Julia Royal Band 9

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GELIEBTE PRINZESSIN von NATASHA OAKLEY
Kaum hat Sebastian erfahren, wie leicht und leidenschaftlich das Leben sein kann, ruft die Pflicht. Um das Thronerbe von Andovaria anzutreten, muss er sein Kostbarstes zurücklassen: die Liebe einer Frau. Denn eine Bürgerliche kann niemals seine Prinzessin werden …

DER FÜRST UND DAS SHOWGIRL von CHANTELLE SHAW
Liebe auf den ersten Blick? Gibt es für Mina nur auf der Bühne … bis sie Erik Thoresen gegenübersteht. Mit dem Thronerben eines nordischen Fürstentums erlebt sie eine Nacht voller Sinnlichkeit. Doch am nächsten Morgen scheint ihr Liebestraum jäh zerstört, denn Erik fühlt sich von ihr verraten …

KRÖNUNG DER LEIDENSCHAFT von CHARLENE SANDS
König Juan Carlos wird von heftigem Begehren erfasst, als ihm eine sexy Blondine während seiner Krönung verführerisch zuzwinkert. Kurz darauf wird Portia ihm vorgestellt – sie ist nicht nur bildschön und klug, sondern auch adelig. Die ideale Frau für ihn! Wäre da nicht ihr Familiengeheimnis …


  • Erscheinungstag 03.12.2021
  • Bandnummer 9
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500760
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Natasha Oakley, Chantelle Shaw, Charlene Sands

JULIA ROYAL BAND 9

1. KAPITEL

„Du liest Tschechow? Hast du vielleicht auch Tolstoi gelesen?“

Marianne Chambers hielt mit dem Korrekturlesen inne. Diese Frage hatte ihr schon einmal jemand gestellt, vor sehr vielen Jahren. Es war ein warmer Sommernachmittag gewesen, und sie hatte auf der Treppe vor der Kathedrale in Amiens gesessen und ein Buch von Anton Tschechow gelesen. Es war Sebastian Rodier, der sie damals mit diesen Worten angesprochen hatte. Aber war das wirklich möglich? Was suchte er im Cowper Hotel in London, in dem am folgenden Tag ein wissenschaftlicher Kongress stattfinden sollte?

Marianne hob den Kopf und blickte in das Gesicht jenes Mannes, der ihr Leben vor zehn Jahren völlig auf den Kopf gestellt hatte – Fürst Sebastian II von Andovaria! Er trug einen edlen Designeranzug und wirkte ganz anders als der junge Mann, der damals in Jeans und T-Shirt vor ihr gestanden hatte. Und er sah sogar noch attraktiver aus als auf den zahlreichen Fotos in Zeitungen und Magazinen, die Marianne im Laufe der Zeit von ihm gesehen hatte.

„Hallo, Marianne“, sagte er mit einem so charmanten Lächeln, dass sie eine Gänsehaut bekam.

Dieses Lächeln versetzte sie schlagartig in die Vergangenheit zurück: Sie war achtzehn Jahre alt, unsterblich in Sebastian verliebt und wartete in ihrer Gastfamilie in Frankreich vergeblich darauf, dass er sich nach seinem Abschied telefonisch bei ihr melden würde …

Wie oft hatte Marianne sich seitdem vorgestellt, wie es wohl sein würde, ihn wiederzusehen. Dabei hatte sie es natürlich nie für möglich gehalten, dass dies tatsächlich einmal wahr werden würde. Seit Sebastian aus Frankreich abgereist war, hatten sich ihre Wege nicht mehr gekreuzt. Auch hatte er in all den Jahren nach ihrer Trennung niemals Kontakt zu ihr gesucht. Aber welches Interesse hätte der Herrscher des Fürstentums Andovaria auch an einer unbedeutenden Wissenschaftlerin aus England haben sollen?

„Sebastian“, brachte sie endlich hervor. „Oder soll ich … dich jetzt Eure Hoheit nennen?“

„Sebastian reicht völlig aus“, erwiderte er amüsiert. „Schön, dich zu wiederzusehen. Wie geht es dir?“

„Gut, sehr gut“, erwiderte sie ein wenig zu schnell, da sie nicht wollte, dass er ihre Verwirrung bemerkte. „Und dir?“

„Mir geht es auch gut.“ Sebastian betrachtete sie prüfend. „Es ist sehr lange her, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Du siehst fantastisch aus.“

„Du … auch“, antwortete Marianne stockend, da sie kaum noch klar denken konnte. Sebastians unerwartetes Auftauchen brachte sie völlig aus der Fassung.

„Darf ich mich zu dir setzen?“

Am liebsten hätte Marianne Nein gesagt, doch da sie nicht unhöflich sein wollte, schob sie ihre Unterlagen zusammen, um auf dem Tisch Platz zu schaffen. „Natürlich.“ Dann blickte sie sich um und entdeckte zwei kräftige Männer in grauen Anzügen, die in etwa zehn Metern Abstand im Foyer standen – die Leibwächter des Fürsten.

„Wer sind denn die beiden dort drüben?“, fragte sie leicht spöttisch. „Patt und Patterchen?“

„Das sind Georg und Karl“, erklärte Sebastian amüsiert und nahm neben ihr Platz. „Bei uns in Andovaria spricht man seine Mitarbeiter mit Namen an, selbst wenn sie für die Fürstenfamilie arbeiten.“

„Ach, wirklich?“

„Jawohl, Andovaria ist nämlich ein modernes Fürstentum“, erwiderte er schmunzelnd.

Ein modernes Fürstentum, dachte Marianne bitter. Diese Erfahrung hatte sie vor zehn Jahren allerdings nicht gemacht. Seit ihrer Trennung hatte sie seinen Werdegang genau verfolgt. Durch die Berichte in Zeitungen und Hochglanzmagazinen wusste sie alles von ihm. Sie hatte Bilder von Sebastian beim Skifahren und Bergwandern gesehen, auf seinem Wohnsitz in Schloss Poltenbrunn, bei hohen gesellschaftlichen Anlässen und bei seiner Hochzeit mit Amelie von Saxe-Broden. Marianne war ebenfalls bekannt, dass er sich einige Jahre später wieder hatte scheiden lassen, denn alles, was mit dem Fürsten zu tun hatte, ging durch sämtliche Medien, sodass Marianne immer über sein Leben informiert war.

Sie holte tief Luft, um sich etwas zu beruhigen. „Was führt dich nach England? Steht vielleicht ein royales Event bevor, von dem die Öffentlichkeit noch nichts weiß?“

„Nein, nur ein Privatbesuch.“

„Wie schön für dich“, antwortete Marianne sarkastisch und kannte sich selbst nicht mehr. Wieso war sie so rüde zu Sebastian? Brachte seine Gegenwart sie so sehr aus dem Gleichgewicht, dass sie ihre guten Umgangsformen vergaß? Zu ihrem Unmut spürte sie, wie ihr Tränen in die Augen traten, und um sich abzulenken, steckte sie schnell ihre Unterlagen in die Tasche. Nein, sie durfte nicht weinen, denn sie hatte seinetwegen schon genug Tränen vergossen!

„Bist du inkognito unterwegs?“, fragte sie, um Haltung bemüht, wobei sie mit dem Kopf auf die beiden Männer wies. „Wenn ja, hättest du die Bodyguards daheim lassen sollen, damit du mehr Bewegungsfreiheit hast.“

Da wurde Sebastian unvermittelt ernst. „Du bist mir immer noch böse, nicht wahr?“

Marianne schloss ihre Aktentasche. „Hättest du etwas anderes erwartet?“

„Ich hatte gehofft, dass …“ Sebastian schaute kurz über die Schulter, um sicherzugehen, dass Georg und Karl nicht mithörten. „Dass du …“

„Dass ich was?“, fiel Marianne ihm ins Wort. „Dass ich vergessen habe, dass du mich in Frankreich sitzen gelassen hast? Dass ich mich nicht mehr daran erinnere, wie schamlos du mich angelogen hast?“

„Marianne …“

„Es war schön, dich wiederzusehen, aber jetzt muss ich gehen. Ich habe noch sehr viel zu tun und muss … meine Gedanken ordnen.“

„Marianne, hör mir zu, ich …“

„Ich habe keine Lust, dir zuzuhören! Vor zehn Jahren hättest du mit mir sprechen sollen, aber jetzt ist es zu spät. Ich habe nämlich festgestellt, dass die Zeit mit dir reine Verschwendung war!“ Marianne sah, wie ein kleiner Muskel in seinem Gesicht bei ihren letzten Worten zuckte.

„Ich habe dich nicht angelogen.“

„Ach nein? Dann muss ich wohl nicht richtig zugehört haben, als du mir gesagt hast, wer du bist. Wie dumm von mir, wirklich zu dumm!“

Nun sah sie Sebastian deutlich an, dass er betroffen war. Offensichtlich hatte er mit einer solchen Reaktion von ihr nicht gerechnet.

„Und wie dumm bin ich gewesen, mir jahrelang den Kopf darüber zu zerbrechen, warum du mich verlassen hast!“, fügte sie verbittert hinzu.

„Ich habe dich nicht angelogen, sondern dir nur nicht die ganze Wahrheit gesagt“, rechtfertigte Sebastian sich. „Und dafür hatte ich gute Gründe.“

Marianne hätte beinahe hysterisch gelacht. Welche Gründe das gewesen waren, hatte sie schon sehr bald selbst herausgefunden. Nachdem sie durch die Medien erfahren hatte, dass ihr Freund Sebastian der Thronfolger des Fürstentums von Andovaria war, hatte sie begriffen, weshalb er sie verlassen hatte. Aber trotzdem hatte er nicht das Recht gehabt, sie so schäbig zu behandeln.

„Ich habe dir damals meinen richtigen Namen genannt“, beharrte Sebastian. „Diesbezüglich habe ich dich also nicht angelogen.“

„Natürlich nicht. Du hast mir dabei nur die unwichtige Nebensächlichkeit verschwiegen, dass du ein fürstlicher Spross bist“, gab Marianne spöttisch zurück. „Du wusstest genau, dass ich keine blasse Ahnung hatte, wer du wirklich bist, und du hast es mir absichtlich nicht gesagt. Ich wusste nicht einmal, dass du aus Andovaria kommst: Ich dachte, du seist Österreicher. Und deinem Freund Nick hast du auch eingebläut, mir nichts zu sagen!“

„Ich habe nie behauptet, aus Österreich zu kommen.“

„Du hast doch gesagt, du würdest in der Nähe von Wien leben.“

„Das stimmt ja auch. Ich …“

Marianne schüttelte den Kopf. „Bitte, Sebastian, lassen wir das, ja? Was vorbei ist, ist vorbei, und ich habe meine Lektion daraus gelernt. Und das bedeutet, dass ich nichts mehr mit dir zu tun haben will.“

„Marianne, bitte lass mich …“

„Ich muss jetzt gehen, Sebastian. Bitte akzeptiere das.“

Marianne konnte einfach nicht mehr, sie konnte es nicht länger ertragen, Sebastian zu sehen. Sie ließ ihn einfach stehen und lief davon – aus dem Gebäude hinaus und auf die Straße.

