Julia Weihnachtsband Band 36

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DER ZAUBER JENER CHRISTNACHT von JENNIFER FAYE
Kara glaubt zu träumen, als ausgerechnet ihr Ex sie vor dem Schneesturm rettet. Sieben Jahre ist es her, seit Jason sie verlassen hat. Sieben Jahre, in denen die Single Mom Zeit gehabt hätte, ihm ihr Geheimnis zu verraten. Wird die Magie der Christnacht ihnen eine zweite Chance schenken?

IM GOLDENEN GLANZ DER KERZEN von JULIEANNE HOWELLS
Hunderte von Kerzen erhellen den Ballsaal, als Leo sie in seine Arme zieht: Obwohl Violetta den gefühlskalten Prinzen nur aus Pflichtbewusstsein geheiratet hat, erwacht pure Leidenschaft in ihr. Doch wird es ihr mit der Kraft der Liebe auch gelingen, das Eis um sein Herz zum Schmelzen zu bringen?

ERFÜLL MIR DIESEN WEIHNACHTSWUNSCH von ROBIN GIANNI
Als Mateo nach Spanien zurückkehren muss, beschließt der erfolgreiche Arzt, dass er seine dünkelhafte Familie nur mit seiner Kollegin Miranda ertragen kann – als Scheinverlobte. Schnell erfüllt die unkonventionelle Amerikanerin das Castillo mit ihrer Wärme und weckt damit in Mateo überraschende Weihnachtswünsche …

SINNLICHES HERZKLOPFEN AUF WINLEIGH CASTLE von MELODY SUMMER
Nancy freut sich, dass sie endlich den Lebensgefährten ihrer Mutter und dessen Familie kennenlernen wird. Doch als sie in deren verschneitem Schloss ankommt, stellt sie entsetzt fest, dass der Sohn des Hauses, der atemberaubend attraktive Cal, ihr größter beruflicher Konkurrent ist …


  • Erscheinungstag 07.10.2023
  • Bandnummer 36
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517270
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jennifer Faye, Julieanne Howells, Robin Gianna, Melody Summer

JULIA WEIHNACHTEN BAND 36

1. KAPITEL

Na, das kann ja heiter werden! Kara Jameson stand am Panoramafenster der Lobby des Greene Summit Skiresorts und blickte skeptisch in die tiefschwarze Nacht. Draußen tobte ein heftiger Wintersturm. Das schaurige Heulen des Winds und das Klappern der Fensterläden vermittelte den Eindruck eines Riesen, der mit schweren Schritten polternd und stöhnend um das Gebäude stapfte. Normalerweise freute sich Kara nach einem langen Arbeitstag auf die Heimfahrt, doch an diesem Abend war das anders.

Sehnsüchtig blickte sie sich noch einmal in der weitläufigen Hotellobby um. Die Zeiten, in denen das Greene Summit als eines der führenden Skiresorts in Pennsylvania gegolten hatte, waren zwar vorüber, doch zumindest für die Weihnachtszeit war ein wenig vom alten Glanz in die ehrwürdigen Hallen zurückgekehrt. In der Mitte des Raums stand ein riesiger Tannenbaum, der mit unzähligen Lichterketten und Kugeln in Grün und Rot üppig dekoriert worden war. Lebensgroße Rentierfiguren aus Weidengeflecht säumten den Eingangsbereich, und goldene Sterngirlanden schmückten die Empfangstheke. Aus versteckt angebrachten Lautsprechern ertönte eine muntere Version von Jingle Bells. Es war eine perfekte Szenerie, doch bei Kara wollte trotzdem keine Festtagsstimmung aufkommen. Sie sorgte sich um ihren Job.

Das Resort war verkauft worden, und es gab Gerüchte, dass es zu Personalentlassungen kommen würde. Und das so kurz vor Weihnachten!

Alles wird gut. Kara wiederholte den Satz in Gedanken wie ein Mantra, als ließe sich das Schicksal damit positiv beeinflussen. Doch sie hatte das ungute Gefühl, dass bald einschneidende Veränderungen auf sie zukommen würden.

„Kara, bist du das?“

Sie erstarrte, als sie die tiefe Stimme hinter sich vernahm.

Jason?

Das kann nicht sein. Er hat gesagt, er kommt nie wieder zurück!

Plötzlich war es, als wäre sie sieben Jahre in der Zeit zurückgereist. Genau hier, an diesem Ort, hatte ihr Jason damals das Herz gebrochen, als er die Verlobung gelöst und sie einfach verlassen hatte. Die Erinnerung daran, wie sie in Tränen aufgelöst aus der Lobby gestürmt war, überkam sie wieder mit aller Macht. Doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben.

Er ist es bestimmt nicht. Die Stimme klingt einfach nur ähnlich.

Doch als sie sich umdrehte und direkt in seine strahlend blauen Augen sah, gab es keinen Zweifel mehr: Es war eindeutig Jason. Er setzte ein leicht schiefes Grinsen auf.

„Hi.“

Kara blickte ihn völlig entgeistert an und wich schnell ein paar Schritte zurück. Sie presste die Lippen fest aufeinander und blieb reglos stehen, die Hände unbewusst zu Fäusten geballt.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Jason plötzlich besorgt. „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“ Er wies auf die Couch vor dem Kamin. „Vielleicht solltest du dich einen Moment hinsetzen.“

Kara reagierte nicht. Ja, sie fühlte sich wirklich, als würde sie gerade einer Erscheinung beiwohnen. Und jetzt bemühte sich der Geist auch noch um ihr Wohlbefinden!

Sie schaute sich Jason genauer an. Sie wusste, dass er die vergangenen Jahre bei der Armee verbracht hatte. Vermutlich stammte die Narbe auf seiner Wange, die trotz seines Dreitagebarts deutlich sichtbar war, aus dieser Zeit. Kara stellte erleichtert fest, dass die Verletzung ihn nicht entstellt hatte. Im Gegenteil, so wirkte er verwegener, irgendwie männlicher als früher. Und das war verflucht attraktiv.

Nur spielte das überhaupt keine Rolle. Er war lediglich ein Bekannter von früher, mehr nicht.

„Sieh an, Jason Greene“, sagte sie kühl. „Ich hätte nicht damit gerechnet, dir hier über den Weg zu laufen.“

Er strahlte sie an. „Es ist schön, dich zu sehen, Kara. Wie geht es dir?“

Doch Kara stand nicht der Sinn nach höflichem Geplänkel.

„Was tust du hier?“

Das Lächeln auf Jasons Lippen erstarb. Hatte er etwa einen herzlichen Empfang erwartet?

Er zuckte mit den Schultern. „Das hat berufliche Gründe.“

Kara sah ihm wieder in die Augen und merkte, dass er ihrem Blick auswich. Verheimlichte er etwas? Jedenfalls wirkte er nicht mehr wie der sorglose Sonnyboy, in den sie sich damals verliebt hatte. Aber offensichtlich hatte sie ihn ja schon immer völlig falsch eingeschätzt …

„Na dann, schönes Leben noch. Ich muss los.“ Kara wandte sich zum Gehen.

Jason trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Ich hatte gehofft, wir könnten die Vergangenheit hinter uns lassen und wieder normal miteinander umgehen.“

Kara hob trotzig das Kinn. „Wohl kaum.“

Sie hatte sehr lange dafür gebraucht, die Trennung von Jason zu verkraften, und würde nicht zulassen, dass er ihr erneut wehtat. Sie hatte auch so schon genug andere Probleme.

Wenn die neuen Eigentümer des Skiresorts Schlüsselpositionen im Unternehmen mit ihren eigenen Leuten besetzen würden – wie Kara es gehört hatte –, wäre möglicherwiese auch sie von den Entlassungen betroffen. Die Vorstellung, trotz jahrelanger Knochenarbeit bald ohne Job dazustehen, war beängstigend.

Kara wollte endlich gehen, doch Jason hielt sie fest. „Bitte, bleib. Ich habe mich noch gar nicht bei dir entschuldigt.“

Obwohl sie eine dicke Winterjacke trug, reagierte Kara sofort auf Jasons Berührung. Schnell versuchte sie, ihren Arm wegzuziehen, doch es gelang ihr nicht.

„Lass mich los“, befahl sie mit fester Stimme. „Ich glaube dir nicht, dass du bereust, was du getan hast. Sonst hättest du dich längst bei mir gemeldet oder wenigstens auf die Briefe deines Vaters geantwortet.“

Nun ließ Jason sie los. „Du hast noch Kontakt zu ihm?“

„Ja. Nachdem du fort warst, ging es rapide mit ihm bergab. Irgendjemand musste sich doch kümmern. Nicht zu wissen, wo du bist oder ob du überhaupt noch am Leben bist, hat ihm schwer zugesetzt.“

Sie bemerkte, wie Jason sich verkrampfte. „Das kann nicht sein. Mein Vater hat sich noch nie für mich interessiert.“

„Er ist sehr krank, Jason. Ich habe getan, was ich konnte. Aber jetzt braucht er dich.“

„Ich will nicht über meinen Vater sprechen“, meinte Jason harsch.

