Julia Saison Band 45

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  • Erscheinungstag 31.08.2018
  • Bandnummer 45
  • ISBN / Artikelnummer 9783733711573
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Elizabeth Power, Julia James, Lucy King

JULIA SAISON BAND 45

1. KAPITEL

Er hatte den Aerobicraum noch nicht erreicht, da hörte er die Musik schon. Der stampfende Rhythmus hallte durch den Flur des Fitnesscenters.

Zu beiden Seiten sah er die Frauen hinter den Glastüren ihre Körper stählen. Ihm war klar, dass er in seinem dunklen Geschäftsanzug, dem weißen Hemd und der Krawatte auffallen musste wie ein bunter Hund. Als er an einer Halle vorbeikam, in der zwei Frauen Squash spielten, hielten diese inne und blickten ihn unverhohlen an.

Mit seinen durchtrainierten Eins neunzig, dem schwarzen Haar und den markanten Gesichtszügen, die sein keltisches Erbe verrieten, war er es gewohnt, die Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts auf sich zu ziehen. Doch heute wollte Conan Ryder sich auf gar keinen Fall durch die bewundernden Blicke der Frauen von seinem Ziel abbringen lassen.

Ohne also weiter auf das unverhohlene Interesse der beiden zu achten, setzte er seinen Weg fort, den Blick seiner grün-goldenen Augen fest auf die Tür gerichtet, hinter der die Musik ertönte. Er holte tief Luft und straffte die breiten Schultern, um den Adrenalinschub, der ihn erfasst hatte, unter Kontrolle zu bekommen.

Niemand durfte solche Gefühle in ihm hervorrufen – vor allem nicht Sienna Ryder! Er wollte ihr einen Vorschlag machen – das war alles. Wahrscheinlich würde sie zunächst ablehnen, dann würden sie sich ein Wortgefecht liefern, bis sie sich am Ende seinen Wünschen fügte. Denn er würde als Sieger daraus hervorgehen. Danach wollte er die nötigen Vorkehrungen treffen und abreisen.

„Gut so, Charlene! Lass die Hüften kreisen! So ist es gut …“

Als er die Tür mit der flachen Hand aufstieß, hörte er ihre Stimme. Klar. Deutlich. Aufmunternd.

Er betrat den Raum – und alle Anwesenden starrten ihn verdutzt an. Doch sein Interesse galt nur der zierlichen jungen Frau in dem roten Gymnastikanzug und den schwarzen Leggins, die ihm den Rücken zugewandt hatte und gerade eine Übung vormachte.

Ihr kurzes dunkles Haar passte sich perfekt ihrer Kopfform an, wobei der jungenhafte Schnitt ihre feminine Ausstrahlung noch betonte. Ihre Haut war zart gebräunt, und die perfekten Proportionen ihres schlanken Körpers zeichneten sich deutlich unter der engen Sportkleidung ab. Dazu wirkte sie auf eine geschmeidige Art sportlich, die ihm nicht aufgefallen war, als sie noch mit seinem Bruder verheiratet gewesen war.

Er ließ seinen Blick über die anmutige Linie ihres Halses gleiten, bis er die kleine Schmetterlingstätowierung direkt über ihrem rechten Schulterblatt entdeckte. Sofort fühlte er sich auf unliebsame Weise davon angesprochen.

Er räusperte sich, um sich Gehör zu verschaffen: „Es tut mir leid, dass ich deinen Kurs unterbrechen muss, aber du warst anders einfach nicht zu erreichen. Wie nimmt man eigentlich Kontakt mit dir auf? Per Brieftaube?“ In seiner Stimme schwang die alte Feindseligkeit mit.

Als sie sich zu ihm umdrehte, sah er die Angst in ihren großen blauen Augen.

„Hallo, Conan.“ Ihr Lächeln wirkte gezwungen, und ihre Miene drückte Distanziertheit aus. „Es freut mich auch ungemein, dich wiederzusehen.“

Der Sarkasmus ihrer Worte war nicht zu überhören. Doch dann wich das Blut aus ihren Wangen, als sie hinzufügte: „Daisy ist doch nichts Schlimmes passiert?“

Die Sorge um ihr Kind wirkte echt, obwohl sie sich um das Wohlergehen seines Bruders damals nicht sonderlich geschert hatte.

„Woher soll ich das wissen?“, entgegnete er. „Ich habe sie seit fast drei Jahren nicht gesehen!“ Er bedachte Sienna mit einem tadelnden Blick und bemerkte den Anflug der Erleichterung in ihren Augen, bevor sie ihre langen dunklen Wimpern senkte. Ihr war wohl klar geworden, dass er tatsächlich keine Ahnung hatte, wie es seiner Nichte ging. „Seit Tagen versuche ich, dich zu erreichen, aber deine Festnetznummer steht nicht im Telefonbuch, und jedes Mal, wenn ich an deiner Haustür klingele, bist du nicht da.“

Sie wirkte beinahe bestürzt, weil er ihre Adresse in Erfahrung gebracht hatte.

„Wir haben viel um die Ohren.“ Ihre Antwort sollte ihm wohl sagen, dass ihr Privatleben ihn nichts anging. „Was willst du überhaupt von mir?“

Seine Gesichtszüge spannten sich an. Der laufende Song war zu Ende, und zwanzig Frauen starrten ihn nach wie vor an, als hätten sie noch nie einen Mann gesehen.

„Können wir nicht woanders reden?“

Da im gleichen Moment ein neues Stück begann, bedeutete Sienna der Gruppe, ohne sie weiterzumachen. Dann wies sie in Richtung Ausgang.

Conan war als Erster an der Tür, ließ Sienna aber den Vortritt. Während er ihr folgte, blieb sein Blick an dem Schwung ihrer schmalen Hüften hängen, und mit einem Stich des Verlangens bemerkte er, dass ihre festen Pobacken durch den Gymnastikanzug mehr als vorteilhaft betont wurden. Dazu die schlanke Taille, die aufrechte Haltung, der hocherhobene Kopf – stolz wie eine Ballerina.

„Was willst du?“, fragte sie unwirsch und drehte sich zu ihm um.

Allein der Anblick von Conan Ryder brachte ihr Blut in Wallung. Er war noch genauso attraktiv und hartherzig, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Ein Unternehmer und Multimillionär. Und der Halbbruder ihres verstorbenen Ehemannes.

Es war fast drei Jahre her, dass sie mit ihrer achtzehn Monate alten Tochter aus dem vornehmen Distrikt Surrey in ihre Heimatstadt vor den Toren Londons geflüchtet war, um seinen bösen Sticheleien und Anschuldigungen zu entrinnen. Drei Jahre nach Nialls tragischem Unfall, der sie als Witwe und alleinerziehende Mutter zurückgelassen hatte.

Die Verachtung in Conans Blick verriet ihr, dass er seine Meinung über sie nicht geändert hatte. Allein mit ihm fühlte sie sich nicht mehr wie die selbstbewusste junge Frau, zu der sie herangereift war, sondern wieder wie das stark verunsicherte Mädchen, das Conans Worten nichts entgegenzusetzen hatte. Keine Erklärung für ihr Verhalten, für ihre Notlüge. Dafür hätte sie ihm ihre Seele offenlegen müssen. Und sie hatte sich geschworen, das niemals zu tun.

Schnell schluckte sie die Bitterkeit, die in ihr aufstieg, hinunter und murmelte: „Aus welchem Grund bist du also gekommen?“

„Nicht deinetwegen.“ Seine Worte waren schneidend. „Wegen Daisy. Ich bestehe darauf, meine Nichte mitzunehmen.“

„Was?“ Siennas Magen zog sich zusammen, als schmerzhafte Erinnerungen in ihr hochkamen: Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um dir Daisy wegzunehmen. Und doch ließ die Arroganz in seiner Stimme ihren Zorn wachsen. „Du ‚bestehst‘ darauf?“

„Sie ist das Kind meines Bruders“, entgegnete er. „Und sie hat eine Großmutter, die sie seit Jahren nicht gesehen hat.“

„Außerdem hat sie eine Mutter, die nie gut genug für eure Familie war – schon vergessen?“

Seine dunklen Wimpern, die so lang waren, dass manche Frau neidisch werden konnte, senkten sich über funkelnde grüne Augen. Sein Gesicht war schmal, die hohen Wangenknochen und die stolze Nase ließen es gebieterisch wirken. Ein Eindruck, der durch den unnachgiebigen Mund und das markante Kinn mit dem dunklen Bartschatten noch verstärkt wurde.

„Also gut“, erwiderte er nach einer Weile. „Ich gebe ja zu, dass wir nicht immer einer Meinung waren.“

„Nicht immer einer Meinung?“ Sie schnaubte verächtlich. „So nennst du das? Du hast mich damals als unfähige Mutter und Ehebrecherin bezeichnet …“

Das Grün seiner Augen wurde noch unergründlicher. „Nun, ja …“ Offensichtlich wollte er nicht wieder an den alten Anschuldigungen rühren. „Das ändert aber nichts daran, dass du kein Recht hast, Daisy ihre Familie vorzuenthalten.“

„Ich habe jedes Recht dazu!“ Röte zeichnete sich auf ihren Wangen ab. Ein Streit mit Conan war schlimm genug, und die Tatsache, dass sie so leicht bekleidet war, machte die Sache nicht besser. Vor allem, weil er so groß und männlich vor ihr stand. „Niall und ich waren ihre Familie, sonst niemand.“ Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn schließlich gab es noch Siennas Eltern, obwohl sie diese seit deren Umzug nach Spanien nur noch selten sahen.

„Niall war mein Bruder.“

„Zu schade, dass dir das nicht eingefallen ist, als er noch am Leben war!“

Sie hatte einen wunden Punkt getroffen. Das erkannte sie daran, wie Conan die Lippen aufeinanderpresste und sich seine Augen verengten. Vielleicht nagte es doch an seinem Gewissen, dass er, der Selfmade-Multimillionär, seinem einzigen Bruder damals nicht aus den finanziellen Schwierigkeiten geholfen hatte. Dennoch fragte er nur nonchalant, aber dennoch unüberhörbar drohend: „Willst du mir wieder damit kommen?“

Etwas sagte ihr, dass sie auf der Hut sein und ihn nicht unnötig reizen sollte. Aber der furchtbare Schmerz, den er ihr mit seinen unerbittlichen Vorwürfen und unbarmherzigen Anschuldigungen vor drei Jahren zugefügt hatte, ließ sie erwidern: „Ich will nichts mit dir zu tun haben, Conan Ryder.“

Sein Blick wanderte über ihre Schultern und blieb kurz an den festen Brüsten hängen. Conan war skrupel- und mitleidlos, und doch spürte sie in diesem Moment ein seltsames Verlangen in sich aufsteigen.

„Habe ich dich je darum gebeten?“, fragte er leise, und der grausam höhnische Zug um seine Mundwinkel ließ keinen Zweifel, worauf er anspielte.