Nie hätte Marianne geglaubt, dass sie Sebastian je wieder begegnen würde. Auch der Gedanke, dass er Fürst von Andovaria war, mochte bis heute nicht in ihren Kopf gehen. In ihrer Erinnerung war Sebastian immer noch der neunzehnjährige Sprachstudent, den sie in Amiens kennengelernt hatte. Mit dem sie Crêpes gegessen hatte, am Seine-Ufer spazieren gegangen war und in den sie sich unsterblich verliebt hatte.

Marianne wartete ungeduldig, bis die Ampel auf Grün schaltete. Dann hastete sie in das kleine Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite, nur um sich vor Sebastian zu verstecken. Aber weshalb lief sie überhaupt davon? Glaubte sie etwa, sie könne der schmerzlichen Erinnerung an diesen Mann dadurch entrinnen?

Sebastian schob frustriert die Hände in die Hosentaschen. Er hatte alles falsch gemacht und konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich zum letzten Mal so hilflos gefühlt hatte wie in diesem Augenblick. Er hatte vorgehabt, sich in Ruhe mit Marianne zu unterhalten, es aber nicht einmal geschafft, drei vernünftige Sätze mit ihr zu sprechen.

Ein Glück, dass er sich auf seine beiden Leibwächter, die diese kleine Szene mitbekommen hatten, verlassen konnte. Sie waren absolut diskret und würden niemals Details über sein Privatleben preisgeben – weder der Presse gegenüber noch gegenüber anderen Kollegen.

Sebastian atmete tief durch. Am besten vergaß er diesen kleinen Zwischenfall sowie alles, was mit Marianne Chambers zusammenhing. Aber konnte er das denn? Schon als ihm ihr Name auf der Tagungsliste aufgefallen war, hatte er ein erregendes Kribbeln in der Magengegend verspürt und sich gefragt, ob es sich bei Professor Blackwells Assistentin tatsächlich um jene junge Sprachstudentin handeln konnte, die er vor zehn Jahren in Frankreich kennengelernt hatte. Und dass sie es wirklich war, hatte er sofort erkannt. In ihren Jeans und dem weißen T-Shirt sah sie fast genauso aus wie das süße achtzehnjährige Mädchen, in das er sich damals auf den ersten Blick verliebt hatte.

Marianne hatte damals auf der Treppe vor der Kirche in Amiens gesessen und war ganz vertieft in ein Buch von Tschechow gewesen. Überhaupt hatte sie ständig gelesen, sie schien regelrecht süchtig nach Büchern gewesen zu sein. Sebastian war derart fasziniert von ihr gewesen, dass er sie einfach hatte ansprechen müssen, obwohl sein bester Freund Nick ihm davon abgeraten hatte.

„Eure Hoheit?“

Sebastian drehte sich um und sah seinen Privatsekretär Alois von Dietrich mit einem etwas hektisch wirkenden älteren Mann auf sich zukommen.

„Eure Hoheit, uns war leider nicht bekannt, dass Sie schon angekommen sind“, sagte dieser sichtlich unbehaglich. „Wir hätten Sie doch abholen lassen und …“

Sebastian lächelte. „Kein Problem, Mr. …?“

„Baverstock. Anthony Baverstock – Manager dieses Hotels“, antwortete er stolz.

Sebastian schüttelte ihm höflich die Hand. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Baverstock.“

„Ganz meinerseits, ganz meinerseits“, erwiderte der Manager überschwänglich, und sein Gesicht wurde dabei um noch eine Schattierung röter. „Professor Blackwell wartet bereits im Balcony Room auf Sie. Wenn Sie mir bitte folgen möchten.“

Unwillkürlich musste Sebastian an seinen verstorbenen Vater denken, der ihm immer wieder erklärt hatte, wie wichtig es sei, aktiv auf andere zuzugehen. Man müsse einen bleibenden Eindruck auf die Menschen hinterlassen, wenn man im Leben etwas bewirken oder verändern wollte. Und sein Vater hatte recht gehabt. Nach seinem Tod hatte Sebastians Mutter unzählige Briefe erhalten, in denen die Menschen zu erkennen gaben, wie glücklich sie gewesen seien, Fürst Franz-Josef persönlich kennengelernt zu haben.

Sebastian konnte sich die Charaktereigenschaften seines Vaters jedoch nur schwer zu eigen machen. Ihm fiel es nicht leicht, die immerwährenden Verpflichtungen zu erfüllen, die ihm als Thronfolger auferlegt worden waren. Doch eine harte Ausbildung und eiserne Disziplin machten es ihm möglich, sich stets so zu verhalten, wie man es von einem Kronprinzen und späteren Fürsten erwartete. Disziplin und Pflichterfüllung waren die wichtigsten Dinge in seinem Leben, auch wenn es einmal eine Zeit gegeben hatte, in denen er diese Verantwortung lieber auf jemand anderen abgewälzt hätte. Auf Victoria, zum Beispiel, seine ältere Schwester. Sie identifizierte sich mit der höfischen Etikette und liebte die alten Traditionen so sehr, wie Sebastian sie hasste.

„Eure Hoheit, Fürst von Andovaria!“, verkündete Mr. Baverstock stolz, als er Sebastian schließlich in den eleganten Balcony Room zu Professor Blackwell führte.

Sebastian trat auf den Professor zu und schüttelte ihm herzlich die Hand. „Wie schön, dass Sie gekommen sind, Professor Blackwell. Ich bin sehr froh, dass Sie sich bereit erklärt haben, Ihre kostbare Zeit unserem Projekt zu widmen.“

Ein Ausdruck freudiger Erregung trat in das Gesicht des alten Herrn. „Die Freude liegt ganz auf meiner Seite, Euer Hoheit. Diese Konferenz ist für mich der Höhepunkt des Jahres.“

„Darf ich Ihnen Herrn Alois von Dietrich, meinen Privatsekretär, vorstellen?“, fuhr Sebastian fort. „Ich nehme an, Sie haben schon Kontakt miteinander gehabt.“

Der Professor nickte und bot Sebastian und seinem Sekretär einen Platz auf den bequemen Sesseln am Fenster an. „Gewiss, gewiss. Aber rechnen Sie bitte noch nicht fest mit mir, denn wie Sie sicherlich wissen, hatte ich eigentlich geplant, schon nächsten Monat in Rente zu gehen.“

Sebastian setzte ein gewinnendes Lächeln auf. „Ja, das ist mir bekannt, aber ich bin davon überzeugt, dass Sie von dieser Entscheidung Abstand nehmen, wenn Sie erst einmal einen tieferen Einblick in unser Projekt gewonnen haben.“

„Tja, das befürchte ich auch“, erwiderte der Professor lachend. „Die Geschichte des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts ist nämlich meine größte Leidenschaft – eine ungesunde Obsession, wie meine Frau zu sagen pflegt.“

Sebastian stimmte in sein Lachen ein. „Da hat Ihre Frau sicher recht – aber was wären wir Menschen ohne unsere Leidenschaften!“

Marianne saß in Professor Blackwells Zimmer und trank nervös ihren Tee. „Warum hast du mir denn nicht schon früher gesagt, dass du für Fürst Sebastian von Andovaria arbeiten willst?“, fragte sie den alten Herrn. Das also war Sebastians privater Besuch gewesen.

Peter Blackwell schob sich genüsslich einen Keks in den Mund. „Weil ich noch keine Gelegenheit dazu hatte. Ich habe den Fürsten erst heute Morgen persönlich kennengelernt. Gestern Nachmittag konnte ich nur mit seinem Privatsekretär sprechen.“

Marianne runzelte die Stirn. „Und du denkst wirklich ernsthaft daran, dieses Projekt in Andovaria anzugehen?“

„Natürlich, wer könnte ein solches Angebot ausschlagen?“ Peter aß einen weiteren Keks. „Ich weiß, was du jetzt denkst, aber überlege mal, Marianne – das ist die Chance meines Lebens. Wenn die Erläuterungen des Fürsten den Fakten entsprechen, wovon ich schwer ausgehe, dann hat es seit Jahrzehnten keinen vergleichbaren Fund gegeben.“

Marianne schwieg beklommen, während der Professor seine Tasse leer trank und schließlich aufstand. „Stell dir nur mal vor, welch faszinierende Dinge uns dort erwarten. So etwas kann man sich doch nicht entgehen lassen!“

„Hast du ihm auch gesagt, dass du nur wenige Wochen vor deiner Pensionierung stehst?“

Der Professor schüttelte unwirsch den Kopf. „Das tut doch jetzt nichts zur Sache. Und Eliana wird sicher Verständnis dafür haben, wenn ich …“

„Das wird sie nicht, Peter. Du weißt so gut wie ich, dass du deine Arbeit schon längst aufgegeben hättest, wenn es nach ihr gegangen wäre.“

Der alte Herr setzte sich wieder hin und nahm Mariannes Hand. „Sieh mal, Marianne, das hier ist etwas, worauf ich mein ganzes Leben lang gewartet habe. Und du musst mir helfen, Eliana davon zu überzeugen, dass ich dieses Angebot nicht einfach in den Wind schlagen kann.“

In den Augen des alten Herrn lagen so viel Hoffnung und Zuversicht, dass Marianne es einfach nicht fertigbrachte, ihn zu enttäuschen. Sie wusste genau, wie sehr er sich wünschte, dieses Projekt durchzuführen, und wie sehr er dabei auf ihre Hilfe angewiesen war.

„Weiß der Fürst über deine gesundheitlichen Probleme Bescheid?“, fragte sie sanft, obwohl sie den Professor nur ungern an seine Augenerkrankung erinnerte. Peter Blackwell war der warmherzigste und großzügigste Mensch, den sie kannte, und sie würde alles tun, um ihm zu helfen. „Du siehst einfach nicht mehr gut genug, um diese Arbeit durchzuführen, und deshalb solltest du unbedingt einen Spezialisten zur Unterstützung heranziehen.“

Der Professor drückte aufmunternd ihre Hand. „Den habe ich doch schon, Marianne, nämlich dich. Ich habe dem Fürsten bereits mitgeteilt, dass ich eine äußerst fachkundige und kompetente Kollegin mitbringen würde.“

„Aber Peter, für ein solches Projekt bin ich noch viel zu unerfahren“, wandte Marianne ein, obwohl sie sich sehr geehrt fühlte, dass der Professor so viel Vertrauen in sie setzte. „Es wird noch Jahre dauern, bis ich in der Lage bin, dich bei einer solchen Arbeit zu unterstützen.“

„Du solltest dein Licht nicht unter den Scheffel stellen, Marianne. Trotz deines zarten Alters von achtundzwanzig Jahren verfügst du über eine Menge Fachkompetenz, besitzt einen scharfen Verstand und bist hoch motiviert. Glaube mir, wir beide sind das perfekte Team.“ Peter stand auf und wischte sich die Kekskrümel von der Hose. „Aber wir wollen natürlich nichts überstürzen. Zuerst sehen wir uns die Fotos an, von denen der Fürst gesprochen hat, und dabei brauche ich dich und deinen scharfen fachmännischen Blick. Und nach dem gemeinsamen Dinner besprechen wir dann alles gründlich, einverstanden?“

Marianne sah ihn verwundert an. „Welches Dinner?“

„Oh, hab ich dir das nicht gesagt?“ Peter griff sich an die Stirn. „Das muss ich wohl vergessen haben. Fürst Sebastian hat uns beide für heute Abend zum Dinner im Randall Hotel eingeladen. Um acht Uhr.“

Marianne war im ersten Moment sprachlos. Sie sollte an einem Dinner mit Sebastian teilnehmen? „Was … was soll ich denn dort? Ich meine, ich bin doch nur …“

„Du bist meine Assistentin, die unentbehrlich für mich ist“, nahm Peter ihr den Wind aus den Segeln. „Und es war für den Fürsten selbstverständlich, dich mit einzuladen.“

„Aber weiß er denn, wer ich bin? Ich meine, hast du ihm meinen Namen genannt?“

Professor Blackwell schüttelte nun etwas ungeduldig den Kopf. „Ich weiß nicht mehr genau, was ich gesagt habe, aber das spielt doch keine Rolle. Fürst Sebastian hat uns beide eingeladen, und dann gehen wir auch beide hin.“

Dazu sagte Marianne nichts mehr. Natürlich hatte Peter keine Ahnung, wie ihr zumute war, da er ihr trauriges Geheimnis nicht kannte, und so sollte es auch bleiben. Doch was war mit Sebastian? Wusste er, dass sie die Assistentin war, die der Professor mit zum Dinner brachte?