Kara erkannte, dass jede weitere Bemühung, ihn umzustimmen, wohl vergeblich war. Und es gefiel ihr nicht, dass seine Gegenwart sie so aufwühlte. Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.

Jason schlug einen versöhnlicheren Ton an: „Kara, ich weiß, dass es nie mehr so zwischen uns wird, wie es einmal war. Aber vielleicht können wir wenigstens wieder Freunde werden“, schlug er vor.

Das war pures Wunschdenken. Wahre Freundschaft hatte etwas mit bedingungslosem Vertrauen zu tun. Und Kara zweifelte an Jasons Aufrichtigkeit.

„Willst du damit andeuten, dass du in Pleasant Valley bleiben wirst?“, fragte sie vorsichtig.

„Ja, so ist es.“

Und wieder gab er nicht mehr Information preis als unbedingt nötig. Es war zum Verrücktwerden!

„Na dann, willkommen daheim“, meinte sie sarkastisch. „Ich muss gehen.“

Jason blickte durch die Glastüren nach draußen. „Der Schneesturm wird immer stärker. Es wird schwierig werden, mit dem Auto ins Tal zu kommen. Vielleicht solltest du lieber hier im Hotel übernachten.“

Kara schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Und du kannst auch nicht bleiben.“

„Wieso? Ich komme gut allein klar“, gab Jason zu verstehen.

Kara richtete sich zu voller Größe auf. „Das Resort ist wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Keine Widerrede. Du musst jetzt gehen.“

Es würde keinen guten Eindruck auf die neuen Besitzer des Hotels machen, wenn ein Besucher auf der Baustelle verunglückte.

Jason zog amüsiert eine Augenbraue nach oben. „Du spielst wohl gern den Boss, oder?“

„Ich tue, was nötig ist, um den Laden am Laufen zu halten“, verteidigte Kara sich.

„Das ist beruhigend. Ich hoffe, alle meine Angestellten sind so pflichtbewusst wie du.“ Jason setzte ein süffisantes Lächeln auf.

Deine Angestellten?“ Kara glaubte, sich verhört zu haben. Dann fiel der Groschen. „Du hast das Resort gekauft?“

„Ich und ein paar Investoren“, bestätigte Jason. „Es wird eine Mammutaufgabe, diesem alten Kasten wieder Leben einzuhauchen. Aber ich denke, mit dem richtigen Management und drastischen Budgetkürzungen wird es uns gelingen.“

Das war’s dann also mit meinem Job, dachte Kara. Sie stöhnte innerlich. Ohne Collegeabschluss war es fast unmöglich, noch mal eine vergleichbare Stelle zu ergattern. Auf jeden Fall würde sie umziehen müssen. Bei dem Gedanken, ihren Eltern das einzige Enkelkind vorenthalten zu müssen, brach es ihr das Herz.

„Super, jetzt darf ich wochenlang die Stellenanzeigen durchforsten“, murmelte sie missmutig.

„Wie bitte?“

„Nichts. Aber wenn ich jetzt nicht endlich losfahre, muss ich ein Schneemobil klauen, um nach Hause zu kommen.“ Schnell zog sie die dicken Wollhandschuhe an. „Gute Nacht, Jason.“

Kara ging bewusst langsam, den Blick fest auf die Eingangstüren gerichtet. Sie wollte sich den inneren Aufruhr, der in ihr tobte, nicht anmerken lassen.

Jason Greene war frustriert. Er hatte sehr wohl verstanden, was Kara da vor sich hingemurmelt hatte. Sie war anscheinend nicht bereit, für ihn zu arbeiten. Dabei waren ihr Wissen und ihre Erfahrung von unschätzbarem Wert für den Fortbestand des Hotels. Er konnte nicht zulassen, dass die beste Mitarbeiterin des Resorts einfach so ihren Dienst quittierte.

Als er nach draußen blickte, stellte er fest, dass der Schneefall noch heftiger geworden war. Kurzerhand entschied er, Kara nachzueilen, um sie zu überzeugen, doch die Nacht im Hotel zu verbringen. So konnte er ihr den gefährlichen Heimweg ersparen und hatte gleichzeitig die Gelegenheit, ihr die Kündigung vielleicht doch noch auszureden.

Entschlossen trat er hinaus in das Schneegestöber und machte sich auf den Weg zum Personalparkplatz. Die eisigen Windböen setzten ihm zu. Seine Muskeln wurden steif, und die alte Verletzung an seinem Bein – ein Souvenir aus Armeezeiten – begann höllisch zu schmerzen. Als er den Parkplatz endlich erreicht hatte, musste er feststellen, dass Kara längst fort war.

Resigniert wandte er sich um und hinkte zum Hotel zurück. Wieder in der Lobby angekommen, blieb Jason noch eine Weile am Fenster stehen und starrte auf die hohen Tannen, deren Äste sich unter der Schneelast bogen.

Die große Wiedereröffnung fand schon in drei Wochen statt. Und nur wenn alles reibungslos ablief, würden die Investoren mehr Kapital für den weiteren Umbau des Hotels zur Verfügung stellen.

Er musste unbedingt einen Weg finden, damit Kara ihm half, das Greene Summit Resort in eine neue Ära zu führen.

Doch wie sollte er mit einer Frau zusammenarbeiten, die eher dazu bereit war, es mit einem tödlichen Schneesturm aufzunehmen, als die Nacht mit ihm unter einem Dach zu verbringen?

2. KAPITEL

Durch das dichte Schneetreiben konnte Kara den Verlauf der kurvigen Bergstraße kaum noch erkennen. Sie stellte die Scheibenwischer auf eine höhere Frequenz, doch es half nichts. Die Sicht wurde immer schlechter.

Kara dachte an das Gespräch mit Jason zurück. Eigentlich hatte sie gehofft, dass mit dem Verkauf des Resorts das Kapitel ihrer gemeinsamen Vergangenheit endlich abgeschlossen war. Und jetzt stellte sich heraus, dass ausgerechnet er ihr neuer Boss war!

Kara bemerkte zu spät, dass sie geradewegs auf eine besonders enge Kurve zufuhr. Sie bremste zu stark ab, der Wagen geriet ins Rutschen, und plötzlich war jeder Gedanke an Jason vergessen. Während sie sich an das Lenkrad klammerte, versuchte sie, die aufsteigende Panik niederzukämpfen. Bleib ruhig, dann passiert schon nichts.

Das Auto begann seitlich auszubrechen und schlingerte zwischen der Leitplanke und den Bäumen auf der anderen Straßenseite hin und her. Kara versuchte verzweifelt, gegenzulenken. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Reifen wieder Bodenhaftung gewannen und der Wagen endlich zum Stillstand kam.

Das war knapp.

Mit einem Stoßseufzer ließ sie ihre Stirn auf das Lenkrad sinken und schickte ein kurzes Dankgebet gen Himmel.

Doch sobald die Erleichterung nachließ, wanderten ihre Gedanken wieder zurück zu Jason. Im Moment wollte sie einfach nur so viel Distanz wie möglich zwischen ihn und sich bringen. Also nahm sie den Fuß von der Bremse und ließ das Auto wieder langsam anrollen. Ob ich es jemals schaffen werde, unbefangen mit ihm umzugehen? Sie hoffte es sehr, denn solange sie hier in Pleasant Valley wohnte, würde sie ihm sicher ständig über den Weg laufen. Es ist so viel Zeit vergangen. Warum wühlt mich die Begegnung mit ihm dann immer noch so auf?

Frustriert schlug sie mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Es fühlte sich eiskalt an. Kara blickte nach unten und drehte den Regler für die Fahrzeugheizung höher. Als sie wieder hochsah, nahm sie einen kurzen Lichtblitz am Rande ihres Gesichtsfelds wahr. Sie blickte auf den Straßenrand, und noch bevor sie realisierte, dass das Licht der Scheinwerfer von einem Augenpaar reflektiert worden war, trat der kapitale Hirsch bereits auf die Fahrbahn.

Kara schrie entsetzt auf und leitete reflexartig eine Vollbremsung ein. Sie versuchte, das Lenkrad gerade zu halten, und stellte sich auf die unvermeidliche Kollision ein. Doch wie durch ein Wunder sprang der Hirsch in letzter Sekunde mit einem Riesensatz über die Motorhaube. Das Tier verschwand in den Tiefen des Walds, während Kara darum kämpfte, die Gewalt über ihren Wagen zurückzugewinnen.

Doch es war vergeblich. Eine Unebenheit auf der Fahrbahn ließ sie das Steuer verreißen. Das Auto kam von der Straße ab, rutschte einen steilen Hang hinab und kam dann mit einem heftigen Aufprall auf einem Felsvorsprung zum Stehen. Kara wurde unsanft nach vorn geschleudert. Der Gurt presste ihren Körper wieder zurück in den Sitz, doch durch den Rückschlag prallte ihr Kopf gegen die Seitenscheibe. Kara verlor das Bewusstsein.

Trotz Schneeketten am SUV ging Jason kein Risiko ein und fuhr die kurvige Bergstraße im Schneckentempo herab. Sein Magen knurrte fürchterlich, und er freute sich schon darauf, gleich zu Hause einen warmen Teller Suppe zu genießen.

