Julia Weekend Band 127

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CINDERELLAS HEISSE NACHT von SUSAN MALLERY

Als Cinderella verkleidet will Cynthia auf einem Ball ihren Traummann Jonathan erobern. Schon beim ersten Tanz liegt sie in seinen Armen – stürmisch erwidert sie seine Küsse. Wie im siebten Himmel erlebt sie diese Nacht, aber ist es auch für Jonathan wirklich Liebe?

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  • Erscheinungstag 01.02.2025
  • Bandnummer 127
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532327
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Mallery

1. KAPITEL

„Du siehst wirklich wie Cinderella aus“, sagte die dreizehnjährige Jenny Morgan bewundernd, als sie ihre ältere Schwester im Spiegel betrachtete.

„Wenn du meinst.“ Cynthia Morgan lachte. „Jetzt fehlen mir nur noch die Mäuse!“ Sie breitete den Rock des aquamarinblauen Abendkleids aus, das sie beim Kostümverleih geholt hatte, und drehte sich graziös. „Und ein schöner Prinz wäre auch nicht schlecht.“

„Den wirst du finden“, sagte Jenny zuversichtlich. „Er wird dich nur ein Mal ansehen und sich auf der Stelle in dich verlieben.“

„Das will ich hoffen.“

Doch Cynthia glaubte nicht ernsthaft, dass sie viele gut aussehende Prinzen beim Wohltätigkeitsmaskenball in Grand Springs, Colorado, treffen würde. Erstens war Grand Springs nicht gerade ein Tummelplatz für Traummänner, und zweitens war sie keine wohlhabende Prinzessin. Heute Abend hatte sie ihre Haare hochgesteckt und mehr Make-up als üblich aufgetragen, was ihr hübsches Gesicht zur Geltung brachte, und sie sah in dem geliehenen Abendkleid ganz gut aus. Doch die oberen Zehntausend von Grand Springs würden zu dem Maskenball kommen, und da reichte ‚ganz gut‘ eben nicht aus, um einen außergewöhnlichen Mann zu beeindrucken. Erst recht nicht Jonathan Steele, den umschwärmtesten und reichsten Junggesellen der Stadt.

„Lass dich ansehen.“

Cynthia drehte sich zu ihrer Mutter um und lächelte, als sie bemerkte, wie stolz Betsy Morgan sie anblickte.

„Einfach bezaubernd“, verkündete Betsy.

Ich finde, sie sieht aus wie Cinderella.“

„Wisst ihr was?“, fragte Cynthia, als sie sich vorbeugte und einen Kuss auf die Wange ihrer Mutter hauchte. „Ich bin der glücklichste Mensch auf Erden, weil ich eine wundervolle Familie habe und heute Abend zu einem rauschenden Ball ins Grand Springs Empress Hotel gehen kann. Ich verspreche euch, dass ich euch morgen früh alles bis ins kleinste Detail erzählen werde.“

Betsy tauschte einen verschwörerischen Blick mit Jenny. „Nicht so schnell.“ Sie verschwand und kam gleich mit einer Schuhschachtel wieder zurück. „Hier ist eine Überraschung für dich.“

Cynthia starrte auf die Schachtel und sah ihre Mutter und ihre Schwester ungläubig an. „Sagt, dass das nicht wahr ist.“

Jenny strahlte. „Doch! Wir haben abgestimmt, und sogar Brad und Brett waren dafür. Sie haben genau die richtige Farbe, und du wirst toll darin aussehen, wenn du tanzt.“

Cynthia wandte sich an ihre Mutter. „Bist du sicher, dass du es wirklich willst? Sie sind doch nur für einen Abend.“

Betsy zuckte mit den Schultern. „Manchmal braucht man nicht mehr, um ein bisschen Farbe in sein Leben zu bringen. Und es sind doch nur Schuhe!“

Sie waren viel mehr als nur das, und Cynthia wusste es. Geld war knapp bei den Morgans. Cynthia hatte ihr letztes Geld geopfert, um sich ein Kleid für diesen Abend leihen zu können. Zwar gehörten ein Diadem und passender Modeschmuck zum Kleid, aber Schuhe waren nicht dabei gewesen. Sie hatte letzte Woche ein Paar Pumps im Sonderangebot entdeckt, und ihre Mutter hatte angeboten, das ‚Sparschwein‘ dafür zu schlachten – ein Marmeladenglas, worin sie das überzählige Kleingeld sammelten. Es wurde darüber abgestimmt, wofür das Geld geopfert werden sollte – wobei jeder in der Familie eine Stimme hatte. Normalerweise gingen sie davon essen oder ins Eiscafé.

„Ich kann es gar nicht fassen, dass ihr mir die Schuhe gekauft habt“, sagte Cynthia gerührt und öffnete die Schuhschachtel.

Sie zog die Schuhe an, die genau denselben Farbton wie ihr Kleid hatten, und sah sich im Spiegel an. Alle Morgan-Kinder waren blond und hatten – mit Ausnahme von Cynthia – die großen blauen Augen ihrer Mutter geerbt. Jenny war ein hoch aufgeschossener Teenager mit einer Zahnspange, doch in ein paar Jahren würde sie genauso hübsch wie Betsy sein. Die zehnjährigen Zwillinge Brad und Brett kamen mehr nach ihrem Vater und würden den Frauen bald über den Kopf wachsen.

Cynthias klare grüne Augen blickten ihr lächelnd aus dem Spiegel entgegen. Das geliehene Kleid roch leicht nach Mottenkugeln, und ihre armlangen Handschuhe waren unauffällig geflickt. Das Diadem bestand aus Zirkoniasteinen, und auch die Perlen um ihren Hals waren unecht, doch das spielte heute Abend keine Rolle.

„Ich fühle mich großartig“, verkündete Cynthia und griff nach ihrer kleinen Handtasche. „Wenn ich bis Mitternacht ausbleibe, wird sich mein Auto dann in einen Kürbis verwandeln?“

Betsy und Jenny begleiteten sie zur Tür. „Das ist ziemlich unwahrscheinlich, es ist sowieso schon ein Schrotthaufen“, bemerkte Betsy fröhlich. „Ein Kürbis wäre eine Verbesserung.“

Cynthia küsste beide zum Abschied. „Du hast recht. Mom, bitte bleib nicht wach, ich komme schon wohlbehalten wieder zurück.“

„Versprich mir, dass du wenigstens einmal mit dem schönsten Mann tanzt!“, rief Betsy ihrer Tochter nach.

„Ich werde es versuchen“, versprach Cynthia und winkte ihrer Mutter und ihrer Schwester fröhlich zu. Vor Aufregung und Vorfreude kribbelte es in ihrem Bauch. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie sehen, wie die oberen Zehntausend lebten. Und was noch wichtiger war, sie würde mit Jonathan Steele reden – zumindest hatte sie es sich vorgenommen.

„Ich kann es schaffen, ich kann es schaffen“, sang sie leise vor sich hin, als sie durch die dunklen Straßen von Grand Springs fuhr. Die Nacht war kühl und sternenklar, eine Nacht wie im Märchen – in der Träume wahr wurden. Der Gedanke, dass sie den großen Jonathan Steele treffen würde, versetzte Cynthia in Hochstimmung.

Vor zwei Jahren hatte sie einen Existenzgründungskredit bekommen, der aus einem Fonds von Jonathan Steele stammte. Der Milliardär stiftete der Stadt regelmäßig Gelder für einen guten Zweck, und damit hatte Cynthia ihre kleine Firma ‚Mother’s Helper‘ dank seiner Großzügigkeit erst aufbauen können. Der heutige Wohltätigkeitsball wurde ebenfalls von ihm gesponsert.

„Ich werde ganz einfach auf ihn zugehen und ihm danken. Ich werde freundlich aber kurz mit ihm reden und nicht stolpern, hinfallen oder vor Aufregung vergessen, was ich sagen wollte – oder sonst irgendetwas Peinliches tun.“

Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich schon Punsch über seinen teuren, maßgeschneiderten Smoking gießen und nahm sich vor, keinen Drink in der Hand zu halten, wenn sie mit ihm sprechen wollte.

„Vielleicht wird er sogar mit mir tanzen“, sagte sie verträumt und stellte sich vor, wie es sein würde, wenn sie in seinen starken Armen über die Tanzfläche schwebte. Er war so unverschämt gut aussehend. Groß, dunkelhaarig und …

„Und ich bin alles andere als standesgemäß für ihn“, sagte Cynthia zu sich selbst, als sie vor dem hell erleuchteten Grand Springs Empress Hotel vorfuhr. Jonathan Steele war ein Industriemagnat, der mit atemberaubend schönen, bezaubernden Frauen ausging. Sie hatte eine kleine, bescheidene Firma, die Babysitterservice anbot. Wenn sie großes Glück hatte, würde sie ihn kurz sprechen können, aber mehr nicht.

