Kane's Crossing - Hochzeit nicht ausgeschlossen (3-teilige Serie)

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WO WARST DU, MATT? von CRYSTAL GREEN
Hat ihr Mann wirklich sein Gedächtnis verloren? Vor zwei Jahren verschwand Matt ohne Abschied, und mit ihm Rachels gesamte Ersparnisse. Nun ist er wieder da und umwirbt sie zärtlich, bis sie sich voller Glück seinen Küssen hingibt. Aber dann kehren Matts Erinnerungen zurück …


FÜR MICH BIST DU DIE SCHÖNSTE von CRYSTAL GREEN
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KOMM MIT IN MEIN SCHLOSS AUS GLAS von CRYSTAL GREEN
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  • Erscheinungstag 04.11.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751507455
  • Seitenanzahl 480
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Crystal Green

Kane's Crossing - Hochzeit nicht ausgeschlossen (3-teilige Serie)

Crystal Green

Wo warst du, Matt?

IMPRESSUM

BIANCA erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG,
20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Brieffach 8500, 20350 Hamburg
Telefon: 040/347-25852
Fax: 040/347-25991

© 2002 by Chris Marie Green
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1633 (15/2) - 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Michaela Rabe

Fotos: Bokelberg.com

Veröffentlicht im ePub Format im 03/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86349-869-6

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

1. KAPITEL

Der Fremde stellte seinen alten Cadillac neben dem Zuchtstall von Green Oaks ab. Unwillkürlich ließ Rachel Shane den schweren Pfahl fallen, mit dem sie den Zaun reparieren wollte.

Der Mann kam die gepflasterte Straße hinauf, die sich zwischen weißen Zäunen und sattem grünen Gras entlangzog. Er ging am Teich und der Koppel vorbei, auf der Dolly Llama, Rachels temperamentvollste Stute, von einem Pferdetrainer geführt wurde.

Rachel sah, dass der Fremde Cowboyboots, ausgeblichene Jeans und ein langärmeliges Denimhemd trug. Seinen Stetson hatte er sich tief ins Gesicht gezogen. Er kam ihr nicht weiter bekannt vor. Nur sein lässiger Gang irritierte sie einen Moment lang, löste ein merkwürdiges Verlangen in ihr aus. Sexy, dachte sie. So einen Gang hatte sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Nicht, seit ihr Mann sie vor über zwei Jahren von einem Tag auf den anderen verlassen hatte.

Sie seufzte, bückte sich und griff nach dem schweren Zaunpfahl. Stöhnend versuchte sie ihn aufzurichten, aber ihre Kräfte reichten nicht aus. Immer wieder kippte er um. Vor Frust schossen ihr die Tränen in die Augen.

Schweiß lief ihr den Nacken hinunter, vorbei an ihrem Zopf und weiter in den Hemdkragen. Es fühlte sich an wie ein klammer Finger, der ihr warnend über den Rücken strich.

„Du tust dir noch weh“, sagte der Mann mit angenehm rauer Stimme in den stillen Junimorgen hinein.

Als wäre das etwas Neues für sie.

Wahrscheinlich suchte er einen Job. Sie wandte sich ihm zu, um ihm zu sagen, dass sie sich keine Hilfe leisten konnte. Ihr stockte der Atem, als sie ihn erkannte. Sie wich einen Schritt zurück. „Matthew?“

Er lächelte verhalten und wirkte dabei vertraut und fremd zugleich. Als wäre er erleichtert, ließ er die Schultern sinken. „Ja.“

Rachel konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ihr Puls raste.

Sie brachte kein Wort heraus, sondern starrte den Mann nur an. Unter dem breiten Hut lag sein Gesicht im Schatten. Aber das spielte keine Rolle, denn sie wusste genau, wie seine Augen aussahen: Sie leuchteten hellbraun wie alter Whiskey. Rachel wusste auch, dass der Stetson braunes Haar mit einem störrischen Wirbel verbarg, der Matthews jungenhaften Charme unterstrich.

Sie holte tief Luft. „Wo zum Teufel bist du die letzten zwei Jahre gewesen?“

Er schlenderte heran, lehnte sich gegen den Zaun und schob den Hut in den Nacken. „Du bist sauer auf mich.“

„Sauer? Seit einer Ewigkeit hast du nichts von dir hören lassen, Matthew! Hast mich kein einziges Mal angerufen und mir damals nicht mal gesagt, dass du uns verlassen wolltest. Was hast du getrieben? Dich mit einer Midlife-Crisis herumgeschlagen? Dir in New Orleans eine schöne Zeit gemacht?“

Sie rang nach Atem. Die seit zwei Jahren angestaute unbändige Wut stieg in ihr auf. „Ich habe sogar eine Privatdetektivin engagiert, die dich wiederfinden sollte – dich und die zweihunderttausend Dollar, mit denen du verschwunden bist. In New Orleans hat Chloe Lister deine Spur verloren, und in Texas hat sie dich schließlich aufgespürt. Wo warst du? Ganz schön mutig von dir, dich jetzt hier in Kane’s Crossing blicken zu lassen, als wäre nichts gewesen!“

Er schaute auf seine Stiefel, schien in Gedanken versunken. Und da fiel ihr etwas auf.

Seit sie Matthew kannte, hatte er immer dieses selbstgefällige Grinsen auf den Lippen gehabt. Wie oft hatte er sie damit auf die Palme gebracht! Aber jetzt lächelte er nur noch schwach, und es wirkte gar nicht mehr selbstgefällig, sondern sogar ein bisschen traurig.

Er blickte auf, sah auf die Pferdekoppel, und die Fältchen in seinen Augenwinkeln verstärkten sich. Sein Lächeln erinnerte Rachel an gute Zeiten.

„Rachel …“ Es klang, als wäre ihm der Name fremd.

„Hört sich fast so an, als würdest du meinen Namen das erste Mal aussprechen“, sagte sie.

Jetzt sah er sie wieder an. Rachel wurde das Gefühl nicht los, dass nur flüchtiges Interesse in seinem Blick lag.

Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Hör mal, ich hab eine Menge zu tun. Ich halte hier nämlich schon die ganze Zeit den Laden am Laufen, während du dich anderswo vergnügt hast.“

„Es tut mir aufrichtig leid, dass alles so gekommen ist, Rachel. Du weißt gar nicht, wie sehr.“

„Die Masche kannst du dir schenken.“ Du meine Güte, hörte sie sich vielleicht verbittert an!