Er blickte aufmerksam auf die Straße vor sich, die völlig verwaist schien. Außer einer einsamen Reifenspur, die langsam wieder zugeschneit wurde, gab es kein Anzeichen, dass sonst noch jemand unterwegs war.

Dann musste er wieder an Kara denken.

Ihr erstes Zusammentreffen nach so langer Zeit war nicht gerade reibungslos verlaufen. Doch er wollte unbedingt Frieden mit ihr schließen. Nur, wie sollte das funktionieren, ohne dass er ihr seine dunkelsten Geheimnisse offenbaren musste?

Der Schneefall war jetzt so stark, dass die Scheibenwischer nicht mehr für klare Sicht sorgten. In der Hoffnung auf bessere Sicht schaltete Jason zusätzlich die Nebelscheinwerfer ein.

Auf diese Weise stellte er fest, dass die Reifenspuren, denen er bereits seit geraumer Zeit gefolgt war, an einer Stelle plötzlich nach rechts ausscherten. Das verhieß nichts Gutes. Besser, ich sehe mal nach. Er brachte seinen Jeep vorsichtig zum Stehen und blickte sich um. Es war kein anderer Wagen zu sehen. An manchen Stellen war das Gelände hier sehr abschüssig. Wenn das Auto in eine Schlucht gestürzt war, gab es sicher Schwerverletzte, vielleicht sogar Tote.

Er sprang aus dem Wagen und holte die Taschenlampe aus dem Kofferraum. Dann leuchtete er auf die Stelle, an der die Reifenspuren von der Straße wegführten. Das Unterholz wies an dieser Stelle ein großes Loch auf. Er sah hindurch. Einige Meter unter ihm konnte er die Umrisse eines Wagens ausmachen. Verdammt! Der hintere Teil des Fahrzeugs schien unversehrt, doch vorn wirkte die Karosserie merkwürdig verkürzt. Und plötzlich beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Was, wenn das da unten Karas Auto ist?

Schnell zwängte er sich durch das Gebüsch und begann, den Hang hinabzuklettern. Er beeilte sich so sehr, dass er mit einem Fuß abrutschte und sich dabei das Knie verdrehte. Laut fluchend rang er den rasenden Schmerz, der durch sein ohnehin schon lädiertes Bein schoss, nieder und kämpfte sich weiter in Richtung Autowrack vor. Auch wenn er Höllenqualen litt und der eisige Wind ihn immer wieder niederzuwerfen drohte, konnte er jetzt nicht aufgeben. Er hatte eine Rettungsmission zu erfüllen.

Als er das Auto endlich erreicht hatte, fiel sein Blick auf das personalisierte Kennzeichen des Coupés: KARA-J. Jetzt hatte er Gewissheit.

Jason rannte zur Fahrerseite, konnte aber durch die vereiste Scheibe nichts erkennen. Die Autotür ließ sich nicht öffnen.

Er klopfte an das Seitenfenster. „Kara, bist du da drin? Sag was!“

Plötzlich vernahm er eine gedämpfte Stimme.

„Jason …“

„Kara!“, rief er erleichtert. „Geht es dir gut?“

Sie sprach so leise, dass sie kaum zu verstehen war. „Da war ein Tier auf der Straße. Ich konnte nicht mehr ausweichen. Ich glaube, das Auto ist hin. Die Türen gehen nicht mehr auf.“

Jason rannte um den Wagen, und dann sah er, warum Kara festsaß: Der Rahmen des Zweitürers war komplett verzogen, und Beifahrertür und – fenster wurden von einem umgestürzten Baumstamm blockiert.

„Keine Sorge, ich hole dich da raus.“

„Jason?“ Ihre Stimme klang plötzlich panisch. „Ich rieche Benzin.“

„Das ist nicht schlimm. Bei diesen Temperaturen ist Funkenbildung eher unwahrscheinlich.“

Auf einmal klang Karas Stimme deutlich lauter. „Das ist mir egal. Ich will hier raus!“

Jason überlegte. Karas Auto war ein älteres Modell.

„Kara, kannst du das Fenster herunterkurbeln?“

„Das geht nicht. Es klemmt.“ Sie hauchte gegen die Scheibe und rubbelte dann ein Guckloch frei. Er konnte ihre großen, angsterfüllten Augen sehen. „Jason, bitte hilf mir.“

Die Zeit und das Wetter arbeiteten gegen sie. Wenn sie noch länger hierblieben, drohte eine Unterkühlung. Also entschied sich Jason für eine drastischere Methode der Befreiung.

Er suchte den schneebedeckten Boden ab, bis er einen faustgroßen Steinbrocken fand. Dann rannte er zurück zum Auto. „Ich werde die Windschutzscheibe einschlagen. Zieh die Jacke über den Kopf und duck dich.“

Kara kam seiner Aufforderung nach, und dann drosch er so lange auf das Glas ein, bis es spinnennetzförmige Risse aufwies. Kara half ihm, indem sie auf den Beifahrersitz rutschte und mit beiden Füßen fest von innen gegen die Scheibe trat. Als das Loch groß genug war, zog Jason sie vorsichtig aus dem Inneren des Autos auf die Motorhaube. Von dort rutschte sie langsam nach unten, bis ihre Stiefel wieder den Boden berührten. So weit ging alles gut. Doch als sie sich aufrichten wollte, wurde ihr schwarz vor Augen, und sie kippte zur Seite. Jason fing sie gerade noch rechtzeitig auf und drückte sie fest an sich. Kara hielt sich an seinen Schultern fest und ließ ihren Kopf erschöpft auf seine Brust sinken.

Er strich mit der Hand über ihr kurzes, blondes Haar. „Keine Angst“, murmelte er beruhigend. „Ich hab dich.“

Kara schmiegte sich vertrauensvoll an ihn, und Jason wünschte sich, dass der Moment nie vorübergehen würde.

Doch der nasse Schnee, den eine heftige Böe direkt in sein Gesicht wehte, brachte ihn wieder zur Besinnung. Sie mussten hier weg.

Er musterte Kara genau. Von ihrer Stirn zog sich eine deutliche, rote Linie bis hin zu ihrer Wange. „Du blutest“, stellte er fest.

„Ach, ja?“, wunderte sich Kara. „Mir tut aber gar nichts weh.“

Sie wirkte abwesend. Jason machte sich jetzt ernsthaft Sorgen.

Er wischte das Blut vorsichtig mit einem Taschentuch weg. Dann stellte er erleichtert fest, dass es wohl nur von einer kleinen Schnittverletzung herrührte. „Sag Bescheid, falls dir übel wird oder du irgendwo Schmerzen verspürst.“

Sie nickte langsam.

Jason zog sein Smartphone aus der Tasche. Er blickte erst skeptisch auf das Display und hielt das Telefon dann in die Höhe. „Ich bekomme kein Netz. Sieht so aus, als müssten wir allein klarkommen.“

Kara schwankte leicht und zog ihre Jacke fester um sich. „Wie sollen wir denn mein Auto da wieder herausbekommen?“

„Dafür brauchen wir eine Winde. Und wenn wirklich Benzin ausgelaufen ist, müssen da Fachleute ran. Wir lassen den Wagen stehen, und ich schicke morgen jemand hoch, der sich darum kümmert.“

Kara zitterte plötzlich am ganzen Körper. „Wo sollen wir denn jetzt nur hin?“

Sie steht unter Schock, dachte Jason. Kein Wunder, nach dem, was sie gerade erlebt hat.

„Mein SUV steht oben an der Straße. Ich bring dich hin.“

Er half ihr dabei, den Hang hinaufzuklettern, stets darauf bedacht, sein schmerzendes Bein möglichst wenig zu belasten. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie endlich den Geländewagen erreichten, der mit noch laufendem Motor am Straßenrand stand. Schnell kletterte Kara auf den Beifahrersitz. Jason wühlte kurz im Kofferraum und brachte ihr eine Decke. „So, gleich wird’s wärmer.“

Er wollte gerade die Autotür schließen, als Kara etwas einfiel. „Meine Handtasche und mein Handy. Die sind noch im Auto.“

Jason fluchte innerlich. Warum hatte er nicht gleich daran gedacht, alles mitzunehmen? „Du bleibst hier. Dreh die Heizung hoch. Ich hole deine Sachen.“

Dann machte er sich wieder auf den Weg zurück zum Wrack. Sein Bein fühlte sich steif an, und es fiel Jason zunehmend schwerer, sich fortzubewegen. Unbeholfen rutschte er abermals den Hang hinab und hinkte dann schwerfällig zu Karas Wagen. Als sein Blick wieder auf das verbogene Metall fiel, dachte er, dass Kara unglaubliches Glück hatte, noch am Leben zu sein.

Und er empfand tiefe Dankbarkeit, weil sie ihm immer noch sehr am Herzen lag.

Aber er schwor sich, dass er die Situation nicht ausnutzen würde. Er würde sie sicher nach Hause bringen und dann wieder gehen. Alles andere wäre unmoralisch.