Peter tätschelte ihr nun väterlich die Wange. „Was machst du denn für ein Gesicht, mein Mädchen? Ich weiß ja, dass es aufregend für dich wird, mit einem echten Fürsten zu speisen, aber das wird alles halb so wild, du wirst schon sehen. Zuerst essen wir in aller Ruhe, und dann schauen wir uns gemeinsam die Fotos an, und erst danach treffen wir unsere Entscheidung, einverstanden?“

„Einverstanden“, stimmte Marianne zu, obwohl ihr alles andere als wohl bei der Sache war. Denn wie Professor Blackwell sich entscheiden würde, konnte sie sich jetzt schon denken.

2. KAPITEL

Marianne stand vor dem großen Wandspiegel in ihrem Hotelzimmer und betrachtete sich kritisch von allen Seiten. Das hochelegante weinrote Seidenkleid, das ihre weiblichen Formen sanft umschmeichelte, stand ihr wirklich ausgezeichnet, und doch fühlte sie sich nicht ganz wohl in ihrer Haut. Hätte sie sich doch nur nicht auf dieses Dinner mit Sebastian eingelassen! Stattdessen hätte sie gleich ihren Koffer packen und sich in den nächsten Zug zurück nach Cambridge setzen sollen.

Aber sie hatte es nicht getan, und diese Entscheidung hatte sie nicht ausschließlich deshalb getroffen, weil sie Peter nicht enttäuschen wollte. Nein, Marianne wollte Sebastian zeigen, dass sie nicht mehr das junge naive Mädchen von damals war, das er in Frankreich hatte sitzen lassen. Kurz entschlossen hatte sie eine der elegantesten Londoner Boutiquen aufgesucht und sich dieses atemberaubende Kleid gekauft.

Doch während sie nun vor dem Spiegel stand, war sie sich ihrer Sache gar nicht mehr so sicher. Glaubte sie tatsächlich, den Fürsten von Andovaria allein durch ein extravagantes Kleid beeindrucken zu können? Sicher war er es gewohnt, von Schönheiten aus ganz Europa umringt zu sein, denen sie, Marianne, an Eleganz und Attraktivität nicht das Wasser reichen konnte.

Sebastian Rodier … ihre große Liebe. Marianne öffnete ihr Nachtschränkchen und nahm einen kleinen Gegenstand heraus. Es war eine goldene Kette mit einem herzförmigen Medaillon als Anhänger. Marianne umschloss das Schmuckstück fest und drückte es innig ans Herz. Ja, sie würde Peter zu diesem Dinner begleiten, auch wenn das Wiedersehen mit Sebastian noch so schmerzhaft für sie sein würde. Peter zuliebe würde sie sich zusammennehmen und so tun, als könne die Vergangenheit ihr nichts mehr anhaben …

„Marianne, bist du fertig?“, ertönte seine Stimme nach einem kurzen Klopfen.

Marianne ließ das Medaillon rasch wieder in der Schublade verschwinden, dann legte sie sich die edle Seidenstola um, die sie zusammen mit dem Kleid gekauft hatte, und öffnete die Tür.

„Donnerwetter, du siehst aber toll aus!“, verlieh der Professor seiner Begeisterung sofortigen Ausdruck. „Eliana hat sich schon Sorgen gemacht, dass du nichts Passendes zu einem solchen Anlass dabeihaben könntest, aber ich wusste ja, dass meine Assistentin wirklich an alles denkt!“

Marianne lachte und hütete sich davor, dem Professor zu verraten, dass sie das Kleid gerade erst gekauft hatte. Und wenn Peter es so toll fand, dann konnte sie vielleicht doch hoffen, dass sie Sebastian darin gefallen würde.

„Bist du auch so aufgeregt wie ich?“, fragte Peter unvermittelt. „Wenn das Projekt wirklich so umfangreich ist, wie der Fürst sagt, dann werde ich wohl all meine anderen Projekte vorerst auf Eis legen müssen, um mich ganz den Schätzen Andovarias zu widmen.“

„Nur nicht so voreilig“, ermahnte Marianne den alten Herrn lächelnd und hakte sich bei ihm unter, während sie zum Aufzug gingen. „Du solltest nicht vergessen, dass du kurz vor deiner Pensionierung stehst und eigentlich vorhattest, dich endlich mehr deiner Familie zu widmen.“

„Ich weiß, ich weiß, aber manchmal kommt es eben anders, als man denkt.“ Peter zog ein kleines Blatt Papier aus der Jacketttasche und faltete es auseinander. „Alois von Dietrich, der Privatsekretär des Fürsten, hat mich bereits über alles aufgeklärt, worauf man bei einem solchen Dinner achten muss. Vor allem ist es wichtig, das fürstliche Protokoll einzuhalten. Aber es ist nicht halb so kompliziert, wie ich befürchtet habe, und außerdem scheint der Fürst keinen allzu großen Wert auf all diesen zeremoniellen Hokuspokus zu legen.“

Marianne atmete tief durch, als sie den Lift betraten. Das fürstliche Protokoll – daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Wie sollte sie sich Sebastian gegenüber denn verhalten? Erwartete er vielleicht von ihr, dass sie ihn mit einem Knicks begrüßte?

„Ich glaube, ich habe jetzt alles im Kopf“, meinte der Professor zufrieden, als die Aufzugtüren sich öffneten, und steckte den Zettel wieder in die Tasche. „Los geht es mit der ersten Begegnung: Zuerst sprechen wir den Fürsten mit ‚Eure Hoheit‘ an, und danach dürfen wir mit einem simplen ‚Sir‘ fortfahren.“

Marianne runzelte die Stirn. Wie, in aller Welt, sollte sie es schaffen, einen Mann mit „Eure Hoheit“ oder „Sir“ anzusprechen, den sie vor Jahren leidenschaftlich geliebt hatte?

„Warten, bis der Fürst die Hand zur Begrüßung reicht … warten, bis der Fürst die Konversation beginnt“, murmelte Professor Blackwell vor sich hin, während sie zum Taxistand gingen. „Es muss einem mit der Zeit doch schrecklich auf die Nerven gehen, wenn man ständig mit ‚Eure Hoheit‘ angesprochen wird. Ganz zu schweigen von all den Verbeugungen und Knicksen, die man sich andauernd ansehen muss.“

Ich denke gar nicht daran, einen Knicks vor ihm zu machen, beschloss Marianne ärgerlich. Sebastian mit „Sir“ anzusprechen würde sie gerade noch so über sich bringen, aber vor einem Mann in die Knie zu gehen, der sie gedemütigt hatte, war für sie undenkbar.

„Eine kurze Neigung mit dem Kopf wird sicherlich auch genügen“, sagte Peter prompt, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Und man sollte auch immer den Hut abnehmen, aber da wir beide ja keine Hüte tragen, haben wir damit kein Problem.“

Da musste Marianne lachen und stieg vor dem Professor in den Wagen. Als sie jedoch sah, wie Peter sich wieder einmal mit dem Schließen des Sicherheitsgurts quälte, fühlte sie einen Stich im Herzen. Wenn er durch seine Augenerkrankung schon mit solch einfachen Dingen Schwierigkeiten hatte, wie sollte er dann erst den komplizierten Aufgaben, die ihn mit dem Projekt in Andovaria erwarteten, gewachsen sein?

„Geschafft!“, verkündete er endlich und lehnte sich bequem im Sitz zurück.

Marianne wandte den Blick traurig aus dem Fenster. Peter Blackwell litt unter altersabhängiger Makuladegeneration, einer Augenerkrankung, die im schlimmsten Fall sogar zur Erblindung führen konnte. In absehbarer Zeit würde Peter vor niemandem mehr verbergen können, dass er nicht einmal mehr in der Lage war, seine selbst geschriebenen Texte zu korrigieren, geschweige denn altertümliche deutsche Schriften zu entziffern, die in Andovaria auf ihn warteten.

Etwa zehn Minuten später hielt das Taxi vor dem Randall, einem der prestigeträchtigsten Hotels in London. Mariannes Herz schlug schneller, als sie aus dem Wagen stieg und vor dem imposanten Gebäude stand. In solchen Edeletablissements also pflegte der wahre Sebastian Rodier zu nächtigen. Sofort musste Marianne an die spartanisch eingerichteten Fremdenzimmer denken, in denen sie damals in Frankreich zusammen übernachtet hatten. Und trotzdem waren sie glücklich gewesen. Sie hatten im Gras gesessen und warme Baguettes gegessen, die sie in der örtlichen Bäckerei gekauft hatten, und sich danach leidenschaftlich geliebt …

Marianne atmete nochmals tief durch, um ihre Aufregung unter Kontrolle zu halten. Irgendwie würde sie diesen Abend schon überstehen. Sie musste sich nur immer wieder sagen, dass es sich um ein reines Geschäftsessen handelte und nicht um ein Wiedersehen mit Sebastian.

In der Eingangshalle hielt sie inne und sah sich ehrfürchtig um. Gewaltige Kronleuchter hingen von der hohen Decke, vergoldete Ornamente zierten die roséfarbenen Wände, und mehrere Bedienstete in eleganten Uniformen standen für das Wohl der Gäste bereit.

„Ich bin Professor Blackwell, und das ist meine Assistentin Dr. Chambers“, erklärte Peter dem jungen Mann am Empfang und zog dabei ein weißes Kärtchen hervor. „Wir kommen auf Einladung Seiner Hoheit Fürst von Andovaria.“

„Dann möchte ich Sie herzlich willkommen heißen“, antwortete der Rezeptionist freundlich. „Wenn Sie mir bitte folgen möchten.“

Während Marianne zusammen mit Peter hinter dem jungen Mann herging, betrachtete sie staunend die Einrichtung des Nobelhotels. Riesige Spiegel mit vergoldeten Rahmen und prachtvolle Ölgemälde setzten Akzente an den Wänden, und kunstvoll gearbeitete Vasen, in denen rote und gelbe Rosen standen, schmückten kleine antike Tischchen. Selbst der Aufzug, der sie ins zweite Stockwerk brachte, war so exklusiv, dass man beinahe das Gefühl hatte, auf Wolken zu schweben.

Die Türen gingen auf, und Marianne und der Professor folgten dem jungen Mann in einen Raum, der nicht minder luxuriös war als das Foyer. Das war also die Welt des Fürsten von Andovaria. Und diese Welt hatte nichts mit dem Mann zu tun, den Marianne vor zehn Jahren kennen und lieben gelernt hatte.