Matthew bückte sich nach dem schweren Pfosten, mit dem sie sich so abgemüht hatte, und hob ihn auf, als wäre er leicht wie eine Feder.

Rachel betrachtete Matthew eindringlich. Endlich hatte sie die Gelegenheit, das Gefühlschaos zu ordnen, das er in ihr ausgelöst hatte. Jetzt, wo er hier war, direkt vor ihrer Nase! Wie oft hatte sie sich diesen Moment vorgestellt, während sie über die endlosen Weiden starrte oder nachts einsam im kalten Doppelbett lag. Immer in der Hoffnung, er würde irgendwann zurückkommen und sich vor ihr auf die Knie werfen. Sie um Verzeihung dafür bitten, dass er sie so verletzt hatte.

Es dauerte eine Weile, ehe er den Zaun repariert hatte, aber Rachel hätte dreimal so lange dafür gebraucht. Wo auch immer er gewesen sein mochte, auf der faulen Haut hatte er offenbar nicht gelegen.

Das Hemd klebte ihm schweißnass am muskulösen Oberkörper. Während Rachel seine kräftigen Hände beobachtete, musste sie automatisch daran denken, wie er mit genau diesen Händen zärtlich ihren Körper gestreichelt und ihren Puls zum Rasen gebracht hatte.

Sie hatte ihren Mann so sehr vermisst!

Rachel musste all ihre Selbstbeherrschung zusammennehmen, um sich zurückzuhalten. Erst mal wollte sie herausfinden, weswegen er überhaupt auf ihre Pferdefarm zurückgekehrt war.

Wollte er etwa ihre Ehe kitten?

Matthew beendete die Arbeit mit geschickten Händen, dann sah er sie erwartungsvoll an. „Habe ich dir jetzt meine ehrlichen Absichten bewiesen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Und deine Arbeit war auch keine zweihunderttausend Dollar wert.“

„Bist du immer so kritisch?“

Was für eine merkwürdige Frage. „Glaubst du etwa, ich hätte mich verändert, während du weg gewesen bist?“

Er zuckte mit den breiten Schultern. „Möchtest du mir nicht erzählen, was hier seitdem passiert ist, Rachel?“

„Warum sollte ich?“ Ihre Worte klangen viel schärfer als beabsichtigt – wie ein Peitschenhieb.

Matthew runzelte die Stirn und tippte gegen seine Hutkrempe. „War wohl ein Fehler herzukommen.“

Als er ganz dicht an ihr vorbeiging, rieselte ihr ein Schauer den Rücken hinunter. Unwillkürlich musste sie an seine zärtlichen Liebkosungen denken. Sie wurde rot. „Matthew, warte.“ Sie drehte sich um. „Es ist alles so … unwirklich, verstehst du?“

Hinter ihm zeichnete sich die unberührte Landschaft Kentuckys ab: die sanften Hügel, die weißen Holzgebäude und darüber der leuchtend blaue Himmel. Die Hände fest in die Seiten gestemmt, stand Matthew da und wirkte dabei völlig fehl am Platz mit seinen abgewetzten Stiefeln und dem wettergegerbten Stetson. So etwas trug man hier in der Gegend nicht. Hier trugen alle Pferdezüchter Reiterhosen und kurze englische Reitstiefel dazu.

Matthew hatte sich in einen richtigen Cowboy verwandelt. Leider wirkte er dadurch nur noch männlicher. Unwiderstehlich. Das brachte Rachel auf den Gedanken, dass er mit dreiunddreißig für eine Midlife-Crisis eigentlich noch zu jung war. „Wenn ich dir von mir erzähle, erzählst du mir dann auch von dir?“

Wieder lächelte er schwach – und ungemein sexy. „Ja. Ich will nämlich eine Menge von dir wissen.“

„Tja, in den letzten zwei Jahren hat sich hier einiges getan.“

Er kam so dicht an sie heran, dass ihr der Geruch nach Ledersätteln und Seife in die Nase stieg. „Du musst mir schon ein bisschen mehr erzählen, Rachel.“

Sie runzelte die Stirn.

„Genauer gesagt möchte ich, dass du mir alles bis ins kleinste Detail erzählst. Mir ist nämlich unterwegs mein Ich abhanden gekommen.“

Sie warf ihm einen Seitenblick zu. „Wie meinst du das?“

Diesmal lächelte er richtig, aber sichtlich verlegen. „Ich habe mein Gedächtnis verloren.“

Das schlug doch dem Fass den Boden aus. „Alles klar, Matthew. Eine bessere Ausrede fällt dir wohl nicht ein?“

Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert. Abwartend sah er sie an.

Rachel bemühte sich, ruhig zu bleiben. Offenbar hatte der sonst so durchschaubare Matthew sich in den letzten zwei Jahren ein Pokerface zugelegt: Sie konnte absolut nicht beurteilen, ob er log oder die Wahrheit sagte.

Nachdem Rachel an der Koppel eine Reihe sinnloser Fragen auf Matt abgefeuert hatte, führte sie ihn endlich in ihr gemeinsames Haus. Zumindest vermutete er, dass es das war.

Was er durchgemacht hatte, wünschte er seinem ärgsten Feind nicht: Zwei Jahre lang hatte er keine Ahnung davon gehabt, dass er überhaupt Frau und Kind besaß, dass er auf dieser großen weiten Welt tatsächlich ein Zuhause hatte. Bis er vor gut einem Monat erfahren hatte, dass eine Frau namens Rachel Shane eine Privatdetektivin engagiert hatte, um nach ihm zu suchen.

Und nun sah es so aus, als wollte diese Rachel Shane ihn gar nicht zurückhaben! Sie hatte ihn von oben bis unten gemustert wie einen Zuchthengst und war dann mit Vorwürfen über ihn hergefallen. Das verwirrte ihn maßlos; immerhin wusste er nichts über diese Frau.

Auf dem Weg zum Haus warf er unauffällig einen Blick auf sie. Mit ihrer schlanken Figur, der beigefarbenen Reiterhose und der weißen Bluse hatte sie die sinnliche Ausstrahlung eines Models. Auch wenn sein Gehirn sich nicht an sie erinnerte, sein Körper tat es sehr wohl.