Nein, das hatte er nicht. Der Gedanke ließ Sienna einen unerklärlichen Schauer über den Rücken rinnen. Für sie war Conan immer nur der ältere Bruder ihres Mannes gewesen. Dennoch waren ihr in den zweieinhalb Jahren Ehe mit Niall die unzähligen hervorstechenden Eigenschaften dieses Mannes nicht entgangen. Welcher Frau hätten sie entgehen können? Er sah gut aus, war energiegeladen und unermesslich reich. Dazu besaß er eine stille Tiefe, die Sienna nie hatte ausloten können. Doch am Ende waren allein seine Rücksichtslosigkeit und sein Mangel an Sensibilität in den Vordergrund getreten. Außerdem hatte sie Niall geliebt – mit einer Leidenschaft, die sie beinahe um den Verstand gebracht hatte …

„Wenn ich mich recht entsinne“, sagte Conan nun mit eiskalter Stimme, „hattest du auch ohne meine Hilfe genug damit zu tun, dein Treueversprechen zu brechen. Allerdings glaube ich, dass ein Fingerschnippen von mir genügt hätte – obwohl du schon einen Liebhaber hattest.“

„Er war nicht mein Liebhaber! Und du irrst dich, wenn du denkst, dass ich mich jemals mit einem Mann wie dir einlassen würde.“ Ihr fiel wieder ein, wie sie an jenem schlimmen Tag vor ihm gestanden hatte. Die furchtbare Szene hatte sich tief in ihr Gedächtnis gegraben. „Um es noch einmal klarzustellen …“

Ich habe deinen Bruder geliebt, wollte sie eigentlich sagen, aber in diesem Moment ging die Tür des Aerobicraums auf.

Eine junge Frau trat auf den Flur und lächelte Conan herausfordernd an, als sie an ihnen vorbei zur Umkleidekabine ging. Unwillkürlich machte er einen Schritt in Siennas Richtung.

In der engen Sportkleidung fühlte sie sich auf einmal wie nackt, und ihr Atem stockte.

Sie waren sich so nah, dass sie den herben Duft seines Aftershaves riechen konnte. Da half auch Conans formelle Kleindung nicht, die darauf schließen ließ, dass er vermutlich gerade einen wichtigen Geschäftsabschluss getätigt hatte, der sein Vermögen verzehnfachen würde! Seine Gegenwart war einfach zu viel für sie, und Sienna wich zurück.

„Meine Mutter muss ihre Enkeltochter unbedingt einmal sehen“, sagte er. „Und ich meine Nichte.“ Eine Sorgenfalte zeichnete sich auf seiner braun gebrannten Stirn ab. „Meine Mutter ist in letzter Zeit etwas angegriffen …“ Er konnte Sienna nicht erzählen, wie groß seine Sorge um Avril Ryder tatsächlich war. „Es täte ihr sicherlich gut, ihr einziges Enkelkind um sich zu haben. Sie hat Daisy zum letzten Mal gesehen, als das Kind achtzehn Monate alt war.“

„Und du glaubst wirklich, du kannst hier einfach hereinschneien und Daisy mitnehmen? Denkst du, ich würde das erlauben?“ Angst stieg in ihr hoch, sie schluckte sie hinunter. „Sie kennt dich doch gar nicht.“

„Und wessen Schuld ist das?“

„Sie kennt dich nicht“, wiederholte Sienna, ohne auf seinen Vorwurf einzugehen. Und ich auch nicht, fügte sie in Gedanken hinzu. Wieder dachte sie an seine Herzlosigkeit und seinen Mangel an Mitgefühl dem verstorbenen Bruder gegenüber.

„Ich bin der Onkel des Kindes. Aber du hast ihr nie erlaubt, uns kennenzulernen. Nie hast du Fotos geschickt, nie Kontakt zugelassen. Weißt du eigentlich, wie sehr Avril darunter leidet? Ihre Großmutter? Meinst du nicht, dass es schon schwer genug für sie war, den Tod von Niall zu verkraften? Musstest du ihr auch noch die Enkelin nehmen?“

„Ich wurde aus eurem Leben verbannt“, stieß sie wütend hervor. „Und du scheinst zu vergessen, dass ich ebenfalls einen Verlust verkraften musste …“ Sie schloss die Augen, die Erinnerung war zu schmerzhaft. „Ich habe meinen Mann verloren. Und ich musste mich gegen eure Vorwürfe wehren. Findest du nicht, dass das schon schlimm genug war, ohne dass ihr mich für sein Unglück auch noch verantwortlich gemacht hättet? Ohne dass ihr mir die Schuld für seine Trinkerei und die finanziellen Sorgen gegeben hättet? Ich weiß genau, was du und deine Mutter von mir gehalten habt. Ihr habt es mir immer wieder zu verstehen gegeben, dass Niall eurer Meinung nach unter Stand geheiratet hat.“

„Das habe ich nie behauptet.“

„Das musstest du gar nicht! Alles, was ich gesagt oder getan habe, wurde kritisiert. Deine Mutter konnte ihren Schock, dass ihr Sohn eine Kellnerin geheiratet hat, kaum verbergen! Auch wenn ich nur kurzfristig in dem Café gejobbt habe, bis ich ins Berufsleben eingestiegen bin.“

„Ich bin nicht für meine Mutter verantwortlich. Und ich habe nur auf das reagiert, was ich mit eigenen Augen gesehen habe.“

„Und was war das, mit Ausnahme meiner angeblichen Untreue?“

Verachtung verhärtete seine Gesichtszüge. Jetzt sah er aus wie einer der keltischen Krieger, deren stolzes Blut durch seine Adern floss. „Dir war vollkommen klar, dass Niall nicht mit Geld umgehen konnte. Er hat über seine Verhältnisse gelebt, und du hast ihn noch dazu ermuntert.“

Damals war sie zu jung gewesen, um die Anzeichen zu erkennen: Nialls Reizbarkeit, die Trinkerei, die Stimmungsschwankungen.

„Du wolltest ihm das Wasser abgraben“, erinnerte sie ihn. „Das war doch der Ausdruck, den du verwendet hast.“

Er widersprach nicht. Warum auch? dachte sie bitter. Er war kein Mann, der sich hinter Ausflüchten versteckte, sondern mit harten Bandagen kämpfte.

„Ich habe jetzt keine Zeit“, sagte sie, als die Musik im Aerobicraum abrupt endete. „Ich muss zu meinem Unterricht zurück.“ Das Zusammentreffen mit Nialls Bruder war weit schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte. Erleichtert wandte sie sich zum Gehen.

„Du wirst tun, was ich von dir verlange.“

Sie blieb stehen und drehte den Kopf. Ihre Augen funkelten zornig. „Ach ja? Und was wirst du tun, wenn ich mich weigere? Eine Lügengeschichte erfinden, dass ich als Mutter nicht geeignet bin, bis mir ein Gericht Daisy wegnimmt? Damit hast du mir schon vor Jahren gedroht.“ Doch hinter ihrem Mut schwelte die Angst, dass er genau das vorhatte: seinen Einfluss geltend machen, um ihr heimzuzahlen, was sie Niall angeblich angetan hatte.

„Deshalb bin ich nicht hergekommen.“

„Nein, du willst, dass ich sie dir einfach mitgebe. Es tut mir leid, Conan, aber die Antwort lautet Nein. Ohne mich geht Daisy nirgendwohin. Und ich werde mich ganz bestimmt nicht noch einmal in die Höhle des Löwen begeben. Nein, danke!“

„Und ob du das wirst, Sienna.“

„Nenn mir einen Grund, warum ich das tun sollte.“

„Dein Gewissen, sofern du eines hast.“

Trotzig hob sie das Kinn und fügte bitter hinzu: „So eins wie deins etwa?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie in der Sporthalle.

Sienna schaute nach, ob Daisy schlief. Dann küsste sie die weiche Wange des kleinen Mädchens und löschte das Licht der Nachttischlampe. Bevor sie ging, streichelte sie noch einmal über das kastanienbraune Haar ihrer Tochter.

Genau wie das von Niall, dachte sie gerührt, während sie die Bettdecke über das Ärmchen zog, das ein pinkfarbenes Nilpferd umklammert hielt. Daisy hatte Haar und Teint eindeutig von ihrem Vater geerbt.

Sienna ging die Treppe nach unten und öffnete die Tür zum Garten. Sofort sprang ihr ein großes Fellknäuel entgegen – Shadow. Sie füllte den Hundenapf und machte sich ans Bügeln, ganz so, als wäre es ein Abend wie jeder andere.

Doch das Zusammentreffen mit Conan hatte alte Wunden wieder aufgerissen.

Sie war gerade zwanzig Jahre alt gewesen, als sie Niall kennengelernt hatte.

Als ihre Eltern das Haus verkaufen wollten, um in den Süden Europas zu ziehen, hatte Sienna entschieden, allein in England zu bleiben. Ihre Eltern liebten die Sonne, den Strand, das Meer, und Sienna hatte sich für sie gefreut. Außerdem gefiel ihr die Aussicht, ihre Urlaube in Spanien verbringen zu können.

Bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Niall arbeitete sie als Empfangsdame in einem Fitnesscenter. Er war Mitglied im Verein und war oft in das angeschlossene Café gekommen, wenn sie dort als Kellnerin einsprang, um eine kranke Kollegin zu vertreten. Sein tiefschwarzer Humor hatte ihr auf Anhieb gefallen. Er war witzig und charmant, ein kleines bisschen überdreht, und sie war sofort Feuer und Flamme für ihn gewesen.

Ihre Eltern waren zur standesamtlichen Hochzeit eingeflogen, die nach einer kurzen, leidenschaftlichen Romanze stattgefunden hatte. Welten lagen zwischen Faith und Barry Swann und Nialls Mutter – der Witwe eines Anwalts. Obwohl sich Siennas Eltern Mühe gaben, sich mit der Schwiegermutter ihrer Tochter anzufreunden, wurde Avril Ryder nie ganz warm mit ihnen. Sienna war von Anfang an klar gewesen, dass die Frau glaubte, sie hätte ihren Sohn in die Ehe gelockt, indem sie schwanger geworden sei. Insgeheim hatte Sienna sich gefreut, dass sie diese Meinung widerlegen konnte, als Daisy genau an ihrem ersten Hochzeitstag auf die Welt kam.

Conan hatte eine wichtige Konferenz unterbrochen und war ebenfalls zur Hochzeit gekommen. Doch als er Sienna nach der Zeremonie alles Gute wünschte, hatte die kühle Berührung seiner Lippen auf ihrer Wange sie schon damals beunruhigt.

Allerdings war klar gewesen, dass Niall seinen Bruder aufrichtig bewunderte. Und Sienna wusste auch, warum. Conan Ryder war noch weit unter dreißig und führte bereits eine globale Telekommunikationsfirma. Der dreiundzwanzigjährige Niall versuchte ihn in Tonfall, Benehmen und eiskaltem Auftreten nachzuahmen.

Niall hatte als Verkaufsleiter in Conans Firma gearbeitet. Zuvor hatte er sein Jurastudium abgebrochen und die Hoffnungen seiner Mutter zerschlagen, er könne in die Fußstapfen seines Vaters treten. Dennoch hatte er seinen Beruf ernst genommen und Sienna an seinem Erfolg teilhaben lassen – er hatte ihr teure Designerkleider geschenkt und das große Haus, das er in der Nähe der Villa seines Bruders gekauft hatte, mit jedem erdenklichen Luxus ausgestattet.

