte.

Aber die Alternative hätte so ausgesehen, den Ballsaal humpelnd und auf zwei unkleidsame Krücken gestützt zu betreten.

Knochenbruch nebst Bänderriss, hatte die Diagnose des Palastarztes nach ihrem Reitunfall vor etlichen Wochen gelautet. Und selbst nachdem der Gips entfernt worden war, durfte sie das verletzte Bein einen weiteren Monat lang nicht übermäßig belasten.

Giselle war jedoch froh, wenigstens den Gips endlich wieder los zu sein, sonst hätte sie womöglich noch im Rollstuhl am Ball teilnehmen müssen!

Da Château Merrisand auf einem Hügel lag und das umliegende Gelände damit viel zu gefahrenträchtig war, verbrachte sie die Zeit der Rekonvaleszenz, wenn auch widerstrebend, im prachtvollen Heim ihrer Eltern in Taures City.

Giselle wusste gar nicht, was schlimmer war: ihre fehlende Mobilität und damit erzwungene Passivität oder die ständigen übertriebenen Ratschläge ihrer Mutter. Prinzessin Marie meinte es natürlich nur gut. Aber als Frau des Gouverneurs von Taures und Tante des regierenden Monarchen gab sie sich sehr steif und nahm ihre Stellung in der königlichen Familie ernster, als ihre Tochter es je fertigbringen würde. Maries Ansichten über das standesgemäße Verhalten einer Prinzessin waren absolut eindeutig. Und vom Pferd zu fallen gehörte definitiv nicht dazu.

Giselle schmunzelte innerlich, als sie an einen der wichtigsten Leitsätze ihrer Mutter dachte. Eine Lady hat grundsätzlich nur ein Bein, lautete die etwas eigenwillige These. Das bezog sich sowohl auf Maries Überzeugung, dass für eine Frau, wenn sie denn überhaupt reiten musste, nur der altehrwürdige Damensattel infrage kam, als auch auf die Sitzhaltung einer echten Lady, nicht nur bei gesellschaftlichen Anlässen. Auf keinen Fall war zu akzeptieren, dass sie die Beine übereinanderschlug oder gar spreizte, wie beispielsweise ihre viel zu lässige und ungezügelte Tochter es tat, wenn sie diese unaussprechlichen Jeans trug.

Giselle seufzte. Es war ein altes, leidiges Thema zwischen ihnen, das sie wohl immer verfolgen würde, hier aber gar nicht hingehörte.

Endlich war sie der Ägide ihrer etwas anstrengenden Mutter entflohen und zurück in ihrem geliebten Château Merrisand, und das auch noch in ihrer Funktion als offizielle Gastgeberin des alljährlichen Wohltätigkeitsballes! Mit wachsender Neugier schaute sie von der Höhe ihrer Sänfte um sich. Inzwischen fand sie das altertümliche Vehikel gar nicht mehr so unpassend, angesichts der prachtvoll aufgestylten Gäste um sich herum, deren Gesichter ausnahmslos hinter fantasievollen Masken verborgen waren.

Die Frauen wirkten in ihren teuren Designer-Kreationen wie exotische Erscheinungen, die Männer zumeist umwerfend elegant und maskulin in ihrer schwarzen Abendbekleidung. Einige der Anwesenden erkannte Giselle trotz Maskierung, bei anderen hatte sie nicht die geringste Ahnung, wer sich hinter dem Stückchen Satin oder Samt verstecken mochte.

War das wirklich ihr Bruder Maxim in diesem schwarzen bodenlangen Cape über dem Smoking, mit der geheimnisvollen Satinmaske, die nur den beherrschten Mund und das kantige Kinn freiließ? So, wie er sie fixierte, runzelte er sicher wie gewöhnlich die Stirn über seine kleine Schwester.

Diesmal vielleicht wegen ihres aufsehenerregenden Beförderungsmittels. Trotzig hob Giselle den Kopf und erwiderte den eindringlichen Blick. Wenn sie beim Ball schon nicht mit ihrem extravaganten Tanzstil glänzen konnte, dann musste sie sich halt auf andere Weise einen provokativen Auftritt verschaffen!

Als sie das beifallspendende Schmunzeln des Mannes an Maxims Seite gewahrte, lächelte Giselle freimütig zurück. Das war auf jeden Fall Eduard de Marigny, der gegenwärtige Marquis von Merrisand. Trotz Maske: Ihn würde sie immer und überall erkennen. Es war ein Jammer, dass er nicht hier, sondern in der Provinz Valmont lebte, wenn er nicht im Dienst der Marine von Carramer auf den Weltmeeren unterwegs war. Denn Eduard war einer ihrer loyalsten Verbündeten.

Neben ihm stand seine Frau Carissa. Giselle konnte ihre leuchtend kornblumenblauen Augen hinter der kapriziösen Federmaske funkeln sehen. Carissa und Eduard waren sich anlässlich eines irrtümlichen und betrügerischen Verkaufs eines der königlichen Besitztümer begegnet, hatten sich Hals über Kopf ineinander verliebt und führten inzwischen eine überaus glückliche Ehe. Giselle war Patin ihrer anbetungswürdigen Drillinge, Jamet, Michelle und Henry, und zählte Carissa zu ihren engsten Freundinnen.

Die beiden Frauen tauschten ein inniges Lächeln aus, bevor Giselle sich weiter umschaute. Da dies ein Maskenball war, verzichtete man auf die gewohnte öffentliche Begrüßungs- und Vorstellungszeremonie, bei der alle Gäste an den Mitgliedern der königlichen Familie vorbeidefilierten und mit Namen und Rang angekündigt wurden. So verlief der Ball viel weniger steif und zeremoniell, was Giselle ohnehin weit mehr entsprach.

Nachdem die vier muskulösen Träger die Sänfte mit ihrer kostbaren Last behutsam am Kopfende des Ballsaales abgesetzt hatten, traten sie ehrerbietig einen Schritt zurück, verneigten sich und schwärmten nach verschiedenen Seiten aus, um für den Rest des Abends die Prinzessin aus diskreter Entfernung im Auge zu behalten.

Auf ihr Signal hin wurden Champagner und Horsd’œuvres herumgereicht, und das Orchester spielte zum ersten Tanz des Abends auf. Als Giselle gedankenverloren zum Takt der Musik mit dem Fuß zu wippen begann, durchzuckte sie ein heftiger Schmerz und erinnerte sie daran, dass sie heute nicht wie die anderen übers Parkett schweben würde. Schlagartig fühlte sie sich wie eine Ausgestoßene.

Ihre Verwandten tummelten sich bereits auf dem Tanzboden, andere Gäste waren ihnen gefolgt oder standen in kleinen Grüppchen herum und plauderten angeregt miteinander. Aber alles geschah in respektvollem Abstand zu ihr.

Nur mit Mühe unterdrückte Giselle den Drang, ihnen zuzurufen, sie könnten ruhig näher kommen, da sie unter Garantie nicht bissig war.

„Kann ich Ihnen vielleicht eine Erfrischung bringen, Eure königliche Hoheit?“

In der Erwartung, einen der Diener vor sich zu haben, schaute sie auf und hielt unwillkürlich den Atem an. Der Mann an ihrer Seite war sehr groß und gut gebaut. Seine langen muskulösen Beine brachten Giselle auf den unsinnigen Gedanken, ihr Besitzer könne mit ihnen den Rest der Gesellschaft ohne Mühe in Grund und Boden tanzen. Wie die anderen männlichen Gäste trug er einen schwarzen Abendanzug, der an ihm allerdings ungleich attraktiver wirkte.

Und dann seine Augen …

Hinter der schwarzen Maske glitzerten sie in einem klaren dunklen Blau wie das Wasser eines bodenlosen Sees und erschienen ihr ebenso unergründlich. Er begegnete ihrem Blick ohne die geringste Scheu und mit einer Offenheit, die sie sonst nur von Mitgliedern ihrer Familie gewohnt war.

Er wirkte irgendwie nicht wie ein Schlossangestellter, und Giselle bemühte sich, seinem Gesicht, oder was sie davon sehen konnte, einen Namen zuzuordnen. Doch es wollte ihr nicht gelingen. Wahrscheinlich war er ein Freund von Maxim oder Eduard. Kein Untergebener würde es wagen, sie in dieser direkten Art anzuschauen.