Ein Hotelpage sah sie skeptisch an, als sie vorfuhr. Cynthia warf einen Blick auf das luxuriöse Auto vor ihr und zuckte mit den Schultern. „Mein Zweitwagen ist natürlich besser“, scherzte sie, als sie aus dem Auto stieg und das Parkticket entgegennahm. „Aber den hier wird mir niemand klauen.“

Der Page, ein Mann etwa in ihrem Alter, rang sich ein Lächeln ab. „Was Sie nicht sagen.“ Er wies mit der Hand zur Glastür. „Der Ballsaal befindet sich links von Ihnen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend.“

„Den werde ich haben“, sagte sie zuversichtlich. Ihre Finger krampften sich um ihre kleine Stofftasche, und entschlossen ging sie hinein.

Jonathan Steele nahm ein Glas Champagner, das der Kellner ihm auf einem Tablett anbot, und nippte daran. Er betrachtete die Menschen, die in Grüppchen im riesigen Ballsaal verstreut standen, und sagte sich, dass es ein Fehler gewesen war, hierher zu kommen. Er war nicht in der Stimmung, den großzügigen Gastgeber zu spielen, und er hasste gesellschaftliche Veranstaltungen wie diese. Hier gab es zu viele Menschen, die nur auf geschäftliche Kontakte aus waren, zu viele Frauen, die der Meinung waren, dass er endlich heiraten sollte. Debütantinnen mit ihren hartnäckigen Müttern lauerten an jeder Ecke, und mehr verheiratete Frauen, als er zählen konnte, die ihn nur zu gern als Liebhaber hätten.

Doch der Anstand gebot, dass er sich sehen ließ, und daher war er gekommen. Doch so bald wie möglich würde er sich zurückziehen.

Er nippte wieder an seinem Glas und verschluckte sich fast an der prickelnden Flüssigkeit, als er ein ihm nur zu gut bekanntes Paar am anderen Ende des Ballsaals entdeckte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Resigniert stellte er das Glas ab und ging durch die Menge. Sein Blick war starr auf das dunkelhaarige, attraktive Paar gerichtet, das sich angeregt mit Freunden unterhielt. Der Mann war groß, fast genauso groß wie er. Seine Frau, ein etwas zu mageres ehemaliges Fotomodell in einem eng anliegenden schwarzen Kleid, trug einen hochmütigen Ausdruck auf ihrem spitzen Gesicht.

Er blieb neben seinem Halbbruder stehen und klopfte ihm auf die Schulter. „Ich muss dich kurz sprechen“, sagte er.

David drehte sich langsam mit ausdruckslosem Gesicht um. „Jonathan, welche Freude. Aber du bist ja der Sponsor dieses Balls, und somit ist es keine Überraschung, dich hier zu sehen.“

David Steele, sieben Jahre jünger als sein Bruder, war seit seiner Geburt nach Strich und Faden verwöhnt worden. Er hatte keine Ahnung, was es hieß, etwas von Grund auf aufzubauen, hart zu arbeiten und stolz auf das Erreichte zu sein. Stattdessen war er gewohnt, dass ihm alles in den Schoß fiel, und sehr zu Jonathans Ärger war das bisher immer der Fall gewesen. Doch jetzt stand eine wichtige Entscheidung an.

„Darling, bitte entschuldige mich“, sagte David zu seiner Frau und küsste ihre Wange. „Ich bin gleich zurück.“

Lisa Steele bedachte ihren Schwager mit einem kühlen Lächeln. „Halte ihn nicht zu lange auf, Jonathan. Ohne ihn bin ich verloren.“

„Es wird nicht lange dauern“, versprach Jonathan. Er nahm Davids Arm und führte ihn quer durch den Ballsaal zu einer Nische, wo sie ungestört sprechen konnten. Beide Männer waren über einsfünfundachtzig groß und äußerst attraktiv.

„Es geht um Hank, unseren Buchhalter“, sagte Jonathan ohne Umschweife. „Ich habe Beweise dafür, dass er das Geld in der Firma unterschlagen hat. Er hat unter vier Augen alles zugegeben und mich angefleht, ihm noch eine Chance zu geben. Was er nicht weiß, ist, dass ich Nachforschungen über ihn angestellt habe. Offenbar leidet er an Spielsucht und hat sich mit ein paar ganz üblen Typen eingelassen, die nun seine Schulden eintreiben wollen und dabei alles andere als zimperlich sind.“

David lächelte gelangweilt. „Wundervoll. Dann ist die Sache ja damit erledigt. Was willst du noch von mir?“

Jonathan seufzte. Sein Bruder machte es sich wie immer einfach. „Ich habe noch keine Strafanzeige erstattet, denn wenn die Medien davon Wind bekommen, werden sie Steele Enterprises mit diesen zwielichtigen Gaunern in Verbindung bringen. Das könnte unserem Ansehen außerordentlich schaden. Darüber wollte ich vorher mit dir sprechen.“

David zog die dunklen Augenbrauen hoch. „Jonathan, mein Lieber, ich habe volles Vertrauen zu dir. Du wirst schon alles richtig regeln.“ Er winkte einen Kellner zu sich und nahm ein Glas Champagner. „Wenn du mich nun entschuldigst …“ Und damit war er verschwunden.

Ärger stieg in Jonathan hoch. Sein Bruder gab sich wirklich nicht die geringste Mühe, ihn in irgendeiner Weise zu unterstützen. Der Tiefpunkt ihrer Beziehung war erreicht, als ihr Vater David den Familienbesitz vererbt hatte, obwohl er genau wusste, dass er Jonathan am Herzen lag. Der alte Steele hatte noch vom Grab aus ein Zeichen gesetzt. Und David schlug in die gleiche Kerbe, als er Jonathan Haus und Grund für viel Geld anbot. Jonathan wusste, dass dies nicht nur aus Taktlosigkeit geschah, sondern auch deshalb, weil David seinen aufwendigen Lebensstil nicht durch Arbeit finanzieren wollte.

Der Familiensitz war Jonathans einzige Verbindung zu seiner Kindheit. Er hätte David auch einen höheren Preis bezahlt, nur, um das Haus zu bekommen.

Jonathan blickte seinem Bruder grimmig nach. Seit dreißig Jahren war David der Liebling der Familie, und Jonathan konnte nicht verstehen, warum das so war. David hatte alle Chancen und Möglichkeiten bekommen und sie alle verspielt. Er nahm sich einfach, was er wollte, und wenn er es satt hatte, warf er es weg.

Jonathan hatte immer versucht, seinen Bruder zu verstehen, genauso wie er versucht hatte, die Liebe seines Vaters zu gewinnen. Doch dem war sein Ältester vollkommen gleichgültig gewesen, und als Jonathan einen kränkelnden Geschäftsbereich von Steele Enterprises übernahm und zu einem erfolgreichen Milliardengeschäft ausbaute, nahm er das nicht einmal richtig zur Kenntnis.

Schon vor Jahren hatte Jonathan die Erfahrung gemacht, dass die Institution Familie ein Werk des Teufels war: Seine Mutter hatte ihn und seinen Vater ohne mit der Wimper zu zucken verlassen, als Jonathan fünf Jahre alt war. Sein verletzter Vater hatte ihm die Schuld daran gegeben und das zeitlebens durchblicken lassen. Innerhalb von ein paar Stunden hatte Jonathan so beide Eltern für immer verloren.

Resigniert trat Jonathan aus der Nische. Das fröhliche Lachen und die angeregten Gespräche der Gäste im Saal hallten in seinem Kopf wider. Er nahm sich vor, nach Haus zu gehen.

Als er sich umdrehte, prallte er in eine aquamarinblaue Wolke aus Seide und Tüll. Eine junge Frau trat einen Schritt zurück und lächelte ihn an.

„Nein, so etwas. Jetzt habe ich mir den ganzen Weg hierher überlegt, was ich zu Ihnen sagen will, und ich habe mir extra vorgenommen, bloß kein Glas in der Hand zu halten, damit ich nichts verkleckere.“ Sie schaute auf die Pfütze am Boden. „Habe ich Sie etwa erwischt?“

Jonathan wusste, dass ihm fast alle jungen Frauen der Stadt im heiratsfähigen Alter schon einmal vorgestellt worden waren, und er hatte ein gutes Personengedächtnis. Doch dieses Mädchen hatte er noch nie gesehen.

Sie war etwa mittelgroß, hellhäutig und hatte tiefgrüne Augen. Ihre blonden Haare trug sie in einer einfachen Hochsteckfrisur, die von einem lächerlichen Diadem gekrönt wurde. Eine Aura von Unschuld umgab sie. Er hätte schwören können, dass sie eine Pfarrerstochter vom Land war, wenn er sie nicht hier getroffen hätte.