Kara erwartete ängstlich Jasons Rückkehr. Als sie endlich wieder seine Silhouette im Scheinwerferlicht erblickte, atmete sie erleichtert auf. Aber irgendetwas stimmte nicht. Sie blickte durch das Seitenfenster und stellte fest, dass er humpelte. Oh, Gott! Er hat sich verletzt!

Als er die Beifahrertür aufriss, fragte sie besorgt: „Geht es dir gut?“

„Alles bestens“, sagte er knapp.

Er überreichte ihr die Tasche und das Handy und stieg dann auf der Fahrerseite ein. Es war lange her, dass sie so nahe beieinander gesessen hatten. Und Kara hatte das Gefühl, als lägen immer noch Welten zwischen ihnen.

Dennoch konnte sie Jasons Zustand nicht ignorieren. „Ich glaube dir nicht. Du kannst kaum laufen.“

„Mach dir keine Sorgen. Ich werde das Bein später hochlegen, dann wird das schon wieder.“

Sein gequälter Gesichtsausdruck verriet, dass er starke Schmerzen hatte. Kann er denn nie mal mit der ganzen Wahrheit herausrücken?

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

Jason schüttelte den Kopf. „Der Schneesturm wird immer schlimmer. Können wir los?“

„Ja, bitte. Ich muss dringend nach Hause. Meine Familie sorgt sich bestimmt schon.“

Jason riss sich die nasse Mütze vom Kopf und warf sie auf den Rücksitz. Dann knöpfte er seine Jacke auf und zog einen pinkfarbenen Teddybär daraus hervor.

„Den habe ich in deinem Wagen gefunden.“

„Oh, das ist Bubbles.“ Ihre Tochter Samantha hatte wohl ihr Lieblingskuscheltier im Auto vergessen, als Kara sie am Morgen bei den Großeltern abgesetzt hatte.

Jason gab ihr das rosa Fellknäuel. „Bubbles? Was ist das denn für ein Name?“

„Er heißt so wegen der Farbe, der gleichen wie die Kaugummis ‚Bubblegum‘. Also: Bubbles – logisch, oder?“

„Natürlich.“

Kara sah zu ihm hinüber und erwartete, dass er schmunzelte, doch sein Gesicht wirkte ausdruckslos. Was war nur mit dem fröhlichen Jason von früher passiert? Der Mann, der jetzt neben ihr saß, wirkte humorlos und gehetzt.

Sie drückte Bubbles fest an sich. „Danke, dass du ihn gerettet hast.“

„Bist du nicht ein wenig zu alt für Kuscheltiere?“, fragte er irritiert.

Kara wusste, dass sie ihm eine Erklärung schuldete. Doch sie war nicht bereit, ihm jetzt schon die ganze Wahrheit über Samantha zu offenbaren. Also sagte sie nur: „Der Bär gehört meiner Tochter.“

3. KAPITEL

Kara starrte missmutig in den dunklen, sternenlosen Himmel. Heute war wirklich nicht ihr Tag. Erst dieser blöde Unfall, und dann war es ausgerechnet Jason gewesen, der sie gerettet hatte. Zu allem Übel hatte er auch noch Bubbles gefunden. Jetzt würde er keine Ruhe mehr geben.

„Du hast ein Kind?“, fragte er denn auch prompt.

„Während du fort warst, ist eine Menge passiert“, sagte sie ausweichend.

„Du hast also einen Neuen.“ Seine Stimme klang seltsam gepresst.

Kara war es peinlich, zuzugeben, dass sie Single war. Sie dachte daran, zu flunkern, doch sie wusste genau, dass Jason sie durchschauen würde. Also blieb sie bei der Wahrheit. „Nein. Ich lebe allein mit Samantha.“

„Und ich dachte, sobald ich weg bin, stehen die Männer bei dir Schlange.“

„Tja, falsch gedacht.“

Sie unterdrückte ein Seufzen. Die Erfahrung, erst verlassen zu werden und dann auch noch herauszufinden, dass sie schwanger war, hatte ihr den Spaß an Beziehungen erst einmal gründlich verdorben. Und als sie sich dann endlich wieder auf Partnersuche begab, hatte sie feststellen müssen, dass sich viele Männer von einer alleinerziehenden Mutter abschrecken ließen.

Doch Samantha war ihre höchste Priorität. Und wenn ein potenzieller Partner das nicht verstand, war er sowieso nicht der Richtige.

Kara bemerkte, dass Jason ihr immer wieder Blicke zuwarf, doch sie ignorierte ihn und starrte in die dunkle Nacht. Der dichte Schneefall erinnerte sie plötzlich daran, wie Jason und sie als Teenager auf dem zugefrorenen Weiher Schlittschuh gelaufen waren. Damals waren sie unzertrennlich gewesen. Vielleicht tat es ihm wirklich leid, dass er einfach so aus ihrem Leben verschwunden war. War er zurückgekehrt, um es wiedergutzumachen?

Sie sah verstohlen zu ihm hinüber. Er umklammerte das Lenkrad und versuchte, den Geländewagen sicher durch das Schneechaos zu steuern. Als er plötzlich wieder den Kopf in ihre Richtung drehte, wandte sie sich schnell ab und konzentrierte sich auf die Bewegung der Scheibenwischer, die kleine Häufchen von Schneeflocken quer über die Windschutzscheibe verteilten.

Auf einmal ertönte ein lautes Krachen. Kara sah, wie etwas Großes auf die Straße stürzte. „Pass auf, da liegt ein Baum!“, rief sie panisch.

Jason riss das Steuer nach links, und der Jeep geriet mit zwei Reifen auf den unbefestigten Seitenstreifen. Kara wurde so heftig durchgeschüttelt, dass ihr Oberkörper drohte, gegen den Fahrersitz geschleudert zu werden. Reflexartig streckte Jason den Arm aus, und presste sie kraftvoll zurück in den Sitz. In diesem Moment empfand sie keine Furcht, denn sie fühlte sich sicher in seiner Obhut.

Er brachte den Wagen wieder unter Kontrolle und fuhr dann auf der Straßenmitte.

„Tut mir leid. Ist bei dir alles okay?“

Kara war tief in den Sitz gerutscht und richtete sich langsam wieder auf. „Nichts passiert.“

Sie wollte nicht zugeben, dass ihr Herz trotzdem wie wild schlug. Vor allem, weil das nichts mit dem Ausweichmanöver zu tun hatte.

Jason fuhr jetzt Schrittgeschwindigkeit. „Halt dich gut fest, wer weiß, was sonst noch auf der Straße liegt.“

Kara wurde unruhig. Wenn sie in diesem Tempo weiterfuhren, würde sie erst im Morgengrauen wieder zu Hause sein.

„Glaubst du wirklich, wir schaffen es bis nach unten?“

Jason legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. „Sicher, nur keine Angst.“

Eigentlich hatte sie sich geschworen, ihm nie wieder zu vertrauen. Doch in dieser Ausnahmesituation blieb ihr keine Wahl. Und seine Berührung fühlte sich so gut, so richtig an …

„Kara, warum arbeitest du eigentlich immer noch im Resort?“, fragte er plötzlich.

„Du meinst, warum ich nicht von hier geflüchtet bin, so wie du?“, konterte sie.

„Lenk jetzt nicht ab.“ Er klang ernst. „Du wolltest doch immer reisen, etwas von der Welt sehen. Stattdessen bleibst du hier und arbeitest für meinen Vater, den Versager. Ich versteh’s nicht.“

Kara war empört. „Jetzt komm mal von deinem hohen Ross herunter, Jason. Dein Vater und ich haben alles versucht, um das Resort zu retten. Und mit ein bisschen Unterstützung von dir hätten wir es vielleicht auch geschafft. Aber du bist einfach davongelaufen.“

„Ja, klar. Ich hatte ja auch nichts Wichtiges zu tun.“ Sein wutentbrannter Blick war furchteinflößend. „Nur zu deiner Information: Während ihr hier heile Familie gespielt habt, habe ich einen wichtigen Dienst für unser Land geleistet.“

„Wenn dir das so viel bedeutet, warum bist du dann nicht mehr bei der Armee?“, hakte Kara nach.

Jason zögerte. „Weil ich aus medizinischen Gründen vom Militärdienst entbunden wurde“, antwortete er ausweichend.

Kara ahnte, dass ihm etwas Schreckliches zugestoßen sein musste. Vielleicht hatte er sogar dem Tod ins Auge gesehen. Sicher war es besser, nicht weiter in ihn zu dringen. Es ging sie ohnehin nichts mehr an.

Doch sie ertrug es auch nicht, die weitere Fahrt in angespannter Stille zu verbringen. Also versuchte sie, ein anderes Thema zu finden. „Dein Vater muss unglaublich froh sein, dass du wieder wohlbehalten zurückgekehrt bist.“

„Er weiß vermutlich gar nicht, dass ich wieder hier bin. Am besten belassen wir es auch dabei.“

Das erschütterte Kara zutiefst. Was war denn nur vorgefallen, dass Jason es nicht über sich brachte, seinem Vater zu vergeben?