Doch Niall war auch ein unverbesserlicher Draufgänger gewesen. Als Sienna geistesabwesend eine winzige Bluse von Daisy bügelte, fiel ihr der schreckliche Abend wieder ein. Nialls extremer Sinn für Humor und seine tollkühne Art waren es gewesen, die ihn in Kopenhagen, wo er mit Freunden einen Junggesellenabschied feierte, das Leben gekostet hatten …

Schmerz und Gewissensbisse drohten Sienna zu übermannen, und sie zwang sich, tief durchzuatmen.

Als er noch am Leben war, hatte ihn der Wunsch angetrieben, sich mit seinem älteren Bruder zu messen. Aber Niall hatte weder über dessen Zielstrebigkeit noch über dessen Rücksichtslosigkeit verfügt. Als er dann ein paar Monate vor seinem Tod in große finanzielle Schwierigkeiten geriet und seinen Bruder um Hilfe bat, wies dieser ihn zurück. Niall war am Boden zerstört. Erst dann hatte er Sienna erzählt, wie stark sie über ihre Verhältnisse gelebt und wie viele Schulden sie angehäuft hatten. Sie war zu jung und naiv gewesen, um es selbst zu erkennen.

Dennoch hatten Conan und seine Mutter ihr die Schuld gegeben. Nur ihretwegen hätte ihr Mann sich verschuldet, ihretwegen hätte Niall mit dem Trinken angefangen, was letztendlich zu seinem Tod geführt hatte.

„Es war nicht meine Schuld!“, hatte sie Conan an jenem Tag entgegengeschleudert, nur eine Woche nach Nialls Beerdigung. Sie hatte sich schwerste Vorwürfe gemacht, dass sie all diese Geschenke von Niall angenommen hatte, auch wenn ihr vieles zu extravagant erschienen war. „Wenn du ihm geholfen hättest, als er dich um Unterstützung bat, dann hätte er vielleicht nicht so viel getrunken, bis er nicht mehr wusste, was er tat!“ Sie war so überwältigt von ihrem Kummer gewesen, dass sie nicht mehr auf ihre Worte geachtet hatte.

Zu gern hätte sie damals geweint, um den Schmerz zu lindern, der ihr Herz zu zerreißen drohte. Doch als sie in dem luxuriösen Salon von Conan Ryders Prachtvilla stand, um Nialls Sachen zurückzugeben, wollten die Tränen nicht fließen. In ihrem Inneren herrschte nur eine betäubende Leere, die sie seltsam teilnahmslos wirken ließ. In Conans Augen bewies das vermutlich nur, dass er recht gehabt hatte: Sie hatte sich nichts aus ihrem Ehemann gemacht, sondern ihn belogen und betrogen.

„Mein Bruder steckte in großen Schwierigkeiten, aber du hast es nicht einmal gemerkt, weil du zu beschäftigt warst – mit Geldausgeben und deinem … Liebhaber.“

„Und ob ich es bemerkt habe!“ Sie schrie den Satz beinahe.

„Trotzdem hast du ihm nicht geholfen.“

„Ich war seine Frau, nicht seine Krankenschwester!“ Ihr fiel auf, wie kalt und brutal das klingen musste.

„Meine Mutter hat Bedenken geäußert, dass du nicht reif und verantwortungsbewusst genug bist, um dich um ein Kind zu kümmern. Offen gesagt, stimme ich ihr zu. Ich möchte, dass die Tochter meines Bruders unter unserem Dach aufwächst und nicht eines Tages den Namen eines anderen Mannes trägt.“

„Sie wird so aufwachsen, wie ich es für richtig halte“, entgegnete Sienna, verletzt durch die Bedenken ihrer Schwiegermutter. Aber Avril Ryder hatte aus ihrer Verachtung für die Ehefrau ihres jüngeren Sohnes nie einen Hehl gemacht. Sienna hatte jedoch gar nicht die Absicht, den Nachnamen ihres Kindes jemals zu ändern, selbst wenn sie irgendwann tatsächlich wieder heiraten sollte. „Du bist nicht der Vater“, fügte sie kalt hinzu.

„Nein.“ Sein Mund verzog sich zu einem höhnischen Grinsen. „Zum Glück gehöre ich nicht zu dem Kreis derjenigen, die dafür infrage kommen.“

Sie verspürte den dringenden Wunsch, ihm eine Ohrfeige zu verpassen, hielt sich aber zurück. Genug Unheil war schon geschehen.

„Ich muss mir das alles nicht bieten lassen“, antwortete sie so ruhig wie möglich. „Und ich weiß genau, dass ich für dich und deine Mutter nie gut genug war. War das auch der Grund, warum Niall sein Leben weggeworfen hat? Habt ihr ihm vielleicht auch den Eindruck vermittelt, dass er nicht gut genug für euch war? Fühlte er sich neben seinem so viel schlaueren, reicheren und von der Mutter bevorzugten Bruder vielleicht minderwertig?“

Er musste innerlich toben, denn seine stolzen Nasenflügel bebten. „Du weißt nicht, was du sagst“, zischte er.

„Ach nein? Zufällig weiß ich genau, dass du nichts für ihn getan hast. Als er dich um Hilfe angefleht hat, hast du ihm jede finanzielle Unterstützung verweigert. Aber mach dir keine Sorgen – meine Tochter und ich werden morgen abreisen. Und dann werden wir den edlen Stammbaum der Familie nicht weiter in Verruf bringen.“

„Wenn du meiner Mutter Daisy wegnimmst, wirst du dich mit mir auseinandersetzen müssen. Verstanden?“

„Was willst du dagegen unternehmen?“, erwiderte sie. „Einen Sorgerechtsstreit führen?“

„Wenn es sein muss.“

„Auf welcher Grundlage?“, fragte sie, plötzlich argwöhnisch geworden. „Dass ich mich als Mutter nicht eigne?“ Sie wunderte sich selbst, dass sie in solchen Momenten schon immer kämpferisch gewesen war und niemals klein beigegeben hatte.

„Wenn ich auch nur ansatzweise das Gefühl habe, dass du deinen Pflichten als Mutter nicht nachkommst, werde ich das Sorgerecht für Daisy beantragen.“

Bei jedem anderen Menschen hätte sie diese Drohung nicht ernst genommen. Aber von Conan vorgebracht, machte sie ihr wirklich Angst.

Er war so reich und mächtig, dass jedes Gericht seine Anschuldigungen ernst nehmen würde. Und obwohl sie starke Zweifel hegte, dass ein Richter den Ryders das volle Sorgerecht für ihr Kind erteilen würde, fürchtete sie doch, dass Conan ihr Steine in den Weg legen könnte.

„Vielleicht sollte ich wirklich meinen ‚Freund‘ heiraten, damit dir die Hände gebunden wären!“, warf sie ihm in ihrer Verzweiflung entgegen. „Lass mich in Frieden, Conan Ryder!“

Ohne sich noch einmal umzudrehen, war sie damals aus seinem Haus und seinem Leben verschwunden. Sie hatte ihre Schulden bezahlt und sich mit dem Geld, das von dem Verkauf der gemeinsamen Villa mit Niall übrig blieb, das kleine Reihenhaus gekauft.

Doch nun war Conan wieder in ihr Leben getreten. In den letzten drei Jahren schien er seinen rücksichtslosen Charakter und seine betörende Männlichkeit zu einer tödlichen Waffe entwickelt zu haben. Er hatte seinen Reichtum und seinen Einfluss gemehrt und war zu einem Unternehmer aufgestiegen, über den die ganze Welt sprach. Drei Jahre lang hatte er daran gearbeitet, alles zu bekommen, was er wollte. Und jetzt wollte er Daisy.

Als es an der Tür klingelte, hätte Sienna beinahe das Bügeleisen fallen gelassen.

2. KAPITEL

Shadow, der seinen Namen dem schwarzen Streifen zu verdanken hatte, der die Hälfte seines Kopfes und eines seiner Schlappohren bedeckte, bellte wie verrückt die Tür an, bis Sienna sie öffnete.

„Conan!“ Sie hatte keine Ahnung, warum sie so überrascht klang. Schließlich hatte sie gewusst, dass er kommen würde.

Ohne Rücksicht auf den teuren Maßanzug sprang der Hund aufgeregt an dem Mann hoch. Conan verzog keine Miene, sondern stand steif da. Seine Nasenflügel bebten, als wäre er wütend.

„Tut mir leid. Er ist sonst nicht so“, entschuldigte sie sich und griff das Halsband des Hundes. Tatsächlich hatte sie den sechs Monate alten Shadow aus dem Tierheim geholt und war sehr stolz, dass er die Hundeschule mit Bravour gemeistert hatte. Widerwillig erkannte sie, dass allein der Anblick eines Mannes wie Conan sogar einen Hund dazu bringen konnte, die guten Manieren zu vergessen.

„Darf ich reinkommen?“

Sienna zog das Tier am Halsband zurück und ließ ihn eintreten.

Sofort kam es ihr vor, als wäre der Flur nur durch Conans imposante körperliche Erscheinung kleiner geworden.

Beklommen trat sie einen Schritt zurück und ließ Shadow los, der kurz an den handgefertigten Schuhen des Mannes schnüffelte und ins Wohnzimmer trottete.

Unbehaglich fragte sie: „Was willst du? Wenn du wegen Daisy hier bist, war der Weg umsonst. Ich denke, ich habe dir meine Haltung heute Nachmittag deutlich gemacht.“

Für den Bruchteil einer Sekunde flackerte etwas in seinen Augen auf. Wut? Rachegelüste? Sie war sich nicht sicher. Doch sofort gewann seine Selbstbeherrschung die Oberhand zurück.

„Wir haben uns vorhin nicht gerade im Guten getrennt. Ich wollte meinen Standpunkt nur noch einmal klarstellen.“

„Tatsächlich?“

Statt einer Antwort erschien ein verführerisches Lächeln auf seinen Lippen, das ein seltsames Gefühl in Sienna auslöste.

Ein charmanter Conan war weit gefährlicher für ihr seelisches Gleichgewicht als ein wütender.

„Wir setzen uns besser rein.“ Sie fragte sich, ob er das nervöse Zittern in ihrer Stimme bemerkt hatte. Als sie vor ihm den Flur entlangging, spürte sie beinahe, wie er ihre enge Jeans musterte.

Nachdem sie das winzige Wohnzimmer betreten hatten, wanderte sein Blick kritisch über die Wände, die dringend einen frischen Anstrich benötigten. „Setz dich.“ Verzweifelt sah sie sich in dem vollgestopften Zimmer um. „Wenn du einen Platz findest.“ Schnell nahm sie den Stapel Bügelwäsche von dem einzigen Sessel und räumte Spielzeug weg, das auf dem reichlich abgenutzten Sofa lag.

Conan reagierte nicht, sondern betrachtete neugierig die wenigen Möbelstücke: den Tisch mit den Stühlen, das übervolle Bücherregal, die bescheidene Stereoanlage und den Fernseher.

„So wohnst du also?“

Sienna hielt die Bügelwäsche im Arm und sah ihn beleidigt an. „Wie darf ich das verstehen?“

Conan verzog spöttisch den Mund. „Nicht unbedingt das, was du gewohnt warst, oder?“

„Zumindest ist alles bezahlt!“ Verärgert dachte sie an das junge Mädchen zurück, das gedankenlos jeden Luxus angenommen und plötzlich als Witwe dagestanden hatte – mit einem reizenden Baby zwar, aber auch einem Haufen Schulden.