Sein dichtes Haar war nachtschwarz und fiel in ungezähmten Locken bis über den Kragen seines eleganten, blendend weißen Smokinghemdes herab. Der Kontrast war verblüffend und irgendwie herausfordernd.

Es war noch keine zwei Stunden her, da hatte Giselle mit ihrer Zofe darüber gescherzt, dass ihr ausgerechnet heute Abend, wo sie als fußlahme Cinderella auf den Ball gehen musste, womöglich ihr Traumprinz über den Weg lief.

Natürlich sollte sie diese kindische Alberei nicht mit dem attraktiven Fremden assoziieren, doch angesichts ihres wild klopfenden Herzens fiel Giselle das ziemlich schwer. Dennoch war er nichts weiter als ein Gast, selbst wenn er dem Traumprinzen ihrer schlaflosen Nächte verblüffend ähnelte.

„Nein danke, das heißt … ich möchte lieber nichts Alkoholisches trinken, für den Fall, dass ich später vielleicht eine Tablette einnehmen muss“, stammelte Giselle, wütend auf sich selbst, wegen ihres unsinnigen Geplappers.

„Haben Sie Schmerzen?“, fragte der Fremde.

Sein besorgter Ton verursachte ihr einen wohligen Schauer. „Nichts, worüber es sich zu reden lohnt“, behauptete sie, denn sein Anblick hatte sie den stechenden Schmerz völlig vergessen lassen.

„Eine ungewöhnliche Art, sich fortzubewegen“, stellte er mit einem bezeichnenden Blick auf ihre Sänfte fest.

Sie hätte ihn küssen können für den Versuch, ein unverfänglicheres Thema als ihren derzeitigen Gesundheitszustand anzusprechen. Doch sofort entrang sich ihr ein leiser Seufzer, bei der Vorstellung, die festen wohlgeformten Lippen des geheimnisvollen Fremden auf ihren zu spüren …

Der letzte Kuss war so lange her. Der letzte richtige Kuss jedenfalls, korrigierte Giselle sich in Gedanken.

Natürlich gab es Robert. Doch dessen Küsse hatten ihr Herz nie schneller schlagen lassen, geschweige denn lustvolles Verlangen in ihr erweckt. Vielleicht verspürte sie deshalb auch den Drang, ihre lauwarme Beziehung so bald wie möglich zu beenden. Sie sehnte sich nach einem Mann, der ganz andere Gefühle in ihr wecken konnte.

So wie … im Moment.

Giselle versuchte, sich zusammenzureißen. Sie nahm zwar kaum noch Medikamente ein, aber dennoch konnten nur die für ihre momentane Verfassung verantwortlich sein. Wie anders sollte sie sich sonst ihren rasenden Puls erklären und das Gefühl, der Ballsaal sei plötzlich völlig überhitzt.

„Dieses Prachtstück ist ein antikes Relikt aus dem Besitz meiner Großmutter, Prinzessin Antoinette“, erklärte sie, um einen natürlichen Tonfall bemüht. „Die Alternative hätte geheißen: Rollstuhl oder Krücken.“

„Verstehe. Ich habe die Sänfte erst vor wenigen Tagen auf einem Bild in der Eingangshalle des Châteaus entdeckt und mich gefragt, was es wohl für ein Gefühl ist, darin herumgetragen zu werden.“

„Ein holperiges“, erklärte sie rundheraus. Seine Stimme ließ sie an heiße Schokolade denken … dunkel, samtig und köstlich. Unwillkürlich schüttelte Giselle den Kopf, um wieder klar denken zu können. „Wir sind einander noch nie begegnet, oder? Leben Sie hier in der Nähe?“

„Momentan schon“, erwiderte er wenig aufschlussreich.

Vielleicht wollte er ja auch einfach nicht ausgehorcht werden. „Ich hätte gern ein Mineralwasser“, bat Giselle. Ihr Mund fühlte sich plötzlich schrecklich trocken an. Doch als ihr geheimnisvoller Gesprächspartner daraufhin leicht den Kopf neigte und verschwand, bereute sie ihre voreilige Bitte. Was, wenn er sich durch ihre inquisitorischen Fragen brüskiert fühlte und nicht wiederkam?

Aus schmalen Augen schaute sie hinter ihm her. Er bewegte sich mit kontrollierter Kraft, geschmeidig und raumgreifend, wie eine gefährliche Wildkatze. Und als er kurz darauf mit dem gewünschten Wasser zurückkam, machte ihr Herz einen seltsamen kleinen Sprung.

„Danke“, murmelte sie und versuchte, nicht zu zeigen, was die flüchtige Berührung ihrer Hände in ihr ausgelöst hatte.

Sein Blick wanderte über die muntere Szenerie um sie herum. „Der ganze Trubel kann Ihnen doch nicht wirklich Spaß machen, Eure Hoheit.“

„Nach zwei Monaten in der Gesellschaft meiner Mutter? Auf jeden Fall!“, gab sie spontan zurück und wunderte sich selbst über die völlig unangebrachte Vertraulichkeit einem Fremden gegenüber.

„Prinz Maxim hat mir von Ihrem erzwungenen Aufenthalt im Taures-Palast erzählt. Das war bestimmt kein Zuckerschlecken“, erwiderte er mit tiefem Verständnis im Blick.

Sie lachte leise. Also war er tatsächlich einer von Maxims Gästen. Trotzdem sollte sie familieninterne Dinge nicht mit jemandem besprechen, den sie kaum fünf Minuten kannte. „Wie heißt es? ‚Hat man die Tür erst einmal hinter sich geschlossen, gibt es keinen Weg zurück nach Hause.‘“

Bildete sie sich das ein, oder zeigte sich plötzlich ein harter Zug um seinen Mund? Auf jeden Fall hatte es den Anschein, als wolle ihr unbekannter Kavalier gehen.

„Bleiben Sie und reden Sie mit mir“, bat Giselle und war über sich selbst schockiert. Gut, dass ihre Mutter sie jetzt weder sehen noch hören konnte.

Der Fremde neigte den Kopf in stummem Einverständnis. „Ich möchte Sie aber nicht von Ihren anderen Gästen fernhalten, Eure Hoheit. Das Protokoll …“

„Vergessen Sie das Protokoll!“, entfuhr es ihr, doch gleich darauf mäßigte Giselle ihren Ton. „Wie Sie selbst sehen können, fordert niemand meine Aufmerksamkeit.“

„Vielleicht fühlen sie sich durch Sie eingeschüchtert“, gab er zu bedenken und trank einen Schluck Champagner.

„Weil die Sänfte ein wenig wie ein Thron aussieht, meinen Sie?“

„In dem Ding wirken Sie tatsächlich ziemlich königlich.“

„Aber Sie machen auf mich keinen eingeschüchterten Eindruck, Mr. …?“

Seine Augen funkelten amüsiert. „O nein, Prinzessin. Sämtliche Identitäten und Mysterien werden erst um Mitternacht aufgedeckt.“

„Geben Sie mir wenigstens einen kleinen Tipp“, schmeichelte Giselle. „Sind Sie einer von Maxims Freunden?“

„Ich kenne den Prinzen“, war alles, was er sich entlocken ließ.

Da jeder Ballgast in irgendeiner Verbindung zum Château stand, war Giselle jetzt genauso schlau wie zuvor. „Das könnten alle Anwesenden von sich behaupten.“

„Wohl wahr, Eure Hoheit“, kam es gelassen zurück.

„Das ist unfair!“, beschwerte sich Giselle. „Sie sind mir gegenüber im Vorteil, und ich weiß nicht einmal, wie ich Sie anreden soll.“

Er schien einen Moment nachzudenken. „Wie wäre es mit Clark?“

„Was natürlich nicht Ihr richtiger Name ist!“ Davon war sie überzeugt.