„Du musst zu ihm gehen“, beschwor sie ihn. „Die Ärzte sprechen von Leberversagen. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit.“

Jasons Blick wurde eiskalt. „Das hat er sich selbst zuzuschreiben. Wenn man sich fast ausschließlich von Hochprozentigem ernährt, bleibt das nun mal nicht ohne Folgen.“

Kara war entsetzt.

Nach dem Tod von Jasons Mutter hatte sich das Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater zunehmend verschlechtert. Doch so schlimm wie jetzt war es zuvor noch nie gewesen. Kara hatte keinerlei Verständnis dafür. Ihre Familie war zwar nicht perfekt, aber sie wollte sie trotzdem nicht missen.

Sie beschloss, zu vermitteln. „Wenn ich ihn das nächste Mal im Pflegeheim besuche, sage ich ihm, dass du wieder zurück bist.“

„Halt dich da raus, Kara. Der alte Mann und ich haben uns nichts mehr zu sagen.“ Er schien es ernst zu meinen.

Doch so schnell wollte sie nicht aufgeben. „Er hat sich verändert, Jason. Er trinkt nicht mehr …“

„Schluss damit.“ Jason war am Ende seiner Geduld. „Ich muss mich auf die Straße konzentrieren.“

Kara sackte ein wenig in ihrem Sitz zusammen. Er hatte recht. Jetzt war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um alte Familienfehden aufzuarbeiten. Wenigstens hatte sie es geschafft, Jason über den Zustand seines Vaters zu informieren. Mehr konnte sie im Moment nicht tun. Es blieb nur die Hoffnung, dass er noch rechtzeitig Frieden mit ihm schloss, bevor es zu spät war.

Kara sah auf die Uhr. Zur vollen Stunde gab es auf fast allen Sendern Nachrichten. Sie schaltete das Autoradio ein und betätigte den Suchlauf. „Mal sehen, ob wir den Wetterbericht empfangen können.“

„Und jetzt eine Eilmeldung des Nationalen Wetterdienstes“, tönte die Stimme des Redakteurs aus den Lautsprechern. „Eine Kaltfront aus der Arktis bringt uns noch mehr Niederschlag in den Höhenlagen. Es muss mit mindestens vierzig Zentimetern Neuschnee gerechnet werden.“

„Du lieber Himmel“, entfuhr es Kara.

„Das überleben wir auch noch“, meinte Jason. Doch damit waren die Horrormeldungen noch nicht vorbei. „In den Abendstunden wird es durch Luftströmungen aus südlicher Richtung zu einem kurzfristigen Temperaturanstieg kommen“, fuhr der Ansager fort. „Die Temperatur sinkt danach aber schnell wieder unter den Gefrierpunkt. Sobald das passiert, werden die Schneefälle in Eisregen übergehen. In Kombination mit den angekündigten Windgeschwindigkeiten besteht die Gefahr von Windbruch, und es muss auch mit Stromausfällen gerechnet werden …“

Kara schaltete das Radio wieder aus. Ein kurzer Blick auf Jason, der mit zusammengekniffenen Augen auf die Straße starrte, genügte, um zu wissen, wie heikel die Situation war.

Nur ein paar Minuten später kam der SUV unter einer mächtigen Ulme zum Stehen. Kara wunderte sich. „Wieso halten wir hier?“

„Weiterzufahren wäre viel zu gefährlich. Wir werden hier ausharren, bis der Sturm vorbei ist“, bestimmte Jason.

Kara blickte sich um und sah ringsum nichts als riesige, schneebedeckte Bäume und hohe Büsche. „Hier? Mitten im Nirgendwo?“, fragte sie entsetzt. Will er, dass wir im Auto erfrieren?

Jason wies auf einen Punkt jenseits der Büsche. Dort wurden bei genauerem Hinsehen die Spitze eines Dachs und ein Schornstein sichtbar. „Da in der Blockhütte können wir übernachten.“

Sie wurde nervös. „Ich kann nicht mit dir die Nacht hier verbringen“, protestierte sie. Obwohl eigentlich nichts dagegen sprach, schließlich war ihre Tochter bei den Großeltern gut aufgehoben.

Jason runzelte die Stirn. Er schien ebenso wenig von der ganzen Situation angetan zu sein wie sie selbst. „Warum? Hast du Angst davor, mit mir allein zu sein?“, fragte er irritiert.

„So ein Unsinn“, sagte sie ein wenig zu schnell und wich dabei seinem Blick aus. „Ich habe nur viel zu tun. Ich kann es mir nicht erlauben, hier festzusitzen.“

„Wir haben keine andere Wahl“, beteuerte Jason und stieg vorsichtig aus dem Wagen. „Warte hier drin, bis ich den Weg freigeschaufelt habe.“

Doch Kara wollte nicht, dass er sein verletztes Bein weiter übermäßig belastete. Sie sprang aus dem Jeep und meinte: „Nicht nötig, ich denke, wir kommen so durch.“

Als Jason vorausgehen wollte, hielt er inne und verzog vor Schmerz das Gesicht. Kara trat zu ihm. „Stütz dich ein wenig auf mich, dann geht es leichter.“

Jason zögerte einen kurzen Moment, doch als er schließlich widerwillig seinen Arm über ihre Schulter legte und so ein Teil der Last von seinem Bein genommen wurde, seufzte er erleichtert auf. Kara versuchte, ihn so gut wie möglich beim Gehen zu unterstützen, und bemühte sich gleichzeitig, die Gefühle im Zaum zu halten, die dabei in ihr aufstiegen.

Als das Haus in Sichtweite kam, bedachte Kara die eigentümliche Holzkonstruktion aus riesigen Baumstämmen mit einem prüfenden Blick. Jetzt, wo keine Büsche und Bäume mehr die Sicht versperrten, sah sie erst, wie groß und komfortabel der Unterschlupf war. Eigentlich war es keine Hütte, sondern vielmehr ein raffiniert gestaltetes Blockhaus. Dort konnte man es bestimmt eine Weile aushalten. Doch hier mit Jason eingeschneit zu werden, war riskant. Sie durfte nicht wieder auf ihn hereinfallen …

„Weißt du überhaupt, wem dieses Haus gehört?“, wollte sie wissen. „Nicht, dass wir wegen versuchten Einbruchs verhaftet werden.“

„Erinnerst du dich gar nicht mehr?“, wunderte sich Jason. „Du warst schon mal hier. Es war das Haus meiner Großeltern, und jetzt gehört es mir.“

Durch den heftigen Schneefall wirkte die Umgebung fremd, aber als sie langsam die drei Stufen zur Veranda emporstiegen, hatte sie plötzlich ein Déjà-vu. Sie lächelte, als die Erinnerung zurückkam. „Deine Großmutter hat immer Schokoplätzchen gebacken. Die waren himmlisch. Sie war eine wirklich nette Frau. Ich habe sie sehr gemocht.“

„Sie hatte dich auch in ihr Herz geschlossen“, sagte Jason und lächelte versonnen. Er schien in der Erinnerung an bessere Zeiten zu schwelgen. „Meine Großeltern waren immer für mich da. Sie haben mir nicht nur dieses Haus vererbt, sondern auch noch einen Treuhandfonds für mich eingerichtet, damit mein Vater das Geld nicht verpulvern konnte.“ Jetzt wirkte er wieder ernst.

Als sie die Stufen der Veranda hochstiegen, fiel Kara der frisch geschlagene Tannenbaum auf, der neben der Eingangstür lag.

„Jetzt bin ich aber richtig neidisch“, gab sie zu. „Du hast einen echten Weihnachtsbaum! Bei uns steht immer nur ein Kunstbaum. Der ist zwar auch hübsch, aber ich vermisse den Duft von Harz und frischen Tannennadeln.“

Jason schien wenig begeistert. „Den hat mein Nachbar vorbeigebracht. Er weiß nicht, dass ich mit Weihnachten nichts anfangen kann.“

„Was soll das denn heißen?“ Kara riss überrascht die Augen auf. „Das ist doch die schönste Zeit im Jahr!“

„Nicht für mich“, sagte er mit Nachdruck.

Weihnachten war ein Fest der Familie. Die Vorstellung, dass Jason die Feiertage ganz allein in einer Hütte im Wald verbringen würde, brach Kara das Herz.

„Ich verstehe, dass du nicht mit deinem Vater feiern willst. Aber warum nicht mit Freunden?“, fragte sie.

Jason schüttelte den Kopf. „Kein Interesse.“

„Wie war das denn beim Militär? Da gab es doch sicher auch eine Weihnachtsfeier, oder?“

Er hielt inne. „Ich habe mich an den Feiertagen immer freiwillig zum Wachdienst gemeldet“, sagte er knapp. „Sobald das Wetter wieder besser ist, wird der Baum entsorgt.“

„Untersteh dich!“ Kara war empört. „Dafür ist er viel zu schade. Du solltest ihn aufstellen und schmücken. Du wirst sehen: Ein wenig Weihnachtszauber wird dir guttun.“

Jason antwortete nicht, sondern schloss die Haustür auf. Als Kara an ihm vorbeiging, streifte ihr Arm kurz seinen – und es fühlte sich an, als würde ein Funke zwischen ihnen überspringen. Kara versuchte verzweifelt, das Gefühl zu ignorieren.