Ein merkwürdiges, fast schmerzhaftes Verlangen erfüllte ihn.

Rachel drehte den Kopf und bemerkte, dass Matt sie musterte. Ein sehnsüchtiger Ausdruck huschte kurz über ihr Gesicht, dann blickte sie zur Seite.

Du bist nicht die Einzige, der es so geht, dachte er.

Wie es sich wohl anfühlte, ihre Haut an seiner zu spüren, wenn sie sich an ihn schmiegte? Und warum hatte sie ihn nicht geküsst, als er vor ihr stand?

Rachels nächste Worte rissen ihn aus seinen Gedanken. „Es ist schon merkwürdig, den eigenen Mann ins Haus zu bitten.“

Oder jemanden, der einmal der eigene Mann gewesen war. Matt fragte sich, wie der alte Matthew wohl gewesen sein mochte – vor dem Gedächtnisverlust.

„Stimmt“, sagt er. „Unter trautem Eheglück versteht man etwas anderes.“ Obwohl er sich lebhaft vorstellen konnte, dass man in so einem Haus sehr glücklich sein konnte. Er schaute auf die weißen Säulen, die Erkerfenster, den steinernen Schornstein, alles umgeben von grünen Büschen und Bäumen. Und alles war ihm fremd.

Sie blieben vor der Eingangstür stehen.

„Mach dich auf ein Kreuzverhör gefasst, Matthew. Darf ich dir erst mal einen Eistee anbieten?“

Eistee – das passte ja perfekt. Diese Frau gab sich selbst unheimlich kühl. „Hört sich gut an.“

Rachel öffnete die Tür. „Ich weiß, ich weiß, wir hätten durch die Hintertür gehen sollen. Du hast mir einmal gesagt …“ Sie sprach nicht weiter.

„Ich kenne mich in diesem Haus nicht aus, also kann ich dir auch nichts vorwerfen.“

Sie blieb stehen und seufzte. „Ich habe keine Ahnung, woran du dich erinnerst und woran nicht, Matthew.“

Er reckte den Hals, um sich einen Überblick über sein altes Zuhause zu verschaffen, das auch jetzt wieder zu seinem Zuhause werden sollte. Nachdem er herausgefunden hatte, wer er war, hatte er sich umgehend auf den Weg nach Kane’s Crossing gemacht. Zurück in ein Leben, dem er sich stellen musste.

Aber Spaß machte es kein bisschen.

Er warf einen Blick auf die Einrichtung: vergoldete Bilderrahmen, Farne und hellgrüne Wände. An nichts davon konnte er sich erinnern. „Wir müssen uns dringend unterhalten.“

„Auf jeden Fall.“ Rachel warf ihm einen letzten Blick zu und ging weiter.

Sie durchquerten die Eingangshalle: gedämpfte Farben, geschmackvolle Teppiche und gepflegte Antiquitäten. Hatte er tatsächlich in einem solchen Haus gewohnt? Er war Schlafbaracken mit harten, schmalen Betten und grober Bettwäsche gewohnt. Mehr hatte er nicht gebraucht. Bis ihm sein Vorarbeiter von einer Privatdetektivin erzählt hatte, die nach einem gewissen Matthew Shane suchte.

Rachel führte ihn in einen Raum, in dem es nach Zedern, Brombeeren und Salbei roch. „Ich hole dir etwas zu trinken.“

Sie sprach die Worte so aus, als wollte sie damit noch etwas anderes andeuten. Etwas, das Matt nicht verstand. Als er bloß nickte, schien Rachel irgendwie erleichtert.

Neugierig schaute er sich in seinem früheren Zuhause um. Vielleicht gab es ja doch etwas, das eine Erinnerung in ihm wachrief. Das Erkerfenster bot freie Sicht auf Ulmen und grüne Koppeln. An den Wänden waren schmiedeeiserne Kerzenleuchter angebracht, die dem Raum etwas Klösterliches verliehen. Der Boden war gefliest, darauf standen üppig gepolsterte Sofas.

Matt ließ den Blick über die Bücherregale gleiten, über die Schildkrötenpanzer und die Kristallgläser auf der Anrichte aus Walnussholz. Nirgendwo fand er auch nur den geringsten Hinweis darauf, dass er selbst einmal hier gelebt hatte. Aber natürlich wusste er gar nicht, wer er überhaupt gewesen war – damals. Und wenn die Einrichtung den Geschmack des alten Matthew Shane widerspiegelte, wollte er mit seinem alten Selbst lieber nichts zu tun haben. Viel zu überladen …

„Setz dich doch.“ Rachel kam mit zwei beschlagenen Gläsern herein. Die Eiswürfel klirrten, als er ihr eins abnahm. Es klang hohl.

Betretenes Schweigen breitete sich aus. Bis sie beide auf einmal losredeten.

„Also …?“

„Warum …?“

Jeder deutete auf den anderen. „Du zuerst“, sagten sie gleichzeitig.

Matt nickte. „Ladies first.“

Rachel lächelte, aber es wirkte nicht besonders freundlich.

Ihr Ton bestätigte seinen Verdacht noch. „Ich weiß nicht, womit ich anfangen soll. Soll ich dir erzählen, wo ich geboren wurde?“

„Solche Einzelheiten können wir auch später noch besprechen. Wie wäre es mit den letzten beiden Jahren?“

„Ich habe in der Notaufnahme des Bezirkskrankenhauses als Krankenschwester gearbeitet.“ Als Matthew den Kopf schüttelte, weil er sich nicht erinnerte, fuhr sie fort. „Nachdem du verschwunden warst, musste sich schließlich jemand um die Farm kümmern, also habe ich beschlossen, meine Stunden im Krankenhaus zu reduzieren. Das hat mir nicht viel ausgemacht, ich arbeite nämlich gern mit Pferden. Zusätzlich bin ich als ehrenamtliche Krankenschwester für das Reno Center tätig.“ Sein Gesicht blieb ausdruckslos.

„Es ist ein modernes Waisenhaus“, fuhr Rachel fort. „Sagt dir der Name Nick Cassidy etwas? Er kam vor ein paar Jahren nach Kane’s Crossing, spielte Robin Hood und gab den Armen zurück, was die Reichen ihnen genommen hatten. Er gründete das Reno Center, weil er selbst Pflegekind gewesen war. Erinnerst du dich noch an sein kurzes Gastspiel in der Spencer Highschool?“

Matt zuckte mit den Schultern und versuchte zu grinsen.