„Meine Tochter schlug ihn vor, als ich mich heute für den Ball fertig machte.“

„Hmm …“ Er war also verheiratet und hatte sogar eine Tochter! Sie hätte es wissen müssen! Giselle versuchte, den Anflug von Enttäuschung im Keim zu ersticken. „Hört sich doch ganz harmlos an. Seien Sie froh, dass sie nicht auf irgendetwas Bizarres verfallen ist.“

Um seine Mundwinkel zuckte es. „Angesichts der Möglichkeiten, die eine schwarze Maske bietet, war Clark tatsächlich bei Weitem die verträglichste Variante …“

Plötzlich verstand Giselle und lachte. „Ah, also Clark, der Superman, ja?“

„Amandas Eindruck, nicht meiner“, erwiderte er prompt.

Also sah er sich selbst nicht als Superhelden? Vom Aussehen her passte dieses Image zumindest perfekt zu ihm. Giselle konnte ihn sich bildhaft vorstellen, wie er mit wehendem Umhang durch tiefe Häuserschluchten flog, um eine Jungfrau in Nöten zu retten. Und die Rolle der Jungfrau könnte ihr …

Aber er war ja verheiratet! Die besten Exemplare waren in festen Händen, keine neue Erkenntnis für Giselle.

Vielleicht vermittelte er auch deshalb den Eindruck, den Ball eher als eine Zwangsveranstaltung denn als Vergnügen zu betrachten. Weil seine Frau nicht an seiner Seite war.

„Ich sollte mich unters Volk mischen“, murmelte sie mit wenig Überzeugung in der Stimme.

Er begutachtete den bandagierten Fuß, der unter dem glitzernden Saum ihrer langen Ballrobe hervorschaute und in einem perlenbestickten Samtschuh steckte. „Wenn Sie sich nicht mittels der Sänfte einen Weg durch dieses Menschengetümmel bahnen wollen, könnten Sie Probleme bekommen.“ Er reichte ihr seinen Arm. „Darf ich Ihnen meine Unterstützung anbieten, Eure Hoheit?“

Mithilfe von Krücken oder einer anderen Stütze war es ihr tatsächlich möglich, den Fuß zu belasten, und so redete Giselle sich ein, dass dies der einzige Grund war, warum sie sein Angebot mit einem strahlenden Lächeln akzeptierte. „Es würde mir wirklich guttun, mich ein wenig umherbewegen zu können, aber ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen.“

„Kein Problem, Eure Hoheit“, versicherte er trocken. „Ich habe hier keinerlei gesellschaftliche Verpflichtungen.“

„Aber ich möchte Sie nicht von Ihrer Frau fernhalten.“

Zum zweiten Mal an diesem Abend hatte Giselle das Gefühl, ein Thema berührt zu haben, das ihm nicht gefiel. „Sie versuchen schon wieder, mich auszuhorchen“, warf er ihr vor und erwiderte ihr Lächeln nur zögernd. „Bei allem Respekt, Eure Hoheit, aber wenn Sie mir mein Inkognito nicht lassen, kann ich Sie nicht dabei unterstützen, Ihren Pflichten als unsere Gastgeberin nachzukommen.“

Bryce hatte selbst nicht die leiseste Ahnung, warum er vor der Prinzessin so ein Geheimnis aus seiner Identität machte. Schließlich hatte er nichts zu verbergen.

Einige mochten den Verlust von Eden Valley als einen wirtschaftlichen und sozialen Abstieg sehen, für ihn war es ein Befreiungsschlag gewesen. Wenn er das nächste Mal einen eigenen Besitz bewirtschaftete, dann nur, wenn er ihm zu hundert Prozent gehörte. Ohne wie auch immer geartete Familienbande.

Vielleicht war es ja einfach nur das Gefühl, die Prinzessin würde jedes Interesse an ihm verlieren, wenn er sein Heldenimage aufgeben musste, das er allein einem Fetzen Satin verdankte. Denn trotz seines geheimen Schwurs, sich in nichts hineinziehen zu lassen, genoss er es durchaus, ihre Neugier geweckt zu haben.

Und noch ganz andere Gefühle in ihr zu wecken erschien ihm plötzlich mehr als verlockend. Dabei hatte er gedacht, mit diesem Thema für immer abgeschlossen zu haben. Doch wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass ihn bereits ihr Auftritt mit der Sänfte durchaus erregt hatte. Nur wenige Frauen, königlichen Geblüts oder nicht, hätten ein derartiges Entree mit ihrer unerschütterlichen Sicherheit und Grazie absolviert.

Allein, wie gerade sie ihren Rücken hielt … und das stolze Köpfchen mit den aufgetürmten Locken hoch erhoben, sodass ihr schwanengleicher Hals perfekt zur Geltung kam. Die glitzernde aquamarinblaue Robe floss wie ein Wasserfall zu beiden Seiten der Samttrage herab und ließ sie wie eine schaumgeborene Meerjungfrau aussehen.

Bryce war fasziniert und bezaubert. Und er wusste, dass er sie kennenlernen musste, um jeden Preis.

Prinzessin Giselle hatte recht. Er fühlte sich tatsächlich kein bisschen von ihr eingeschüchtert. Weder von ihrem Stand noch von ihr als Person. Als Mitglied einer angesehenen Familie, die auf zwei Kontinenten geschäftlich in verschiedenen Branchen überaus erfolgreich agierte, war er gewohnt, mit wichtigen Kunden, Würdenträgern und Berühmtheiten jeder Kategorie umzugehen. Im Privaten bevorzugte er allerdings eher ganz gewöhnliche Leute, zu denen er sich selbst zählte.

Doch an Prinzessin Giselle de Marigny war alles ungewöhnlich.

Allein ihr lichtes Äußeres ließ sie aus der Menge herausragen. Sie war ebenso hell, wie ihr Bruder dunkel. Die bernsteinfarbenen Augen funkelten wie die Sterne am nächtlichen Himmel. Das leuchtend goldblonde Haar, das sie zu einem raffinierten Knoten aufgesteckt trug, wirkte wie gesponnene Seide. Ob es sich auch so anfühlte, wenn er die weichen Locken durch seine Finger rieseln ließe …?

Ihre Haut war wie Milch und Honig, mit einem Hauch von Rosé auf den Wangen, soweit man sie unter der Maske überhaupt sehen konnte. Der großzügige Mund schien extra zum Lachen und Küssen gemacht zu sein, und in einer weniger offiziellen Umgebung wäre Bryce durchaus versucht gewesen herauszufinden, ob ihre vollen Lippen wirklich so weich und nachgiebig waren, wie sie aussahen.

Als sie nach seiner Hand griff, um die Sänfte zu verlassen und sich vorsichtig auf den verletzten Fuß zu stellen, fühlte sie sich ebenso zart und feingliedrig an wie seine Tochter. Sie wirkte auf ihn wie ein Kind, das sich zum Maskenball als Prinzessin verkleidet hatte.

In ihrem Blick, den sie ihm unter gesenkten Wimpern hervor zuwarf, lag allerdings absolut nichts Kindliches. Er war eher dazu angetan, Bryces Blut zum Sieden zu bringen. Und während sie ihren Arm sanft unter seinen schob, hatte er alle Mühe, nicht zu vergessen, dass sie sich hier auf einem öffentlichen Parkett bewegten und von allen Seiten angestarrt wurden.

„Die Leute werden über uns reden“, murmelte Giselle, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

„Und? Macht es Ihnen etwas aus, Eure Hoheit?“

Sie lachte leise. „Würde ich mir jedes Mal den Kopf zerbrechen, wenn man über mich klatscht, wäre ich längst ein nervöses Wrack.“

Nicht, dass ihre Nerven nicht zum Zerreißen angespannt waren, aber das lag allein an der Nähe zu ihrem geheimnisvollen Begleiter. Den starken Muskeln, die sie durch den Stoff seines Smokingärmels unter ihren Fingerspitzen fühlte.

„Na, dann gibt es ja nichts, worüber wir uns Sorgen machen müssen“, erwiderte er zufrieden. „Wo wollen wir anfangen?“

„Bei der Gruppe um meinen Bruder“, entschied Giselle spontan.

Bryce zögerte kaum merklich. Würde Maxim ihn erkennen und seine Identität lüften? Und wenn es so wäre? Dann konnte er auch nichts dagegen tun.