Das Schicksal hatte es so gewollt, dass sie jetzt hier zusammen ausharren mussten. Doch Kara schwor sich, dass sie trotz aller Versuchung standhaft bleiben würde.

4. KAPITEL

Beim Blick aus dem Fenster wurde Kara klar, dass sie nun endgültig festsaßen. Draußen türmte sich der Schnee immer höher auf, und ein eisiger Wind pfiff durch die hohen Tannen.

„Langsam wird’s da draußen so richtig ungemütlich“, meinte Jason, klopfte sich den Schnee von den Stiefeln und schaltete die kleine antike Lampe auf dem Couchtisch ein. Dadurch wurde das Zimmer in ein sanftes Licht getaucht, und Kara fühlte sich gleich ein wenig mehr zu Hause.

Als sich ihre Augen an die neue Lichtquelle gewöhnt hatten, sah sie sich ein wenig im Wohnzimmer um. Ihr gefiel das gemütlich-rustikale Ambiente in Jasons Haus. Die Möbel aus poliertem Ahorn waren schon alt, aber noch gut in Schuss. Damit der Fußboden aus dunklem Eichenholz nicht zu karg wirkte, war darüber ein ovaler, blauer Teppich ausgebreitet worden. Außer der großen Couch, einem Tisch und einem Bücherregal gab es noch zwei Sessel. Doch das Beste war der große Kamin.

Jason kniete sich ächzend davor nieder und entzündete mithilfe von altem Zeitungspapier und kleinen Spänen ein Feuer. Schon bald wurde es wärmer im Zimmer. Kara öffnete den Reißverschluss ihrer nassen Jacke und stellte sich vor den Kamin. Dankbar streckte sie ihre klammen Finger über den Flammen aus. Jetzt, wo sie in Sicherheit waren, ertappte sie sich bei verbotenen Gedanken. Sie stellte sich vor, wie sie mit Jason auf der Couch saß und sich an ihn kuschelte, während sie Pläne für ihre gemeinsame Zukunft schmiedeten.

Doch das hier war keine Flitterwochensuite, sondern nur ein vorübergehender Zufluchtsort. Sobald die Straßen wieder frei waren, würde sie schnellstmöglich nach Hause zurückkehren. Und bis es so weit ist, werde ich Jason einfach aus dem Weg gehen, dachte sie fest entschlossen. Sicher ist sicher.

Um sich abzulenken, ließ Kara abermals ihren Blick durch den Raum schweifen. Ihr fiel auf, wie blitzblank und ordentlich alles wirkte. Nirgendwo war Staub zu sehen. Die Couchkissen hatten einen perfekten Mittelknick, und die Sportmagazine auf dem Regal waren zu akkuraten Stapeln aufgeschichtet worden.

Jason schien ihre prüfenden Blicke zu bemerken. „Stimmt was nicht?“

„Du meinst, abgesehen davon, dass ich hier mit dir festsitze?“ Sie konnte sich den kleinen Seitenhieb nicht verkneifen. „Na ja, ich wundere mich nur, dass hier alles so sauber und aufgeräumt ist. Ich dachte immer, dass Männer, die allein leben, schrecklich unordentlich sind.“ Sie zögerte. „Oder wohnt hier sonst noch jemand?“ Irgendwie gefiel ihr die Vorstellung gar nicht.

„Ich bin Single“, sagte er schlicht. „Und ich habe auch keine Haushälterin, falls du das vermutest. Ordnung habe ich beim Militär gelernt. Da musst du immer darauf gefasst sein, innerhalb kürzester Zeit marschbereit zu sein. Und das geht nur, wenn die Ausrüstung in perfektem Zustand ist.“

Kara entspannte sich ein wenig, beschloss aber, das Gespräch auf unverfänglicheres Terrain zu lenken.

Sie schaute nach oben. „Das ist ein tolles Haus. Die hohen Decken und die Art, wie die Kaminführung in die Dachsparren integriert wurde, gefallen mir besonders gut.“

„Am schönsten ist es hier bei Sonnenaufgang, dann zaubert das Morgenlicht spektakuläre Rottöne auf die Wände“, schwärmte Jason.

Das klang nach der perfekten romantischen Kulisse für eine Liebesnacht … Doch Kara schob den Gedanken schnell weit von sich. Sie wies auf den Bereich, der sich an den Kamin anschloss. „Was befindet sich dort drüben?“, fragte sie interessiert.

„Mein Großvater hatte da sein Arbeitszimmer“, antwortete Jason. „Nun ist es mein Büro.“

Je länger Kara sich umsah, desto mehr gab es zu entdecken. Wie zum Beispiel die enge Wendeltreppe, die sich am anderen Ende des Raums einem Durchlass in der Decke entgegenschraubte. „Wo führt denn diese Treppe hin?“

„Der Dachboden ist ausgebaut. Im Moment steht da nur Gerümpel. Sobald ich ein wenig Luft habe, schmeiße ich den ganzen Krempel weg.“

„Du willst einfach alles wegwerfen? Vielleicht gibt es dort oben ein paar Dinge, die du später mal an deine Kinder weitervererben könntest“, wandte Kara ein.

Jasons Blick wurde hart. „Ich habe nicht vor, Vater zu werden, also muss ich auch nichts aufheben.“

Das klang endgültig. Kara war schockiert. Als sie damals ein Paar gewesen waren, hatten sie darüber gesprochen, wie schön es wäre, wenn sie eine kleine Kara und einen kleinen Jason bekommen würden.

In diesem Moment war er ihr wieder vollkommen fremd. Oh, Jason. Was hat dich nur so verändert?

„Ich hol uns etwas Warmes zu trinken.“ Jason wollte offenbar nicht weiter über das Thema sprechen. „Und du musst aus den nassen Kleidern raus.“ Er wies auf eine Tür am anderen Ende des Raums. „Da drin kannst du dich umziehen.“

„Ich habe nichts zum Wechseln dabei“, protestierte Kara. „Außerdem muss ich dringend meine Familie anrufen.“

„Dazu ist später noch genug Zeit. Ich besorge dir gleich trockene Kleidung.“

Als Jason sich bückte, um seine Stiefel auszuziehen, stöhnte er auf und schien sich nicht mehr aufrichten zu können. Kara kam ihm zu Hilfe, indem sie ihn vorsichtig am Arm packte und nach oben zog. Er wollte sie abschütteln, aber Kara verstärkte ihren Griff. Dabei spürte sie die Bewegung seiner beeindruckenden Muskeln unter ihren Fingerspitzen. Sie ignorierte das Begehren, das in ihr aufstieg, und zerrte Jason unter großer Kraftanstrengung zu dem Sessel, der am Fenster stand.

„Hinsetzen“, befahl sie im gleichen Tonfall, den sie auch bei ihrer Tochter verwendete, wenn die mal wieder auf stur schaltete. „Du hast dein Bein heute schon genug strapaziert.“

Widerwillig ließ Jason sich auf dem weichen Sitzpolster nieder. Kara kniete sich vor ihn. Es war gar nicht so einfach, die Schnürsenkel an seinen Stiefeln zu lösen, da sie an manchen Stellen schon festgefroren waren.

„Du bist viel energischer als früher“, stellte Jason fest. „Hat das damit zu tun, dass du jetzt Mutter bist?“, fragte er. Kara fühlte sich überrumpelt. Das war eine ziemlich persönliche Frage.

„Ich denke schon.“ Über ihre Tochter zu sprechen und Jason gleichzeitig so nahe zu sein, überforderte sie maßlos. Ihre Finger schienen ihr nicht mehr gehorchen zu wollen. „Ich hab’s gleich. Nur noch ein Knoten …“

Sie biss sich auf die Unterlippe und versuchte, mit Fingerspitzengefühl vorzugehen. Doch irgendwann war sie mit ihrer Geduld am Ende und entschied sich für eine etwas robustere Vorgehensweise. Ein starker Ruck, und die Schnürsenkel lösten sich endlich. Und das gerade noch rechtzeitig, denn in dieser Position so nah bei Jason zu verharren, hatte Karas Selbstbeherrschung auf eine viel zu harte Probe gestellt.

Sie sprang wieder auf und ging zum Kamin. Ja, sie mochte Jasons Haus, aber es gefiel ihr nicht, dass sich das Leben hier ausschließlich in einem großen, offenen Raum abzuspielen schien. Wo blieb da die Privatsphäre?

Da fiel ihr Blick auf zwei Türen direkt unterhalb der Wendeltreppe. Es gibt noch weitere Zimmer! dachte sie erleichtert. Vielleicht kann ich mich dort aufhalten, bis der Sturm endlich vorbei ist.

Jason erhob sich gerade wieder. „Komm mit, wir suchen etwas zum Anziehen für dich heraus.“

Er ging in eines der Zimmer, und Kara folgte ihm. Dann blieb sie wie angewurzelt stehen. Nein, hier konnte sie nicht bleiben! Sie standen in Jasons Schlafzimmer.

„Was ist denn in dem anderen Raum?“, fragte sie schnell.

„Der ist komplett mit Möbeln zugestellt. Meine Großmutter konnte sich nur schwer von Dingen trennen“, gab Jason zu.