„Na ja“, sagte Rachel. „Ich sorge jedenfalls dafür, dass die Farm läuft, kümmere mich um die Buchhaltung, erledige, was so anfällt …“

„Warum hast du den Zaun nicht von einem Farmarbeiter reparieren lassen?“

„Ach, das schaffe ich auch allein.“ Rachel lächelte ihn an, während sie die hellbraune Locke zurückstrich, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte.

Es durchfuhr ihn heiß.

Ist sie in den letzten beiden Jahren mit einem anderen Mann zusammen gewesen?, schoss es ihm unvermittelt durch den Kopf. Eifersucht packte ihn.

Die Narbe zwischen seinen Rippen schmerzte auf einmal, und Matt ballte die Fäuste. Er hasste diese Momente. Die Narbe war ein Geheimnis, das er noch nicht ergründet hatte. Erst wenn er sich selbst wiedergefunden hatte, würde er es verstehen.

„Ich glaube, dass du mir etwas verschweigst, Rachel. Steht die Farm finanziell auf gesunden Füßen?“

Ihre vollen Lippen wurden zu einer schmalen Linie. „Nicht, seitdem du mit dem größten Teil unserer Ersparnisse verschwunden bist.“

Ihr Ton und der verdammte Schmerz, der von der Narbe ausging, machten Matt zu schaffen. Unruhig rutschte er auf dem Sofa hin und her. Was für ein Mensch war Matthew Shane bloß gewesen?

„Tut mir leid“, erwiderte er. „Das wusste ich nicht.“ Er machte eine kurze Pause. „Ich bin hergekommen, weil ich nach meinem Zuhause gesucht habe. Den Ort, an den ich gehöre, Rachel. Und das mit dem Geld bringe ich in Ordnung.“

„Du willst die Farm?“

Von sich selbst sprach sie dabei nicht.

Er bemühte sich, ihre abweisende Art zu ignorieren. „Läuft das Geschäft gut?“

„Wir kommen zurecht – trotz allem, was du uns angetan hast.“ Sie trank einen Schluck Eistee. „Also, was hast du mir zu erzählen?“

Stimmt, er war ihr ja auch noch seine Geschichte schuldig. Verdammt. An viel konnte er sich nicht erinnern.

Matt stellte sein Glas auf eine Untersetzer. „Eines Morgens bin ich mit brummendem Schädel in einer dunklen Seitenstraße von New Orleans aufgewacht. Ein Penner durchsuchte gerade meine Taschen. Aber ich hatte nichts bei mir: keinen Ausweis, keinen Führerschein, kein Geld. Wahrscheinlich bin ich überfallen worden. Genau sagen kann ich es nicht.“

Ein wichtiges Detail behielt er für sich: sein blutiges Hemd. Jemand hatte ihm die Haut zwischen den Rippen auf der linken Brustseite mit einem Messer aufgeschlitzt. Zwar nur oberflächlich, aber eine leichte Narbe war geblieben.

Allerdings hatte er auch geronnenes Blut an seiner Hand entdeckt, und er wurde das Gefühl nie los, dass es von einem anderen Menschen stammte. Das hatte ihn davon abgehalten, zur Polizei zu gehen und herauszufinden, wer er selbst war. Auch im Krankenhaus war er nicht gewesen. Er hatte befürchtet, dass man ihm vielleicht ein Verbrechen anhängen könnte. Sollte er sich etwa selbst ans Messer liefern? Er hatte so viele Fragen gehabt und keine Antworten dazu. Also hatte er sich Zeit zum Nachdenken genommen, sich hier und da umgehört …

„Du erinnerst dich an nichts?“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf. „Dann weißt du wohl auch nicht, dass deine Brieftasche vor einer Weile hinter alten Kisten in einer kleinen Seitenstraße von New Orleans gefunden wurde. Irgendein Kerl hat versucht, mit deinen Kreditkarten einzukaufen, deswegen vermute ich, dass du nicht wegen des Geldes überfallen worden bist.“

Was Rachel da sagte, half ihm auch nicht auf die Sprünge. Noch immer hatte er von seiner Vergangenheit nicht den blassesten Schimmer. „Ich konnte mich nur noch daran erinnern, wie man mit ganz alltäglichen Dingen klarkommt. Nicht an Einzelheiten aus meinem Leben. Immerhin konnte ich mich einigermaßen durchschlagen. Ich habe erst mal einen Job als Tellerwäscher angenommen. Eines Abends kamen texanische Rancher ins Restaurant. Als ich ihren Tisch abräumte, hörte ich, dass sie von Pferden redeten. Das hat irgendetwas in mir ausgelöst. Ich kündigte und ging nach Texas. Auf einer Ranch in der Nähe von Houston bekam ich einen Job. Nichts Großartiges – Ställe ausmisten, mit den Pferden üben. Aber instinktiv spürte ich, dass ich noch mehr konnte.“

Er schaute einen Moment lang gedankenverloren vor sich hin. „Eines Tages kam diese schicke Privatdetektivin zu meinem Boss ins Büro und fragte nach einem Matthew Shane. Er vermutete etwas, verriet ihr aber nichts. Abends kam er dann zu mir in die Schlafbaracke und erzählte mir, was er von ihr erfahren hatte. Sie hatte ihre Karte dagelassen, und die gab er mir.“

Matt erwähnte nicht, dass er danach Erkundigungen über Matthew Shane eingeholt hatte, um sicherzugehen, dass das Blut an seinen Händen nicht von einem Verbrechen stammte. Als sich herausstellte, dass er nichts auf dem Kerbholz hatte, entschied er sich, nach Kane’s Crossing zurückzukehren und sich seinem alten Leben zu stellen.

Jetzt schaute er Rachel an. Sie saß aufrecht auf dem Sofa und spielte mit etwas an ihrem Finger.

Es war ein Ring.

Erinnerungsfetzen wirbelten ihm durch den Kopf. Gitarrenklänge, Blumensträucher, schwüle Nächte in engen Gassen, Balkone zu beiden Seiten über ihm und Essen, das nach Safran duftete.