Er fühlte an seinem Jackett. Es war trocken. „Knapp daneben.“

Sie presste eine Hand an ihre Brust. „Gott sei Dank. Es wäre mir furchtbar peinlich gewesen.“ Sie schwenkte ihr nun leeres Glas. „Aber Weißwein gibt wenigstens keine Flecken, oder?“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ach, ich rede lauter Unsinn. Das kommt nur davon, weil ich ganz nervös bin, dass ich mit Ihnen spreche. Und so ungeschickt.“

Sie unterbrach ihren Redefluss und holte Luft. „Sie sind nicht verkleidet?“

Er blickte an seinem dunklen Smoking herunter. „Nein.“ Sein Blick richtete sich wieder auf sie, ihr Ballkleid, das Diadem, ihre großen, fragenden Augen. „Sie müssen Cinderella sein.“

„Beinahe. Cynthia.“ Sie lächelte ihn scheu an. „Und Sie sind Jonathan Steele. Ich habe Ihr Bild in den Zeitungen gesehen. In Farbe sehen Sie noch besser aus als in Schwarzweiß.“

„Wie schmeichelhaft.“

Sie sah sich um, dann blickte sie wieder ihn an. „Haben Sie schon bemerkt, wie die Leute Sie anstarren? Ich weiß nicht, ob das an Ihrem guten Aussehen liegt oder daran, dass Sie ein reicher, berühmter Mann sind.“

Ein Blick in ihre unschuldigen Augen verriet ihm, dass sie es ganz ohne Hintersinn gesagt hatte – ohne ihm schmeicheln zu wollen.

„Vielleicht sehen die Leute Ihretwegen her.“

Sie winkte ab. „Aber nein, das ist doch lächerlich. Sie sind der Ballkönig.“

„Sie tragen ein Diadem. Also müssen Sie auch eine königliche Hoheit sein.“

Cynthia lächelte verschmitzt. „Natürlich. Ich bin die Prinzessin aus Nimmerland.“ Sie stellte das Glas ab und machte einen Hofknicks. „Es ist ein kleines Königreich am Rande der Stadt. Vielleicht haben Sie schon einmal davon gehört?“

Jonathan hatte die letzten beiden Monate damit verbracht, Nachforschungen darüber anzustellen, wer seine Firma um Millionen erleichtert hatte. Sein nächster Verwandter hatte ihn gerade wieder abblitzen lassen und verweigerte ihm, wie immer, auch nur die geringste Unterstützung. Er war enttäuscht und ausgelaugt. Doch plötzlich hatte er keine Lust mehr, den Ball jetzt schon zu verlassen. Sein Haus war kalt und leer, und die Vergangenheit kam aus allen Ecken und Enden hoch. Und jetzt war diese rätselhafte Cynthia aufgetaucht – vielleicht das letzte unschuldige Wesen auf diesem Planeten. Er wollte wissen, wie sie die Welt sah – welche Eissorte sie am liebsten aß, wer noch Wein auf andere Leute gekleckert hatte und wie er es schaffte, sie nervös zu machen.

Das Orchester spielte einen Walzer. Jonathan verbeugte sich förmlich. „Darf ich um diesen Tanz bitten, Eure Hoheit?“

Cynthia lächelte und reichte ihm die Hand. „Okay, aber ich muss Sie warnen, dass Ihre Zehen in höchster Gefahr sind. Das Königreich konnte sich nämlich keinen Tanzlehrer leisten.“

Er zog sie an sich und genoss ihre Wärme an seiner Brust. Von nahem gesehen, verlor ihr Modeschmuck an Glanz, doch das war ihm vollkommen gleichgültig. Sie war eine Frau aus Fleisch und Blut, und er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal das Vergnügen gehabt hatte, ausgiebig zu tanzen.

Das kann alles nicht wahr sein, dachte Cynthia, als sie mit Jonathan durch den Saal schwebte. Sie musste sich zurückhalten, um nicht laut zu jubeln. Zum ersten Mal in ihrem Leben waren ihre Wünsche in Erfüllung gegangen.

Sie hatte gehofft, Jonathan Steele kurz sprechen und ihm für alles danken zu können, was er für sie getan hatte, ohne es zu wissen. Und jetzt hielt er sie in seinen Armen und tanzte mit ihr. Ihr Herz klopfte so stark, dass sie Angst hatte, in Ohnmacht zu fallen.

„Erzählen Sie mir von Ihrem Leben im Königreich Nimmerland“, sagte Jonathan, als sie an einem Dutzend Paare auf dem Parkett vorbeitanzten. „Gibt es einen Prinz in Ihrem Schloss?“

Sie war sich nicht sicher, ob das ein Scherz sein sollte. „Bedauerlicherweise hat noch keiner um meine Hand angehalten.“

Jonathan lächelte. Er hat einen wundervollen Mund, dachte Cynthia verträumt und atmete seinen herbfrischen Duft ein. Wie würden sich seine Lippen anfühlen? Jonathan war groß, und der Hauch von Silber an seinen Schläfen wirkte faszinierend. Er war einige Jahre älter als sie und hatte vermutlich jede Menge Erfahrung im Umgang mit Frauen. Sicher machte sie sich jetzt lächerlich, aber das störte sie seltsamerweise nicht im Geringsten.

„Das kann ich mir gar nicht vorstellen.“ Seine dunklen Augen leuchteten rätselhaft, als sie so leicht übers Parkett wirbelten, als hätten sie schon tausendmal miteinander getanzt. „Wie kommt es, dass wir uns vorher nie getroffen haben? Sind Sie neu in der Stadt?“

Cynthia lachte. „Ich lebe schon seit meiner Kindheit hier. Wir verkehren wohl nicht in denselben Kreisen.“

„Aber ich dachte immer, dass alle Hoheiten sich kennen.“

Er scherzte ganz ungezwungen mit ihr, sie konnte es kaum glauben. Sie hatte nicht gewusst, dass bedeutende Männer wie er auch Spaß machen konnten. „Sie müssen mich wohl übersehen haben.“

„Daran wird es liegen. Es freut mich sehr, dass ich die Gelegenheit habe, meinen Fehler wieder gutzumachen.“

Ihre Blicke trafen sich. Sie fühlte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief und ihr Herz zu flattern begann.

„Wollen Sie mir nicht mehr von sich erzählen?“, fragte Jonathan.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, sagte Cynthia. „Ich arbeite als …“

„Nein, lassen Sie mich raten“, unterbrach er sie und steuerte den Rand der Tanzfläche an. „Sie sind Erzieherin oder Grundschullehrerin. Auf jeden Fall machen Sie etwas mit kleinen Kindern.“

Ihre Augen wurden groß. „Woher wissen Sie das?“

„Das sieht man Ihnen einfach an.“ Er hörte auf zu tanzen und strich über ihre Wange. „Sie sehen so unschuldig aus. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal jemanden wie Sie getroffen habe, Prinzessin Cynthia. Sind Sie nun Cinderella oder die Prinzessin von Nimmerland? Was passiert um Mitternacht? Verschwinden Sie, und mir bleibt nur noch ein Schuh?“

Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Seine Berührung raubte ihr den Atem. Sie und Jonathan spielten ein Spiel mit dem Feuer, dessen Regeln sie nicht beherrschte.

„Ich muss nicht verschwinden“, flüsterte sie und errötete.

„Tun Sie das nicht“, schimpfte er, als er ihre Hand nahm und sie in eine Nische des Ballsaals führte. Gerade hatten sie sich noch mitten in der Menge befunden, doch nun waren sie ganz allein, gut abgeschirmt durch Pflanzen und einen Vorhang.

„Was soll ich nicht tun?“

„Rot werden. Sonst kann ich nicht tun, was ich möchte.“

„Und was möchten Sie gern tun?“, fragte sie, doch schon, als sie die Worte aussprach, wurde ihr klar, was er wollte … oder sie konnte es sich zumindest denken.

„Ich möchte herausfinden, wie Unschuld schmeckt“, sagte er und nahm ihr Gesicht in seine Hände. Sanft berührten seine Lippen ihren Mund. Cynthia hatte angenommen, dass ein Mann wie Jonathan Steele sich einfach nahm, was er wollte, doch sein Kuss war zärtlich, fast fragend, ob sie mit dem einverstanden war, was er gerade tat. Als ob ihr das nicht gefallen könnte, was er gerade tat. Sie war wie berauscht.

Nur ihre Lippen berührten sich. Wie ein Hauch strich sein Atem über ihr Gesicht, und Cynthia hatte das Gefühl, noch nie so eine wundervolle Erfahrung erlebt zu haben. Sie hielt die Augen fest geschlossen, denn sie hatte Angst, dass sie sonst den Zauber zerstören könnte.