„Wovon?“ Hohn lag in seiner Stimme, während er seinen Blick noch einmal durch das schäbige Wohnzimmer schweifen ließ und schließlich an Shadow hängen blieb, der ihn aus seinem kleinen Körbchen misstrauisch beäugte. „Mit deinem lächerlichen Job in dem Fitnesscenter wirst du wohl kaum genug verdienen.“

„Was geht dich das an?“ Sie hatte gar nicht so zickig klingen wollen. Immerhin war er gekommen, um Dinge mit ihr zu klären. Aber die Kritik an ihrem Zuhause und die abfällige Bemerkung über ihren Job, mit dem sie Daisy immerhin ein Dach über dem Kopf bieten konnte, waren zu viel gewesen.

„Eine ganze Menge. Schließlich ist es nicht zu übersehen, dass meiner Nichte die wichtigsten Dinge vorenthalten werden, nur weil ihre Mutter zu stolz oder zu egoistisch ist, Hilfe anzunehmen.“

Sienna kochte innerlich. Natürlich machte sie sich manchmal Sorgen, dass es ihrer Tochter im Vergleich zu ihren Freundinnen an vielem mangelte: Hüpfburgen zum Geburtstag, schöne Kleider oder ein Auto, das nicht ständig liegenblieb. Ganz abgesehen von einem Vater …

Reue keimte in ihr auf – sie warf sich oft vor, dass sie so zornig auf Niall war, weil sein Tod vermeidbar und sinnlos gewesen war …

„Du magst mich für stolz und egoistisch halten“, sagte sie und richtete sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter dreiundsechzig auf. „Und vielleicht bin ich das auch. Aber das, was ich vor drei Jahren zu dir gesagt habe, als du dich herabgelassen hast, uns finanzielle Hilfe anzubieten …“ Ihr Tonfall war tödlich. „… gilt auch heute noch.“

Die Luft vibrierte fast vor Feindseligkeit. Conan fielen ihre Worte von damals wieder ein: Du hast uns nicht geholfen, als Niall noch am Leben war! Wir kommen auch jetzt ohne deine Hilfe zurecht!

Die Haut über seinen hohen Wangenknochen spannte sich. „Selbst wenn Daisy darunter leiden muss?“

„Das tut sie nicht“, gab Sienna zurück, auch wenn sie innerlich nicht ganz so überzeugt davon war.

„Dann erlaube ihr wenigstens, ihre Großmutter zu besuchen.“ Er sah sie eindringlich an. „Es ist deine Pflicht. Nicht nur deiner Familie gegenüber, sondern auch Niall.“

„Meine Pflicht?“ Beinahe hätte sie ihm ins Gesicht gelacht. Was für ein Recht hatte er, von Pflichterfüllung zu sprechen, da er sich von seinem Halbbruder abgewendet hatte, als dieser seine Unterstützung so dringend benötigte? „Er hat dich nie um etwas gebeten“, sagte sie bitter. „Und als er es dann doch tat …“ Sie musste schlucken, bevor sie weitersprechen konnte. „Er hat dich bewundert und dich gebraucht. Er war verzweifelt“, murmelte sie, „und du warst nicht für ihn da.“

„Und du denkst, dass ich schuld an seinem Tod bin? Dass er meinetwegen zu viel getrunken hat und von der Brücke gestürzt ist, nachdem seine Freunde gewettet hatten, ob er sich trauen würde, auf dem Geländer zu balancieren? Willst du mir das sagen?“

Es gelang ihm nur schlecht zu verbergen, wie aufgewühlt er war. Hatte er den Bruder vielleicht doch geliebt? Oder lag es nur an Conans schlechtem Gewissen, dass sich seine wundervollen Augen verfinsterten.

„So war es nicht gemeint. Ich habe nicht nachgedacht.“ Zu gern hätte sie ihre Worte zurückgenommen. Wenn er seinen Bruder nur halb so sehr geliebt hatte wie sie, dann mussten ihre Vorwürfe ihn schwer getroffen haben. „Wie schon gesagt, ich habe meinen Mann verloren.“

„Und ich meinen Bruder.“

Sie hatte sich also nicht geirrt. Ihre Äußerung hatte ihn tief verletzt.

Einen Augenblick lang blickten sie sich an wie zwei feindselige Krieger.

Er hat wirklich viel von seinem keltischen Erbe, schoss es Sienna durch den Kopf. Sein dichtes schwarzes Haar und die imponierende Statur ebenso wie die einschüchternde Unabhängigkeit und das gebieterische Auftreten. Beide Brüder waren schöne Männer gewesen. Niall hatte das Aussehen seiner Mutter geerbt, aber Conan war es, der seine keltische Abstammung wie ein Banner vor sich hertrug.

„Meiner Mutter geht es nicht gut“, sagte er ruhig. „Ihr geht es überhaupt nicht gut.“ Tatsächlich hatten ihm die Ärzte gesagt, dass Avril Ryder offenbar der Wille zur Genesung fehle. „Sie lebt bei mir in Frankreich.“ Er besaß eine spektakuläre Villa an der Côte d’Azur, wie Sienna in einem Zeitungsartikel gelesen hatte. „Sie muss unbedingt auf andere Gedanken kommen. Und ich weiß, dass es ihr größter Wunsch ist, ihr einziges Enkelkind zu sehen. Du wirst Daisy begleiten, etwas anderes kommt gar nicht infrage. Und da die Ferien vor der Tür stehen, erwarte ich, dass ihr den ganzen Sommer über bleibt.“

Zu gern hätte sie Nein gesagt, aber sie brachte es nicht übers Herz. Wenn Conan nur sein schlechtes Gewissen beruhigen wollte, war das eine Sache. Aber sein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass es um seine Mutter wirklich sehr schlecht stand. Was wäre, wenn es die letzte Chance für Daisy wäre, ihre Großmutter zu sehen? Würde sie ihrer Tochter nicht ein großes Unrecht zufügen, wenn sie ihr die Reise verbot?

Mit dem Beginn der Sommerferien würden auch ihre Aerobickurse auslaufen. Allerdings gab sie darüber hinaus noch Einzelunterricht und konnte es sich nicht leisten, so viel Urlaub zu nehmen. Ihr Einkommen war ohnehin schon alles andere als fürstlich. Aber wenn sie wirklich auf Conans Wunsch einging, konnte sie Daisy auf gar keinen Fall allein fliegen lassen!

„I…ich kann mir nicht solange freinehmen“, sagte sie schließlich zögernd. Niemals würde sie sich vor Nialls Bruder so weit demütigen, ihm zu gestehen, wie wenig Geld sie tatsächlich verdiente. „Wenn ich könnte, würde ich zustimmen. Aber es geht wirklich nicht.“

Canon betrachtete ihren schlanken athletischen Körper.

Er hatte damit gerechnet, dass sie ihren Job als Ausrede vorbringen würde. Aber Frauen wie sie waren käuflich – man musste ihnen nur genug bieten. Hatte sie das nicht schon durch die Luxusgüter bewiesen, die sie von ihrem Mann gefordert hatte? Die teuren Kleider und der Designerschmuck? Der Sportwagen, den sie sich von Nialls Geld gekauft hatte, bevor sie sich nach einem lukrativeren Opfer umgesehen hatte?

Frauen kosten nun mal eine Kleinigkeit, das wirst du selbst eines Tages herausfinden. Seit Jahren klang ihm diese fast schon hochmütige Feststellung seines verstorbenen Bruders in den Ohren nach. Damals hatte er ihn gewarnt, dass er zu viel Geld ausgab, und Sienna einen Teil der Schuld daran gegeben.

„Ich zahle das Dreifache von deinem Verdienst“, sagte er kalt. Der Gedanke, was für eine Frau sie war, ließ sein Herz zu Stein werden.

„Wie überaus großzügig von dir.“ Herausfordernd lächelte sie ihn an. „Aber kannst du mir garantieren, dass man mir meinen Job bis nach den Ferien freihält?“

„Wenn das nötig sein sollte, ja.“

Natürlich! Die Conan Ryders dieser Welt mussten nur mit dem Finger schnippen und schon bekamen sie, was sie wollten. Dass sie ihn überhaupt gefragt hatte!

„Die Antwort heißt also Ja?“, drängte er.

Sie zögerte noch. Vielleicht sollte sie ihm einfach sagen, dass sie kein Geld von ihm annehmen würde. Warum sollte sie die schlechte Meinung, die er ohnehin von ihr hatte, noch bestärken? Sie folgte seinem Blick, der an Shadow hängengeblieben war. Der Hund machte seltsame Geräusche und stieß mit der Schnauze wie wild in sein Fell.

„Er hat doch keine Zecken?“

„Nein.“ Warum verzog er seinen unfassbar männlichen Mund so skeptisch? Missfallen? Abneigung? Und warum nur starrte sie überhaupt auf seine Lippen? „Magst du etwa keine Hunde?“

Er zuckte mit den breiten Schultern unter dem Maßanzug. „Sagen wir mal so, ich würde mir keinen als Hausgenossen aussuchen.“

So ein Pech, dachte Sienna schadenfroh. Doch mit einem Lächeln erwiderte sie laut: „Gewöhn dich besser daran. Wenn du Daisy und mich für den Sommer einladen willst, musst du uns nämlich alle drei nehmen.“

„Ich dachte, Conan hätte sich nie um seinen Bruder gekümmert“, sagte Faith Swann, als Sienna ihren Eltern am Telefon mitteilte, wo sie die Ferien verbringen würde. „Und hat Avril Ryder dir nicht immer das Gefühl gegeben, nichts zu taugen und meine Enkeltochter falsch zu erziehen?“ Faith wollte die Menschen, die sie liebte, mit allen Mitteln beschützen.

„Das ist wohl wahr“, gab Sienna zu. „Aber die beiden gehören eben auch zu Daisys Familie. Und ganz gleich, wie sie mich oder Niall behandelt haben, wenn es der Großmutter nicht gut geht, müssen wir hinfliegen.“

„Ich kann mir vorstellen, dass man Conan nur schwer etwas abschlagen kann“, sagte ihre Mutter. „Ich habe ihn nur ein einziges Mal getroffen, damals …“ Sie meinte die Hochzeit. „Aber vor Kurzem habe ich in einer englischen Zeitung ein Foto von ihm entdeckt. Er sieht ziemlich gut aus, nicht? Vielleicht nicht unbedingt so gut wie Niall, aber er hat so etwas Finster-Verschlossenes, das viele Frauen anziehend finden. Zumindest wirkte er auf dem Foto so“, fügte sie kichernd hinzu. „Vielleicht lag das auch daran, dass man ihn mit seiner neuesten Eroberung auf einem Flughafen erwischt hatte. Du weißt schon, diese Petra Soundso, die diese Promisendung im Fernsehen moderiert.“

„Petra Flax“, ergänzte Sienna, der die Fernsehschönheit mit den schwarzen Haaren durchaus bekannt war, obwohl sie sich für die Sendung nicht interessierte.