Dann war alles schon wieder vorbei. Es war nicht greifbar genug, als dass er etwas dazu hätte sagen können. Aber sie hatte anscheinend den Schock auf seinem Gesicht gesehen.

„Das ist mein Ehering“, sagte sie und wurde rot, als wäre es ihr peinlich, dass sie ihn immer noch trug. „Ist alles in Ordnung?“

Matt nickte. Er griff nach seinem Eistee, weil er plötzlich einen trockenen Mund hatte. Dann hielt er mitten in der Bewegung inne.

Ein kleines Mädchen stand in der Tür, mit neugierigem Blick und geschürzten Lippen. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte ihn stark an Rachel.

Plötzlich sah er sich selbst, wie er das Mädchen durch die Luft wirbelte, dass die langen braunen Locken wild hin- und herschwangen. Ihre braunen Augen leuchteten. Er sah sie auf Zehenspitzen tanzen, sie klammerte sich an seine Arme und kicherte begeistert.

„Haben wir Besuch, Mommy?“ Die Kleine konnte nicht älter als sechs sein.

Matt schwirrte immer noch der Kopf von dem unerwarteten Ansturm der Bilder und Gefühle, da überfielen ihn schon die nächsten: eine platinblonde Frau und ein kleiner Junge. Beide lächelten.

Wieder zwei neue Gesichter aus seiner Erinnerung, die er nicht einordnen konnte. Die Frau sah ganz anders aus als Rachel, und er hatte keine Ahnung, wer sie und der Junge waren. Er wusste nur, dass sie ein wichtiges Puzzlestück in seiner Vergangenheit bildeten.

Warum erinnerte er sich jetzt an sie, als er Rachels Ehering und seine eigene Tochter sah? Was hatte er für ein Leben geführt, bevor er seine Familie verlassen hatte?

2. KAPITEL

Rachel stand auf, ging zu ihrer Tochter und wischte ihr einen Brotkrümel vom Mund. Das Kind starrte Matt an. Ob die Kleine sich noch an ihn erinnerte? Daran, wie er sie umarmt hatte?

Wenn er selbst sich doch bloß besser erinnern könnte!

Rachel nahm Tamelas Hand und führte sie zu Matthew. „Das ist deine Tochter Tamela“, sagte sie, und ihre Stimme zitterte leicht.

Matt kniete sich auf den Steinfußboden, sodass er mit Tamela auf Augenhöhe war. Er hielt ihr die Hand hin. „Wie geht es meinem Mädchen?“

Rachel warf ihm einen kühlen Blick zu, wollte ihn vielleicht warnen, dem Kind nicht zu nah zu kommen. Aber es war doch immerhin seine Tochter! Wieder einmal beschlich ihn das Gefühl, dass Rachel nicht allzu froh über seine Rückkehr war.

Warum?

Tamela schaute ihn neugierig an und machte einen Schritt auf ihn zu, nahm aber seine Hand nicht. „Warum bist du weggegangen, Daddy?“

Oh, verdammt. Wie sollte er ihr das bloß erklären? Er wich ein Stück zurück.

Glücklicherweise kam Rachel ihm zur Hilfe. Sie kniete sich neben ihn. „Daddy erzählt uns seine Geschichte noch. Das geht alles nicht so schnell, Kleines. Okay?“

Matts Körper reagierte umgehend auf ihr Parfüm – Jasminduft. Verführerisch, geheimnisvoll und doch seltsam tröstlich. Es entführte ihn an einen dunklen Ort …

Tamela riss ihn aus seinen Gedanken. „Gestern hat Mommy zu Mrs. Cassidy gesagt, dass du ein gemeiner Halunke bist.“

Rachel räusperte sich. „Mommy hat nur Spaß gemacht, Tamela. Erwachsene albern manchmal herum.“

Klar! Matt hätte sich totlachen können, wenn es nicht so traurig gewesen wäre. „Ich will dir die Wahrheit verraten, Mäuschen“, sagte er.

Tamela lächelte, und ihre braunen Augen leuchteten auf.

„Ich kann mich kaum an die Dinge erinnern, die vor zwei Jahren passiert sind. Ich habe nämlich mein Gedächtnis verloren.“

„Wie einen Schuh? Letzte Woche habe ich meinen Schuh verloren. Mommy hat nicht einmal mit mir geschimpft.“

„So ähnlich. Und manchmal taucht der Schuh an den unmöglichsten Orten wieder auf. Da, wo man es gar nicht erwartet. Oder man findet einen Hinweis, wo er ist.“

„Vielleicht können wir dir helfen, dein Gedächtnis wiederzufinden?“ Tamela kam heran und legte ihm vertrauensvoll die kleine Hand auf die Schulter.

Matts Herz setzte einen Schlag lang aus. Seine Kehle wir wie zugeschnürt. Am liebsten hätte er seine Tochter in die Arme gezogen und fest an sich gedrückt. Um sich wieder zu fassen, schaute er zu Rachel hinüber. Sie runzelte die Stirn, und ihr Blick war undurchsichtig.

„Tam“, sagte sie mit leicht bebender Stimme, „manchmal kehren die Erinnerungen nie zurück, und so ist es vielleicht auch bei deinem Dad.“

Was wohl sein würde, wenn das bei ihm so wäre? Hatte er dann überhaupt noch das Recht, hier zu sein, seine Pferdefarm zurückzufordern, sein altes Leben?

Das kleine Mädchen nickte ernst. „Warum bist du wie ein Countrysänger angezogen?“

Rachel presste die Hand vor den Mund, um nicht loszuprusten, und wandte den Kopf zur Seite. Als sie sich wieder gefangen hatte, trafen sich ihre Blicke, und ein Feuer breitete sich in Matts Bauch aus. Seine Fantasie gaukelte ihm erotische Bilder vor. Wie ihr seidiges Haar über seine Haut glitt. Ihre Brüste sich an seinem Oberkörper rieben.

Verdammt, seine Hormone reagierten viel zu heftig! Und dabei war er sich nicht einmal sicher, ob er Rachel überhaupt mochte. Trotzdem, irgendetwas sagte ihm, dass das keine Rolle spielt: Zwischen ihnen gab es eine ganz besondere Anziehungskraft, sie könnten auch als Fremde miteinander ins Bett gehen und sich leidenschaftlich lieben – um sich am nächsten Morgen einfach wieder zu trennen.