Jonathan drehte leicht den Kopf und fuhr mit der Zunge über ihre Unterlippe. Sie erschauerte und öffnete ihre Lippen. Als seine Zunge die ihre berührte, bekam sie weiche Knie. Eine Leidenschaft explodierte so unvermittelt in ihr wie noch nie. Jonathan umfasste ihre Hüften mit beiden Händen und presste sie fest an sich. Seine Zunge erforschte zärtlich ihren Mund.

Cynthia konnte nichts mehr denken, sagen oder tun – sie konnte nur noch den Kuss erwidern. Sie wusste, egal, was sonst noch in ihrem ganzen Leben passieren würde, diesen wundervollen Abend und den Zauber dieses Kusses würde sie nie vergessen. Es hatte schon andere Männer und andere Küsse gegeben, aber im Vergleich zu diesem waren sie wie Wasser im Vergleich zu Champagner gewesen.

„Wer bist du?“, flüsterte Jonathan. „Und was machst du mit mir?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete sie ehrlich und öffnete die Augen.

Sein Blick verriet Erregung und Erstaunen. Dann gab es einen lauten Knall, und der Ballsaal wurde mit einem Schlag stockfinster.

2. KAPITEL

„Was zum Teufel …“, fluchte Jonathan leise. Die Unterbrechung hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können. Oder war es vielleicht besser so gewesen? Schließlich hatte das, was als harmloser Kuss begonnen hatte, zu viel mehr geführt. Leidenschaft und Faszination war jetzt mit im Spiel. Wer weiß, was er noch mit der geheimnisvollen Cynthia gemacht hätte.

„Was ist denn passiert?“, flüsterte Cynthia. „Das Hotel ist noch ganz neu. Da kann doch wohl die Stromversorgung nicht überlastet sein.“

„Sicher nicht“, antwortete er. Aber er konnte keinen klaren Gedanken fassen, dazu war sein Blut zu sehr in Wallung – was durch Cynthias Brüste, die noch immer fest an seinen Körper gepresst waren, noch verstärkt wurde.

„Vielleicht haben wir wieder einen großen Stromausfall“, mutmaßte sie. Vor drei Jahren war die Stadt im Chaos versunken, als 36 Stunden lang kein Strom floss.

Jonathan gab keine Antwort. Eine düstere Vorahnung überkam ihn. Er starrte die Frau in seinen Armen an, obwohl er sie nicht sehen konnte. „Bleib hier“, sagte er zu ihr. „Die Leute werden in Panik geraten, und du könntest niedergetrampelt werden.“

„Aber du willst dich doch nicht in die rasende Menge wagen?“

„Ich habe keine andere Wahl.“

„Okay, ich warte so lange hier.“

Er drückte kurz ihren Arm und schob sich durch die Pflanzen, die am Eingang zur Nische standen. Schon jetzt unterhielten sich die Gäste aufgeregt, und am anderen Ende des Ballsaals kreischte eine Frau. Instinktiv tastete sich Jonathan zum Ausgang durch und stolperte über ein Tablett. Eine Gewissheit, von der er nicht wusste, woher sie kam, ließ ihn noch schneller gehen. Etwas Furchtbares war geschehen – und es hatte etwas mit seinem Bruder zu tun. Aufgeregte Rufe bestätigten seine schlimmsten Vorahnungen. „Schnell! Rufen Sie einen Rettungswagen!“

Endlich hatte Jonathan den Hotelausgang erreicht. Er trat hinaus, und im Sternenlicht konnte er verschwommen ein Auto erkennen. Oder zumindest das, was von dem Auto übrig war. Es war auf den Stromverteilerkasten geprallt, was sowohl den Stromausfall als auch den lauten Knall erklärte. Rauch stieg an der Stelle auf, wo vermutlich einmal der Motor gewesen war. Jonathan rannte zur Unglücksstelle, wo sich schon mehrere Menschen versammelt hatten. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Vor ihm auf der Straße lag das Nummernschild, das sich beim Aufprall gelöst hatte. Jonathan kannte die Autonummer. Sie gehörte David.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte Detective Stryker Jonathan viel später.

Jonathan sah den Polizisten an und zuckte mit den Schultern. „Den Umständen entsprechend, ja. Ich habe mich schon besser gefühlt.“

Stryker, ein großer Mann von schätzungsweise Mitte Dreißig, nickte mitfühlend. „Ich weiß, das muss furchtbar für Sie sein. Der Notarzt hat gesagt, dass sie nicht gelitten haben – wenn das ein Trost für Sie ist.“

Jonathan gab keine Antwort. Er fragte sich, ob Stryker wohl einen Bruder hatte und ob er gut mit ihm auskam. Verrückt. Schließlich gingen ihn die Familienverhältnisse anderer Menschen nichts an. Gerade war ein Anruf vom Vanderbilt Memorial Hospital gekommen. David und seine Frau Lisa waren beide auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.

Strykers Handy klingelte. Unterdessen fragte sich Jonathan, was heute Abend eigentlich geschehen war. Im Moment begriff er noch gar nichts. Detective Stryker hatte ihm erklärt, dass ein tödlicher Unfall grundsätzlich von der Polizei genauer untersucht wurde. Noch konnte ein Fremdverschulden nicht ganz ausgeschlossen werden.

Detective Stryker beendete sein Gespräch und griff nach seiner Jacke. „Ich muss noch ein paar Nachforschungen anstellen. Es wäre denkbar, dass Ihr Buchhalter, dieser Hank, etwas mit dem Unfall zu tun hat. Sehr wahrscheinlich ist es nicht. Aber nach dem, was Sie mir erzählt haben, scheint er zu allem bereit zu sein, um die Sache zu vertuschen. Die Typen, mit denen er sich eingelassen hat, schrecken sowieso vor nichts zurück. Und es war ihm sicher klar, dass nur Sie und David über die Unterschlagungen Bescheid wussten.“ Er sah Jonathan besorgt an. „Zur Sicherheit lasse ich auch Sie beobachten und stelle einen Officer ab, der Sie Tag und Nacht überwacht. Ich muss Sie bitten, vorläufig nicht zu verreisen und auch nicht ohne Polizeischutz aus dem Haus zu gehen.“

„Kein Problem“, erwiderte Jonathan müde. Ihm war vorläufig nicht danach, in der Gegend herumzuspazieren. Zuerst musste er verarbeiten, was passiert war. David und Lisa – tot. War das wirklich wahr oder träumte er nur schlecht?

Stryker ging hinaus und wechselte ein paar Worte mit jemand. Jonathan sah einen Hauch aquamarinblauen Tüll durch den Türspalt blitzen. Ein Gesicht und ein Name tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Cynthia? Was machte sie denn hier?

Schnell sprang er auf und eilte zur Tür. Stryker und der Officer, der ihn beschützen sollte, hielten Cynthia fest. Jonathan konnte ihr Gesicht nicht sehen, doch er bemerkte, dass sie zitterte. In einer Hand hielt sie eine Tasse Kaffee, die auf der Untertasse klapperte.

„Mr. Stryker, sie gehört zu mir“, sagte Jonathan rasch.

Der Detective sah ihn zweifelnd an. „Sind Sie sicher? Sie ist hier im Gang herumgeschlichen.“

„Ich wollte nichts Unrechtes tun“, sagte Cynthia, und ihre Stimme zitterte noch mehr als ihre Hand. „Ich habe mir nur Sorgen um Mr. Steele gemacht. Er ist nach draußen gegangen, nachdem wir den Knall gehört haben und der Strom ausfiel. Dann habe ich gehört, dass die Polizei ihn ins Konferenzzimmer gebracht hat. Ich wollte doch nur wissen, ob es ihm gut geht.“ Sie sah Jonathan an. „Das ist alles. Es tut mir leid, wenn ich Ihnen dadurch Schwierigkeiten bereitet habe.“ In der Aufregung siezte sie ihn wieder.

Ihre Verkleidung wirkte außerhalb des Ballsaals unpassend, und sie trug immer noch das unechte Diadem. Doch trotz des Modeschmucks, der Flecken auf ihren ärmellangen Handschuhen und der verschmierten Wimperntusche sah sie bezaubernd und unschuldig aus.

„Sieht sie in Ihren Augen gefährlich aus?“, fragte er den Detective.

„Darauf kommt es nicht an“, erklärte der Detective, „Aber wenn Sie sie kennen, ist es in Ordnung.“ Er winkte Cynthia ins Konferenzzimmer und sah den uniformierten Officer an. „Lassen Sie sonst niemanden mehr rein.“

„Keine Sorge, ich passe auf.“ Der Beamte legte die Hand auf seine Waffe.