Diese Option fiel also aus.

Kara sah sich in seinem Schlafzimmer um. Es gab nur zwei Möbelstücke. An der Wand stand eine Kommode mit zahlreichen Schubladen. Doch viel interessanter war das große Doppelbett, über das eine buntgemusterte Patchworkdecke gebreitet worden war. Kara wusste sofort, was sie dort jetzt am liebsten mit Jason getan hätte …

Sie dachte sehnsüchtig an den Sommer zurück, als sie im zweiten Jahr auf dem College gewesen war. Jason hatte ihr gestanden, dass er Pleasant Valley verlassen wollte, um zur Armee zu gehen. Und dann war er auf die Knie gesunken und hatte um ihre Hand angehalten. Kara hatte, ohne zu zögern, sofort Ja gesagt. Und mehr noch, sie hatte das College ohne Abschluss verlassen, damit Jason nicht länger auf sie warten musste. Schließlich konnte sie ihre akademische Ausbildung auch im Fernstudium vollenden. Es schien der perfekte Plan zu sein.

Sie waren so verrückt nacheinander gewesen, dass sie die Zeit vor der Hochzeit hauptsächlich dafür genutzt hatten, sich an einem abgelegenen Plätzchen unten am Fluss zu treffen, um sich zu lieben. Und Kara hatte sich wie im siebten Himmel gefühlt.

Als Jason dann die Verlobung gelöst und Pleasant Valley ohne Kara verlassen hatte, war sie am Boden zerstört gewesen. Sie hatte nicht nur die Liebe ihres Lebens verloren, sondern auch ihre ganze Zukunftsperspektive. Sie hatte immer davon geträumt, etwas von der Welt zu sehen, was sowohl das Leben als Frau eines Soldaten als auch eine Karriere als Journalistin ermöglicht hätte. Doch kurz nachdem Jason gegangen war, hatte sie festgestellt, dass sie ein Kind erwartete. Ihre Eltern waren nicht in der Lage gewesen, ihr finanziell unter die Arme zu greifen, also beschloss sie, ihre Collegeausbildung weiter auf Eis zu legen und stattdessen Vollzeit im Greene Summit Resort zu arbeiten.

Kara hatte quasi über Nacht erwachsen werden müssen, um sich angemessen um ihre Tochter kümmern zu können. Obwohl ihre Eltern sie bei der Betreuung der kleinen Samantha unterstützten, war es immer noch eine große Herausforderung gewesen, Kind und Beruf unter einen Hut zu bringen. Doch trotzdem hatte Kara ihre Entscheidung, Mutter zu werden, nie bereut.

Das Geräusch einer Schublade, die mit Schwung zugeschoben wurde, brachte Kara wieder in die Gegenwart zurück. Jason hielt ihr eine graue Jogginghose und ein rotkariertes Holzfällerhemd entgegen.

„Danke.“ Kara nahm die Kleidung und achtete dabei darauf, seine Hand nicht zu berühren.

„Zum Badezimmer geht’s da lang.“ Er deutete auf den Durchgang hinter sich. „Ich setze inzwischen Teewasser auf.“ Und schon war er verschwunden. Kara lehnte sich erschöpft an die geschlossene Tür und presste Jasons Kleidungsstücke an sich. Ihr Herz klopfte wild, als sie den frischen Duft aus Zitrusnoten wahrnahm, den selbst ein Waschgang nicht ganz hatte tilgen können. Jason trug immer noch dasselbe Aftershave wie damals. Sie konnte nicht widerstehen und vergrub ihre Nase in dem groben Stoff des Hemds, atmete tief ein und seufzte.

Warum werde ich immer noch schwach, wenn es um ihn geht? Hat er mir nicht schon genug angetan?

Damit sie nicht wieder in alte Grübeleien verfiel, zog sie schnell die immer noch feuchte Kleidung aus und sprang unter die Dusche. Das warme Wasser lockerte ihre verspannte Muskulatur und wirkte Wunder auf ihre unruhige Seele. Sobald die Nervosität ein wenig von ihr abgefallen war, beschloss Kara, Jason so zu behandeln, als wäre er nur ein Fremder, der ihr zufällig zu Hilfe gekommen war.

Als sie wenig später frisch geduscht und warm verpackt in Jasons Kleidung wieder ins Schlafzimmer trat, warf sie einen prüfenden Blick in den ovalen Spiegel, der über der Kommode hing. Die Schramme auf ihrer Stirn war halb so schlimm, aber die Kleidung war natürlich viel zu groß für sie. Es wirkte, als wäre sie gerade frisch aus dem Kleidercontainer gepurzelt. Sie schlug den Bund der Jogginghose um, damit sie nicht über die viel zu langen Hosenbeine stolperte. Anschließend krempelte sie die Ärmel des Hemds nach oben.

Jetzt musste sie nur einen Weg finden, um ihre Haare in Ordnung zu bringen. Kara war froh, dass sie einen Kurzhaarschnitt trug, das vereinfachte die Sache etwas. Allerdings war es ein Problem, dass ihre blonden Locken an manchen Stellen fast senkrecht vom Kopf abstanden. Sie versuchte, einzelne Strähnen mit den Fingern zurecht zu zupfen, doch das half nicht wirklich. Hier musste es doch irgendwo eine Bürste geben! Im Bad hatte sie nichts finden können. Vielleicht in der Kommode? Kara zögerte kurz, dann zog sie die erste Schublade auf. Dort fand sie aber nur alte Briefe und Postkarten. In der zweiten Schublade bewahrte Jason alte Fotos auf. Sie wollte schon im nächsten Fach weitersuchen, als sie plötzlich sah, dass unter den Fotos noch etwas anderes lag.

Sie hob die Bilder etwas an und zog eine kleine, flache Schachtel darunter hervor. Ihr war klar, dass es sich nicht schickte, in fremden Besitztümern herumzuwühlen. Doch sie musste unbedingt mehr über Jasons Vergangenheit wissen. Sie ließ das Etui aufschnappen und zum Vorschein kam ein Orden in Form eines fünfzackigen, goldfarbenen Sterns, der an einem rot-weiß-blauen Ripsband befestigt war. In der Mitte des Ordens prangte ein weiterer Stern. Dieser war silbern und von goldenem Lorbeer umkränzt. Kara wusste sofort, was sie da in ihren Händen hielt. Es war der Silver Star, eine der höchsten Auszeichnungen des amerikanischen Militärs, die nur für besondere Tapferkeit im Kampfeinsatz verliehen wurde.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie aufschrecken. „Moment noch“, rief sie panisch.

Schnell klappte sie die kleine Schachtel wieder zu, doch sie schaffte es nicht mehr rechtzeitig, sie zurück in die Schublade zu legen. Die Tür schwang auf und Jason stand vor ihr. Ihm fiel sofort auf, was sie da in der Hand hielt. Er verschränkte die Arme vor dem Körper.

„Na, macht es Spaß, herumzuschnüffeln?“, fragte er argwöhnisch.

Kara brachte kein Wort heraus und lief rot an. Er hatte sie in flagranti ertappt. Doch sie bereute nichts. Sie hatte ein wichtiges Detail über Jasons Vergangenheit erfahren, und plötzlich sah sie ihn mit ganz anderen Augen. Der charmante Sonnyboy von früher war offenbar ein echter Held.

Nur liefen Helden für gewöhnlich nicht ohne Erklärung davon, wenn es Probleme gab, oder?

Jason sah sie lange an. „Eigentlich wollte ich nur fragen, ob du vielleicht doch lieber Kaffee möchtest.“

„Nein, danke, Tee ist genau richtig“, sagte sie verschämt. Sie legte das Kästchen mit dem Orden vorsichtig in die Schublade zurück. Dann drehte sie sich wieder zu Jason um. „Ich habe nicht gewusst, dass dir der Silver Star verliehen wurde. Wieso stand das nicht in der Zeitung?“

Jason zuckte gleichgültig mit den Schultern.

„Das ist eine sehr große Ehre, so etwas sollte nicht im Verborgenen bleiben“, meinte Kara.

„Ach, und das gibt dir das Recht, ohne Erlaubnis meine Sachen zu durchstöbern und alte Erinnerungen aufzuwühlen, die ich aus gutem Grund zu vergessen versuche?“ Jasons Stimme klang rau. Er reagierte ungewöhnlich emotional.

„Wofür wurdest du ausgezeichnet?“, fragte sie, erpicht darauf, endlich zu erfahren, was ihm in den vergangenen sieben Jahren widerfahren war.

„Ich habe meine Pflicht getan und so Wiedergutmachung geleistet. Mehr musst du nicht wissen.“ Er wich schon wieder aus.

„Ziehst du diese Nummer mit dem dunklen Geheimnis, das du nicht preisgeben kannst, bei jedem ab, oder willst du dich damit nur bei mir interessant machen?“, fragte sie zynisch.

Sein Blick verriet, dass sie ihn mit ihren Worten verletzt hatte, doch er ging einfach darüber hinweg.