Matt räusperte sich und konzentrierte sich auf Tamelas Frage. „Wie ein Countrysänger? Also, ich habe eine Weile in Texas gelebt. Und Jeans und ein Stetson sind einfach bequem und praktisch, wenn man auf einer Ranch mit Pferden arbeitet.“

„War das so ähnlich wie hier mit unseren Pferden?“

„Nicht ganz. In Texas sind wir auf ihnen geritten, um die Rinderherde zusammenzuhalten, auf Westernsätteln.“

Tamela nickte, als wüsste sie genau, wovon er sprach. Dabei hatte sie offenbar nur gelernt, auf englischen Sätteln Zuchtpferde zu reiten. Hier auf der Farm war es so ganz anders als auf dem texanischen Flachland mit dem vielen Staub, den Kornblumen und den Sonnenuntergängen, die den gesamten Horizont zum Glühen brachten.

Das Telefon klingelte, und Rachel stand auf. „Entschuldige mich bitte.“

Auf dem Weg hinaus warf sie ihm noch einen besorgten Blick über die Schulter zu, als befürchtete sie, er könne sich wieder in den alten Matthew verwandeln.

Aber wäre das wirklich so schlimm?

Rachel ging in die angrenzende Küche und umrundete auf dem Weg zum Telefon die Kücheninsel mit ihren von der Decke herabhängenden Töpfen und Pfannen. Noch immer schlug ihr das Herz bis zum Hals. Es hatte sie völlig aus der Fassung gebracht, Tamela und Matthew zusammen im Wohnzimmer sitzen zu sehen. Warum fühlte sie sich davon eigentlich so bedroht?

Weil ich Angst davor habe, dass der alte Matthew mit seinen schlechten Gewohnheiten wieder da ist, beantwortete sie ihre eigene Frage.

Rachel nahm den Telefonhörer ab. „Hallo?“

„Mrs. Shane?“, fragte eine knappe, sachliche Stimme.

„Chloe Lister?“ Gott sei Dank. Rettung in der Not. „Gut, dass Sie anrufen!“

Die Frau am anderen Ende der Leitung seufzte tief. „Sagen Sie das nicht. Matthew war schneller bei Ihnen als ich. Ich wusste, dass ich alles vermasseln würde.“

„Seien Sie doch nicht so streng mit sich, Chloe. Ich habe Sie engagiert, meinen Mann zu finden, und offensichtlich haben Sie ihn aus seinem Versteck gelockt. Heute ist er hier aufgetaucht, und er war ganz ruhig und friedlich. So, als wäre er auf einer ausgedehnten Geschäftsreise gewesen. Sie haben gute Arbeit geleistet.“ Rachel ging zurück zum Eingang, um einen heimlichen Blick auf Matthew und Tamela zu werfen.

Die beiden saßen auf dem Sofa und lachten fröhlich miteinander. Bei diesem Anblick durchfuhr Rachel so etwas wie … Eifersucht?

Tamela war noch zu jung, um sich an Matthews regelmäßige Geschäftsreisen und die vielen endlosen Partys der Pferdezüchterschickeria zu erinnern. Auf denen er sich ohne seine Frau amüsiert hatte. Rachel war damals immer zu Haus geblieben, bei ihrer Tochter.

Nicht, dass Matthew ein schlechter Vater gewesen war. Nein, er hatte Tamela mit Zuwendung nur so überschüttet, und die Kleine hatte immer gestrahlt, wenn er hereingekommen war. Rachel war sogar ein wenig eifersüchtig gewesen, weil er so mühelos die Liebe ihrer Tochter gewann, während sie selbst sich mit dem Alltag herumschlagen musste.

Chloes Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Ich komme, so schnell ich kann, Mrs. Shane. Heute Abend noch.“

„Danke.“

Chloe unterbrach die Verbindung. Die Frau war durch und durch professionell. Rachel sah sie förmlich vor sich, wie sie ihre Schuhe noch einmal polierte und ihr Outfit überprüfte, ehe sie heute Abend ihr Haus betreten würde.

Rachel legte auf, lehnte sich gegen den Türrahmen und beobachtete Matthew. Sie gestand es sich nur ungern ein, aber ein Blick von ihm genügte, um sie zu verführen. Ob er es darauf anlegte oder nicht.

Vielleicht lag es an seinen hellbraunen Augen, die Lust und Leidenschaft versprachen. Oder es war dieses leise Lächeln, das ein kleines bisschen arrogant wirkte. Und seit er wieder da war, strahlte er auch etwas ungewohnt Trauriges aus. Nur zu gern hätte sie die steile Falte in seiner Stirn geglättet und versprochen, dass alles wieder gut würde.

Na klar. Versprich ruhig, was du nicht halten kannst, Rachel.

Der alte Matthew war ein sorgloser, charmanter Mann gewesen, dieser dagegen gab sich düster und zugeknöpft.

Aber er hatte einen atemberaubenden Körper. Matthew war schon immer groß gewesen und hatte sie um einiges überragt, doch sie hätte ihn nie als athletisch bezeichnet. Die Folgen seiner lockeren Lebensweise waren unübersehbar: der Bauchansatz, die eher mageren Oberarme. Der neue Matthew dagegen bestand offenbar nur aus Muskeln und sah unglaublich attraktiv aus.

Aber egal. Sie durfte nicht wieder so schwach werden wie damals. Trotz der sexuellen Anziehung durfte sie nicht vergessen, wie schal ihre Ehe nach den ersten wundervollen Monaten geworden war.

Rachel richtete sich auf und wählte die Nummer von Matthews Familie. Seine Verwandten sollten wissen, dass er endlich wieder zu Hause war.

Matt sah zu Rachel hinüber, die in der Küche auf und ab ging. Alle paar Augenblicke tauchte sie an der Tür auf und verschwand dann wieder.

Er musste einfach hinschauen. Und er wünschte sich, dass sie ihn anblickte, einmal anlächelte. Was mochte ihr durch den Kopf gehen? Rief sie gerade die Männer mit den weißen Kitteln an, damit sie ihn abholten? Oder sehnte sie sich danach, ihn zu berühren, so wie er sich danach sehnte, sie anzufassen, zu erfahren, was Matthew einmal besessen hatte?