Der Prinz unterhielt sich angeregt mit einigen Gästen, die alle, ebenso wie er selbst, Masken trugen. Doch auch ohne die Kostümierung hätte Bryce die wenigsten davon erkannt. Dafür war er einfach noch nicht lange genug im Château Merrisand. Deshalb versuchte er auch gar nicht erst, ihre Identität zu entschlüsseln, sondern konzentrierte sich lieber auf Giselles melodiöse Stimme, während sie ihren Verpflichtungen als Gastgeberin nachkam und sich der Runde gegenüber ausgesprochen locker und entspannt zeigte.

Alle schienen um sie besorgt zu sein und löcherten sie mit Fragen nach ihrem Befinden, die sie leichtherzig und humorvoll beantwortete oder abwimmelte. Als man sich überrascht davon zeigte, dass sie schon wieder herumlaufen könne, wies sie mit einem Lächeln auf ihren Begleiter.

„Clark war so nett, sich mir als Stütze anzubieten.“

Bryce konnte die Verwirrung auf Maxims Gesicht mehr ahnen als sehen, als der offenbar zu entschlüsseln versuchte, um wen es sich bei dem unbekannten Kavalier seiner kleinen Schwester handeln mochte. „Clark …?“, wiederholte er gedehnt.

„Meine geheime Identität für eine Nacht, Eure Hoheit“, erklärte Bryce geschmeidig und fühlte zu seinem Entsetzen, wie er unter der Maske errötete. Die Prinzessin zu unterhalten und ein wenig zu flirten war eine Sache, aber den Spaß weiter auszureizen war nie seine Absicht gewesen.

„Er eilte zu meiner Rettung, als alle anderen mich vernachlässigt und ignoriert haben“, fuhr die Prinzessin schelmisch fort.

„An dem Tag, an dem du von niemandem beachtet wirst, geht unter Garantie die Welt unter“, spottete ihr Bruder gutmütig und wandte sich dann Bryce zu. „Normalerweise kann sie sich vor Verehrern gar nicht retten.“

„Aber nur, wenn ich in der Lage bin zu tanzen“, brummte Giselle missmutig. „Heute bringe ich ja nicht einmal einen Schritt ohne Hilfe zustande.“

Maxims Blick wanderte zu Bryces Arm, den seine Schwester wie einen Rettungsanker umklammert hielt. „Momentan machst du nicht gerade einen leidenden Eindruck auf mich“, stellte er ironisch fest.

Und damit hatte er sogar recht. Ungeachtet des Pochens in ihrem verletzten Fuß, fühlte sie sich seltsam beschwingt und leicht wie eine Feder. Anstatt an ihre Behinderung zu denken, zerbrach sie sich den Kopf über die wahre Identität ihres attraktiven Begleiters. Maxim ließ sich auch nicht anmerken, ob er ihn kannte und ihm nur nicht den Spaß verderben wollte. Oder ob er Clark, ebenso wie sie, heute zum ersten Mal begegnet war.

Also musste sie das Geheimnis allein lüften. Denn hinter der schwarzen Maske konnte sich viel verbergen. Vielleicht sogar ihr Traumprinz!

Wenigstens für eine Nacht wollte Giselle sich ihren Träumereien und Fantasien hingeben. Bald würde sie sich so weit erholt haben, dass sie ihre alltäglichen und zumeist schrecklich nüchternen königlichen Pflichten wieder aufnehmen musste. Dazu die Arbeit für die Stiftung von Château Merrisand, die zugunsten Not leidender Kinder eingerichtet worden war, und ihre Teilzeitstelle als Lehrerin in der Schlossschule.

Insgesamt ein interessantes, befriedigendes Aufgabenpaket, das allerdings wenig Raum für romantische Träume ließ.

Der Gedanke an die Schule erinnerte sie an etwas. „Maxim, ich möchte gerne ein Meeting mit dir und Eduard vereinbaren, solange er noch in Taures ist.“

„Können wir das nicht ein anderes Mal besprechen?“, fragte ihr Bruder anscheinend gelassen, doch Bryce entging der scharfe Unterton in seiner Stimme nicht.

Giselle schob ihr Kinn energisch vor. „Da du jeder Diskussion mit mir ausweichst, lässt du mir ja gar keine Wahl. Soweit ich weiß, will Eduard in zwei Tagen nach Valmont zurückkehren.“

Bryce folgte Maxims Blick in Richtung eines hochgewachsenen, dunkelhaarigen Mannes, der ein paar Meter von ihnen entfernt Hof hielt. Eduard, Marquis de Merrisand. Er war so bekannt, dass keine Maske es vermochte, sein Inkognito zu wahren.

Prinz Maxim ließ einen unwilligen Laut hören. „Nun gut … ich habe bereits mit Eduard über deinen Wunsch gesprochen, zur offiziellen Kastellanin ernannt zu werden.“

„Und?“

Bryce wunderte sich über ihren drängenden Ton. Gegenwärtig war es seines Wissens nach Maxim, der die beiden Titel, Geschäftsführer des Merrisand-Trustes und Kastellan des Châteaus Merrisand, auf sich vereinigte. Doch offenbar wollte seine Schwester ihm den letzteren Posten abspenstig machen. Aufgabe des Kastellans war es, die täglichen Abläufe und Aktionen das Château betreffend zu steuern und zu überwachen.

Eine ziemlich schwere Last für so zarte Schultern, dachte Bryce.

„Wir sind uns darin einig, dass es dir zwar nicht an der nötigen Qualifikation fehlt, aber …“, er schnitt eine Grimasse, als sei ihm ihre Reaktion auf die nächsten Worte bereits im Voraus klar. „Es gibt da diese Klausel in der Merrisand Charta …“

Giselle wandte sich mit einer heftigen Kopfbewegung ihrem Begleiter zu. „Was halten Sie von einer Charta, die vor zweihundert Jahren aufgesetzt wurde und Frauen von der Stellung als Kastellanin ausschließt, wenn sie nicht verheiratet sind?“

Bryce, der sich etwas überrumpelt fühlte, suchte nach einer diplomatischen Entgegnung. „Um das zu beantworten, müsste ich die Umstände besser kennen.“

Doch so leicht ließ sie ihn nicht davonkommen. „Was wollen Sie wissen?“

„Zum Beispiel, ob diese Einschränkung nur für Frauen gilt.“

„Unglücklicherweise ja“, antwortete Maxim für seine Schwester.

Auf jeden Fall wusste Bryce genau, wie seine Tochter darüber denken würde. Und die Prinzessin vertrat offenbar eine ähnliche Haltung, wofür er volles Verständnis aufbrachte. Er selbst konnte ebenfalls nicht einsehen, warum Frauen bestimmte Aufgaben nicht übernehmen sollten, wenn sie Talent dafür besaßen. Eine Einstellung, von der er leider auch Amandas Großmutter mütterlicherseits nicht hatte überzeugen können, sonst wäre ihr Abschied von Nuee wohl weniger unangenehm gewesen.

„Kann die Klausel nicht modernisiert oder ganz abgeschafft werden?“

„Jede Änderung in der Charta müsste der Bevölkerung von Taures als Referendum vorgelegt und durch eine Volksabstimmung entschieden werden. Und selbst wenn der Antrag befürwortet werden sollte, würde es alles in allem circa fünf Jahre dauern, ihn umzusetzen.“

Viel zu lange und damit inakzeptabel für Prinzessin Giselle, wusste Bryce, als sich der Druck ihrer Hand verstärkte und er ihre Nägel in seinem Unterarm spürte.

„Ist das nicht ein wenig zu … übertrieben?“, fragte er vorsichtig.

Giselle seufzte. „Die Geschichte, wie diese Charta überhaupt zustande kam, ist schon ziemlich kompliziert. Vielleicht wissen Sie, dass der Name beziehungsweise der Titel ‚Merrisand‘, den unser Vorfahr verliehen bekam, als eine Art Strafe gedacht war, weil er sich mit seinem Bruder überwarf, dem damals regierenden Monarchen.“

Bryce kramte in seiner Erinnerung. „Bedeutet ‚Merrisand‘ im volkstümlichen Dialekt von Carramer nicht so etwas wie ‚Paradies der Narren‘?“ Um Amanda ein wenig anzuregen, sich mit der Geschichte des Châteaus auseinanderzusetzen, hatte er ihr geraten, im Internet zu recherchieren. Und die Sache mit dem Narrenparadies bekam er dann auch prompt unter die Nase gerieben, als eine gelungene Charakteristik ihres neuen Zuhauses.