Ein weiterer Hotelangestellter nahm nun die Karte des Professors entgegen und wies auf eine große Doppeltür. „Hier entlang, bitte. Seine Hoheit erwartet Sie bereits.“

Das beklemmende Gefühl, das Marianne schon die ganze Zeit verspürt hatte, verstärkte sich noch, als sie einen ebenfalls sehr prunkvollen Raum betraten, dessen eine Seite aus mehreren Glastüren bestand, die auf einen riesigen Balkon führten. Doch ehe sie noch weiter über ihre Gefühle nachdenken konnte, ging schon die Tür auf und Sebastian kam herein. Mariannes Herz fing an, wie wild zu schlagen, und sie versuchte krampfhaft, sich zu beruhigen. Auf keinen Fall durfte er merken, wie aufgeregt sie seinetwegen war.

„Professor Blackwell“, rief Sebastian strahlend und schüttelte dem alten Herrn herzlich die Hand. „Ich freue mich sehr, dass Sie gekommen sind.“

Sebastian trug einen eleganten Designeranzug und sah darin einfach toll aus. Tatsächlich fand Marianne ihn so männlich und sexy, dass sie ein erregendes Prickeln in ihrem Körper verspürte. War sie denn von allen guten Geistern verlassen? Wie konnte sie einen Mann erotisch finden, der sie so verletzt und gedemütigt hatte?

Nichtsdestotrotz gelang es Marianne nicht, sich aus seinem Bann zu lösen. Sie betrachtete das Grübchen an seinem Kinn, das ihr schon vor zehn Jahren so gut gefallen hatte, und die kleine Narbe über der linken Augenbraue, die von einer Verletzung stammte, die Sebastian sich als Siebzehnjähriger bei einem Mopedunfall zugezogen hatte. Schon damals mit neunzehn Jahren war Sebastian in Mariannes Augen der schönste Mann der Welt gewesen, und das hatte sich bis heute nicht geändert. Im Gegenteil, nun fand sie ihn sogar noch attraktiver, da er älter und reifer geworden war. Sein Gesicht wirkte männlicher, seine Schultern breiter, und insgesamt war Sebastian deutlich muskulöser als früher. Ja, er war ein Mann, dem sicherlich die Frauenwelt zu Füßen lag.

Auch Marianne hatte sich damals seinem Charme nicht entziehen können. Wie schön war es gewesen, seinen wundervollen Körper zu erkunden und gleichsam seine Hände auf ihrer Haut zu spüren. Sogar an das kleine ovale Muttermal an seiner linken Hüfte konnte sie sich noch erinnern …

Der Schmerz, der Marianne in diesem Augenblick durchfuhr, ließ sie für kurze Zeit die Augen schließen. Weshalb hatte sie sich das nur angetan? Warum war sie hierhergekommen und ließ zu, dass die alten Wunden, die Sebastian ihr zugefügt hatte, wieder aufgerissen wurden?

„Eure Hoheit, darf ich Ihnen meine Kollegin vorstellen? Dr. Marianne Chambers.“

Peters Stimme riss Marianne aus ihren Gedanken, und sie zuckte leicht zusammen. Wenn sie sich doch nur in Luft auflösen könnte!

„Ich freue mich sehr, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind, Dr. Chambers.“ Sebastian reichte ihr die Hand, und Marianne blieb nichts anderes übrig, als sie zu schütteln. „Professor Blackwell hat mir erzählt, dass Sie eine Expertin in Bezug auf den Dritten Kreuzzug sind.“

Marianne hatte das Gefühl, als liefe ein elektrischer Stromschlag durch ihren Körper, als Sebastians Finger ihre Hand umschlossen. „Ja, das … bin ich“, antwortete sie stockend.

„Nun, dann kann ja einer erfolgreichen Zusammenarbeit nichts mehr im Wege stehen“, erwiderte er lächelnd und ließ ihre Hand wieder los.

Er behandelt mich wie eine Fremde, schoss es Marianne durch den Kopf. Doch dabei war ihr vollkommen klar, dass er sich gar nicht anders verhalten konnte oder durfte, schließlich wusste ja niemand der Anwesenden, dass er mit ihr befreundet gewesen war.

„Professor Blackwell, darf ich Ihnen Dr. Max Liebnitz vorstellen?“, fuhr Sebastian fort. „Er ist der Direktor des Fürstin-Elizabeth-Museums.“

Marianne hatte den unscheinbar und bescheiden wirkenden Mann, der mit Sebastian hereingekommen war, bisher kaum wahrgenommen. Er schüttelte ihr und Professor Blackwell höflich die Hand und erwiderte mit stark deutschem Akzent: „Ich bin sehr erfreut, Sie beide kennenzulernen. Ist es vielleicht möglich, dass ich vor Kurzem einen Fachartikel in einem renommierten wissenschaftlichen Journal von Ihnen gelesen habe, Dr. Chambers? Er handelte von der Schlacht bei Hattin.“

„Ja, der Artikel könnte von mir gewesen sein“, bestätigte Marianne und spürte dabei nur zu deutlich Sebastians prüfenden Blick.

Professor Blackwell führte das Gespräch nun auf Deutsch weiter, und Marianne beteiligte sich mit professioneller Sachlichkeit daran. Ihr Deutsch war zwar nicht perfekt, doch es reichte aus, um der Diskussion mühelos zu folgen. Dabei merkte sie sehr schnell, dass Peter in Dr. Liebnitz offensichtlich einen Seelenverwandten gefunden hatte.

Auch Sebastian beteiligte sich angeregt an der Diskussion, und Marianne war erstaunt, wie viel er über mittelalterliche Kreuzzüge wusste. Er hatte sich verändert. Der Sebastian, den sie in Erinnerung hatte, war ganz anders gewesen – rebellisch, abenteuerlustig und impulsiv. Andererseits musste Marianne sich eingestehen, dass auch sie sich sehr verändert hatte. Sie war nicht mehr das naive junge Mädchen von damals, das der festen Überzeugung gewesen war, in Sebastian den Mann ihres Lebens gefunden zu haben. Den Mann, den sie heiraten, mit dem sie Kinder haben und den Rest ihres Lebens verbringen wollte. Im Gegensatz zu ihr hatte Sebastian ihr Zusammensein nur als das gesehen, was es wirklich war – ein kurzes Zwischenspiel in seinem Leben. Marianne hingegen hatte einen hohen Preis für diese kurze Affäre bezahlt, während er offenbar unversehrt daraus hervorgegangen war.

„Dr. Chambers beschäftigt sich in ihren derzeitigen Forschungsarbeiten vornehmlich mit der Rolle der Frau im Mittelalter“, erläuterte Professor Blackwell und wandte sich dabei mit einem Lächeln an Marianne. „Aber allem Anschein nach wurde der Großteil der uns verfügbaren Quellen von den männlichen Vertretern jener Zeit geschrieben.“

„Und für die männlichen Vertreter“, betonte Marianne, woraufhin alle herzlich lachten.

Dr. Liebnitz nickte anerkennend. „Das macht Ihre Arbeit aber nicht gerade einfacher, nicht wahr?“

„Dafür aber umso spannender“, antwortete Marianne eifrig. Sie liebte ihre Arbeit, denn in ihr konnte sie sich verlieren und alles um sich herum vergessen. „Die kriegerischen Auseinandersetzungen der Völker hatten natürlich auch schwerwiegende Konsequenzen für die Frauen, und der Dritte Kreuzzug bildet da sicher keine Ausnahme.“

Sebastian war völlig fasziniert von Marianne. Wie sehr sie sich verändert hatte! Er hätte gar nicht sagen können, was ihn mehr beeindruckte – ihr nahezu perfektes Deutsch oder ihre herausragenden Fachkenntnisse. Damals vor zehn Jahren hatte sie ein Diplom in Englisch angestrebt, und er fragte sich, was sie wohl dazu bewogen hatte, ihre Pläne zu ändern. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er versucht hatte, ihr ein paar Sätze seiner Muttersprache beizubringen und sie sich dabei fast die Zunge gebrochen hätte. Wie viel Spaß hatten sie damals zusammen gehabt!

Auch äußerlich schien Marianne ein völlig anderer Mensch geworden zu sein, der Sebastian kaum noch an das junge unkomplizierte Mädchen von damals erinnerte, das ihm in Frankreich zufällig über den Weg gelaufen war. Zu jener Zeit hatte sie stets nur Jeans und T-Shirt getragen, während sie nun in einem atemberaubenden Kleid vor ihm stand, das ihre weibliche Figur perfekt betonte. Auch ihr langes blondes Haar war zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt und brachte ihren zarten Hals reizvoll zur Geltung.

Mariannes Anmut und Schönheit faszinierten Sebastian so sehr, dass er all seine Willenskraft aufbieten musste, um sie nicht unentwegt anzustarren. Aber es gab noch etwas, das er in ihrem zarten Gesicht zu sehen meinte. Er glaubte einen Hauch von Verunsicherung und tiefer Verletzlichkeit in ihren Zügen zu erkennen und fragte sich, woher dies kam. Auf den ersten Blick wirkte Marianne wie eine Frau, die fest mit beiden Beinen im Leben stand und alles im Griff hatte, und dennoch meinte er, in ihrer Seele eine Wunde zu erkennen, die noch nicht verheilt war.

Machte ihr das Wiedersehen mit ihm vielleicht doch mehr zu schaffen, als er angenommen hatte? Die ganze Zeit schon hatte er das Gefühl, dass Marianne nur widerstrebend hierhergekommen war. Hatte dieser Schmerz, der in ihren Augen schimmerte, vielleicht etwas mit ihm zu tun?

Unwillkürlich schweiften seine Gedanken zurück in die Vergangenheit. Er war mit seinem besten Freund Nick auf einem Sommertrip in Frankreich gewesen und hatte eines Tages zufällig Marianne und ihre Freundin Beth kennengelernt. Da alle vier sich auf Anhieb gut verstanden hatten, beschlossen sie, sich zusammenzutun und gemeinsam weiterzureisen. Schon am ersten Tag hatte Sebastian sich Hals über Kopf in Marianne verliebt, und Nick war das natürlich sofort aufgefallen. Er hatte Sebastian beschworen, sich nicht mit ihr einzulassen, da diese Beziehung ja doch nicht von Dauer sein könne. Doch Sebastian hatte die Warnung seines Freundes in den Wind geschlagen und nicht über die möglichen Konsequenzen einer solchen Romanze nachgedacht. Er hatte nur eines gewollt: mit Marianne zusammen sein. Und seine Verpflichtungen seinen Eltern und Andovaria gegenüber hatte er dabei bewusst vergessen.

Mariannes Vorwurf, er habe sie belogen, war berechtigt, und je mehr Sebastian darüber nachdachte, desto mehr bereute er sein damaliges Verhalten. Er war ihr eine Erklärung schuldig, doch dies war nicht der geeignete Moment. Auf keinen Fall konnte er Marianne in Gegenwart der anderen einfach beiseiteziehen und sie in ein persönliches Gespräch verwickeln. Nein, er musste auf eine passende Gelegenheit warten.