Jonathan führte Cynthia in das kleine Zimmer und schloss die Tür. „Was machen Sie denn noch hier? Es muss schon Stunden her sein, dass mich der Detective hierher gebracht hat. Sie müssen inzwischen ganz schön müde sein.“

Cynthia stellte die Tasse Kaffee auf den Tisch. „Ich habe mir Sorgen gemacht. Die vielen Rettungswagen, und ich habe mitbekommen, dass einige Gäste in dem Durcheinander panische Angst hatten und sich verletzt haben. Danke, dass Sie mir gesagt haben, ich solle in der Nische bleiben. Das hat mich gerettet.“

Jonathan wartete darauf, dass sie noch etwas sagte. Obwohl ihr Mitgefühl und ihre Besorgnis echt wirkten, dachte er, dass sie noch einen anderen Grund haben musste, um so lange hier zu bleiben. Die meisten Menschen suchten nur seine Nähe, um etwas von ihm zu bekommen. „Brauchen Sie Geld für ein Taxi, um nach Haus zu kommen?“

Sie sah ihn überrascht an. „Natürlich nicht. Ich bin mit meinem eigenen Auto hier, aber selbst, wenn ich es nicht wäre, würde ich Sie nicht dafür verantwortlich machen, dass ich sicher nach Haus komme.“ Sie sah im in die Augen. „Ich will nichts von Ihnen. Ehrlich nicht. Ich wollte nur sichergehen, dass Ihnen nichts passiert ist.“

Das meint sie tatsächlich so, stellte er erstaunt fest. Cynthia wollte weder Geld noch Aufmerksamkeit noch all die anderen Dinge, die Frauen sonst von ihm erwarteten. Sie hatte sich wirklich ernsthaft Sorgen um ihn gemacht, ohne einen Profit daraus ziehen zu wollen. Ohne eigene Interessen. Dass es so etwas überhaupt noch gab …

„Wer sind Sie?“, fragte er.

Cynthia lächelte. „Sicher nicht Cinderella. Es ist schon nach Mitternacht, und ich bin immer noch da.“ Sie schwenkte einen Fuß. „Mit Schuhen und allem Drum und Dran.“ Sie schob ihm die Kaffeetasse zu. „Hier, der Kaffee ist für Sie. Einer der Kellner wollte damit zu Ihnen, und ich habe mich angeboten, Ihnen die Tasse zu bringen. Das war die Gelegenheit für mich, mit eigenen Augen zu sehen, ob mit Ihnen alles in Ordnung ist.“

Er setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber, ohne den Kaffee anzurühren. „Ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen.“

Cynthia stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch. „Heute war mein erster Ball, und er verlief nicht gerade so, wie ich mir das vorgestellt habe.“

„Normalerweise gibt es dabei auch keine tödlichen Unfälle.“

Cynthia lief ein kalter Schauer über den Rücken. „Ach, dann sind diese armen Leute gestorben? Das ist ja furchtbar! Was sagt die Polizei dazu? Wie konnte es dazu kommen?“

Er schob den Kaffee zu ihr. „Hier, trinken Sie das. Sie brauchen es dringender als ich.“

Erst zögerte sie, doch dann nahm sie den Kaffee dankbar an.

„Die polizeilichen Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen“, sagte Jonathan.

„Weiß man denn schon, wer in dem Auto saß?“, fragte Cynthia und nahm einen Schluck.

„Ja. Mein Halbbruder und seine Frau.“

Cynthia fiel fast die Tasse aus der Hand. Sie legte mitfühlend eine Hand auf seinen Arm. „Jonathan, das tut mir schrecklich leid. Das muss ein großer Schock für Sie sein.“

Sie blinzelte, und er hätte schwören können, dass sie Tränen in den Augen hatte. Gerade so, als ob sie mit ihm leiden würde. Gab es Frauen, die weinten, ohne dadurch etwas erreichen zu wollen?

Sie drückte leicht seine Finger und zog die Hand zurück. „Niemand kann sich vorstellen, was Sie gerade durchmachen. Aber ich habe vor drei Jahren meinen Stiefvater verloren, und das war ein furchtbarer Verlust. Sein Tod hat eine Lücke hinterlassen, die keiner füllen kann.“ Cynthia nippte an dem Kaffee. „Frank, mein Stiefvater, war mehr wie ein großer Bruder für mich. Wir hatten uns sehr, sehr gern. Es ist ein großer Trost für mich, dass ich ihm all das noch vor seinem Tod sagen konnte.“

Sie schluchzte, dann presste sie die Hand auf den Mund. „Wie gedankenlos von mir. Entschuldigen Sie“, sagte sie schnell. „Ich möchte doch nicht, dass Sie sich schlimmer fühlen, weil Sie keine Gelegenheit mehr dazu hatten, noch etwas zu Ihrem Bruder zu sagen.“

Eine einsame Träne lief ihre Wangen herunter, und Cynthia wischte sie eilig weg.

Jonathan beobachtete sie erstaunt. „Sie sind nicht gedankenlos. Mein Bruder und ich standen uns nicht nahe.“ Absolut nicht.

„Wie kann das denn sein? Sie sind doch zusammen aufgewachsen, oder nicht?“, fragte Cynthia. Dann zögerte sie. „Obwohl das nichts heißen will. Meine Mutter bekam mich, als sie noch sehr jung war. Als sie achtzehn wurde, hat ihre Familie sie hinausgeworfen, obwohl sie doch ein kleines Kind großziehen musste. Ich kann Sie schon verstehen. Es ist nur so schade.“

Cynthia stand auf und schritt im Zimmer auf und ab. „Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber haben Sie eine Familie, die Ihnen behilflich ist?“

„Behilflich wobei?“

„Sie müssen sich doch jetzt um alles kümmern – Formalitäten, Beerdigung und so weiter. Ich frage nur, weil Sie ja bekannt sind, und in all den Zeitungsartikeln über Sie stand nie etwas von einer Familie. Also, wenn Sie niemanden haben und alles allein machen müssen, möchte ich Ihnen meine Hilfe anbieten. Aber ich will mich keinesfalls aufdrängen.“

Sie sprach schnell, als ob sie sich für ihre Worte verteidigen wollte. Als er nichts erwiderte, holte sie tief Luft. „Sie haben jetzt so viel zu tun. Ich denke nicht an die Beerdigung und die Unterlagen, die Sie durcharbeiten müssen, sondern an Zimmer, Kleiderschränke und den gesamten Nachlass. Ich weiß noch, wie schlimm es für meine Mutter war. Deshalb habe ich ihr die Arbeit abgenommen.“

„Daran habe ich noch gar nicht gedacht“, sagte er wahrheitsgemäß. Eine Beerdigung – vermutlich auch Lisas. Soweit er wusste, hatte sie keine Familie. „Verflixt noch mal.“

Cynthia ging zu ihm und berührte leicht seinen Arm. „Es tut mir ja so leid für Sie.“

Ihre Worte und ihre Berührung waren eine Geste des Trosts – und seltsamerweise fühlte Jonathan sich auch getröstet. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte seine Hand nach ihr ausgestreckt und sie fest an sich gezogen.

In diesem Moment klopfte es an der Tür, und Detective Stryker kam herein.

„Ich habe Neuigkeiten“, sagte Stryker und brach ab, als er Cynthia sah.

„Ich werde draußen warten“, erbot sich Cynthia sofort.

Zur Überraschung der beiden – und zu seiner eigenen – hörte Jonathan sich sagen: „Sie können ruhig bleiben.“

Stryker zog erstaunt eine Augenbraue hoch, aber er verzichtete auf einen Kommentar. „Also gut. Als erstes haben wir überprüft, wo sich Ihr Buchhalter heute Abend aufgehalten hat. Dreimal dürfen Sie raten, wo er …“

Ein lautes Stöhnen unterbrach ihn. Cynthia, die sich gerade in eine Ecke des Raums zurückziehen wollte, lehnte sich an die Wand und presste die Hände auf ihren Magen. Sie war auf einmal sehr blass geworden.

Jonathan eilte zu ihr. „Was ist passiert?“

„Ich weiß nicht“, keuchte sie. „Es tut so weh. Eben habe ich mich noch ganz wohl gefühlt, und plötzlich …“ Wieder stöhnte sie und fiel auf die Knie.

„Rufen Sie einen Rettungswagen“, befahl Jonathan.

„Bin schon dabei.“ Während Stryker in sein Handy sprach, krümmte sich Cynthia am Boden. Ein Gefühl der Hilflosigkeit erfüllte Jonathan. „Was kann ich bloß tun?“

Cynthia starrte ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht an. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dazu kam es nicht mehr. Sie verlor das Bewusstsein. Jonathan nahm sie in die Arme und strich über ihr Gesicht, auf dem kalter Schweiß stand.