„So, wie ich es verstanden habe, drehte allerdings daraufhin der Marquis den Spieß um, gründete unter diesem Namen einen Hilfsfonds für bedürftige Kinder und baute das Château als eine Art Zentrale für seine Stiftung. So wurde aus der geplanten Demütigung einer der bedeutsamsten und höchstangesehenen Namen im Königreich.“

Giselle schien von seinem Wissen angenehm überrascht zu sein. „Perfekt recherchiert“, lobte sie. „Und diese Frist von fünf Jahren hat unser Vorfahr in die Charta aufgenommen, um zu verhindern, dass sein Bruder sich ständig in die Belange der Merrisand-Stiftung einmischte.“

„Die beiden kamen nicht besonders gut miteinander aus, oder?“

Giselle warf ihrem Bruder, dessen Aufmerksamkeit gerade von einem anderen Gast beansprucht wurde, einen schnellen Blick zu. „Haben Sie Geschwister?“

„Nein.“

Nicht, dass seine Eltern es nach seiner Geburt nicht weiter versucht hätten. Aber leider ohne Erfolg. Wahrscheinlich war Bryce auch deshalb so sehr in den Fokus seines Großvaters geraten. Als alleiniger Erbe trug er die gesamte Last von Karls Erwartungshaltung auf seinen Schultern.

„Dann haben Sie keine Ahnung davon, wie weit geschwisterliche Rivalität gehen kann.“ Ohne es zu sehen, wusste sie, dass er eine Augenbraue hob.

„Selbst unter königlichen Geschwistern?“

„Wir sind schließlich auch nur Menschen. Oh …!“

Er fühlte ihr Zusammenzucken, griff geistesgegenwärtig nach der Lehne eines Stuhls neben ihm und schwang ihn herum, sodass Giselle sich setzen konnte. „Vielleicht sollten Sie den restlichen Ball lieber in dieser Position verbringen, Prinzessin.“

Seine Hand auf ihrer Schulter fühlte sich so warm und beschützend an, dass Giselle sich wünschte, den ganzen Abend in Gesellschaft dieses Fremden verbringen zu können. Aber das war natürlich nicht möglich. Ihr königlicher Stand und ihre Pflichten erlaubten derartige Eskapaden einfach nicht.

Als ihr mysteriöser Begleiter beiseitetrat, um anderen Gästen Platz zu machen, die wie auf ein geheimes Stichwort plötzlich von allen Seiten auf sie zuströmten, musste Giselle sich beherrschen, nicht nach seiner Hand zu greifen, um ihn zurückzuhalten. Sie wollte doch noch unbedingt herausfinden, wer sich hinter der Maske verbarg und warum sie sich von dem Fremden so unwiderstehlich angezogen fühlte.

Doch stattdessen widmete sie sich ihren neuen Gesprächspartnern, plauderte, scherzte und lächelte, bis ihr Kiefer schmerzte. Sie aß von dem hervorragenden Buffet, das der Chefkoch des Châteaus für den heutigen Abend bereitet hatte, lauschte der Musik, zu der sie nicht tanzen durfte, und hoffte nur, dass niemand bemerkte, wie oft sie auf die Uhr schaute.

2. KAPITEL

Nachdem er die Prinzessin verlassen hatte, zog sich der Abend für Bryce unerträglich in die Länge. Und genau zu wissen, woran das lag, stimmte ihn nicht besonders glücklich.

Keiner der anderen Gäste, mit denen er hier und da plauderte, fesselte seine Aufmerksamkeit auch nur annähernd so sehr, wie Prinzessin Giselle es vermochte. Und es kostete ihn eine gehörige Portion Selbstdisziplin, nicht ständig in ihre Richtung zu schauen. Ihr silberhelles Lachen wirkte auf ihn so anziehend wie ein Magnet und brachte seinen Puls zum Rasen. Es weckte Sehnsüchte, die er nicht empfinden wollte. Keiner Frau gegenüber … und schon gar nicht, wenn die auch noch unerreichbar für ihn war.

Kurz vor ihrem Umzug hatte Amanda ihm einen Artikel in einer Illustrierten gezeigt, in der Prinzessin Giselle mit einem von Carramers spektakulärsten Exportartikeln, dem smarten und außerordentlich attraktiven Filmstar Robert Gaudet, in Verbindung gebracht wurde. Momentan war er in Hollywood, um Verhandlungen über einen neuen Film zu führen, den seine Produktionsfirma in Carramer drehen wollte.

In dem Blatt stand auch, dass allein ihre unglückselige Verletzung die Prinzessin daran gehindert habe, an seiner Seite zu sein. Und dass ihre Heirat mit dem beliebten Schauspieler, dem sogar adelige Vorfahren nachgesagt wurden, so gut wie beschlossen sei und man nur noch nach einem geeigneten Termin suche.

Normalerweise schenkte Bryce derartigen Klatschgeschichten nicht das geringste Interesse, aber im Bestreben, seiner Tochter den Ortswechsel so schmackhaft wie möglich zu machen, hatte er ihr geduldig zugehört und insgeheim gedacht, Amanda hätte sich ein schlechteres Idol aussuchen können als eine Prinzessin, die immerhin bodenständig genug war, neben ihren Verpflichtungen, Château Merrisand betreffend, auch noch als Lehrerin in der Schlossschule zu unterrichten.

Nachdem er sie nun kennengelernt hatte, versuchte er sich einzureden, sogar glücklich über Giselles feste Beziehung zu sein. Das ließ den Verzicht irgendwie leichter erscheinen. Denn selbst wenn sie keine Prinzessin wäre, hätte er ihr einfach nichts zu bieten. Weder materiell noch emotional.

Die Krankheit seiner Frau hatte Bryce in jeder Hinsicht ausgelaugt und ihn als leere Hülle zurückgelassen. Momentan brauchte er seine gesamte physische und psychische Stärke, um für sich und seine Tochter eine neue, lebenswerte Zukunft aufzubauen. Da blieb kein Raum für unsinnige Träumereien.

Aber diese Einsicht konnte nicht verhindern, dass sein verlangender Blick immer wieder magisch von der Prinzessin angezogen wurde …

Dennoch bildete Bryce sich ein, seine Gefühle perfekt unter Kontrolle zu haben, bis ihm bewusst wurde, dass seine Tanzpartnerin mitten auf dem Parkett stehen geblieben war. Widerstrebend wandte er sich ihr zu.

„Irgendetwas nicht in Ordnung?“

„Vielleicht sollten wir lieber gleich auf der anderen Seite des Saales tanzen, bevor Sie sich noch endgültig den Hals verrenken“, schlug sie etwas pikiert vor.

Bryce hatte sie nur aufgefordert, um sich von Giselle abzulenken. Offensichtlich mit nur mäßigem Erfolg. Sie hatte sich ihm als Elaine vorgestellt und ließ bereits die ersten Anzeichen von Enttäuschung erkennen, als er seinen Namen für sich behielt. Dann hatte sie versucht, ihn mit der Eröffnung aus der Reserve zu locken, dass sie die persönliche Kammerzofe der Prinzessin sei und erst gestern in ihrem Gefolge von Taures City ins Château umgesiedelt wäre.

Als auch das nichts half, fragte sie ihn, ob er neu auf Merrisand sei.

„Ja.“ Bryce hatte genug damit zu tun, die Schrittfolgen des Walzers korrekt auszuführen, da er seit dem Ausbruch von Yvettes Krankheit nicht mehr getanzt hatte. Dabei war er einst ein guter und leidenschaftlicher Tänzer gewesen. Zum Glück war Elaine versiert und leichtfüßig genug, dass es zu keiner größeren Katastrophe kam.

Doch sie im Arm zu halten erweckte nicht die leiseste Gefühlsregung in ihm. Dabei wusste er, dass Yvette ganz sicher nicht gewollt hätte, dass er sich nach ihrem Tod schuldig fühlte, wenn er sich für eine andere Frau interessierte.

Aber für ihn war das einfach keine Option gewesen. Bis heute Abend …

„Sie ist sehr schön, nicht wahr?“, fragte Elaine mitten in seine Gedanken hinein.