Der Butler öffnete nun die große Doppeltür zum Speisesaal. Professor Blackwell nahm gleich neben Dr. Liebnitz Platz, was Sebastian die Möglichkeit eröffnete, sich zu Marianne zu setzen. Und wieder hatte er das Gefühl, dass es ihr unangenehm war, hier zu sein. Dennoch konnte er nicht umhin, sie ständig anzusehen. Eine kleine Haarsträhne hatte sich aus dem Knoten gelöst und kräuselte sich nun reizvoll in ihrem Nacken.

Sebastian atmete tief durch. Was war bloß los mit ihm? Hatte Marianne immer noch eine so starke Wirkung auf ihn, dass seine Hormone allein schon bei ihrem Anblick verrückt spielten? Eines war jedenfalls klar: Er fand sie so aufreizend schön, dass er sie am liebsten auf der Stelle an sich gezogen und geküsst hätte. Aber leider waren sie nicht allein, und deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als höfliche Distanz zu wahren.

Weiterhin fiel ihm auf, dass sie keinen Ring am Finger trug, was darauf schließen ließ, dass sie nicht verheiratet war. Überhaupt trug Marianne keinen Schmuck, außer zwei hübschen langen Ohrringen, die jedes Mal wippten, wenn sie den Kopf bewegte.

„Ihr Deutsch ist wirklich ausgezeichnet, Dr. Chambers“, versuchte Sebastian endlich, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, wobei es ihm schwerfiel, Marianne zu siezen. „Wo haben Sie das gelernt?“

Der Butler wollte ihr Wein einschenken, doch Marianne hielt ihre Hand über das Glas. „Für mich bitte nur Mineralwasser.“

„Ihre Aussprache ist beinahe perfekt“, fuhr Sebastian fort, da sie seine Frage nicht beantwortet hatte. „Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?“

„Bei Eliana, Professor Blackwells Frau.“ Marianne trank einen Schluck Wasser. „Sie ist Österreicherin und kommt aus Salzburg.“

„Aus Salzburg? Wie kommen Sie …?“

„Ich habe eine Zeit lang bei Professor Blackwell und seiner Familie gelebt“, antwortete Marianne schnell, da ihr die Richtung unangenehm war, die seine Fragen nahmen. „Aber das ist schon ziemlich lange her.“

Sebastians Gefühl, dass es Marianne widerstrebte, hier zu sein, verstärkte sich. Warum hatte sie bei den Blackwells gelebt? Vielleicht aus praktischen Gründen, weil sie ihr Studienfach gewechselt und sich dies angeboten hatte? Er wusste, dass Marianne vor zehn Jahren noch bei ihren Eltern in einem kleinen Dorf bei Suffolk gewohnt hatte. Vielleicht war sie auch erst nach ihrem Studium zu den Blackwells gezogen. Aber weshalb?

„Eliana und Peter sind enge Freunde der Schwester meines Vaters“, erklärte Marianne, um weiteren Fragen vorzugreifen.

Da lächelte er. „Ach so. Haben Sie sich deshalb entschlossen, Geschichte zu studieren?“

„Das mag schon sein.“ Marianne lächelte ebenfalls. „Peters Enthusiasmus ist wirklich sehr ansteckend.“

Sebastian spürte deutlich, dass sie ihm etwas verschwieg. In Frankreich hatte sie ihm erzählt, dass sie davon träume, anspruchsvolle Theaterstücke zu schreiben. Schon vor Beginn ihres Studiums hatte sie sämtliche Werke von Shakespeare, Tschechow und Ibsen gelesen. Wie war es also zu diesem drastischen Sinneswandel gekommen?

„Das kann ich mir vorstellen“, erwiderte er, obwohl ihm all diese Fragen auf der Zunge lagen. „Professor Blackwell genießt einen außergewöhnlichen Ruf.“ Er machte eine kurze Pause, da der Butler gerade die Vorspeise servierte. „Deshalb hat mich meine Schwester auch beschworen, ihn davon zu überzeugen, dass er unbedingt nach Andovaria kommen muss.“

„Ihre Schwester?“

„Ja, Viktoria, meine ältere Schwester. Die Erweiterung des Fürstin-Elizabeth-Museums ist ihr größtes und wichtigstes Projekt.“

„Davon habe ich schon gehört“, antwortete Marianne, und ein kleiner Schatten zog über ihr Gesicht. Das war also seine Schwester Vicky, von der Sebastian ihr in Frankreich erzählt hatte. Dass sie allerdings Prinzessin war, hatte er natürlich nicht erwähnt.

Der Vorspeise folgte der Hauptgang – Perlhuhnbrust mit erlesenem Spargel und Schinken. Danach wurde der Nachtisch serviert, ein kunstvoll zubereitetes Arrangement von Trüffeleis mit Schokolade und Früchten. Noch nie hatte Marianne ein so köstliches Menü gegessen, doch sie konnte es kaum genießen, weil sie schrecklich angespannt war. Sie warf einen Blick auf Peter, dem deutlich anzusehen war, wie gut es ihm schmeckte.

Sebastian hatte recht. Peter war die perfekte Wahl für das Projekt in Andovaria. Nur wusste Sebastian natürlich nichts von den gesundheitlichen Problemen des Professors. Doch Marianne war jetzt schon sicher, dass Peter diesem verlockenden Angebot nicht würde widerstehen können. Schon sein ganzes Leben lang widmete er sich der Aufgabe, die Geheimnisse der Vergangenheit zu lüften, und diese einmalige Chance würde er sich nie entgehen lassen.

Und das bedeutete für sie, Marianne, dass sie ihn unterstützen musste. Sosehr der Gedanke, nach Andovaria zu gehen, sie auch beunruhigte, so tief stand sie in Peters und Elianas Schuld. Der Professor und seine Frau hatten sie als schwangeres Mädchen aufgenommen, nachdem ihre Eltern sie förmlich ausgestoßen hatten. Für Mariannes Mutter war es eine furchtbare Enttäuschung gewesen, dass ihre bislang „brave“ Tochter auf solche „Abwege“ geraten war, und auch bei ihrem Vater hatte Marianne kein Verständnis gefunden. Den Blackwells verdankte sie alles, was sie in ihrem Leben erreicht hatte, und das würde sie den beiden niemals vergessen.

Während sie ihren Nachtisch zu Ende aß, sah sie Sebastian verstohlen von der Seite an. Er war der attraktivste Mann, dem sie je begegnet war. Und er war intelligent, charmant und noch dazu Fürst von Andovaria. Ob er überhaupt eine Vorstellung davon hatte, welchem Schicksal er sie damals überlassen hatte?

Nein, Sebastian hatte keine Ahnung, dass sie schwanger von ihm geworden war. Ob er je an diese Möglichkeit gedacht hatte? Hatte er sich je gefragt, was nach all den Jahren aus ihr geworden war? Oder war er nach Andovaria und seiner fürstlichen Familie zurückgekehrt, ohne auch nur einen einzigen weiteren Gedanken an sie zu verschwenden?

Marianne hatte sich oft gefragt, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn Jessica nicht gestorben wäre. Doch dann hatte sie sich immer wieder gesagt, dass das Schicksal es mit Jessicas Tod vielleicht sogar gut mit ihr gemeint hatte. Mit achtzehn Jahren und ohne die Unterstützung ihrer Eltern wäre Marianne mit einem Baby völlig überfordert gewesen. Auch an eine Ausbildung, geschweige denn ein Hochschulstudium, wäre überhaupt nicht mehr zu denken gewesen. Zwar akzeptierte Mariannes Verstand diese Tatsache, doch ihr Herz würde dazu niemals in der Lage sein. Sie hatte entsetzlich unter dem Verlust ihres Babys gelitten, und Eliana war es gewesen, die ihr in stundenlangen Gesprächen geholfen hatte, diesen Schmerz zu verarbeiten.

Marianne begann leicht zu zittern, als sie Sebastian wiederholt betrachtete. Er wusste nicht, dass er der Vater ihres kleinen Mädchens war. Wie oft hatte sie damals mit dem Gedanken gespielt, es ihm zu sagen, gerade auch, weil Eliana sie immer wieder dazu gedrängt hatte. Jeder Mann habe das Recht zu erfahren, wenn er Vater würde, hatte sie gemeint, und dem hatte Marianne im Grunde kaum widersprechen können. Sie war jedoch so verletzt gewesen, weil Sebastian sie verlassen hatte, dass sie sich nicht hatte dazu überwinden können, Kontakt zu ihm aufzunehmen.

Am schlimmsten war es für sie gewesen, ständig Fotos des zukünftigen Thronfolgers von Andovaria mit seiner Verlobten in allen Zeitungen zu sehen. Niemand konnte sich vorstellen, wie weh Marianne die Erkenntnis getan hatte, dass sie von Sebastian verlassen worden war, damit er eine andere heiraten konnte. Marianne war sich vorgekommen wie ein nettes Spielzeug, mit dem er sich eine Zeit lang vergnügt hatte, um es dann achtlos wegzuwerfen.

Unzählige Male hatte Marianne sich gefragt, was sie getan hätte, wenn Jessica am Leben geblieben wäre. Wahrscheinlich hätte sie ihrer Tochter später einmal selbst die Entscheidung überlassen, ob sie Kontakt zu ihrem Vater aufnehmen wollte oder nicht. Wenn Jessica alt genug gewesen wäre, hätte sie entscheiden können, ob sie lieber anonym bleiben oder als uneheliche Tochter eines europäischen Fürsten in der Öffentlichkeit hätte stehen wollen. Mit einer Mutter, die es in den Augen „Seiner Hoheit“ nicht wert gewesen war, dass er sie heiratete.

Im Grunde ihres Herzens war Marianne jedoch klar, dass solche Fragen sinnlos waren. Im siebten Schwangerschaftsmonat hatte sie ihr kleines Mädchen verloren. Das Baby war schon im Mutterleib gestorben, und Marianne hatte es tot zur Welt bringen müssen. Die Leere, die diese Tragödie in ihrem Herzen hinterlassen hatte, würde sich niemals füllen und der Schmerz über den Verlust ihres Kindes nie vergehen.

Sebastian Rodier hatte ihr Leben zerstört, und das würde sie ihm niemals verzeihen.

3. KAPITEL

Die Fotos, die Sebastian mitgebracht hatte, waren so faszinierend, dass Marianne für den Augenblick sogar ihren Kummer vergaß. Nun brannte auch sie darauf, dieses Projekt so bald wie möglich anzugehen.

„Interessant, sehr interessant“, murmelte Peter Blackwell vor sich hin, während er die Bilder eines nach dem anderen eingehend studierte.

„Ja, das sind sie in der Tat“, stimmte Sebastian zu. „Bevor wir mit den Renovierungsarbeiten begannen, wussten wir noch nicht einmal, dass diese Räume überhaupt existieren.“

Marianne hob den Kopf und konnte nicht umhin, Sebastian eingehend anzuschauen. Die Sommerbräune machte sein Gesicht noch attraktiver, und seine sportliche Figur, die er sich als Skifahrer des olympischen Teams von Andovaria antrainiert hatte, kam in dem perfekt sitzenden Anzug hervorragend zur Geltung. Es war schon erstaunlich, wie viel sie von diesem Mann wusste, während er nicht die geringste Ahnung hatte, wie es ihr in den letzten zehn Jahren ergangen war. Marianne wandte sich wieder dem Professor zu und versuchte, sich auf die Fotos zu konzentrieren.

„Haben Sie denn schon mit dem Katalogisieren begonnen?“, erkundigte sich Peter.