Erst David und Lisa, jetzt Cynthia.

„Der Notarzt ist schon auf dem Weg“, sagte Detective Stryker und beugte sich zu ihnen nieder. „Wie geht es ihr?“

„Sie ist bewusstlos. Ich weiß nicht, was ihr fehlt, aber ich habe das ungute Gefühl, dass es etwas mit den seltsamen Dingen zu tun hat, die heute Nacht passiert sind.“

Er sah den Detective an und bemerkte, dass der andere Mann genauso schockiert war wie er selbst. Und sie konnten nichts anderes tun, als bei Cynthia zu bleiben und auf Hilfe zu warten.

3. KAPITEL

„Sie müssen doch etwas tun können“, sagte Jonathan gereizt, auch wenn er wusste, dass es die Situation auch nicht besser machte, wenn er den Arzt anfuhr.

„Alles, was wir im Moment machen können, ist, ihren Zustand stabil zu halten“, entgegnete Dr. Noah Howell ruhig. „Wenn wir festgestellt haben, was ihr fehlt, können wir eine geeignete Behandlung einleiten. Sonst gehen wir das Risiko ein, alles noch schlimmer zu machen.“

Jonathan hatte sich noch nie zuvor so einsam und hilflos gefühlt. In den letzten Stunden waren schlimme Dinge passiert, auf die er überhaupt keinen Einfluss nehmen konnte. Er konnte nur abwarten und hoffen. Das machte ihn ganz krank.

„Ist sie immer noch ohne Bewusstsein?“, fragte er den Arzt.

Dr. Howell nickte. „Das ist aber unter diesen Umständen normal.“

Was heißt hier schon normal, dachte Jonathan grimmig. Seit dem Zusammenbruch im Hotel war Cynthia nicht wieder zu sich gekommen. Er hatte sie im Notarztwagen bis ins Krankenhaus begleitet, wo Dr. Howell sie aufgenommen und untersucht hatte. Warum ihr Zustand zunehmend schlechter wurde, konnte sich bis jetzt niemand erklären.

Jonathan kam sich so unendlich hilflos vor. Was nützte es denn, zu den reichsten Männern Colorados zu gehören, wenn er Cynthias Leben nicht retten konnte?

Noah Howells sah ihn aufmerksam an. „Ich weiß, dass Sie sich große Sorgen um Miss Morgan machen. Wir werden alles tun, um sie zu retten, und ich versichere Ihnen, dass wir Sie auf dem Laufenden halten werden, wenn ihr Zustand sich verändert oder wenn die Testergebnisse da sind. Falls dem Detective oder Ihnen noch irgendetwas einfällt, das uns als Hinweis nützlich sein könnte, lassen Sie es uns wissen.“

Jonathan sank auf einen grünen Plastikstuhl im Warteraum und unterdrückte einen Fluch.

„Was für ein Tag für Sie“, sagte Detective Stryker mitfühlend. „Erst Ihr Bruder und Ihre Schwägerin, und jetzt das.“

Jonathan nickte und lehnte seinen Kopf an die weiß getünchten Wände. „Ich hasse Krankenhäuser.“ Sein Blick wanderte über den schmucklosen Linoleumboden zu dem Fernsehgerät am anderen Ende des Zimmers, das zum Glück leise gestellt war. Draußen hörte man Pfleger und Schwestern vorbeihasten, die eilig Geräte und Betten vor sich her schoben, und ein Hauch von Desinfektionsmitteln lag in der Luft. Es war zwei Uhr morgens, der Wartesaal war leer, doch in der Notaufnahme herrschte Chaos. Immer noch wurden Menschen behandelt, die sich bei der Panik nach dem Stromausfall im Hotel verletzt hatten.

Jonathan warf einen Blick auf Detective Stryker. „Sie sind doch nicht wegen Cynthia Morgan hier, oder?“

„Ich möchte schon gern wissen, ob es ihr gut geht“, gab Stryker zur Antwort. „Aber ich muss Ihnen noch ein paar Fragen stellen.“

Jonathan rieb sich müde seinen Nasenrücken. „Ich fühle mich, als wäre ich schon eine Woche hier. Dabei ist es erst früher Sonntagmorgen.“ Er seufzte. „Wahrscheinlich wollen Sie wissen, ob Hank versucht hat, mich über Cynthia zu treffen. Um mir Angst einzujagen oder mich unter Druck zu setzen.“

„Daran habe ich tatsächlich gedacht“, gab der Detective zu. „Die Ärzte haben nämlich natürliche Ursachen wie eine Blinddarmentzündung schon ausgeschlossen. Bevor wir keine richtige Diagnose haben, muss ich in alle Richtungen ermitteln.“

Jonathan sah Stryker an und schüttelte den Kopf. „Es ist aber nicht möglich. Ich habe sie heute Abend zum ersten Mal gesehen.“

Unwillkürlich musste er daran denken, wie schön es gewesen war, mit ihr zu tanzen und sie in den Armen zu halten. Wie angenehm ihre Haut geduftet und wie süß ihr Kuss geschmeckt hatte.

Stryker lockerte seine Krawatte und deutete mit dem Kopf auf Cynthias Brieftasche. „Auch darin haben wir keinen Hinweis gefunden. Ich habe ihre Familie informiert. Ihre Mutter sagte, dass sie keine Allergien oder chronische Krankheiten hat. Sie sind übrigens auf dem Weg hierher.“

Der Detective holte seinen Notizblock vor. „Gehen wir noch einmal alles durch.“

„Ich habe mit meinem Bruder gesprochen“, wiederholte Jonathan geduldig. „Es war ein sehr unerfreuliches Gespräch, und ich war ziemlich fertig und wollte nach Haus gehen. Ich drehte mich um und rannte geradewegs …“

„Mr. Steele?“

Er sah auf und bemerkte eine junge Krankenschwester, die in der Türschwelle zum Warteraum stand. Blitzschnell sprang er auf. „Was ist? Haben Sie Neuigkeiten?“

Sie nickte. „Dr. Howell hat mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen, dass der vorläufige toxologische Bericht da ist. Demnach ist Miss Morgan vergiftet worden.“

„Vergiftet?“, wiederholte er verwirrt.

„Dr. Howell meint, es wäre sehr hilfreich, wenn er wüsste, womit man sie vergiftet hat.“ Sie lächelte kurz und wandte sich zum Gehen.

„Warten Sie – wie geht es Miss Morgan?“

„Ich weiß es nicht. Immer noch unverändert, nehme ich an.“ Damit war sie verschwunden.

Jonathan sank zurück auf den Stuhl. „Gift … Ergibt das irgendeinen Sinn für Sie?“

„Kommt darauf an, wie es verabreicht wurde. Hat sie auf der Party etwas gegessen?“

„Das weiß ich nicht“, musste Jonathan zugeben. Er dachte scharf nach. „Als ich sie zuerst traf, hielt sie ein Glas Wein in der Hand. Aber sie hat es verschüttet, daher nehme ich an, dass sie kaum etwas davon getrunken hat. Während wir zusammen waren, hat sie nichts gegessen oder getrunken.“

Stryker klopfte mit seinem Bleistift auf den Notizblock. Seine Tweedjacke sah zerknautscht aus, und sein Kinn hatte blonde Bartstoppeln. Müde rieb er seine Augen. „Bisher wurden noch keine anderen derartigen Krankheitsfälle gemeldet. Also kann das Essen nicht vergiftet gewesen sein. Wenn sie das Gift vor dem Ball eingenommen hat, haben wir kaum eine Chance herauszubekommen, was es war.“

Jonathan hörte dem anderen Mann kaum zu. Seine Gedanken waren auf etwas anderes gerichtet. Etwas Wichtiges …

„Der Kaffee!“, unterbrach er Stryker. „Sie hat mir eine Tasse Kaffee gebracht!“

„Was?!“

„Im Hotel. Erinnern Sie sich? Sie haben sie doch vor dem Zimmer überprüft. Sie sagte, sie wolle nach mir sehen. Dabei hielt sie eine Tasse Kaffee in der Hand. Und sie sagte, ein Kellner habe mir den Kaffee vorbeibringen wollen, und sie hatte sich angeboten, es für ihn zu tun. Aber ich hatte gar keinen bestellt und wollte ihn nicht, und deshalb trank Cynthia ihn.“

Stryker zog sein Handy und rief den Polizisten an, der noch im Hotel war.