„Setz dich schon mal vor den Kamin. Der Tee ist gleich fertig.“

Kara bedauerte ihre harschen Worte. „Ich denke, es ist besser, wenn du allein zurück ins Wohnzimmer gehst. Ich bleibe einfach hier drin, bis wir wieder wegkönnen.“

„Ich weiß nicht, ob du das wirklich willst“, meinte Jason.

„Warum nicht?“

„Sobald dein Tee fertig ist, gehe ich duschen. Und weil mein Badezimmer ziemlich klein ist, ziehe ich mich immer schon im Schlafzimmer aus.“ Er sah sie provozierend an.

Kara errötete. Die Strategie, die sie sich zurechtgelegt hatte, um Distanz zu Jason zu wahren, ging offenbar nicht auf.

Sie sah nochmals kurz in den Spiegel und zupfte ihr Haar zurecht. Für mehr blieb keine Zeit.

„Ich bin schon weg“, sagte sie und trat zurück ins Wohnzimmer. Das kleine Feuer im Kamin brannte inzwischen lichterloh und zauberte tanzende Schatten an die Wände.

Fasziniert stellte Kara fest, dass einer davon aussah wie eine schwarze Katze, die einen Buckel machte und die Pfoten weit von sich streckte. Sie war erstaunt, als der Schatten plötzlich leise miaute und bei ihrem Anblick das Fell sträubte.

„Na, wer bist du denn?“, säuselte sie beschwörend. „Komm mal her zu mir.“

Die Katze sah sie mit ihren großen gelben Augen fragend an. Dann sprang sie auf den Couchtisch, hielt aber weiter Sicherheitsabstand.

„Wohnst du hier bei diesem Griesgram? Du armes Ding! Aber, weißt du was? Er war nicht immer so“, vertraute sie dem Tier an.

Kara sah sich um. Ein Klirren aus der Küche verriet ihr, dass Jason immer noch mit dem Tee zugange war. Jetzt war der ideale Zeitpunkt, um schnell ihre Familie anzurufen.

„Ich bin gleich wieder da“, versprach sie der Katze, die aufmerksam jede ihrer Regungen verfolgte.

Kara zog sich schnell Jasons Stiefel an und schlüpfte in eine seiner Jacken. Dann stapfte sie hinaus zu seinem Wagen, um ihre Handtasche zu holen. Wieder auf der Veranda angekommen, kramte sie ihr Smartphone hervor. Sie hielt es hoch, und das Display zeigte einen Balken Empfangsstärke an. Das musste reichen. Sie betätigte die Kurzwahltaste und hielt das Telefon ans Ohr. Nach dem vierten Klingeln hob ihr Vater endlich ab. „Kara, bist du das?“

„Ja, Dad.“

Statisches Rauschen. „… schon Sorgen gemacht.“

„Dad, ich höre dich kaum!“

„Kara, …“ Wieder Rauschen. „… uns gut. Wo bist du?“

„Ich bin noch im Hotel.“ Sie wollte ihrem Vater nicht sagen, dass sie die Nacht bei ihrem Ex-Verlobten verbringen würde. „Die Straßen sind dicht. Ich komme erst morgen nach Hause.“

„Okay, pass auf dich …“

Dann brach die Verbindung ab.

Jetzt musste sie wieder zurück zu Jason. Es würde noch ewig dauern, bis sie von hier fortkam. Worüber soll ich nur mit ihm reden? überlegte sie und ging nur widerwillig zurück ins Haus. Eins war zumindest klar: Die Vergangenheit war tabu.

Jason durchforstete seinen Vorratsschrank und war froh, als er noch ein paar letzte Teebeutel fand. Er selbst bevorzugte Kaffee. Wie hätte er denn auch ahnen können, dass er an diesem Abend, mitten im Schneesturm, einen Gast haben würde?

Er hatte die Tatsache, dass Kara nun Mutter war, immer noch nicht ganz verkraftet. Während er ein Tablett mit zwei Teetassen, einer Zuckerdose und ein paar Plätzchen vorbereitete, versuchte er, sie sich mit einem Baby im Arm vorzustellen. Damals, als er ihr den Heiratsantrag gemacht hatte, waren sie so jung gewesen, dass das Thema Kinder nicht im Vordergrund gestanden hatte.

Jason verspürte Wut auf den Mann, der Kara und ihr kleines Mädchen im Stich gelassen hatte. Wenn ich ihm über den Weg laufe, werde ich ihn mir vorknöpfen!

Zugegeben, auch er selbst hatte Kara verlassen, doch wenigstens war kein Kind davon betroffen gewesen. Außerdem hatte er es aus noblen Gründen getan. Nachdem sein Vater ihm im Suff die grausame Wahrheit über seine Vergangenheit an den Kopf geworfen hatte, war Flucht der einzige Ausweg gewesen. Nur so hatte er Kara schützen können.

Wenn er daran zurückdachte, wie sie weinend aus der Lobby des Greene Summit Resorts gestürmt war, empfand er immer noch ein Gefühl tiefster Selbstverachtung. Er hatte alles verdorben. Kein Wunder, dass sie jetzt nichts mehr von ihm wissen wollte. Doch vielleicht gab es trotzdem eine Chance, die Wogen zwischen ihnen zu glätten …

Er brachte das Tablett ins Wohnzimmer und erwartete, Kara auf der Couch vor dem Kamin vorzufinden. Doch der Platz war leer.

„Na, mein Süßer …“

Mein Süßer? Das waren ja ganz neue Töne!

„Komm her zu mir“, lockte sie.

Jasons Herz schlug schneller. Wo war sie nur? Vielleicht in seinem Bett? Die Vorstellung, dass Kara dort auf ihn wartete, erregte ihn so sehr, dass er kaum mehr klar denken konnte.

„Jetzt zier dich nicht so. Ich weiß doch genau, was du willst …“

5. KAPITEL

Jason war so abgelenkt, dass das Tablett in Schräglage geriet. Der Tee schwappte über, und die Zuckerdose rutschte gefährlich nah an die Kante. Schnell stellte er es auf dem Couchtisch ab.

„Kara?“ Er räusperte sich, um den rauen Unterton in seiner Stimme loszuwerden. „Wo steckst du?“

„Hier drüben.“

Die Stimme kam aus der Richtung der beiden Sessel, aber auch dort war niemand zu sehen. „Lass die Spielchen“, befahl Jason ungeduldig.

„Hier unten.“ Karas Stimme klang jetzt seltsam gedämpft.

Jason senkte den Blick, und dann sah er, dass Kara hinter die Polstermöbel gekrochen war. Im Moment war allerdings nur ihr hübscher Po zu sehen.

„Jetzt komm schon“, säuselte sie. „Ich beiße nicht.“

Jasons Puls begann zu rasen.

Ich muss mich verhört haben, dachte er. Sie hasst mich doch. Oder etwa nicht?

„Bitte“, flehte sie. „Ich verspreche auch, ganz sanft zu dir zu sein.“

Jetzt hielt er die Ungewissheit nicht mehr aus. „Was soll das, Kara?“

„Ich unterhalte mich mit dem hübschen Kater, der hier unter dem Stuhl hockt.“

„Du sprichst mit Sly?“, fragte er perplex.

Karas Kopf tauchte hinter dem Sessel auf. Ihre grünen Augen blitzten schelmisch. „Dachtest du etwa, ich rede mit dir?“

Sie brach in lautes Gelächter aus, während Jason verlegen zu Boden starrte.

„Das ist nicht witzig“, beschwerte er sich. Irgendwie war es plötzlich viel zu warm im Raum. „Da steht dein Tee. Vorsicht, er ist sehr heiß. Ich geh jetzt duschen.“

Ja, eine kalte Dusche war jetzt genau das, was er brauchte, um wieder zu Verstand zu kommen. Diese Frau brachte ihn dazu, ...

Autor

Jennifer Faye
<p>Die preisgekrönte Autorin Jennifer Faye schreibt unterhaltsame zeitgenössische Liebesromane. Mit mehr als einer Million verkaufter Bücher ist sie eine international erfolgreiche Autorin, deren Romances in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt wurden. Einige ihrer Werke wurden bereits verfilmt. Wenn sie nicht gerade an ihrem nächsten Liebesroman tüftelt, kann man sie...
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Julieanne Howells
<p>Julieanne Howells liebt die Romantik eines stürmischen Tages, weshalb sie gern im regnerischen Nordosten Englands wohnt. Wenn sie nicht schreibt oder liest, genießt sie es, bei schlechtem Wetter zu kochen. Manchmal sind die Ergebnisse sogar essbar. Ihren Mangel an häuslichen Fähigkeiten kompensiert sie mit ihrem Talent zum Tagträumen. Ständig überlegt...
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Robin Gianna
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Melody Summer
<p>Melody Summer hat bereits als Zwölfjährige davon geträumt, Bücher zu schreiben. Vorher wurde sie jedoch erst noch Schauspielerin, eröffnete ein freies Theater, arbeitete dort als Dramaturgin und schrieb über zwanzig Theaterstücke. Inzwischen hat sie auch zahlreiche Romane veröffentlicht, in denen es um Geheimnisse, Liebe, Schicksal und Intrigen geht. Sie liebt...
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