„Ich kann es kaum erwarten, unseren Freunden hier zu erzählen, dass unsere Tochter mit Leuten wie Conan Ryder verkehrt.“

„Mum!“, rief Sienna ins Telefon, um die Vorliebe ihrer Mutter wissend, gelegentlich einen berühmten Namen fallen zu lassen. „Ich wäre dir dankbar, wenn du das nicht tun würdest.“

„Sei nicht albern“, erwiderte Faith, die sich offenbar doch über die Nachricht freute, dass Sienna den Ryders einen Besuch abstatten wollte. „Ich bin stolz, dass meine Tochter einen Mann aus einer so illustren Familie geheiratet hat. Und du solltest es auch sein.“

„Ja“, seufzte Sienna resigniert. Ihre Mutter hatte sich schon immer gern im Glanz berühmter Menschen gesonnt.

„Hör nicht weiter auf deine Mutter. Sie meint es gut mit dir“, beruhigte Barry Swann, als er den Hörer übernahm, um mit seiner Tochter zu sprechen. „Ich weiß, du machst am liebsten alles mit dir selbst aus, aber vergiss nicht, dass wir immer für dich da sind, wenn du uns brauchst.“

Bei diesem schlichten Beweis der Zuneigung wurde Sienna warm ums Herz.

Sie hatte ihren Eltern aus Rücksichtnahme nie erzählt, wie es zu dem Bruch mit Nialls Familie gekommen war und welche Anschuldigungen Conan ihr an den Kopf geworfen hatte: Sie wäre nicht nur auf eine gute Partie aus gewesen, sondern hätte seinen Bruder auch noch schamlos betrogen. Wenn ihr Vater davon erfahren hätte, wäre er sofort angereist und hätte Conan zur Rede gestellt.

Aber was hätte sie ihnen auch erzählen sollen? Dass Conan auf gewisse Weise recht hatte? Immerhin hatte er sie, als er ihr die Nachricht von Nialls Tod überbrachte, tatsächlich in der Wohnung eines fremden Mannes angetroffen. Auch wenn sie aus einem ganz anderen Grund zu ihrem besten Freund geflohen war …

Bei dem Gedanken an die Wut und Trauer, die bei ihren Eltern aufkommen mussten, wenn sie jemals die Wahrheit erfuhren, lief ihr ein Schauer über den Rücken.

„Das ist lieb, Dad“, sagte sie dankbar und legte auf.

„Was ist das für ein Mann, mit dem du den Sommer verbringst?“, fragte Jodie Fisher. Sie hatte Sienna, die noch ein paar Erledigungen gemacht hatte, bevor Conan sie abholen kam, an der Haustür abgepasst.

„Er ist mein Schwager. Und ich verbringe den Sommer nicht ‚mit‘ ihm“, klärte Sienna ihre schwangere Nachbarin auf. „Also gut, ich verbringe den Sommer mit ihm, aber es ist nicht so, wie du denkst. Meine Schwiegermutter ist krank“, fuhr sie fort. Wenn sie daran dachte, wie die Frau sie wohl empfangen würde, wurde ihr mulmig zumute. Doch Jodie wollte sie das nicht anvertrauen, selbst wenn sie mit der Nachbarin befreundet war und diese oft auf Daisy aufpasste – wie auch heute. Aber Sienna hatte ihr nicht gesagt, wie ihre Beziehung zur Familie ihres verstorbenen Mannes aussah. Sie hatte Jodie lediglich erzählt, dass sie weit weg wohnten und sie sich nicht oft sahen.

„Du bindest mir doch keine Märchen auf, oder?“ Jodie starrte plötzlich auf die Straße. „Wow! Ist er das in dem BMW? Sag nichts, lass mich raten! Er biegt in die Einfahrt. Er ist es! Was würde ich für einen Schwager geben, der so aussieht!“

Warum nur fallen alle Frauen bei seinem Anblick fast in Ohnmacht? fragte sich Sienna und warf einen kurzen Blick über die Schulter. Allerdings musste sie beschämt feststellen, dass die Anziehungskraft des Mannes, der gerade hinter ihrem winzigen Auto einparkte, auch sie keineswegs kaltließ.

„Es ist nicht so, wie du denkst“, sagte Sienna noch einmal zu ihrer Freundin, die mit offenem Mund dastand. „Du glaubst, dass alle Menschen, die nicht so leben wie du, traurig und einsam sind. Aber als Single kann man durchaus glücklich sein.“

„Hör bloß auf!“, warf Jodie ein. „Du bist viel zu jung, um für immer allein zu bleiben.“

„Ich versuche nur, mich mit meinem Schicksal abzufinden“, gab Sienna zu. „Und wenn du denkst, dass ich mich mit Nialls Bruder einlassen würde, dann hast du dich geirrt. Er ist viel zu arrogant, anmaßend und überheblich, als dass er für mich nur annähernd infrage käme.“ Sie sah Jodie an. „Was ist los …?“

Jodie schnitt wilde Grimassen, gab aber keine Antwort, sodass Sienna fortfuhr. „Da, wo andere ein Herz haben, sitzt bei ihm ein Eisblock. Selbst wenn er der letzte Mann auf der Welt wäre, würde ich nicht mit Conan Ryder schlafen … Was ist denn?“

Jodie sah sie durchdringend an. Plötzlich begriff Sienna, was ihre Nachbarin ihr sagen wollte, denn wie immer, wenn Conan in der Nähe war, bekam sie, Sienna, eine Gänsehaut. Und dann hörte sie auch schon seine tiefe Stimme. „Keine Angst. In meinem Haus in der Provence gibt es so viele Zimmer, dass wir uns keines mit den Gästen teilen müssen.“

Auch wenn die Worte kühl hervorgebracht waren, spürte Sienna seinen warmen Atem an ihrem Ohr – wie ein unbeabsichtigtes Streicheln. Vielleicht ist es gar nicht unbeabsichtigt, dachte sie. Sie traute ihm zu, dass er zu jedem Trick greifen würde, nur um sie zu verunsichern.

Plötzlich fiel ihr ein, dass sie die Nachbarin nicht vorgestellt hatte. Doch bevor sie die Sprache wiedergefunden hatte, streckte Jodie ihm schon die Hand entgegen.

„Ich bin Jodie Fisher.“ Mit strahlendem Lächeln musterte sie den gut aussehenden Mann, dessen bronzefarbene Haut aus dem Ausschnitt des cremeweißen Hemdes hervorlugte und dessen lange Beine in einer dunklen maßgeschneiderten Hose steckten. Jodie errötete. Selbst eine glücklich verheiratete, hochschwangere Frau giert nach seiner Aufmerksamkeit, dachte Sienna verzweifelt.

„Das Vergnügen liegt ganz auf meiner Seite, Jodie.“ Er war die Liebenswürdigkeit in Person. Seit Sienna ihn kannte, hatte er sie noch nicht ein einziges Mal so freundlich angelächelt.

„Also, ich gehe jetzt wieder in meine bescheidene Hütte …“ Noch immer lächelnd, zeigte Jodie auf das hübsch gestrichene Haus auf dem Nachbargrundstück. „Daisy ist mit Shadow im Garten“, sagte sie zu Sienna. „Ich wünsche dir viel Spaß.“ Der Blick, den sie dabei Conan zuwarf, ließ keinen Zweifel daran, was sie damit meinte.

„Wir gehen besser rein.“ Jetzt war Sienna mit ihm allein. „Wir sind fast fertig.“

Durch die Küche gelangten sie in den Garten. Daisy stand an einem kleinen Tisch und plapperte fröhlich mit einem rosa Nilpferd, das vor ihr auf einem winzigen Stuhl saß, während der Hund zu ihren Füßen lag und ihr aufmerksam lauschte.

„Du hast keine Bedenken, ein vierjähriges Kind mit diesem Tier allein zu lassen?“, fragte Conan entsetzt.

„Nein. Warum sollte ich?“, entgegnete Sienna. „Das ‚Tier‘, wie du Shadow nennst, ist lammfromm!“

Verärgert über seine Frage, musste sie sich auf die Zunge beißen, um ihm nicht zu sagen, dass er sich nicht in ihre Angelegenheiten mischen sollte. Stattdessen rief sie ihre Tochter: „Komm her, Mäuschen! Ich will dir jemanden vorstellen.“

Das kleine Mädchen nahm das Nilpferd und lief zu ihnen.

„Erinnerst du dich an … Mr. Ryder?“, fragte Sienna zögernd. „Onkel Conan“, wollte einfach nicht über ihre Lippen kommen.

Schüchtern starrte das Mädchen zu ihm hoch. Schließlich fragte sie: „Bist du mein Daddy?“ Siennas Herz zog sich zusammen. Daisy konnte sich kaum an ihren Vater erinnern.

Conan ging in die Knie und sah das kleine Mädchen lange an. Sie war das Ebenbild des vierjährigen Niall! Der kastanienbraune Schopf, der stämmige kleine Körper, die neugierigen Augen …

Das Gefühl in seiner Brust war erdrückend. Doch er riss sich zusammen und antwortete leise: „Nein, Daisy, ich bin nicht dein Daddy.“

Bildete Sienna sich das nur ein, oder hatte seine Stimme leicht gezittert? Erstaunt bemerkte sie, dass sie aufmerksam die starken Hände betrachtete, die die kleinen Ärmchen ihrer Tochter hielten. Daisy war das Kind seines verstorbenen Bruders, und zum ersten Mal erkannte Sienna, wie viel Schmerz es Nialls Familie bereitet haben musste, von dem Mädchen getrennt zu sein.

„Das ist der Bruder von deinem Daddy. Dein Onkel Conan. Ich habe dir doch erzählt, dass wir heute eine kleine Reise mit ihm machen, weißt du noch?“ Die Sonne verfing sich in Daisys Locken, als diese eifrig mit dem Kopf nickte. „Er nimmt uns mit in sein Ferienhaus, damit du deine Großmutter besuchen kannst.“

Daisy sah zu dem Hund, der es dieses Mal vorgezogen hatte, den unfreundlichen Fremden nicht zu begrüßen. „Kommt Shadow auch mit?“

„Ja, Shadow kommt auch mit“, wiederholte Sienna. Dabei schaute sie Nialls Bruder herausfordernd an. Er mochte ihren Hund nicht? Pech gehabt!

„Was ist mit Nilpferdi? Darf der auch mit?“

„Aber natürlich“, sagte Sienna liebevoll. Was mochte Conan denken, dessen Blick jetzt von seiner Nichte zu dem abgegriffenen Spielzeug wanderte?