„Wir werden versuchen, diese Tasse Kaffee zu finden“, sagte er, nachdem er das Gespräch beendet hatte. „Ich muss sofort zurück ins Hotel. Wenn Sie etwas Neues über Miss Morgans Zustand erfahren, rufen Sie mich an. Die Nummer haben Sie ja.“

Und schon war er verschwunden. Jonathan blickte ihm nach, wie der große Mann an einer jungen Mutter mit drei Kindern vorbeiging. Etwas an der Frau kam ihm seltsam vertraut vor, obwohl er sicher war, sie vorher noch nie gesehen zu haben. Sie war klein und zierlich und trug ihr blondes Haar kurz geschnitten. Ein Mädchen im Teenageralter und zwei Jungen, Zwillinge, klammerten sich an sie.

Er seufzte und setzte sich zurück auf den Stuhl.

„Mr. Steele?“

Jonathan sah auf und bemerkte, dass die Mutter und ihre Kinder den Warteraum betreten hatten. Er stand wieder auf und fragte sich, woher sie ihn kannten. „Ja.“

Die Frau zitterte leicht. Tränen standen in ihren blauen Augen, und sie war sehr blass. „Man hat mir gesagt, dass Sie Cynthia ins Krankenhaus gebracht haben.“ Sie schluckte, und Jonathan sah ihr an, wie sehr sie sich beherrschen musste, um nicht die Fassung zu verlieren. „Ich weiß nur, dass sie zusammengebrochen ist. Man hat mir Fragen über ihren Gesundheitszustand gestellt. Ich konnte ihnen nur sagen, dass ihr nie etwas gefehlt hat. Sie ist kräftig und gesund, und, mein Gott, ich kann sie nicht auch noch verlieren!“

„Schon gut, Mom“, sagte das Mädchen und schlang die Arme um ihre Mutter. „Sie wird wieder gesund. Ganz sicher.“ Doch sie weinte, als sie das sagte, und die Jungen klammerten sich noch fester an die Frau, als auch ihr Tränen übers Gesicht liefen.

Jonathan wäre am liebsten davongelaufen. So viele Gefühlsausbrüche auf einmal konnte er nicht ertragen.

„Warten Sie, ich hole eine Schwester“, sagte er peinlich berührt und ging zum Ausgang.

Die Frau schüttelte den Kopf. „Nein, lassen Sie nur. Schon gut.“ Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht und versuchte zu lächeln. „Es tut mir leid. Es ist nur … vor drei Jahren habe ich meinen Mann verloren, und hier im Krankenhaus kommt die Erinnerung daran wieder hoch.“

Jonathan starrte sie an. Cynthia hatte ihren Stiefvater erwähnt, und das bedeutete, dass diese Frau ihre Mutter war. Doch Mrs. Morgan sah kaum älter als fünfunddreißig aus, und Cynthia musste Mitte Zwanzig sein.

„Sie sind ihre Mutter?“, fragte er erstaunt.

Die Frau nickte. „Ich war noch ein Teenager, als ich sie bekam. Und das sind meine Kinder aus der Ehe mit Frank. Sagen Sie einfach Betsy zu mir.“

Sie zitterte immer heftiger, und nun weinten auch noch die Jungen. Jonathan hatte das Gefühl, auf einem sinkenden Schiff zu sein. Er nahm die Frau am Arm und führte sie und die Kinder zu den grünen Plastikstühlen. „Ich habe mit dem Arzt gesprochen. Dr. Howell heißt er. Erst vor wenigen Minuten hat man festgestellt, was ihr tatsächlich fehlt, und nun wird alles getan, was in der Macht der Ärzte steht.“

Betsy starrte ihn an. Er bemerkte, dass Cynthia den Mund und die Augenform von ihrer Mutter geerbt hatte, doch die Augenfarbe musste von ihrem Vater kommen. Sie war etwa zehn bis zwölf Zentimeter kleiner als Cynthia, und beide waren schlank und feminin.

„Was fehlt ihr denn?“, fragte Betsy.

Er zögerte, doch warum sollte er die Wahrheit zu verbergen? „Die Ärzte glauben, dass sie vergiftet wurde. Es war ein Unfall“, fügte er hastig hinzu. „Zumindest kann jetzt mit einer gezielten Therapie begonnen werden.“

„Ich halte das nicht mehr aus“, murmelte Betsy und schloss die Augen. „Nicht noch einmal.“

„Mommy?“ Einer der Jungen kuschelte sich fest an sie. Die kleine Familie rückte zusammen, und jeder schien Kraft und Trost vom anderen zu bekommen.

Jonathan fühlte sich wie ein Eindringling. Er stand auf und räusperte sich. „Nun, da Sie gekommen sind und nach Ihrer Tochter sehen, werde ich gehen.“

Betsy riss die Augen auf und starrte ihn an. „Sie verlassen uns?“

Die Jungen sahen ihn flehentlich an. „Sind Sie nicht Cynthias Freund?“

Jonathan trat unbehaglich einen Schritt vorwärts. „Ja natürlich, nur …“

Betsy gewann als Erste ihre Fassung zurück. „Natürlich verstehen wir Sie, Mr. Steele. Sie sind ein viel beschäftigter Mann. Es war sehr freundlich von Ihnen, dass Sie so lange bei Cynthia geblieben sind. Vielen Dank für Ihre Mühe. Machen Sie sich keine Sorgen um uns. Wir kommen schon zurecht.“

Er hätte am liebsten laut geschrien. Sie sahen überhaupt nicht so aus, als würden sie zurechtkommen. Es war mitten in der Nacht, und sie sahen furchtbar verstört aus. Er schob die Hände in die Hosentaschen seines Smokings.

„Ich gehe nur bis zum nächsten Kaffeeautomaten. Soll ich Ihnen eine Tasse mitbringen? Und wollt ihr Jungs auch etwas zu trinken? Kommt doch einfach mit und helft mir beim Tragen.“

Betsy Morgan lächelte ihn dankbar an. „Vielen Dank, Mr. Steele. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Sie ein sehr sympathischer Mann sind, und wie ich sehe, haben die Journalisten nicht übertrieben.“

„Sagen Sie Jonathan zu mir“, erwiderte er knapp und dachte, dass er sich selbst für alles andere als sympathisch hielt. In Wirklichkeit war er ein richtiger Mistkerl. Sie würden es schon noch selbst herausfinden. Alle standen um Cynthias Bett und warteten. Selbst Detective Stryker hielt sich auf dem Gang auf.

Es war Montagnachmittag, und Cynthia war schon seit sechsunddreißig Stunden ohne Bewusstsein. In den letzten Stunden jedoch hatten sich die Anzeichen gemehrt, dass sie bald wieder zu sich kommen würde.

Jonathan hielt sich im Hintergrund. Er fühlte sich immer noch wie ein Eindringling bei einer sehr privaten Familienangelegenheit, doch jedes Mal, wenn er sich zurückziehen wollte, hielt Betsy ihn davon ab.

„Sie sollten nicht einmal daran denken zu gehen“, sagte sie jetzt wieder, als er verstohlen zur Tür schlich. „Sie haben die ganze Zeit mit uns durchgehalten. Das Mindeste, womit wir Ihnen danken können, ist, Sie bei uns zu behalten, wenn Cynthia aufwacht.“

„Mommy, sieh mal!“, rief einer der Zwillinge, als Cynthia den Kopf hin und her warf und etwas vor sich hin murmelte.

Betsy war sofort an ihrer Seite. Sie ergriff die Hand ihrer Tochter. „Komm schon, Liebes. Wach auf. Wir machen uns solche Sorgen um dich. Gib uns ein Zeichen, dass es dir besser geht. Dann kannst du noch ein bisschen schlafen. Aber mach doch bitte die Augen auf!“

Jonathan sah, wie Cynthias Augenlider zu flattern begannen und sich langsam öffneten. Betsy strahlte ihre Älteste an, und Freudentränen liefen über ihre Wangen.

„Warum … warum weinst du?“, fragte Cynthia und blickte um sich. Sie nahm Jenny und die Jungen wahr. „Was macht ihr denn hier?“ Sie zwinkerte heftig. „Wo bin ich?“

„Du warst sehr krank“, sagte ihre Mutter und streichelte ihr Gesicht. „Du bist im Krankenhaus, aber du wirst bald wieder ganz gesund sein.“

Cynthia drehte sich unbehaglich um. „Krank? Na ja, ich hab mich schon besser gefühlt, und mein Magen tut weh …“ Ihre Stimme erstarb.

Ihr Blick wanderte im Zimmer herum und blieb an Jonathan hängen. Ungläubig weiteten sich ihre Augen. „Träume ich, oder ist das … ist das … Jonathan Steele?“

Jonathan trat an das Fußende ihres Bettes. „Das steht zumindest in meinem Pass.“

Cynthia lächelte matt. „Was machen Sie denn hier?“

Er zeigte mit dem Kopf auf ihre Familie. „Da gab es ein paar Menschen, die sich große Sorgen um Sie gemacht haben. Ich bin hiergeblieben, weil ich Angst hatte, dass Sie sich in einen Kürbis verwandeln.“

Cynthias Lächeln wurde breiter. Jonathan trat zurück und wollte sich zum Gehen wenden. Doch etwas an dieser Familie, die vereint um das Bett stand, faszinierte ihn. Er sah Jennys strahlendes Lachen und Cynthias feine Gesichtszüge, immer noch etwas blass, aber genauso hübsch wie am Abend des Balls.