Vielleicht würde es sogar Erinnerungen zurückbringen?

Die schmerzende Narbe an seiner Seite erinnerte ihn daran, dass sie allen Grund hatte, ihm zu misstrauen. Immerhin hatte Matthew Shane Blut an den Händen gehabt – vielleicht war er ein Monster?

Tamela stieß ihm den Zeigefinger in den Arm. „He!“

Rasch schüttelte Matt die düsteren Gedanken ab und konzentrierte sich auf das kleine Mädchen neben sich. Möglicherweise war Matthew Shane doch kein so schlechter Kerl, wenn er eine so wundervolle Tochter hatte.

„Kannst du nicht Mommy sagen, dass wir hierbleiben wollen? Grandma und Grandpa möchten nämlich, dass wir nach New York zurückkommen.“

Matt versuchte, ruhig zu bleiben. „Sie will Kane’s Crossing verlassen?“

„Es ist so wunderschön hier.“ Tamela wickelte sich gedankenverloren eine ihrer langen braunen Locken um den Finger. „Ich hab mein Pferd Booberry so lieb, und ich finde das Karussell am Cutter’s Lake so toll, und ich … ich liebe hier einfach alles!“

„Und warum wollt ihr dann fort?“

Tamela seufzte schwer. „Immer wenn Mommy mit Grandma und Grandpa telefoniert, weint sie. Und wenn sie mit Mr. Tarkin gesprochen hat, weint sie noch viel mehr.“

Tarkin. Irgendwie kam Matt der Name bekannt vor. Ein eiskalter Schauer durchlief ihn, und unwillkürlich musste er an Geld denken. „Wer ist denn dieser Mr. Tarkin, Tam?“

„Ein alter Mann, und wenn er auf die Farm kommt, sind der Trainer und die Pferdeknechte und alle anderen immer ganz ernst. Er hat Suzie Q getötet.“

Ein Pferd. Nicht einmal an diesen Namen konnte Matt sich erinnern.

„Dann hat Mr. Tarkin Suzie Q also einschläfern lassen?“ Zu spät fiel ihm ein, dass Tamela dieses Wort möglicherweise gar nicht kannte.

Aber er irrte sich. Sie war ein aufgewecktes Kind. „Mommy hat am Telefon gesagt, dass er Geld haben will. Wenn die Leute von Geld reden, weint sie immer am schlimmsten.“

Matt musste unbedingt mit Rachel über Tarkin reden. Wenn er in sein altes Leben zurückkehren wollte, musste er alles über die Farm wissen.

Plötzlich spürte er jemanden hinter sich. Er blickte auf und sah, dass Rachel hinter dem Sofa stand. Anscheinend nicht sonderlich gut gelaunt.

„Tam, Liebling, gehst du bitte nach oben und suchst dir etwas Hübsches zum Anziehen raus? Onkel Rick und Tante Lacey kommen heute Abend.“

Tamela sprang vom Sofa und rannte hinaus. Gleich darauf polterte sie die Treppe hoch. Matt und Rachel standen da und starrten sich an.

Sie brach das Schweigen zuerst. „Wirklich reizend. Fragst eine Sechsjährige aus.“

„Mit ihr redet es sich um einiges leichter als mit dir.“

„Großartig. Du bist kaum eine Stunde zurück, und schon nimmst du dir solche Freiheiten heraus.“

Matt stand auf. „Ich würde gern mit dir unter vier Augen reden, ehe die Verwandtschaft hier auftaucht.“

Rachel kam ums Sofa herum und schaute ihm direkt in die Augen. Es ging ihm durch und durch. Musste es denn so sein?

„Ich dachte, es würde Rick und Lacey bestimmt interessieren, dass ihr verschollener Bruder nach Kane’s Crossing zurückgekehrt ist.“

Er schaute zur Seite. „Ich erinnere mich nicht an meine Geschwister.“

Sie schwiegen. Irgendwo im Raum tickte eine Uhr, sonst war nichts zu hören.

„Tut mir leid“, murmelte Rachel reumütig. „Es kann übrigens sein, dass ich noch mehr Mist baue, also sei ein wenig nachsichtig mit mir, ja?“

„Für mich gilt das Gleiche. Es kommt mir so vor, als würde ich alles falsch machen.“

„Das ist nicht …“

… deine Schuld, wollte sie sagen.

Sie sprach die Worte nicht aus. Vielleicht, weil er selbst verantwortlich für seinen Gedächtnisverlust war. Und vielleicht, weil Matthew Shane ihnen allen mehr als nur einmal Kummer bereitet hatte.

Die Klimaanlage schaltete sich ein. Rachel stand so dicht vor Matt, dass er ihren Jasminduft wahrnahm. Er wich ein Stück zurück.

„Du hast ein Anrecht darauf, alles über die Farm zu erfahren“, sagte sie.

Er antwortete nicht, und sie verfolgte das Thema nicht weiter. Stattdessen breitete sich ein angespanntes Schweigen zwischen ihnen aus.

Verdammt, er hielt diesen Small Talk nicht aus, diesen Abstand zwischen ihnen. Ohne nachzudenken, nahm er Rachels Gesicht in beide Hände. Er sah ihren erstaunten Blick, dann spürte er ihre Lippen auf seinen.

Mit einem leisen Seufzer öffnete sie den Mund und schenkte ihm das Willkommen, nach dem er sich so sehr gesehnt hatte.

Ihre Haut war wundervoll weich und sanft unter seinen von der Arbeit schwieligen Händen, ihr Duft so einladend …

Sie drängte sich gegen ihn, biss ihn zart in die Lippen. Matts Körper reagierte umgehend. Heftig. Er ließ seinen Finger über ihr Gesicht gleiten, über Kinn und Hals. Ihr Duft reizte seine Sinne.

Plötzlich wich sie zurück, das Gesicht rot vor Zorn. „Verdammt, Matthew!“, fauchte sie und presste die Finger auf die Lippen.

„Das war eben ein viel schöneres Willkommen als vorhin.“ Er bemühte sich um ein neutrales Gesicht, musste dann aber doch grinsen.