Erinnerte er sich daran, dass er es Daisy zu ihrem ersten Geburtstag geschenkt hatte? Damals hatte er eine Flasche Champagner mitgebracht. Ein Geschenk für Niall und Sienna zum zweiten Hochzeitstag. Niall hatte wenige Minuten zuvor angerufen gehabt, um sich zu entschuldigen, weil er es nicht rechtzeitig zu Daisys Geburtstag schaffen würde. Über ihr eigenes Jubiläum hatte er kein einziges Wort verloren. Sie erinnerte sich daran, wie verletzt sie damals gewesen war. Aber Niall hatte einfach viel arbeiten müssen, um seiner kleinen Familie ein schönes Leben zu ermöglichen. Als er dann kurz nach Mitternacht nach Hause gekommen war und den Champagner gesehen hatte, war er vollkommen zerknirscht gewesen. Am nächsten Tag hatte er sich mit Blumen und Pralinen bei Sienna entschuldigt und geschworen, den Hochzeitstag nie wieder zu vergessen …

Während sie mit dem Aufruhr der Gefühle in ihrem Innern kämpfte, sah sie, dass Conan die Lippen fest aufeinanderpresste. Er hatte das Geschenk wiedererkannt. Doch dann stand er abrupt auf und sagte kalt: „Können wir jetzt los?“

3. KAPITEL

Vom Wartesaal erster Klasse über den luxuriösen Privatjet bis hin zur Limousine mit Chauffeur, die vor dem Flughafen auf sie gewartet hatte, war die Reise so angenehm, wie es nur Superreichen vorbehalten war. Gleich mehrere Stewardessen hatten Sienna und Daisy im Flugzeug jeden Wunsch von den Augen abgelesen, während Conan mit seinem Laptop in einem separaten Abteil gearbeitet hatte. Sogar Shadow hatte in seiner kleinen Transportbox fast den gesamten Flug über geschlafen, als würde es ihm nichts ausmachen, in Tausenden Metern Höhe zu fliegen.

Nach der überaus sanften Landung fuhren sie nun durch abgelegenes Privatland, an dessen Horizont das Meer glitzerte.

Eine andere Welt, dachte Sienna, während sie durch das Fenster die hoch aufragenden Pinien bewunderte, die der Landschaft das besondere Flair verliehen und abgelegene Villen vor neugierigen Blicken schützten. Diese Welt war so anders als alles, was sie von zu Hause kannte. Ein Rückzugsort für Multimillionäre.

Als das Auto das Tempo drosselte, um durch ein elektronisches Tor zu Conans Anwesen abzubiegen, hielt Sienna überwältigt den Atem an. Vor ihr lag ein üppig bewachsener Park, dessen Mittelpunkt eine herrschaftliche weiße Villa mit einem Dach aus roten Terrakottaziegeln bildete. Eine wahre Blumenpracht zierte die Balkone des oberen Stockwerks, und die großen Fensterfronten im Erdgeschoss mussten einfach traumhafte Ausblicke auf die zerklüftete Küste bieten.

Conan saß neben dem Chauffeur und sprach fließend Französisch mit ihm. Seit ihrer Ankunft am Flughafen hatte er mit ihr allerdings kaum ein Wort gewechselt.

Bewundernd betrachtete sie sein markantes Profil, das einer antiken Marmorstatue glich. Aber sie schwor sich, dass er niemals erfahren würde, wie überwältigt sie von seinem Reichtum und dem wundervollen Haus war – und von ihm!

Daisy, die in einem Kindersitz auf der Rückbank neben ihr saß, kannte solchen Bedenken nicht, sondern rief begeistert: „Ist das dein Haus, in dem wir wohnen werden?“

„Ja, Daisy.“ Conans Stimme klang bestimmt.

„Für immer und ewig?“

Ohne auf Siennas besorgten Blick zu achten, lachte Conan auf. „Ich glaube, selbst du würdest dich eines Tages hier langweilen.“

„Nein, bestimmt nicht“, erwiderte das kleine Mädchen. Als wäre ihre Mutter noch nicht peinlich genug berührt, fügte sie freudig hinzu: „Wirst du bei uns wohnen?“

Obwohl die Frage nur ein Ausdruck von Daisys kindlicher Unschuld war, musste Sienna dem Ganzen schnell ein Ende setzen. „Wir sind nur für die Ferien hier. Nur für ein paar Wochen.“

Conans Miene nahm kurz einen harten Zug an, doch dann kamen ein paar Angestellte aus dem Haus, um sich um die Koffer zu kümmern und Shadow aus dem hinteren Teil des Wagens zu entlassen, und er verkniff sich einen Kommentar.

Bevor er ihr die Tür öffnen konnte, war Sienna ausgestiegen und nahm Daisys Hand, damit das Kind nicht davonlief. Vielleicht brauchte sie ihre Tochter aber auch selbst als Halt, weil Sienna plötzlich bewusst wurde, dass sie nun ganz allein auf dem Territorium der Ryders war.

Zu ihrer Überraschung riss sich Daisy los, lief zu Conan und ergriff die Hand des Onkels.

Die Sympathiebezeugung traf ihn völlig unvorbereitet. Er sog hörbar die Luft ein, straffte die Schultern und betrachtete das kleine Gesicht, das ihn anstrahlte, mit einer Mischung aus Überraschung und Widerwillen.

„Wie komme ich denn zu der Ehre?“

Als wäre Daisy sich mit einem Mal nicht mehr sicher, was sie von dem fremden Mann halten sollte, ließ sie dessen Hand los. Trotzdem lief sie aufgeregt neben ihm her und schüttelte den Arm der Mutter ab, die sie zurückhalten wollte.

„Gewöhn dich daran, Sienna“, flüsterte Conan, sodass es sonst niemand hören konnte. „Du hast sie lange genug für dich allein gehabt. Nun finde dich damit ab, dass sie noch eine andere Familie hat. Und wenn du meiner Mutter gegenüber deine Zunge ein wenig im Zaum halten könntest, wäre ich dir äußerst dankbar. Wie ich schon sagte – sie ist sehr krank.“

Seine herablassende Art ärgerte Sienna, auch hätte sie ihm gern gesagt, dass sie diejenige gewesen war, die sich die abfälligen Bemerkungen von Avril Ryder hatte anhören müssen. Doch sie entschied, dass es besser wäre, Konfrontationen zu vermeiden, und schwieg.

Stattdessen rief sie nach Shadow, der bereits an einem der Marmorpfeiler am oberen Ende der Treppe schnüffelte. Glücklicherweise gehorchte der Hund und kam sofort angelaufen.

Als Sienna sein Fell kraulte, spendete ihr das Trost, und sie sprach beruhigend auf ihn ein, während sie ihm die Leine umlegte.

Sobald sie das Haus betreten hatten, nahm ein Angestellter Sienna den Hund ab. Jetzt überkam sie das unangenehme Gefühl, Conan Ryder mit Haut und Haar ausgeliefert zu sein.

„Keine Sorge, man wird sich hervorragend um ihn kümmern“, beruhigte er sie.

„Er braucht besondere Pflege“, erwiderte Sienna. „Er wurde misshandelt, bevor er ins Tierheim kam. Und er isst gern Tomatensuppe und schläft bei mir im Bett, weil er nicht gern im Dunkeln allein bleibt.“

„Hilfe …“ Er verdrehte die grünen Augen verzweifelt gen Himmel. „Er ist ein Hund.“

Genau wie du. Sie verkniff sich die dumme Bemerkung. Conan war hart und immun gegen jede menschliche Regung. Das hatte sein Bruder immer von ihm behauptet, und die Art, wie er Niall behandelt hatte, sprach Bände. Durfte ein Tier da etwa auf Verständnis und Mitleid hoffen?

Eine junge Angestellte namens Claudette kam und führte Sienna und Daisy zu ihren Zimmern im ersten Stock. Jeder Raum verfügte über ein eigenes großzügiges Bad und spiegelte den Stil des Hauses wider: hell und geräumig, mit einer geschmackvollen weißen Einrichtung. Daisys Zimmer war etwas kleiner, und die Überdecke des Bettes sowie die Fensterrahmen waren mit kleinen rosa Blümchen verziert. Sienna hatte fast den Eindruck, als sei es speziell für das kleine Mädchen eingerichtet worden.

Als sie wenige Augenblicke später die Treppe hinuntergingen, erwartete Conan sie in der großen Halle mit dem Marmorfußboden. Wie bei der Ankunft lief Daisy sofort auf ihn zu.

Als die kleine Hand nach seiner griff, spürte Conan wieder diesen Anflug von Abwehr – als würden sich seine Gefühle verhärten. Aber das kleine Mädchen strahlte ihn an – völlig unbeeindruckt von seinem Versuch, sie abzuschrecken. Und nach kurzem Zögern warf er ihr ein flüchtiges Lächeln zu, bevor er Sienna unergründlich ansah.

War es Triumph in seinen Augen? Sie war sich nicht sicher. Schließlich klangen seine Worte, dass sie Daisy nun nicht mehr für sich allein hatte, noch in ihren Ohren nach.

Aber Conans Blick sorgte auch dafür, dass sich ihr Puls beschleunigte, als er ihn unverhohlen über ihr frisch gebürstetes Haar und das leichte Sommerkleid wandern ließ. Schnell trat sie auf die Sonnenterrasse, hinter der sich der Garten bis zum glitzernden Meer erstreckte.

Avril Ryder saß in einem Liegestuhl in einer überdachten Ecke der Terrasse, die Blumen in dem Laubengang dahinter verströmten einen betörenden Duft. Eine cremefarbene Decke lag über ihren Beinen, und Siennas Schwiegermutter wirkte deutlich dünner als bei dem letzten Zusammentreffen. Auch die Haare, die unter dem breitkrempigen Hut hervorlugten, waren grauer geworden.

„Oh, da seid ihr ja.“ Das Lächeln, das sie Conan schenkte, wich aus ihrem Gesicht, als sie den Kopf drehte und Sienna hinter dunklen Brillengläsern musterte. Ohne ein Wort an ihre ehemalige Schwiegertochter zu richten, wandte sie ihre Aufmerksamkeit Daisy zu, die noch immer Conans Hand hielt. „Endlich!“ Ihre Miene wandelte sich, als wäre die Sonne nach einem langen harten Winter endlich hervorgekommen. Ihr Lächeln war warm und aufrichtig und verlieh ihrem wächsernen Gesicht einen Hauch von Leben. „Komm her, mein Kind. Lass dich anschauen.“

Daisy lief ohne zu zögern zu ihr und ließ sich in die dünnen Arme schließen. Viel zu dünn, dachte Sienna, schockiert von dem Anblick der älteren Frau. Kein Wunder, dass sich Conan solche Sorgen machte. Ihr wurde bewusst, dass er wesentlich beunruhigter sein musste, als er zugab.

Dennoch murmelte sie teilnahmslos: „Daisy, das ist deine Großmutter.“

Das Mädchen kicherte und fragte: „Warum hast du so einen komischen Hut auf?“

Sienna biss sich auf die Unterlippe und erwartete, dass Avril ihren blassen Mund streng verziehen würde. Doch stattdessen flog ein Lächeln über ihre Züge. „Damit mir die Sonne nicht auf den Kopf scheint. Der Hut ist zwar nicht besonders hübsch, aber er erfüllt seinen Zweck.“

Das Kind dachte einen Augenblick nach. „Willst du auch meine Großmutter sein?“, fragte sie. „Ich habe mir immer zwei gewünscht. Meine Freundin Zoe hat auch zwei. Gehst du mit mir an den Strand wie Tante Nanny?“

Sienna hätte schwören können, dass sie Tränen in den Augen hinter der Sonnenbrille schimmern sah, als Avril zu ihr blickte.

„So nennt sie meine Mutter“, erklärte sie mit leichtem Schulterzucken. Mit achtundvierzig Jahren fühlte sich Faith Swann viel zu jung, um als Großmutter angesprochen zu werden.