„Alles in Ordnung?“, fragte Stryker, der in der Türschwelle stand.

„Sieht ganz so aus“, sagte Jonathan und trat mit ihm auf den Gang hinaus. „Sie ist aufgewacht, und das ist der nächste Schritt zur Besserung, sagt Dr. Howell. Er wird sie heute Abend noch einmal untersuchen, und vielleicht kann sie morgen schon nach Haus gehen.“

„Nun, wir sind Hank dicht auf den Fersen“, informierte Detective Stryker. „Ach ja, und der Babysitterservice wird sich bei Ihnen melden.“

Jonathan blickte ihn verwirrt an. „Wovon reden Sie eigentlich?“

„Von dem Baby.“

Strykers Worte machten für Jonathan keinen Sinn. „Welches Baby denn?“

„Der Sohn von David und Lisa. Ihr Neffe.“

Stryker sprach weiter, doch Jonathan nahm seine Worte überhaupt nicht wahr. Ein Baby? Vage konnte er sich daran erinnern, dass David erzählt hatte, dass Lisa schwanger war. Jonathan hatte eine Geburtsanzeige bekommen, zusammen mit einem Brief und einer Bitte um ein Geschenk. Das war alles. David und er hatten wenig Zeit miteinander verbracht, und er hatte seinen Neffen noch nie gesehen.

„In den letzten Tagen wurde er in einem Heim untergebracht“, hörte Jonathan den Detective sagen. „Doch Sie können ihn jederzeit zu sich nehmen. Soweit wir wissen, sind Sie sein einziger lebender Verwandter.“

„Es muss noch jemand anders geben“, sagte Jonathan heftig. „Ich verstehe nichts von Babys.“

„Dann lernen Sie es am besten ganz schnell, Jonathan, denn Sie sind jetzt sein Vormund.“

4. KAPITEL

„Diese Blumen sind wunderschön“, sagte Betsy und zupfte andächtig an dem riesigen Bukett, dass am späten Nachmittag ins Zimmer geliefert worden war.

Cynthia lehnte sich in ihr Krankenbett zurück und betrachtete die exotischen Blumen. „Das finde ich auch.“

Ihre Mutter tätschelte liebevoll ihre Hand. „Du hast wohl einen großen Eindruck auf Jonathan Steele gemacht.“

„Meinst du?“, fragte Cynthia und vermied es, ihrer Mutter in die Augen zu sehen.

Sechsunddreißig Stunden Bewusstlosigkeit hatten ihr Gehirn ein wenig benebelt. Sie wusste noch, dass sie auf dem Ball gewesen war und dort Jonathan Steele getroffen hatte. Sie hatte mit ihm getanzt … und an den Kuss erinnerte sie sich noch ganz deutlich. Doch außer ein paar Magenkrämpfen war ihr sonst nicht viel im Gedächtnis geblieben, bis sie aufwachte und ihre Familie und Jonathan Steele an ihrem Bett sah.

„Er war die ganze Zeit hier, als du bewusstlos warst“, teilte Betsy ihr mit. Sie seufzte und strich ihrer Tochter über die Wange. „Eine Weile dachten wir schon, dass du es nicht schaffen würdest, und ich war verzweifelt. Dein Mr. Steele hat mir beigestanden.“

Cynthia errötete. „Er ist nicht mein Mr. Steele.“

„Warum schickt er dir dann Blumen?“

Cynthia betrachtete wieder das schöne Bukett. „Vielleicht, weil er ganz einfach ein liebenswerter Mann ist.“

Ihre Mutter drückte ihr die Hand. „Da bin ich ganz deiner Meinung.“

Jenny, Brad und Brett kamen von der Cafeteria zurück. Die Jungen waren lebhaft und schwatzten, Jenny hingegen war noch still und hatte sich sichtlich noch nicht von dem Schrecken erholt.

Trotz des Altersunterschieds mochten sich Cynthia und Jenny sehr. Cynthia hatte ihre Schwester schrecklich vermisst, als sie ein Jahr in Chicago gearbeitet hatte. Seit Franks Tod vor drei Jahren lebte sie wieder bei ihrer Familie in Grand Springs und hatte ihre Beziehung zu Jenny noch vertieft.

„Morgen werde ich wieder zu Hause sein“, beschwichtigte sie Jenny. „Alles wird bald wieder seinen normalen Gang gehen.“

„Gut, dass du davon sprichst“, sagte Betsy und strich durch Bretts kurz geschnittenes blondes Haar. „Die Besuchszeit ist schon fast um, und wir müssen gehen. Meine drei hier brauchen eine Mütze voll Schlaf, damit sie morgen in der Schule wieder fit sind.“

„Ach, Mom“, sagte Brad und schob protestierend die Unterlippe vor. Zu Cynthia gewandt, rief er wieder fröhlich: „Bis morgen, Cyn!“ Brett nahm sie wortlos in die Arme.

Als ihre Familie gegangen war, lehnte Cynthia sich zufrieden in ihr Kissen zurück und seufzte. Sie war knapp dem Tod entronnen, doch Dr. Howell hatte ihr versichert, dass sie keine langfristigen Nachwirkungen zu befürchten hatte. Ihr Körper war zwar noch geschwächt und tat weh, und ihr Magen würde noch ein paar Tage brauchen, bis er sich beruhigt hatte. Doch das waren Kleinigkeiten.

Cynthia zog das Laken bis zum Kinn und betrachtete wieder die Blumen. Sie waren am späten Nachmittag zusammen mit einer handschriftlichen Notiz von Jonathan Steele angeliefert worden. Er war erst am Morgen gegangen, nachdem sie ihr Bewusstsein wiedererlangt hatte. Insgeheim wünschte sie sich, dass er noch einmal vorbeikäme, um sie zu besuchen, bevor sie am folgenden Tag entlassen wurde. Doch Jonathan Steele war ein viel beschäftigter Mann, und sie waren praktisch Fremde. Es war schon ausgesprochen freundlich von ihm gewesen, dass er sich die ganze Zeit um ihre Familie gekümmert hatte.

„Nun ja“, sagte sie leise zu sich selbst. „Vielleicht hätte ich doch einen Schuh im Ballsaal zurücklassen sollen.“

Sie war fast schon eingeschlafen, als sie hörte, wie die Tür zu ihrem Zimmer leise geöffnet wurde. Sie öffnete die Augen und blinzelte ihren Besucher an. Jonathan Steele – groß, dunkelhaarig, unglaublich gut aussehend – stand an ihrem Bettende und hielt einen großen Plüschbären in der Hand.

„Ich war mir nicht sicher, ob Sie schon schlafen oder nur so tun“, scherzte er und warf einen Blick über die Schulter in Richtung Tür. „Ich konnte die Krankenschwester nur mühsam überreden, Sie besuchen zu dürfen, und ich musste ihr versprechen, nur zehn Minuten zu bleiben. Sonst muss ich um Leib und Leben fürchten. Haben Sie sie gesehen? Ich glaube, ich könnte es nicht mit ihr aufnehmen.“

Cynthia musste lachen, und ein wohliges Kribbeln durchlief ihren ganzen Körper. „Wie schön, dass Sie mich noch einmal besuchen.“ Blitzartig fiel ihr ein, dass sie im Nachthemd war, und dass ihr Haar vollkommen zerzaust sein musste. „Ich sehe bestimmt furchtbar aus.“

Jonathan zog einen Stuhl an ihr Bett heran und setzte sich dic...

Autor

Lynne Graham
<p>Lynne Graham ist eine populäre Autorin aus Nord-Irland. Seit 1987 hat sie über 60 Romances geschrieben, die auf vielen Bestseller-Listen stehen. Bereits im Alter von 15 Jahren schrieb sie ihren ersten Liebesroman, leider wurde er abgelehnt. Nachdem sie wegen ihres Babys zu Hause blieb, begann sie erneut mit dem Schreiben....
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Jacqueline Baird
Wenn Jacqueline Baird nicht gerade an einer Romance schreibt, dann liest sie viel und spielt gern Karten. Falls das Wetter es erlaubt, schwimmt sie häufig im Meer und bedauert, dass sie seit einer schweren Knieverletzung nicht mehr Segeln kann. Zwar ist sie dadurch zu einem „Leben an Land“ verurteilt, aber...
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