„Nein, bisher noch nicht“, antwortete Sebastian.

Dr. Liebnitz nickte zustimmend. „Bisher konnten wir lediglich eine grobe Bestandsaufnahme machen.“

„Was sagst du dazu, Marianne?“

Peters Stimme ließ sie unwillkürlich zusammenzucken, da sie mit ihren Gedanken schon wieder weit abgeschweift war. „Oh, ich glaube, das wird … das wird ein sehr aufwendiges Unterfangen.“

Peter nickte. „Das denke ich auch. Und man braucht ein gutes Team von Spezialisten.“

Sebastian setzte sich auf einen der antiken Queen-Anne-Stühle und lächelte gewinnend. „Sehen Sie, mein lieber Herr Professor Blackwell, gerade deshalb habe ich Sie eingeladen. Sie sind der Einzige, der in der Lage wäre, genau dieses Team zusammenzustellen.“

„Weshalb haben Sie dabei ausgerechnet an mich gedacht?“, wandte Peter ein. „Es gibt doch sicher auch in Andovaria Spezialisten, die ein solches Projekt in Angriff nehmen könnten.“

„Weil ich davon überzeugt bin, dass Sie der Beste auf diesem Fachgebiet sind. Andovaria ist nur ein kleines Fürstentum. Größer zwar als Liechtenstein oder Monaco, aber nicht annähernd so groß wie Österreich oder die Schweiz. Allein schon die Quantität der Artefakte, die wir gefunden haben, lässt vermuten, dass ein guter Teil davon nicht nur zu Andovaria gehören könnte.“

„Und Sie glauben, ich könnte das herausfinden?“

„Genau so ist es“, antwortete Sebastian mit einem Lächeln, das jede Frau zum Schmelzen hätte bringen können.

Mariannes Herz zog sich zusammen. Dieses Lächeln war es, in das sie sich vor zehn Jahren verliebt hatte …

„Wissen Sie, Professor Blackwell, meiner Schwester ist es überaus wichtig, dass diese Schätze künftigen Generationen erhalten bleiben“, fuhr Sebastian fort. „Mein Hauptinteresse gebührt jedoch natürlich Andovaria, und deshalb möchte ich sicherstellen, dass alles, was rechtmäßig unserem Land gehört, auch innerhalb unserer Grenzen bleibt. Und dazu brauche ich einen Spezialisten wie Sie, der sich dem Projekt mit klarem Sachverstand und Idealismus, aber ohne politische Interessen widmet.“

Bingo! dachte Marianne. Sie hatte gewusst, dass Sebastian die richtigen Worte finden würde, um den Professor für sich zu gewinnen. Wie sollte Peter auch ein solches Angebot ablehnen? Und wie sollte sie, Marianne, es ihm auszureden versuchen, wenn er fest mit ihrer Unterstützung rechnete?

Sie rieb sich die Schläfen, denn leichte Kopfschmerzen stellten sich ein, während sie die letzten Fotos betrachtete. Was sollte sie tun? Wie sollte sie sich entscheiden? Natürlich würde Peter sich wünschen, dass sie ihn nach Andovaria begleitete, aber sollte sie das wirklich wagen? Wie würde sie es verkraften, Sebastian tagtäglich so nahe zu sein? Aber vielleicht war ja gerade das der richtige Weg, um die Geister der Vergangenheit zu vertreiben und mit ihrem Schicksal endlich Frieden zu schließen?

„Ist alles in Ordnung, Marianne?“, fragte der Professor unvermittelt, und alle Augen richteten sich auf sie.

„Ich … oh, ja natürlich“, antwortete sie rasch und zwang sich zu einem Lächeln „Ich habe nur leichte Kopfschmerzen, das ist alles.“

„Möchten Sie kurz an die frische Luft?“, bot Dr. Liebnitz an. „Ich begleite Sie gern nach draußen.“

„Vielen Dank, aber das ist nicht nötig“, lehnte Marianne höflich ab. „So schlimm ist es nicht.“

Da stand Sebastian plötzlich auf. „Dr. Liebnitz hat recht, hier drinnen ist es wirklich unangenehm warm. Ich werde Dr. Chambers hinaus auf den Balkon begleiten, während Sie beide sich in Ruhe weiter unterhalten können. Etwas frische Luft wird mir sicher auch guttun.“

Ehe Marianne protestieren konnte, nahm Sebastian sie sanft am Arm. „Darf ich bitten, Dr. Chambers? Auf dem Balkon ist es wirklich sehr schön. Von hier oben hat man einen herrlichen Blick auf den Green Park. Wann immer ich in London bin, miete ich diese Suite, um die Aussicht zu genießen.“

Da sie nicht unhöflich sein wollte, blieb Marianne nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Sie fröstelte leicht, als sie nach draußen trat, obwohl die Abendluft immer noch angenehm warm war.

„Ist dir kalt?“, fragte Sebastian besorgt. Nun, da die anderen außer Hörweite waren, konnte er Marianne endlich wieder duzen. „Der Butler kann dir gerne deine Stola bringen.“

„Nein, nein, das ist nicht nötig“, lehnte sie jedoch ab. Eigentlich fror sie gar nicht, sondern war nur schrecklich aufgeregt, weil sie nun praktisch allein mit Sebastian war. Sie trat an die Brüstung und sah in der Ferne den herrlichen Green Park, dessen Lichter in der Abenddämmerung wie tausend Sterne funkelten. Sebastian hatte recht gehabt, der Anblick war wirklich atemberaubend. „Das ist wirklich … sehr schön“, gab sie zögernd zu.

Sebastian trat von hinten an sie heran und war ihr nun so nahe, dass ihr sein Duft in die Nase stieg. „Meinst du den Blick auf den Park oder die Tatsache, dass wir zusammen sind?“

Mariannes Pulsschlag beschleunigte sich, als sie merkte, dass sie schon wieder auf Sebastian reagierte. „Den Ausblick natürlich“, sagte sie schroff, um das unwillkommene Gefühl abzuschütteln.

„Ach so. Ich dachte, du würdest dich freuen, mich wiederzusehen.“

Sie blickte ihn an, und da lächelte er erneut auf diese unwiderstehliche Weise, wie er es schon vor zehn Jahren getan hatte. Dieses Lächeln hatte Marianne von Anfang an verzaubert, und sie fragte sich, warum es nur eine solch verheerende Wirkung auf sie hatte. In den vergangenen Jahren hatte es genügend andere Männer gegeben, die ihr den Hof gemacht hatten, doch keiner von ihnen hatte es geschafft, ihr Herz zu erobern so wie Sebastian.

Marianne war nun so verunsichert, dass sie die Arme wie zum Schutz um sich schlang. „Hast du … hast du dich geärgert, weil ich keinen Knicks vor dir gemacht habe?“, fragte sie, nur um irgendetwas zu sagen.

„Wie bitte?“

„Bei der Begrüßung habe ich nicht vor dir geknickst.“

Da musste Sebastian lachen. „Oh, das ist mir gar nicht aufgefallen. Aber ich denke, über dieses Stadium sind wir schon längst hinaus, findest du nicht auch?“

Marianne ging absichtlich nicht auf seinen Kommentar ein. „Wusstest du, dass ich Professor Blackwells Assistentin bin?“

„Ja, das wusste ich.“

Und was war das für ein Gefühl für dich? hätte sie beinahe gefragt, doch sie hielt sich im letzten Moment zurück. Sebastian sollte nicht merken, wie aufgewühlt sie seinetwegen war, denn ihm machte dieses Wiedersehen bestimmt nicht annähernd so sehr zu schaffen wie ihr. Schließlich war er der Fürst von Andovaria und es gewohnt, mit allen erdenklichen Situationen umzugehen.

„Ich hatte gehofft, dich auf der Konferenz zu treffen, aber leider habe ich dich nicht gesehen“, fuhr Sebastian fort. „Professor Blackwell hatte mir aber schon gesagt, dass er dich unbedingt mit nach Andovaria nehmen will. Er hat ausdrücklich erklärt, dass er alle wichtigen Entscheidungen nur gemeinsam mit dir treffen würde.“ Sebastian sah sie bewundernd an. „Du musst wirklich außerordentlich gut in deinem Fach sein, wenn ein so berühmter Mann wie Professor Blackwell einer jungen Wissenschaftlerin von achtundzwanzig Jahren so viel Respekt und Vertrauen entgegenbringt.“

Er hat nicht vergessen, dass ich genau fünfzehn Monate jünger bin als er, dachte Marianne mit klopfendem Herzen. Also muss er doch an mich gedacht haben …

„Und was sagst du dazu?“

Sie zuckte leicht zusammen. „W-wie bitte?“

„Was sagst du dazu, dass Professor Blackwell dich mit nach Andovaria nehmen will?“, wiederholte Sebastian. „Oder hätte deine … Familie vielleicht etwas dagegen?“

„Ich habe keine Familie.“

„Vielleicht einen Freund?“

Das geht dich nichts an, hätte Marianne am liebsten entgegnet, doch sie riss sich zusammen, denn schließlich war sie bei einem offiziellen Treffen mit einem Fürsten. „Andovaria ist nicht aus der Welt“, erwiderte sie deshalb ausweichend. „Wenn Professor Blackwell dein Angebot annimmt, werde ich ihn begleiten. Außerdem kann es für meine Karriere nur förderlich sein, Erfahrungen in einem so großen und bedeutsamen Projekt zu sammeln.“

„Deine Karriere ist dir sehr wichtig, nicht wahr?“

„Ja, sie ist das Wichtigste in meinem Leben“, bestätigte Marianne und sah ihm dabei fest in die Augen.

Sekundenlang erwiderte er ihren Blick, und sie hatte das Gefühl, dass die Luft zwischen ihnen zu knistern begann. „Wie, glaubst du, wird Professor Blackwell sich entscheiden?“, fragte er schließlich, und der Zauber war verflogen.

Marianne zuckte die Schultern. „Ich denke, das wird er dir schon selbst sagen.“

„Und du? Wie denkst du darüber? Möchtest du denn, dass er mein Angebot annimmt?“

Marianne zögerte mit der Antwort. Was sollte sie dazu sagen? Dass sie sich sehr darüber freuen würde, mit Peter ein solch spannendes Projekt anzugehen, jedoch Angst davor hatte, Sebastian dadurch womöglich wieder näherzukommen?

„Marianne …“, beschwor er sie sanft, als hätte er ihr Zögern richtig gedeutet. „Wir müssen miteinander reden.“

„Ich wüsste nicht, worüber“, erwiderte sie schroff. „Außerdem sind wir nicht allein.“

„Hier draußen hört uns niemand. Und Dr. Liebnitz und Professor Blackwell sind so in ihr Gespräch vertieft, dass sie uns gar nicht mehr wahrnehmen.“

Aus lauter Verunsicherung rieb Marianne sich wieder die Arme. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Einerseits wollte sie natürlich mit Sebastian sprechen, da ihr tausend Fragen auf der Seele brannten, doch andererseits hatte sie Angst davor, dass er ihr genau das bestätigte, was sie ohnehin zu wissen glaubte.