„Und du, Sienna …?“ Mit einer knochigen Hand strich sie über Daisys Locken und betrachtete das Mädchen, als könne sie von dem Anblick nicht genug bekommen. Sienna spürte einen Stich. Bestimmt war Avril die Ähnlichkeit mit ihrem verstorbenen Sohn nicht entgangen. „Wie geht es dir?“

„Gut.“ Siennas Antwort kam zögernd. Das war nicht mehr die Frau, die ihr immer wieder zu verstehen gegeben hatte, dass sie nicht gut genug für Niall wäre.

„Ich glaube, wir sollten die beiden einen Moment allein lassen, was meinst du?“ Sienna zuckte zusammen, als Conan ihren Ellbogen berührte. Dann flüsterte er in ihr Ohr: „Du hast doch wohl nichts dagegen?“

„Nein“, erwiderte sie, „natürlich nicht.“

„Gut.“ Er bedeutete ihr, ihm in den Laubengang zu folgen.

„Ich hatte keine Ahnung, dass deine Mutter so … angegriffen ist“, sagte sie betroffen. „Wird sie wieder gesund?“

„Das hoffe ich sehr.“ Seine Anspannung war nun nicht mehr zu übersehen.

„Vielleicht hilft es ja, dass Daisy jetzt bei ihr ist?“, sagte sie. Wieder spürte sie Gewissensbisse, weil sie den Kontakt zu Nialls Familie abgebrochen hatte.

„Ja.“ Antwortete er einsilbig. „Und du, Sienna? Was hast du in den letzten drei Jahren getrieben?“

Sie zuckte die zarten Schultern. „Dies und das. Ich habe meine Prüfung als Fitnesstrainerin abgelegt und gelegentlich Mum und Dad besucht.“

„In Spanien.“

Offensichtlich hatte er sich vorher über ihre Familie informiert. In den Augen der Ryders war sie nicht standesgemäß. Sie war die Tochter eines Tischlers, der seinen gesamten Besitz verkauft hatte, um an der Costa del Sol ein Lokal für englische Auswanderer zu eröffnen!

„Und was ist aus dem Mann geworden, bei dem du in der Nacht warst, als dein Ehemann gestorben ist?“ Sein Tonfall war schneidend und stand in krassem Gegensatz zu dem betörenden Anblick der vielen weißen Rosen, die ihren Weg säumten.

„Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich lieber nicht darüber reden“, wich Sienna aus und wandte den Kopf ab.

Ihr Profil, bemerkte er, ist stolz und herausfordernd. Wieder spürte er das Verlangen in seinem Blut, das er schon immer für die Ehefrau seines verstorbenen Bruders empfunden, aber mit aller Macht bekämpft hatte.

„Das kann ich mir vorstellen.“

Als sie wieder in seine Richtung sah, wirkte sie beinahe gleichgültig, nur ihre rosigen Lippen waren zu einem sexy Schmollmund verzogen. Conan spürte das unbändige Bedürfnis, sie mit seinem Mund in Besitz zu nehmen.

Sienna zuckte gleichmütig die Schultern, als hätte sie mit der Vergangenheit für immer abgeschlossen. Durch die Bewegung rutschte der Träger ihres Kleides etwas nach unten.

Sienna wollte ihn hochschieben, doch Conan kam ihr zuvor. Beide hielten den Atem an.

„Vielen Dank“, murmelte sie, denn die leichte Berührung seiner Hand hatte sie wie ein Stromschlag getroffen.

„Wann hast du das machen lassen?“ Er meinte die Tätowierung auf ihrer Schulter.

„An meinem achtzehnten Geburtstag.“

Um seine Mundwinkel zuckte es. „Bevor du dich eines Besseren besinnen konntest?“

Sie ging nicht weiter auf seinen Kommentar ein. Auch die Tätowierung betrachtete er also als Kritikpunkt.

„Daisy ist sehr lebhaft“, sagte sie plötzlich, weil sie den dringenden Wunsch verspürte, Conan zu entkommen. „Hältst du es wirklich für eine gute Idee, wenn wir sie so lange mit Avril allein lassen?“

„Bist du um das Wohl meiner Mutter besorgt?“ Unter dichten Wimpern sah er sie amüsiert an. „Oder um dein eigenes?“

Sie musste schlucken. Gütiger Himmel, diesem Mann entging auch gar nichts!

„Warum sollte ich um mein Wohl besorgt sein?“, fuhr sie ihn an.

„Warum bist du immer so nervös, wenn du mit mir allein bist?“

„Ich bin nicht nervös.“ Wem wollte sie etwas vormachen? „Warum sollte ich nervös sein, wenn ich mit dir allein bin?“

„Sag du’s mir.“

Die warme Sonne auf ihrer Haut bereitete ihr eine Sinnesfreude, die ihr im Moment gar nicht behagte.

„Liegt es daran, dass ich als Einziger dein Geheimnis kenne?“

„Mein Geheimnis?“

Ihr Tonfall verriet ihre Beunruhigung. Conan sah sie aufmerksam an. Was hatte sie in den zweieinhalb Jahren Ehe mit seinem Bruder sonst noch zu verbergen gehabt?

„Ich bin der Einzige, der weiß, was für eine Frau du in Wirklichkeit bist.“

„Du denkst, dass du es weißt“, korrigierte sie ihn.

Er musterte sie kalt. „Deine angeblichen Shopping-Ausflüge nach London und die Museumsbesuche dienten doch nur dazu, deine Affäre zu vertuschen.“

Röte stieg ihr ins Gesicht. „Das wolltest du glauben. Du hast dir keine meiner Erklärungen angehört.“

„Du meinst, dass du und dieser Timothy Leister nur gute Freunde wart?“ Er lachte bitter. „Was für eine billige Ausrede!“

„Nein, wir waren viel mehr als das.“ An dem harten Zug um seinen Mund erkannte sie, dass sie ihn provoziert hatte und er gleich aus der Haut fahren würde.

Ihn noch weiter zu reizen wäre unklug gewesen, und so sagte sie nur: „Ich bin Niall nie untreu gewesen. Ich habe ihn geliebt!“

„Du nimmst es mir wohl nicht übel, wenn ich den Wahrheitsgehalt dieser Aussage anzweifle. Schließlich wissen wir beide, wie gern du Lügen erzählst.“

Schweigend gingen sie weiter. Plötzlich hielt Conan mit einer Zuvorkommenheit, die so gar nicht zu seinem anklagenden Tonfall zuvor passen wollte, einen Oleanderzweig zur Seite, der über dem Weg hing.

Als Sienna darunter hindurchschlüpfte, spürte sie, wie Conans Arm ihr Haar leicht streifte. Die Berührung war elektrisierend.

„Es gibt noch einen anderen Grund.“

„Einen anderen Grund wofür?“ Sie riss den Blick von dem türkisblauen Swimmingpool los, den sie im Garten entdeckt hatte, und sah Conan an.

„Dafür, dass du zu jeder erdenklichen Ausrede greifst, um nicht eine Sekunde mit mir allein verbringen zu müssen.“

Mit klopfendem Herzen antwortete sie: „Ich mag deine Gesellschaft nun einmal nicht.“

„Schon klar. Aber es ist nicht nur meine Gesellschaft, die dir Unbehagen bereitet, habe ich recht?“

Was sonst? fragte sie sich und schaute zum Meer mit den vielen weißen Segelbooten. Selbst während ihrer Ehe mit seinem Bruder hatte Conans Anwesenheit sie nervös gemacht. Es war diese fast schon animalische Energie, die aus jeder seiner Poren zu strömen schien, dazu sein rätselhafter Charakter und die durchdringenden grün-goldenen Augen, die sie bis auf den Grund zu durchschauen schienen.

Dennoch murmelte sie: „Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst.“

„Nein?“ Sein Lächeln war verwegen und unwiderstehlich. „Ich denke, das tust du doch. Ich spreche von Sex.“

„Sex?“ Sie lachte auf. „Mit dir?“ Bei dem Gedanken verzog sie angewidert das Gesicht, obwohl ihr Körper das Gegenteil signalisierte.

Conan wirkte vollkommen selbstsicher. „Wenn du so willst.“ Er schien ihr Unbehagen sichtlich zu genießen. „Ich rede von der Chemie zwischen uns, auch wenn es seltsam erscheint. Aber seit wann heißt körperliche Anziehung, dass man den anderen mögen oder gar respektieren muss? Denn ich weiß ja, dass du ebenso wenig Achtung für mich empfindest wie ich für dich.“

„Dann ist ja alles in Ordnung“, entgegnete sie scharf. „Ich lasse mich nämlich für mein Leben gern mit solchen Männern ein, die ich nicht ausstehen kann!“

„Oder mit solchen, die dir genug Luxus bieten, bis du ein zahlungskräftigeres Opfer gefunden hast.“

„So wie ich es deiner Meinung nach mit Niall gemacht habe, oder?“

„Mein Bruder war verrückt nach dir.“

„Ja“, gab sie zu und schloss betroffen die Augen.

Niall war verrückt nach ihr gewesen. Manchmal hatte sie sich nahezu erdrückt gefühlt von seinen Besitzansprüchen, die lediglich seiner Unsicherheit entsprangen. Er hatte sie vorzeigen, mit ihr angeben wollen und sie auf ein so hohes Podest gestellt, dass sie Angst hatte, herunterzufallen. Manchmal hatte sie sich gefühlt wie eine Trophäe, mit der Niall den Mann beeindrucken wollte, mit dem er sich in ständiger Konkurrenz sah: seinen vermögenderen und wesentlich erfolgreicheren älteren Bruder.

Als Conan den Schmerz, der sich auf ihrem Gesicht widerspiegelte, bemerkte, zeichnete sich eine tiefe Falte auf seiner Stirn ab. Hatte sie vielleicht doch die Wahrheit gesagt? Hatte sie seinen Bruder wirklich geliebt? Oder quälte sie ganz einfach die Reue?

„Gewissensbisse, Sienna?“ Er legte die Hand in ihren Nacken und hörte, wie sie den Atem anhielt.

„Was willst du damit erreichen?“ Ihre Stimme musste ängstlich geklungen und ihm verraten haben, dass sie vor sich selbst am meisten Furcht hatte. Denn wieder hatte die bloße Berührung seiner Finger eine Welle der Erregung in Sienna ausgelöst. „Dass ich mich in dich verliebe, damit du mich abblitzen lassen kannst? Das wird niemals passieren!“

„Ich habe immer nach dem Prinzip gelebt, dass alles möglich ist.“ Ein selbstgefälliges Lächeln umspielte seine Lippen. „Wir wissen doch beide, dass ich dich nie kaltgelassen habe.“

Erschrocken sah sie ihn an. „Du musst etwas falsch gedeutet haben!“

„Ach ja?“

Sicherlich hatte er auf die Firmenfeier angespielt, zu der sie Niall begleitet hatte. Niall hatte den ganzen Abend mit einem Kunden an der Bar gestanden, um einen Vertrag zu besiegeln. Conan war zu dem Tisch gekommen, an dem sie allein gesessen hatte, um sie zum Tanz aufzufordern – aus reiner Höflichkeit, wie sie annahm.