Bryce fühlte sich zwar ertappt, verzichtete aber darauf, den Überraschten zu spielen. „Ja, das ist sie“, bestätigte er ruhig. „Und offensichtlich sehr begehrt.“

„Sie wären nicht der erste Mann im Château, der sich rettungslos in sie verliebt.“

Diesmal verkrampfte er sich spürbar. „Sie hören sich an wie meine Tochter.“

„Wie alt ist Ihre Tochter?“

Als er das zunehmende Interesse in Elaines Stimme wahrnahm, bereute Bryce es, sie überhaupt zum Tanzen aufgefordert zu haben. Dann erinnerte er sich daran, dass sie ihn schließlich von der Prinzessin ablenken sollte und ihr das genau jetzt gelungen war. „Zwölf, und eine echte Autorität in Sachen Berühmtheiten. Ihr Lieblingsmagazin heißt Fame and Fortune.“

Elaine lachte. „Ich muss gestehen, das lese ich auch. Wer wäre nicht gern berühmt, reich und glücklich? Erst letztens haben sie einen Artikel über die Prinzessin und Robert Gaudet veröffentlicht.“

Bryce nickte und versuchte, jegliche Emotion aus seiner Stimme zu verbannen. „Nach Meinung des Reporters sind die beiden so gut wie verlobt.“

Das Lächeln verschwand aus Elaines Gesichtszügen, und sie erwiderte spitz: „Dazu sollten Sie Ihre Hoheit besser persönlich befragen.“

Er akzeptierte ihre Diskretion zwar, fühlte aber einen Anflug von Enttäuschung. Jetzt war er schon zufällig an die richtige Quelle geraten, und es brachte ihm trotzdem nichts. Möglicherweise wollte Elaine ihm mit dieser abschließenden Aussage aber auch nur mitteilen, dass es greifbarere Ziele gab, auf die er seine Aufmerksamkeit richten könne – nämlich sie selbst?

Eine Zeit lang hatte Bryce ernsthaft darüber nachgedacht, ob Amandas Entwicklung Schaden nahm, wenn sie ohne Mutter aufwuchs. Aber er konnte sich nach Yvettes Tod einfach keine neue Beziehung vorstellen, und so akzeptierte er bereitwillig die angebotene Hilfe von Yvettes Mutter. Allerdings nur so lange, bis er bemerkte, dass Amandas Großmutter ihre Enkelin hoffnungslos verwöhnte und verzog, womit sie deren Selbstständigkeit zunehmend untergrub.

Natürlich verstand er ihre Motive, immerhin hatte Babette ihre einzige Tochter verloren und ertrug den Gedanken nicht, auch noch Amanda zu verlieren. Als sie und ihr Mann Lyle von dem geplanten Umzug hörten, führten sie sich auf, als wäre Amanda ihre Tochter, die Bryce ihnen aus reiner Bosheit und Hartherzigkeit entzog. Von ihren Großeltern beeinflusst, hatte seine Tochter ihm dann auch noch vehement vorgeworfen, ihr Leben zu ruinieren.

Es war immer noch nicht einfach, mit ihren Launen und Zickereien umzugehen, aber Bryce vertraute darauf, dass der räumliche Abstand zu Babette und Lyle Monroe mit der Zeit Früchte tragen würde.

Als der Tanz endete, bedankte er sich artig bei seiner Partnerin. „Möchten Sie vielleicht ein Glas Champagner trinken?“, fragte er aus einem Impuls heraus.

Unter der Maske wirkte sie leicht erhitzt. Ob vom Tanzen oder aus Freude über seine Einladung, vermochte Bryce nicht zu entscheiden. Vielleicht hatte sie ja befürchtet, er würde sie so schnell wie möglich loswerden wollen. Innerlich schämte er sich seines wenig charmanten Verhaltens ihr gegenüber.

„Ein Glas Champagner wäre fantastisch.“

Er gab einem der Kellner einen Wink, und als der ihnen wenig später das Gewünschte brachte, reichte Bryce seiner Tanzpartnerin mit einem entschuldigenden Lächeln eine der beiden Champagnerflöten. „Danke für Ihre Geduld“, prostete er ihr mit einem entschuldigenden Lächeln zu.

Kommentarlos akzeptierte sie den Toast und nahm einen erfrischenden Schluck. „Werde ich Sie wiedersehen?“, fragte sie dann leise.

Bryce brachte es nicht über sich, irgendetwas zu versprechen, was er nicht einhalten würde, denn in Gedanken zog es ihn bereits wieder zu der Prinzessin.

Er holte tief Luft, bevor er antwortete, doch Elaine kam ihm zuvor.

„Es ist fast Mitternacht. Ich sollte nachsehen, ob Prinzessin Giselle nicht meine Hilfe braucht.“ Sie stellte ihr Champagnerglas auf das Tablett zurück. „Danke für den Tanz.“

Bryce neigte leicht den Kopf. „Ich habe Ihnen zu danken, Elaine. Wir werden uns sicher irgendwann im Château begegnen …“

Doch sie hatte sich bereits abgewandt und bahnte sich einen Weg durch die Umstehenden in Richtung der Prinzessin. Wahrscheinlich hatte sie seine letzten Worte gar nicht mehr gehört.

Elaine ist genau der Typ Frau, für den ich mich interessieren sollte, versuchte Bryce sich einzureden. Sie war attraktiv, hatte Sinn für Humor und die Geduld einer Heiligen. Und ganz offensichtlich war sie an ihm interessiert. Und sogar an seiner Tochter. Was konnte er sich denn noch mehr wünschen?

Ein Feuerwerk der Gefühle! schoss es ihm ungebeten durch den Kopf. Wilde Emotionen, romantische Dinner bei Kerzenschein. Das volle Programm, so wie es mit Yvette gewesen war, als sie staunend und dankbar das Wunder ihrer Liebe akzeptierten und von ganzem Herzen genossen. Ebenso wie die unglaubliche Freude und Hingabe für ihre hübsche kleine Tochter.

Zuerst war ihnen gar nicht aufgefallen, dass irgendetwas nicht stimmte. Yvettes ständige Müdigkeit und Abgespanntheit führten sie auf die ungewohnte Mutterrolle mit all ihren Strapazen zurück. Doch als der Zustand anhielt, konsultierten sie einen Arzt nach dem anderen, ohne ein greifbares Ergebnis an die Hand zu bekommen.

Aber auch eine präzise Diagnose hätte den Verlauf der schrecklichen Krankheit nicht verändern oder aufhalten können. Trotz unterschiedlichster Behandlungsmethoden wurde Yvette im Laufe der Jahre immer schwächer und durchscheinender, bis sie schließlich jede weitere Therapie verweigerte.

Dass sie sich daraufhin sogar zu erholen schien, weckte erneut einen Funken Hoffnung in seinem Herzen, aber leider vergebens.

Doch selbst in den schlimmsten Zeiten war es ihnen immer gelungen, sich einen Hauch der Romantik ihrer ersten Ehejahre zu bewahren. Yvette neigte absolut nicht zu Selbstmitleid, und Bryce erinnerte sich noch gut an ihre Freudentränen, als er ihr eine der seltenen Orchideen ans Krankenbett stellte, die nur am Wegesrand des sogenannten Mayat-Pfades im Regenwald wuchsen.

Als frisch verliebtes Paar hatten sie oft am Fuß des Mount Mayat gepicknickt und das auch nach Amandas Geburt beibehalten. Dort begegneten sie schließlich auch einer Gruppe von jungen Reitern, die einem alten Ritual folgten. Sie überschritten symbolisch die Schwelle zum Erwachsensein, indem sie per Pferd den Nuee-Trail bewältigten, der durch den Regenwald und über den Berg führte.

Yvette war so beeindruckt gewesen, dass sie fortan davon träumte, eines Tages dem Trail als Familie zu folgen. Nicht, um den Berg zu bezwingen, sondern einfach, um das Erlebnis mit den Menschen zu teilen, die sie am meisten liebte.