„Dir ist doch kalt“, meinte er besorgt. „Wenn wir jetzt allein wären, würde ich dir meine Jacke geben.“

„Ach, dürftest du das denn als Fürst von Andovaria? Einer einfachen Frau deine Jacke anbieten?“, spöttelte Marianne verbittert, da sie an jenen wunderbaren Sommerabend erinnert wurde, als sie mit Sebastian am Seineufer spazieren gegangen war …

Er kniff die Augen zusammen, denn er glaubte zu spüren, woran sie gerade dachte: An jenen kühlen Sommerabend in Paris, an dem er sie zum ersten Mal geküsst hatte. Sebastian hatte ihr sein Sweatshirt gegeben, weil sie gefroren hatte, und sie hatte die Ärmel zweimal umschlagen müssen, um nicht darin zu versinken. Wie süß und unglaublich sexy sie darin ausgesehen hatte …

Jene fünf Wochen, die er mit Marianne in Frankreich verbracht hatte, waren die schönsten seines Lebens gewesen. In dieser Zeit hatte er sich wirklich frei gefühlt – frei von all den höfischen Verpflichtungen, frei von seinen Eltern, den Leibwächtern und Paparazzi, die ihn sonst ständig verfolgten. Zum ersten Mal hatte er die Möglichkeit gehabt, zu tun und zu lassen, was er wollte, ohne Rechenschaft dafür ablegen zu müssen. Und das, was er damals am meisten gewollt hatte, war Marianne.

„Warte hier einen kleinen Moment, ja?“ Er ging kurz hinein und bat den Butler, Mariannes Stola zu holen. „Und bitte noch eine Flasche trockenen Weißwein und zwei Gläser“, fügte er hinzu, bevor er wieder hinausging. Dann wies er auf die edlen weißen Korbmöbel, die nahe der Brüstung standen. „Wollen wir uns nicht setzen?“

Marianne rang sekundenlang mit sich, dann folgte sie seiner Aufforderung und nahm auf einem der weich gepolsterten Sessel Platz.

Sebastian atmete tief durch. Er hatte sich fest vorgenommen, heute Abend mit ihr zu sprechen, und nun wusste er nicht, wie er anfangen sollte. Als er sich mit neunzehn Jahren in sie verliebt hatte, konnte er nicht ahnen, was wenig später zu Hause auf ihn zukommen würde. Mit der Situation, die ihn in Andovaria erwartet hatte, war er so überfordert gewesen, dass er an nichts anderes mehr denken konnte. Erst Wochen später, als die Lage wieder unter Kontrolle war, hatte ihn sein schlechtes Gewissen geplagt, weil er sich nicht mehr bei Marianne gemeldet hatte. Doch dann hatten ihn seine Verpflichtungen so sehr in Anspruch genommen, dass er die Gedanken an sie erneut verdrängt hatte.

Nun bereute Sebastian schwer, dass er außer einem vergeblichen Anruf Monate später keinen Kontakt mehr zu ihr aufgenommen hatte. Welche Ironie des Schicksals, dass er ausgerechnet bei dem Menschen, der ihm am meisten bedeutete, einen so schweren Fehler begangen hatte. Einen Lügner hatte sie ihn genannt, und sie hatte recht damit gehabt. Falsch war allerdings die Behauptung, dass die Zeit, die sie mit ihm verbracht hätte, reine Verschwendung gewesen sei. Das nahm er ihr nicht ab. Hätten die Wochen mit ihm ihr nichts bedeutet, hätte sie ihn schon bald vergessen und würde heute nicht so empfindlich auf das Wiedersehen reagieren.

Er hatte sich in den letzten Tagen viele Gedanken um Marianne gemacht. Die Tatsache, dass sie ihre Geschichte nicht an die Presse verkauft hatte, war ein Beweis dafür, welch einen starken und aufrichtigen Charakter sie besaß. Mit den Fotos, die sie von ihrem gemeinsamen Urlaub hatte, hätte sie ein Vermögen machen können. Doch aus Anstand und Loyalität ihm gegenüber hatte sie es nicht getan.

„Wie geht es Nick?“, riss Mariannes Frage ihn aus seinen Gedanken. „Hast du noch Kontakt zu ihm, oder war er in Wirklichkeit nur einer deiner Bodyguards, die aufgepasst haben, dass wir einander nicht zu nahe kommen? Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Nick ständig versucht hat, dich von mir fernzuhalten. War das vielleicht sein Job?“

„Nein, das war es nicht“, widersprach Sebastian fast etwas zu schroff. Wie konnte Marianne nur so schlecht von ihm denken? Sie hätte doch spüren müssen, dass er wirklich verliebt in sie gewesen war. „Nick war mein bester Freund und ist es heute noch. Er hat mich damals sogar bedrängt, dir die Wahrheit zu sagen.“

„Also gibst du zu, dass du mich belogen hast?“

Sebastian fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Marianne brachte ihn völlig durcheinander. Er konnte sagen, was er wollte, immer erwischte er sie auf dem falschen Fuß. Einerseits konnte er verstehen, dass sie damals böse auf ihn gewesen war, doch andererseits war das alles schon zehn Jahre her, und er konnte seinen Fehler nicht mehr rückgängig machen.

„Wir sehen uns regelmäßig, wenn auch nicht mehr so oft wie früher“, wich er aus, um nicht näher auf das Thema Lüge einzugehen. „Seit sein Vater nicht mehr lebt, hat er sehr viele Verpflichtungen.“

„Das kann ich mir denken“, erwiderte Marianne zynisch. „Bestimmt ist er auch Träger eines hohen Amtes so wie du. Wie lautet denn sein richtiger Name – Erzherzog Nikolaus vielleicht?“

„Marianne …“

„Tut mir leid, wenn dir meine Fragen unangenehm sind. Aber ich kann nichts dafür, wenn du …“

„Nick ist seit Anfang dieses Jahres der fünfzehnte Herzog von Aylesbury“, erklärte er, um Mariannes Unmut etwas abzuschwächen.

Ich hab’s gewusst! dachte sie und schloss kurz die Augen. Sie hatte sich schon lange gedacht, dass Nick nicht einfach nur irgendein junger Mann gewesen war, den Sebastian auf der Universität kennengelernt hatte. Nick Barrington war also Herzog von Aylesbury und Sebastian Rodier Seine Hoheit Fürst Sebastian II. von Andovaria.

„Wie geht es Beth?“, erkundigte er sich nun seinerseits.

Marianne erwiderte seinen Blick spöttisch. „Ich hätte jetzt gern gesagt, die Marquise von Basingstoke, doch leider entspricht das nicht den Tatsachen. Aber wir hatten es wenigstens nicht nötig, unseren Freunden Lügengeschichten aufzutischen so wie ihr.“

„Ist sie Rechtsanwältin geworden, wie sie es damals vorhatte?“, fragte er weiter, ohne auf den erneuten Vorwurf einzugehen.

„Ja. Sie ist mit einem Anästhesisten verheiratet und erwartet in ein paar Monaten ihr erstes Kind.“

„Das ist großartig.“

„Ja, das ist es. Beth und ihr Mann freuen sich sehr auf das Baby.“

Der Butler erschien mit Mariannes Seidenstola. „Seine Hoheit, Dr. Chambers, wenn Sie erlauben“, sagte er höflich und legte ihr die Stola um.

„Vielen Dank“, antwortete Marianne verlegen, da sie es nicht gewohnt war, bedient zu werden. Sie war in einer Welt aufgewachsen, in der sich jeder selbst die Türen öffnete und seine Kleidung ohne fremde Hilfe anlegte.

Der Butler verschwand und kam kurz darauf mit einer Flasche erlesenen Weines und zwei Gläsern zurück, die er sogleich füllte.

„Sei mir nicht böse, aber ich möchte lieber keinen Wein“, lehnte Marianne ab, nachdem er wieder hineingegangen war. „Alkohol ist nicht gerade das richtige Mittel, wenn man Kopfschmerzen hat.“

„Ich glaube, es kommt ganz darauf an, aus welchem Grund man sie hat.“ Sebastian sah sie eindringlich an, hob dabei sein Glas und trank es zur Hälfte leer. „Der Wein ist wirklich hervorragend – kein Vergleich zu dem, den wir zusammen in Frankreich getrunken haben.“

Dafür waren wir glücklich, dachte Marianne traurig und senkte unwillkürlich den Blick. Sebastian weckte Gefühle in ihr, die sie jahrelang verdrängt hatte, und diese Gefühle wollte sie auf keinen Fall wieder aufleben lassen. Sie hasste ihn für das, was er ihr angetan hatte, und daran sollte sich auch in Zukunft nichts ändern.

Um ihre Unsicherheit zu verbergen, trank sie nun doch einen Schluck Wein. „Du hast recht, er schmeckt wirklich sehr gut.“

Sebastian lächelte. „Aber noch lange nicht so gut wie unser Whisky, weißt du noch?“

Sie spürte, wie sich tief in ihrem Herzen etwas rührte. Ja, es war der erste Whisky ihres Lebens gewesen, und sie hatte ihn an dem Tag getrunken, an dem sie zum ersten Mal mit einem Mann geschlafen hatte – mit Sebastian. Drei Nächte hatten sie insgesamt in dem kleinen, aber hübschen Zimmer verbracht, und in jeder dieser Nächte hatten sie sich leidenschaftlich geliebt.

„Wie lange … hast du in Paris auf mich gewartet?“, fragte Sebastian unvermittelt.

Sie drehte nervös das Glas in ihrer Hand. Was bezweckte er mit seinen Fragen? „Nur ein paar Tage“, antwortete sie widerstrebend. „Madame Merchand, bei der ich als Au-pair arbeiten sollte, rief mich an und wollte wissen, ob ich auch schon früher anfangen könne. Und da du … dich ja nicht mehr gemeldet hast, habe ich zugesagt.“

„Und warum bist du nicht so lange wie geplant bei den Merchands geblieben? Hast du dich in der Familie nicht wohlgefühlt?“

Sie sah ihn verwundert an. „Woher weißt du, dass ich früher abgefahren bin?“

„Ich habe einmal versucht, dich telefonisch zu erreichen, und von Monsieur Merchand erfahren, dass du schon Wochen vorher abgefahren warst.“

Ihr Herz schlug höher. Er hatte versucht, sie anzurufen, und sie hatte nichts davon gewusst! „Das … das stimmt“, gab sie zögernd zu. „Ich bin … acht Wochen früher weggefahren als geplant.“

„Hast du noch für eine andere Familie gearbeitet?“

„Nein.“ Wenn er doch nur aufhören würde, sie auszufragen! „Ich bin nach Hause gefahren, während Beth bis zum Schluss in Honfleur geblieben ist.“

„Und warum hast du das nicht getan? Hattest du so großes Heimweh?“

„Nein, das war nicht der Grund“, antwortete sie unbehaglich. „Ich … hatte zu Hause etwas Wichtiges zu erledigen.“

Weshalb wollte er das alles überhaupt so genau wissen? Wenn ihn damals wirklich interessiert hätte, was mit ihr los war, hätte er sie jederzeit zu Hause anrufen können, schließlich hatte sie ihm ihre Adresse und Telefonnummer gegeben. Sogar bei Professor Blackwell und seiner Familie wäre sie erreichbar gewesen, denn ihre Mutter hätte jedem männlichen Anrufer nur zu bereitwillig Auskunft über den Aufenthaltsort ihrer Tochter gegeben in der Hoffnung, doch noch zu erfahren, wer der Vater des werdenden Kindes war.

„Warum hast du mich nicht zu Hause angerufen?“, fragte Marianne spontan, weil sie es einfach wissen musste.