In dem dunklen Abendanzug, mit weißem Hemd und schwarzer Fliege hatte er besonders spektakulär ausgesehen: so elegant und selbstbewusst. Ein Mann, den man nicht abweisen durfte.

Sienna erinnerte sich gut an das Gefühl, als er seinen Arm um sie gelegt und sie zur Tanzfläche geführt hatte. Mit jeder Faser ihres Körpers hatte sie auf die Wärme seiner Hand reagiert, die sich beinahe durch den dünnen Stoff ihres Kleides brannte.

„Die verräterische Röte auf den hübschen Wangen …“ Conans Worte brachten sie in die Gegenwart zurück. Er schien ihr Schweigen als Freibrief zu werten, die Linie ihres Gesichts mit einem Finger nachzuzeichnen. Sie wies ihn nicht zurück, gebannt von einer Sinnlichkeit, die so gefährlich wie verführerisch war. „Das nervöse Stammeln, das über die verlockenden Lippen kam.“

Ich fühlte mich erbärmlich! Beschämt! Aber es gab gute Gründe. Für alles, was ich getan habe, gab es gute Gründe!

Aber sie hatte geschworen, ihm nichts zu verraten.

Sag niemandem ein Sterbenswort! Für einen kurzen Moment hallten Nialls Worte in ihrem Kopf nach – ängstlich und beschwörend. Versprich mir, dass du es niemandem erzählst! Vor allem nicht Conan!

Sie hatte es Niall geschworen und würde Wort halten. Für immer.

Entschlossen blickte sie Conan in die Augen und zwang sich zu sagen: „Du hältst dich wohl für unwiderstehlich, oder? Aber das bist du nicht.“

Er lachte leise auf und nahm ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. Ihre Nasenflügel bebten leicht, doch sein Blick blieb an den Wimpern hängen, die sich über die blauen Augen senkten. „Nein?“, flüsterte er, beinahe zärtlich.

„Hast du keine Angst, dass ich dich ausnehmen und in den Ruin stürzen könnte?“ Sie betonte jedes Wort.

Er lachte nur erneut. „Das würdest du niemals schaffen.“

Natürlich nicht. Dafür besaß er zu viele Millionen.

Plötzlich hörten sie von der Terrasse her ein Bellen, gefolgt von einem Kinderlachen.

„Geh und sieh nach deiner Tochter“, befahl Conan. „Aber vergiss nie … du spielst ein gefährliches Spiel. Mit mir kannst du nicht so umspringen wie mit meinem Bruder.“

Den Weg zurück rannte sie beinahe, froh, sich um die einfachen Bedürfnisse von Daisy und Shadow kümmern zu können.

4. KAPITEL

Conan blickte von seinem Laptop auf und schaute aus dem Fenster seines Arbeitszimmers. Die Tabellenkalkulation auf seinem Rechner war nicht annähernd so interessant wie die Szene, die sich neben dem Swimmingpool abspielte.

Mit knappem weißem Bustier und Shorts bekleidet, machte Sienna ihr Workout. Daisy saß im Schatten eines Sonnenschirms und malte auf einem Zeichenblock. Der haarige Vierbeiner lag direkt daneben, wie Conan angewidert entdeckte.

Seine Nichte wirkte etwas stämmig, genau wie ihr Vater. Bei dem Gedanken wurden Conans Züge etwas weicher. Sie würde niemals die zierliche Figur ihrer Mutter haben, war aber ein wohlerzogenes nettes Kind. So viel hatte er seit ihrer Ankunft vor zwei Tagen mitbekommen. Und wenn Sienna sich in irgendeiner Form nicht ausreichend um sie kümmerte, so merkte man es dem Kind nicht an.

Zumindest das sprach für ihre Mutter, wenn auch sonst nichts weiter. Allerdings musste er überrascht feststellen, dass sich sein Verlangen regte, sobald er an das nächste Aufeinandertreffen mit der Witwe seines Bruders dachte.

Oder lag es nur daran, wie sie sich gerade neben dem Pool bewegte? Sie hob ihre schlanken, wunderschönen Beine in die Luft, während ihr Oberkörper auf dem Boden lag, die festen Brüste deutlich sichtbar, da Sienna die Hände hinter den Kopf positioniert hatte.

In diesem Moment lief das kleine Mädchen auf sie zu. Sienna setzte sich auf und schob ihrer Tochter eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Die zärtliche Geste erinnerte Conan an damals, vor langer Zeit, als es nur seine Mutter und ihn gegeben hatte. Bevor Avril seinen Stiefvater geheiratet und Niall bekommen hatte – und sich alles für immer änderte.

Ob es ihm gefiel oder nicht, Sienna war sein Gast, und das Verhältnis zwischen ihr und seiner Mutter war in den letzten zwei Tagen mehr als angespannt gewesen. Wahrscheinlich war sie zum Pool gekommen, weil Avril ein Schläfchen hielt. Offensichtlich ging sie ihrer Schwiegermutter aus dem Weg, um den Kontakt möglichst gering zu halten. Das bedeutete allerdings, dass sie zu viel Zeit allein verbrachte. Dem wollte er nun ein Ende setzen.

Sienna stand breitbeinig neben dem Pool. An den Hand- und Fußgelenken trug sie leichte Gewichte und beschrieb mit dem linken Arm einen Halbkreis über dem Kopf, als sie Conan aus dem Haus kommen sah.

Er trug ein weißes Leinenhemd und helle Chinos. Aus dem Ausschnitt lugten einige Brusthaare hervor, weitere zeichneten sich dunkel unter dem Stoff des Hemdes ab. Die eng geschnittene Hose betonte seine schmalen Hüften und die muskulösen Schenkel. Er war von Kopf bis Fuß durchtrainiert, braungebrannt – männlich.

Als Daisy ihn bemerkte, sprang sie hoch und rannte mit dem Zeichenblock auf ihn zu.

Zunächst lächelte er nur zögerlich, doch dann ging er vor dem Mädchen in die Knie und ließ sich die Bilder zeigen. Begeistert nahm sie sein Lob entgegen, dann sagte er leise etwas in ihr Ohr, und sie machte sich auf den Weg ins Haus.

„Nimm den Hund mit, Daisy“, befahl er mit tiefer Stimme, und das Mädchen gehorchte mit einem Zungenschnalzen, das Shadow aufspringen und ihr folgen ließ.

Sienna beendete ihre Übung. Ihr Puls ging nach dem Workout immer etwas schneller, aber Conans Anblick ließ ihn rasen, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen.

„Lassen sich eigentlich alle Leute von dir herumkommandieren?“

Er lächelte ironisch. „Normalerweise schon.“

„Musst du nicht arbeiten?“, murmelte sie.

„Das habe ich schon“, sagte er und kam näher. Als sie wie gebannt von seiner Ausstrahlung reglos vor ihm stand, fügte er hinzu: „Von meinem Arbeitszimmer aus habe ich dich gesehen und mir überlegt, dass du nicht mehr so viel Zeit allein verbringen solltest.“

Sie lächelte nervös. „Hast du Daisy mit Süßigkeiten bestochen, damit sie ins Haus geht?“

„Wie kommst du nur darauf?“

„Ich glaube, dass du mit Bestechungen alles erreichst.“

Sein Lachen klang aufrichtig und warm. „Ich habe ihr nur gesagt, dass Claudette einen Kuchen zu ihrer Großmutter gebracht hat und Avril sich über Daisys Gesellschaft freuen würde.“

„Wie nett“, sagte Sienna. Sie war froh, dass ihre Tochter mit der neuen Großmutter gut zurechtkam.

Er beugte sich zu ihr hinunter, und Sienna hielt die Luft an.

„Darf ich?“

Sie nahm die Gewichte ab und gab sie ihm. Er wog beide in einer braungebrannten Hand.

Für einen Moment stellte sie sich vor, seine Hände würden ihren Körper so prüfend berühren. Sie musste verrückt sein …

„Ich will nicht gegen Mister Universum antreten“, sagte sie. Ihre Stimme klang schärfer als beabsichtigt.

„Das musst du gar nicht.“ Er ließ seinen Blick über ihren Körper gleiten – so wie sie sich zuvor seine Hände dort vorgestellt hatte. „Deine Figur ist perfekt.“

Sie wünschte, sie hätte einen BH angezogen, und wurde rot, denn ihre Brustwarzen drängten sich verdächtig hart gegen den dünnen Stoff ihres Oberteils.

„Das letzte Mal, als ich dich an einem Pool gesehen habe, trugst du einen Bikini von Dior“, sagte er. „Und unglaublich viel Goldschmuck.“

Den Schmuck hatte sie längst verkauft – genau wie den Sportwagen und die Luxusartikel, die Niall ihr geschenkt hatte. Schließlich hatte sie die Schulden begleichen müssen, die er ihr hinterlassen hatte.

„Das war nicht ich.“

„Ach nein?“ Dieses Mal klang sein Lachen nicht mehr so warm. „Deine Figur würde ich unter Tausenden erkennen, auch wenn du jetzt wesentlich besser … in Form bist.“

Sein prüfender Blick war elektrisierend. Er wanderte von ihren zart braunen Schultern über ihre trainierten, aber schlanken Arme und ruhte schließlich mit genussvoller Anerkennung auf ihren vollen festen Brüsten.

„Ich meine damit, dass nicht ich …“ Wie hätte sie ihm erklären sollen, dass sie den Schmuck als viel zu protzig empfunden hatte? Dass sie ihn nur angelegt hatte, um Niall eine Freude zu machen? Auch den unverschämt teuren Bikini hätte sie sich nicht im Traum selbst ausgesucht. „Damals war ich ein anderer Mensch“, sagte sie tonlos. „Das waren wir doch alle.“

Conan verzog nachdenklich den sinnlichen Mund, bevor er die Gewichte auf den kleinen Glastisch neben dem Pool legte.

„Waren wir das?“, fragte er. „Glaubst du wirklich, dass ein Mensch sich so schnell wandeln kann?“

„Nein, offensichtlich nicht!“, erwiderte sie, verletzt und wütend, dass er seine Meinung über sie niemals ändern würde. „Ich werde nicht hierbleiben, wenn du nur gekommen bist, um dich mit mir zu streiten!“

Sie wollte an ihm vorbei, aber der Tisch stand ihr im Weg. Als sie die andere Richtung einschlug, machte Conan einen Schritt zur Seite und baute sich vor ihr auf.

Autor

Lucy King
Lucy King lebte schon immer am liebsten in ihrer eigenen Welt, inmitten der bunten Liebesgeschichten von Mills & Boon. Bereits in der Schule schrieb sie lieber über glorreiche Helden und die Magie der Liebe, anstatt Mathematikaufgaben zu lösen. Ihrem ganz persönlichen Helden begegnete sie eines Morgens während eines einsamen Spaziergangs...
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<p>Julia James lebt in England. Als Teenager las sie die Bücher von Mills &amp; Boon und kam zum ersten Mal in Berührung mit Georgette Heyer und Daphne du Maurier. Seitdem ist sie ihnen verfallen. Sie liebt die englische Countryside mit ihren Cottages und altehrwürdigen Schlössern aus den unterschiedlichsten historischen Perioden...
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