Und als Bryce jetzt an ihren abenteuerlichen Ritt zurückdachte, spielte ein melancholisches Lächeln um seine Lippen. Immer noch sah er Amandas hellen Lockenkopf vor seinem inneren Auge und hörte ihr fröhliches Giggeln, als sie sich mitten im Regenwald auf einer Picknickdecke aufrichtete und ihnen die ersten unsicheren Schritte ihres Lebens vorführte. Es war ein magischer Moment voller Liebe und Glück gewesen, den er nie vergessen würde.

In der Nacht darauf erlebten Yvette und er ein wahrhaft spektakuläres, höchst lustvolles Liebesintermezzo unter freiem Himmel und fragten sich hinterher beglückt, ob dabei vielleicht ein Brüderchen oder Schwesterchen für Amanda entstanden war.

Elf wundervolle Jahre mit Yvette waren ihm vergönnt gewesen. Wie sollte er sich danach mit weniger zufriedengeben können? Und selbst wenn ihm dieses Glück ein zweites Mal beschieden wäre, wie sollte er den Mut aufbringen, es anzunehmen, nach dem ungeheuren Schmerz und der Trauer, die untrennbar mit seiner ersten Ehe in Verbindung standen?

Bryce schloss gepeinigt die Augen und fragte sich, was ihn überhaupt zu derart unsinnigen Spekulationen führte. Auf keinen Fall Elaine.

Nein, es gab nur eine Frau im Ballsaal, die ihm so tief unter die Haut ging, dass er sich plötzlich als willenlosen Spielball längst vergessener Emotionen empfand. Und dieses zauberhafte Geschöpf hatte nicht einmal den Hauch einer Ahnung, was sie mit ihrer bloßen Gegenwart in ihm anrichtete.

Prinzessin Giselle wäre bestimmt entsetzt, wenn sie seine Gedanken hätte lesen können. Sie hatte ihre eigenen romantischen Träume, und in denen war kein Platz für ihn.

Allerdings … trotz des Klatsches über ihre enge Verbindung mit Robert Gaudet erinnerte er sich an ihre heftige Reaktion, die Klausel betreffend, dass sie als Kastellanin des Châteaus verheiratet sein müsste. Aber die Prinzessin schien nicht der Typ Frau zu sein, der sich zu etwas zwingen ließ.

Giselles Zofe vollführte einen tiefen Hofknicks, bevor sie die Prinzessin ansprach. „Es ist fast Mitternacht, Eure Hoheit. Ich bin gekommen, um zu fragen, ob ich irgendetwas für Sie tun kann.“

„Wie fürsorglich von dir, aber im Moment brauche ich nichts“, erwiderte die Prinzessin freundlich. „Hat dir der Ball bisher gefallen?“

„O ja, unbedingt! Nach allem, was mir zu Ohren gekommen ist, soll es der beste Frühlingsball aller Zeiten sein.“

„Freut mich zu hören“, murmelte Giselle etwas abwesend.

Elaines Blick wanderte zu ihrem bandagierten Fuß. „Für Sie war es wahrscheinlich nicht so lustig, Eure Hoheit.“

„Schon gut, Elaine“, wehrte die Prinzessin deren Mitgefühl ab. „Tanzen konnte ich heute leider nicht, dafür habe ich mir jedoch fast den Mund fusselig geredet.“ Mit der Leichtigkeit jahrelanger Praxis gelang es ihr, ein Gähnen zu unterdrücken. „Den letzten Walzer schienst du besonders genossen zu haben …“

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ihre Zofe unter der Halbmaske errötete. „Ich hatte einen faszinierenden Tanzpartner. Leider wollte er mir nicht den leisesten Hinweis auf seine Identität geben.“

Mir auch nicht! dachte Giselle und verbarg ihren Unmut hinter einem weiteren unterdrückten Gähnen. Dabei hatte sie gehofft, von Elaine Aufklärung über ihren mysteriösen Galan zu bekommen.

Er ist nicht mein mysteriöser Fremder, erinnerte sie sich rasch selbst. Und ebenso wenig ein Freund von Maxim oder Eduard, wie es scheint.

„Allerdings habe ich ihm entlocken können, dass er neu hier im Château ist“, fügte Elaine überraschend hinzu. „Und dass er eine dreizehnjährige Tochter hat. Aber ich könnte schwören, er ist nicht verheiratet.“

„Wieso?“, fragte Giselle viel zu hastig und interessiert.

„Erstens kam er allein zum Ball, und zweitens hat er behauptet, seit Jahren aus der Übung zu sein, was das Tanzen betrifft.“

„Seine Partnerin könnte ja auch zu Hause beim Kind geblieben sein“, gab Giselle zu bedenken und wunderte sich, wie wenig ihr der Gedanke gefiel.

Elaine schob nachdenklich die Unterlippe vor. „Das würde natürlich erklären, warum er so wenig darauf erpicht schien, mich wiederzusehen, obwohl ich mehr als eindeutig mit zarten Hinweisen gewesen bin. Er wollte ja nicht einmal die Demaskierung abwarten …“ Sie seufzte. „Wahrscheinlich haben Sie recht, Eure Hoheit, und er ist doch in festen Händen!“

„Wahrscheinlich“, echote die Prinzessin und versuchte, nicht allzu enttäuscht zu klingen.

„Haben Sie mit Prinz Maxim und dem Marquis über den Posten der Kastellanin sprechen können?“, fragte Elaine, sich entschlossen einem neuen Thema zuwendend.

Die beiden Frauen hatten sich darüber unterhalten, als Elaine ihrer Herrin half, sich für den Ball zurechtzumachen.

„Ja, aber ohne Erfolg“, erwiderte Giselle trübe. „Es bleibt dabei. Als unverheiratete Frau besteht für mich nicht die leiseste Chance.“

Elaine ließ ein enttäuschtes Schnauben hören. „Können Sie nicht mit Prinz Gabriel reden? Als Gouverneur von Taures sollte Ihr Vater doch in der Lage sein, diese überalterte Regel aus der Welt zu schaffen. Männer müssen doch auch nicht verheiratet sein für diesen Job.“

Giselle lachte unfroh auf. „Abgesehen davon, dass mein Vater weiß, dass er die Charta nicht so einfach ändern kann, ist er ja sogar froh über diese unsägliche Klausel!“, ereiferte sie sich. „So kann er mich weiterhin unter Druck setzen.“

„In absehbarer Zeit zu heiraten?“, fragte Elaine hellsichtig.

„Genau das!“

„Und was ist mit Robert Gaudet? Alle, die ich kenne, würden sich freuen, ihre Prinzessin mit dem bekanntesten Mann des Königreiches verheiratet zu sehen.“

„Ich habe nicht vor, mein Leben zur Unterhaltung der Bevölkerung zu führen!“, erwiderte Giselle in einem Ton, der die arme Elaine vor ihren Augen sichtbar schrumpfen ließ. „Robert ist attraktiv, ausgesprochen charmant und ein guter Gesellschafter. Aber ich kann mich einfach nicht als seine Ehefrau sehen“, erläuterte sie in einem gemäßigteren Ton.

„Nicht einmal, wenn Sie dadurch Kastellanin des Châteaus werden könnten?“, fragte Elaine schüchtern und erntete dafür sofort wieder einen zornigen Blick.

„Du hörst dich schon an wie meine Eltern!“

„Verzeihung …“, murmelte Elaine, doch Giselle beachtete sie schon gar nicht mehr.

Sie dachte daran, wie viel ihr an der Position als Kastellanin lag. Es war nicht der Titel, der sie reizte, sondern die Möglichkeit, endlich ihre eigenen Ideen umsetzen zu können, die sie in den Jahren als rechte Hand ihres Bruders entwickelt hatte. Leider waren Maxim und sie sich häufig uneinig. Aber wenn sie ihm erst gleichgestellt war, dann hatte ihre Stimme auch dasselbe Gewicht wie seine, und er würde sie nicht wie ein unmündiges Kind abwimmeln können.

Ihre Mutter hatte sie zwar immer überzeugen wollen, dass sie genauso viel Macht ausüben könnte, wenn sie ihre Stellung sozusagen hinter dem Thron beziehen würde, doch das widersprach Giselles Freigeist und Temperament so sehr, dass sie keinen weiteren Gedanken an eine derartige Möglichkeit verschwendete.