Sebastian zögerte einen Moment, bevor er antwortete. „Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich war irgendwie froh, dass sich … dass sich das Problem auf diese Art und Weise quasi von selbst gelöst hat. Dass du Frankreich schon verlassen hattest, hat die Situation einfacher für mich gemacht. Ich dachte, jetzt, da du zu Hause bist, würdest du ohnehin nicht mehr an mich denken.“

Mariannes Augen füllten sich mit Tränen. Sie war also ein „Problem“ für ihn gewesen. Wie hatte er nur glauben können, dass sie ihn so schnell vergessen würde? Hatte er sich nie gefragt, wie ihr zumute gewesen sein musste, als er sie ohne ein Wort der Erklärung in einem fremden Land alleingelassen hatte? Oder hatte er mit solchen Überlegungen nur sein schäbiges Verhalten vor sich selbst zu rechtfertigen gesucht?

„Ich weiß, dass das nicht richtig von mir war“, gab Sebastian plötzlich zu. „Ich hätte dich anrufen und dir alles erklären sollen.“

Sie schaffte es, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken. „Ja, das hättest du. Zumindest hättest du mir schreiben können. Wochenlang hatte ich keine Ahnung, wo du stecktest und was mit dir los war. Ich hatte doch überhaupt keine Möglichkeit, Kontakt zu dir aufzunehmen.“

„Ich wollte dir ja schreiben, aber mir wurde davon abgeraten.“

„Dir wurde davon abgeraten?“, wiederholte sie verblüfft. „Wer hat dir abgeraten, mir zu schreiben, und warum? Hättest du mir etwa zugetraut, dass ich deine Briefe an die Presse verkaufe? Hast du wirklich so schlecht von mir gedacht?“

„Nein, natürlich nicht, aber darum ging es ja auch gar nicht. Das hatte nichts mit dir persönlich zu tun. Meine Familie kannte dich doch überhaupt nicht.“

„Aber du hast mich gekannt! Du hättest wissen müssen, dass ich so etwas nie tun würde!“

„Ich weiß, ich hätte zu dir nach England fliegen und dir alles erklären sollen. Ich hätte dir sagen sollen, wer ich wirklich bin und in welcher Lage ich mich gerade befinde. Wenn ich älter und erfahrener gewesen wäre, dann hätte ich das auch bestimmt …“

„Ehrlichkeit hat mit Alter oder Reife nichts zu tun!“, fiel sie ihm zornig ins Wort. „Du warst einfach zu feige, um mir die Wahrheit zu sagen, gib’s doch endlich zu!“

Marianne war nun so außer sich, dass sie am liebsten davongelaufen wäre, wenn sie die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Nie hätte sie gedacht, dass Sebastian ihr so misstrauen würde. Er war nach Andovaria zurückgekehrt, um ihre wundervolle Romanze in etwas Nichtiges oder gar Schäbiges zu verwandeln. Während sie sich vor Sehnsucht nach ihm verzehrt hatte, hatte er sich mit seinen Beratern besprochen, wie er dieses „lästige Problem“ am besten aus dem Weg schaffen konnte! Nun kamen ihr doch die Tränen, und sie wischte sie wütend weg.

„Marianne, bitte …“ Er streckte die Hand nach ihr aus, doch sie wich sofort zurück.

„Fass mich nicht an!“

„Es tut mir leid, Marianne, ich …“

„Mir tut es auch leid!“ Sie stand wütend auf. „Und dabei sollten wir es auch belassen!“

„Marianne, jetzt hör mir doch zu. Du weißt doch gar nicht, wie es weiterging, als ich zurück nach Andovaria kam. Ich möchte dir erklären, warum ich …“

Sie lachte bitter auf. „Was willst du mir erklären, Sebastian? Weißt du nicht, dass die Regenbogenpresse mir schon alles über dich erzählt hat? Ich kenne jede Einzelheit deines Lebens, Sebastian Rodier. Ich habe mitverfolgt, wie du Amelie von Saxe-Broden geheiratet und kurz darauf den Thron von Andovaria bestiegen hast. Deine Fotos konnte man in allen Zeitungen bewundern!“

„Es war nicht so, wie du das jetzt darstellst.“

„Ach nein? Und wie war es dann?“

Sebastian stand auf und stellte sich an die Brüstung, um sich zu beruhigen. Wie sollte er Marianne nur erklären, dass ihm sein Verhalten von damals unendlich leidtat, er aber nun nichts mehr daran ändern konnte? Wie sollte er ihr klarmachen, dass er gezwungen worden war, Verantwortung für sein Volk und seine Familie zu übernehmen und seine Beziehung zu Marianne nur deshalb hatte aufgeben müssen?

Sie schluckte schwer. An Sebastians Haltung erkannte sie, dass ihre Worte ihn verletzt haben mussten. Und da legte sich ihr Zorn plötzlich wieder und wich einem Gefühl tiefer Traurigkeit. Er hatte ja nicht gewusst, dass sie schwanger von ihm geworden war. Er hatte keine Ahnung davon gehabt, was sie nach seinem Weggang hatte durchmachen müssen. Hätte er davon gewusst, wäre er vielleicht sogar zurückgekommen.

In all den Jahren hatte Marianne sich oft gefragt, ob es nicht ein Fehler gewesen war, ihm ihre Schwangerschaft zu verschweigen. Auf diese Weise hatte sie nie die Möglichkeit gehabt, mit ihm zu sprechen und die quälende Frage zu klären, warum er sie verlassen hatte. Und diese seelische Qual hatte es ihr unmöglich gemacht, sich auf eine neue Beziehung mit einem Mann einzulassen.

Sebastian drehte sich wieder um und sah sie an. „Ich musste damals dringend nach Hause, weil mein Vater schwer krank war. Er hatte einen Hirntumor.“

Diese Tatsache war Marianne bekannt. In ganz Europa war über Franz-Josefs tragischen Tod wenige Wochen vor der Hochzeit seines Sohnes berichtet worden.

„Der Tumor war inoperabel, und mein Vater wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben würde, um alles Wichtige für seine Familie und sein Land zu regeln. Deshalb war es unumgänglich, dass ich nach Hause komme.“

„Und warum hast du mir das nicht gesagt? Ich hätte doch …“

Sebastian schüttelte den Kopf. „Ich wollte dich nicht mit meinen Problemen belasten. In den Monaten vor dem Tod meines Vaters musste ich viele komplizierte Dinge regeln. Die Verfassung unseres Landes sieht es beispielsweise vor, dass ein Kronprinz bis zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag verheiratet sein muss. Mir blieben also nur siebzehn Monate Zeit, um eine geeignete Braut zu finden.“

Mariannes Finger schlossen sich fest um ihr Weinglas. Also war sie in seinen Augen keine geeignete Braut gewesen. Diese Erkenntnis tat so weh, dass sie erneut mit den Tränen kämpfte. Aber warum nahm sie sich das nach all den Jahren überhaupt noch so zu Herzen? Hatte sie es nicht die ganze Zeit gewusst?

„Und warum … muss ein Kronprinz so früh heiraten?“, fragte sie mit belegter Stimme.

„Das ist unsere Tradition. Wenn man weit in die Geschichte zurückblickt, wird man feststellen, dass Kronprinzen in Andovaria früher manchmal schon im Alter von fünf oder sechs Jahren versprochen oder sogar verheiratet wurden.“

„Aber das ist doch Unsinn!“, empörte Marianne sich. „Vor allem kann man solche Regeln doch nicht auf die heutige Zeit übertragen!“

„Eins zu eins kann man das natürlich nicht, aber ganz kann man Traditionen nie umgehen“, erklärte er. „In Monaco zum Beispiel hielten sich die Menschen an die gleichen Regeln. Hier in Andovaria war es jedenfalls bisher immer so, dass der Kronprinz vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag verheiratet sein musste.“

Und warum hast du mich dann nicht gefragt? wäre es Marianne beinahe herausgerutscht, doch sie hielt sich zurück. Im Grunde wusste sie ja schon längst, weshalb sie für Sebastian als Ehefrau nicht infrage gekommen war. Aschenputtel gab es nur im Märchen. In der Realität heirateten Kronprinzen keine einfachen Mädchen aus dem Mittelstand.

„Darüber hinaus ist die Genehmigung des herrschenden Regenten erforderlich, wenn ein Mitglied der Fürstenfamilie unter einundzwanzig Jahren heiraten will“, fuhr er fort. „Jede Verbindung, die ohne diese Genehmigung entsteht, wird für ungültig und alle daraus hervorgegangenen Kinder für unehelich erklärt.“

Er hatte die Sätze vorgetragen, als hätte er sie auswendig gelernt, und wahrscheinlich war es auch so. Als Historikerin war Marianne bekannt, dass solche Traditionen nichts Ungewöhnliches waren. Selbst die englische Verfassung stellte ähnliche Ansprüche an die königliche Familie, die diese schon seit Jahrhunderten befolgte. Marianne konnte nur nicht nachvollziehen, wie man mit solch schwerwiegenden Einschränkungen leben konnte. Auch Royals waren Menschen aus Fleisch und Blut mit dem Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden. Wie konnte man nur aus Pflichtbewusstsein jemanden heiraten, für den man nichts empfand?

„Meine Heirat wurde zur höchsten Priorität“, sprach Sebastian weiter. „Die Zukunft unseres Landes hing davon ab, ob ich eine geeignete Frau finden würde oder nicht.“

Marianne stellte das Glas vorsichtig auf den Tisch zurück, weil ihre Hände zitterten. Nun konnte sie die Frage, die sie schon seit Jahren quälte, nicht länger zurückhalten: „Und ich … ich wäre keine geeignete Frau für dich gewesen?“

Er wich ihrem Blick aus und schwieg lange Zeit, bevor er endlich antwortete. „Nein, das wärst du nicht gewesen.“

4. KAPITEL

Seine Worte trafen Marianne wie ein Messerstich ins Herz. Deutlicher hätte er es ihr nicht sagen können! Sie hatte es immer gewusst und doch nie wahrhaben wollen: Als nette Urlaubsromanze und für aufregenden Sex war sie gut genug gewesen, nicht jedoch als seine Ehefrau.

Sie musste sich schwer beherrschen, um nicht erneut in Tränen auszubrechen. Sie wollte Sebastian auf keinen Fall zeigen, wie weh ihr sein Geständnis tat. „Und deshalb hast du Amelie von Saxe-Broden geheiratet?“, sagte sie schließlich matt.

„Ja.“

„Hast du … sie geliebt?“

Er atmete tief durch. „Ich mochte sie und war froh, dass sie bereit war, diese Ehe mit mir einzugehen. Aber geliebt habe ich sie nicht.“

Marianne schluckte erneut. Was musste das für eine Ehe gewesen sein, wo keiner den anderen liebte? „Wusste sie das?“

„Bestimmt. Und ich bin sicher, dass Amelie mich auch nicht liebte. Es war eine reine Zweckehe, so wie es in adeligen Kreisen häufig vorkommt. Wir hatten den gleichen gesellschaftlichen Stand und das passende Alter – wozu hätte man noch lange nach jemand anderem suchen sollen?“

„Was wäre passiert, wenn du keine … geeignete Frau gefunden hättest?“

„Dann hätte ich mein Recht auf den Thron verwirkt, und mein Cousin Michael wäre heute der uneingeschränkte Fürst von Andovaria.“

Autor

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