Sie wusste, dass Robert der Titel Prinz zwar außerordentlich gefallen würde, doch er verfolgte seine eigene Karriere und wollte auf keinen Fall etwas mit ihrer Arbeit zu tun haben. Warum sollte sie sich also quasi auf dem Altar der Ehe opfern, anstatt die leitende Stellung, die mit dem Titel einherging, selbst auszufüllen?

„Und wenn plötzlich der Richtige käme, würden Sie dann anders über dieses Thema denken?“, drang Elaines Stimme mitten in ihre trüben Gedanken.

„Der Richtige …?“, fragte Giselle verblüfft, und als sie aufschaute, begegnete sie über den Saal hinweg einem leuchtend blauen Augenpaar, das sich hinter einer schwarzen Maske versteckte. „Reich mir die Krücken“, bat sie Elaine, ohne den Blick von dem geheimnisvollen Fremden abzuwenden, der sie schon den ganzen Abend über in seinen Bann gezogen hatte.

„Aber ich dachte, Sie wollten nicht …“

„Schnell!“, drängte Giselle und funkelte ihre Zofe ärgerlich an. „Es ist gleich Mitternacht!“ Zu ihrer Überraschung schmerzte der Fuß weniger als erwartet, als sie ihn vorsichtig belastete. Und nachdem sie endlich die richtige Position für ihre Krücken gefunden hatte, richtete Giselle sich ganz auf und hielt Ausschau.

„Drei, zwei, eins …“

Mit einem lauten Tusch begrüßte das Orchester den neuen Tag, und überall wurden lachend Masken gelüftet.

Nur ein Maskenträger schien sich plötzlich in Luft aufgelöst zu haben. Sosehr sich die Prinzessin auch anstrengte, ihr Traumprinz war weit und breit nicht zu sehen.

„Da bist du ja!“, rief Maxim lachend und trat ihr in den Weg. Seine Maske baumelte an einer Hand. Die andere streckte er aus, löste geschickt die Schleife in ihrem Nacken und demaskierte seine Schwester, die sich viel lieber weiter getarnt hätte.

„Für eine Frau, auf die gleich die ganze Ballgesellschaft anstoßen wird, siehst du aber nicht besonders glücklich aus“, stellte er kritisch fest. „Dabei sind dem Trust dank deiner Planung und deines Einsatzes im letzten Jahr wahre Rekordsummen zugeflossen.“

„Natürlich freue ich mich darüber“, versicherte sie mit dünner Stimme.

„Du hast Schmerzen, oder?“, fragte Maxim mit brüderlicher Besorgnis. „Du hättest auf keinen Fall versuchen dürfen, allein zu laufen.“

„Mir geht es gut“, behauptete Giselle und fühlte sich, als habe ihr jemand etwas ganz Kostbares angeboten, um es ihr, bevor sie es erreichen konnte, auch schon wieder zu entziehen.

Sie wusste nicht einmal seinen Namen. Oder wie er aussah. Warum war er Punkt Mitternacht verschwunden? Dies war doch kein Märchen. Und falls doch, dann eines, das ihr gar nicht gefiel …

3. KAPITEL

„Das ist alles für heute.“

Die Kinder strömten aus dem Klassenraum. Je nach Geschlecht knicksten sie oder verbeugten sich, während sie am Pult vorbeigingen. Giselle erhob sich vom Stuhl und bedachte jeden ihrer Schüler mit einem freundlichen Lächeln.

Wie angenehm es war, endlich wieder schmerzfrei auf beiden Beinen stehen und weder den Rollstuhl noch die leidigen Krücken nehmen zu müssen. Wenn ihre Physiotherapie weiter so erfolgreich verlief, konnte sie bald auch ihren Gehstock – wie die Sänfte ein antikes Relikt und Erbstück ihrer Großmutter aus schwarzem Ebenholz mit silbernem Knauf – dem Schlossmuseum vermachen.

In den langweiligen Physiotherapie-Stunden hatte Giselle sich erfolglos den Kopf darüber zerbrochen, wer nur ihr mysteriöser Fremder sein mochte. Leider war sie zu beschäftigt gewesen, um gründlich nachforschen zu können, wie sie es sich in der Ballnacht vorgenommen hatte. Obwohl sie in der Schlossschule durch eine junge Austauschlehrerin vertreten worden war und Maxime einen Großteil ihrer anderen täglichen Verpflichtungen übernommen hatte, während sie in Taures City weilte, gab es eine Menge nachzuholen.

Und als sie endlich mal einen Abend für sich hatte und sich ihrer Privatrecherche widmen wollte, hatte ein Virus das Computernetzwerk lahmgelegt, sodass ihr der Zugang zu den Personalakten verwehrt blieb. Doch heute sollte alles wieder funktionieren, und sie konnte den Feierabend kaum erwarten.

Aber warum hatte sie überhaupt diesen unbezwingbaren Drang, die Identität des schwarz Maskierten aufzudecken? Sie hatte ja nicht einmal mit ihm getanzt!

Doch als er sie an jenem Abend durch den Ballsaal führte, hatte sie sich an seinem Arm so sicher und leichtherzig gefühlt wie nie zuvor in der Begleitung eines Mannes. Und sie konnte sich nur zu lebhaft vorstellen, wie es sein mochte, ganz in seinen starken Armen zu liegen und …

Unwillkürlich ließ Giselle einen frustrierten Laut hören, worauf die letzten Kinder, die gerade das Klassenzimmer verlassen wollten, irritiert stehen blieben und sie aus großen Augen fragend anstarrten.

„Schon gut … alles in Ordnung“, murmelte sie verlegen und versuchte, sich wieder aufs Hier und Jetzt zu konzentrieren. „Amanda, bleibst du bitte noch einen Augenblick bei mir?“

Das angesprochene Mädchen schaute alarmiert auf, doch im nächsten Moment wurde ihr schmales Gesicht zur undurchdringlichen Maske, wie so oft, wenn Giselle sie im Unterricht aufrief. Ein Austausch mit den anderen Lehrern ergab, dass sie ähnliche Beobachtungen gemacht hatten und ebenso besorgt über die Entwicklung der neuen Schülerin waren.

Laut Unterlagen war Amanda vor zwei Monaten zusammen mit ihrem Vater von Nuee hierhergezogen. In der dortigen Landschule wurden ihre Leistungen als vorbildlich bewertet. Natürlich sanken sie nach dem Tod der Mutter vor zwei Jahren ein wenig ab, aber nicht in dem Maße wie in den letzten Wochen.

Die Schuldirektorin war der Meinung gewesen, Giselle solle sich mit Amandas Vater in Verbindung setzen, damit man sich ein besseres Bild über die momentanen Umstände machen könne. Deshalb hatte sie Amanda einen Brief für ihn mitgegeben. Doch weder sie noch die Direktorin erhielten eine Rückmeldung.

„Setz dich doch bitte“, forderte Giselle das Mädchen auf und warf den anderen Kindern, die noch neugierig in der offenen Tür herumlungerten, einen strengen Blick zu, der sie sofort vertrieb.

Amanda hockte auf der Stuhlkante wie auf einem Arme-Sünder-Bänkchen und knetete nervös die schmalen Hände im Schoß. Giselle lehnte sich gegen das Pult und schaute das Mädchen freundlich an.

„Was hat dein Vater zu dem Brief gesagt?“

Die Schultern des Mädchens fielen herab. „Ich weiß nicht.“

Autor

Brenda Harlen
<p>Brenda ist eine ehemalige Rechtsanwältin, die einst das Privileg hatte vor dem obersten Gerichtshof von Kanada vorzusprechen. Vor fünf Jahren gab sie ihre Anwaltskanzlei auf um sich um ihre Kinder zu kümmern und insgeheim ihren Traum von einem selbst geschriebenen Buch zu verwirklichen. Sie schrieb sich in einem Liebesroman Schreibkurs...
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Valerie Parv
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Cynthia Rutledge
Cynthia Rutledge schrieb ihr erstes Buch mit 14 und ließ es kurz darauf im Müll verschwinden. Sie begann 1996 wieder mit dem Schreiben, nachdem sie im College einen Kurs in „Wie schreibe ich einen Liebesroman“ belegt hatte. In dreieinhalb Jahren schrieb sie fünf Bücher. Ihr fünftes Buch gewann einen Romance...
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