Sie ließ die Hand sinken. „Du findest das wohl lustig, oder? Findest es amüsant, dass ich jahrelang den Klatsch der Stadt ertragen musste? Ist dir eigentlich klar, dass immer irgendjemand eine dumme Bemerkung macht oder anzüglich grinst, wenn ich in Megs Bäckerei, ins Kaufhaus oder Darlas Kosmetikgeschäft komme?“

Sie atmete tief durch, und Matt sah, dass sie nur mit Mühe die Tränen zurückhielt.

Trotzdem sprach sie weiter. „Du hast ja keine Ahnung, wie es ohne dich für uns war, Matthew. Und deine Rückkehr hat es nicht gerade einfacher gemacht.“

Die Vorwürfe taten weh, aber er hatte sie verdient.

„Es tut mir leid, Rachel. Wenn es sein muss, sage ich das immer wieder.“

Dafür erntete er nur ein höhnisches Lachen. „Dann fang am besten gleich damit an. Aber selbst eine Million Entschuldigungen können nicht einmal ansatzweise wiedergutmachen, was du deiner Tochter angetan hast.“

Fast hätte er gesagt, dass er noch nicht mal wusste, was er seiner Frau und seinem Kind angetan hatte – aber es reichte ja, wenn Rachel das wusste. Nein, sie sollte ruhig ihren Schmerz an ihm auslassen, dann würde er eben für die Sünden des anderen Matthew Shane büßen. Es ging nicht anders.

Sie stand da, die Arme vor dem Oberkörper verschränkt, mit blitzenden Augen. Ihre Brüste hoben und senkten sich unter ihren heftigen Atemzügen, und ihre Lippen waren gerötet von seinem Kuss.

Wie er sie in diesem Augenblick begehrte!

Aber sie wich auf sichere Entfernung zurück.

„Vielleicht setzt du dich besser, während ich eine Million Mal wiederhole, wie leid es mir tut“, sagte er. „Das kann nämlich Jahre dauern.“

Sie holte tief Luft und ließ die Schultern hängen. „Ich weiß nicht, was ich mit dir machen soll.“

Er hätte eine ganze Reihe von Vorschlägen gehabt, behielt sie aber lieber für sich. Stattdessen setzte er sich aufs Sofa.

Rachel setzte sich ebenfalls, aber sie hielt Abstand. Sie seufzte, dann sagte sie leise: „Es macht mich noch viel wütender, dass ich deine Hilfe brauche.“

Erstaunt sah er sie an. Würde sie etwa Gnade vor Recht ergehen lassen?

Rachel schüttelte den Kopf, und Matt brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass sie damit nicht seine stumme Frage beantwortete. Stattdessen dachte sie offenbar darüber nach, ihm zu erklären, wofür sie ihn brauchte.

Sie braucht mich. Bei dem Gedanken musste er grinsen. Aber dann wurde ihm klar, dass er gar nicht gebraucht werden wollte, und er wurde wieder ernst. In seinem gegenwärtigen Zustand konnte er niemandem eine Hilfe sein.

„Erinnerst du dich an Peter Tarkin?“, fragte sie.

Matt zuckte mit den Schultern. „Der Name löste keine guten Gefühle aus.“

„Vertrau ruhig deinem Instinkt.“ Sie seufzte. „Dein Vater hat dir diese Farm vermacht, zusammen mit dem Futtermittelhandel in Louisville. Dort bist du ziemlich häufig gewesen. Ehrlich gesagt, hast du dem Laden mehr Aufmerksamkeit geschenkt als Green Oaks. Na ja. Jedenfalls hast du die Farm nicht allein geerbt. Ein Teil davon gehört Peter Tarkin, dem Partner deines Vaters. Du hast sechzig Prozent bekommen, er vierzig. Und dieser Tarkin ist durch und durch Geschäftsmann, knallhart. Wenn eine Stute krank ist und nur Verluste bringt, wird das Tier eingeschläfert, damit er die Versicherungsprämie kassieren kann.“

Zorn erfasste Matt. „Dieser Mann ist Teilhaber? Warum haben wir ihn nicht ausgezahlt?“

Bei dem Wort wir sah es so aus, als hellte sich Rachels Miene etwas auf.

„Das wollten wir auch, aber dann bist du mit all unseren Ersparnissen verschwunden. Danach konnte ich es mir nicht mehr leisten. Jetzt will Tarkin die ganze Farm haben, und ich frage mich wirklich gerade, ob ich verkaufen soll. Die Farm hat nämlich schlimme Verluste gemacht, als uns ein teures Fohlen weggestorben ist. Trotzdem kommt es für mich überhaupt nicht infrage, sie einem geldgierigen Kerl wie Tarkin zu überlassen …“

Matt versuchte, ihr in die Augen zu schauen, aber sie wich ihm aus und biss sich auf die Lippen.

„So mag ich mein Mädchen“, flüsterte er trotzdem.

Ich bin nicht dein Mädchen! erwartete er zu hören, aber sie sagte nichts.

Schweigend standen sie da, und er merkte, wie ihr Atem flacher wurde. Sein Puls dagegen beschleunigte sich.

Unwillkürlich stellte er sich vor, wie er über ihren nackten Bauch strich, immer höher, bis zu ihren Brüsten.

Sein Blick fiel auf ihr Dekolleté und die sanften Rundungen, die sich unter ihrer Bluse abzeichneten. Ihre Knospen wurden sichtlich hart. Matt wusste, dass sie eben seine Gedanken erraten hatte.

Schnell verschränkte sie die Arme vor der Brust.

Er wappnete sich für die Wahrheit. „Was für ein Ehemann war ich?“

Rachel öffnete den Mund.

„Mommy?“

Tamela. Und sie hatte nach ihrer Mutter gerufen, nicht nach ihm.

Rachel trat zurück. Wieder begann seine Narbe zu schmerzen.

„Ich komme gleich, Tam.“ Ohne einen weiteren Blick ging sie hinaus.

Matt blieb mit dem niederschmetternden Gefühl zurück, dass er hier nicht gebraucht wurde.

Stunden später, unter dem dunklen Himmel des Juniabends, dachte Rachel immer noch an den Kuss.

Als sie aus dem Küchenfenster auf die überdachte, mit Kerzen beleuchtete Veranda schaute, fiel ihr Blick direkt auf Matthew. Zur Feier des Tages, weil seine Schwester gekommen war, hatte er geduscht und eine saubere Jeans und Hemd angezogen. Er hatte sich sogar dazu überreden lassen, seinen Hut abzunehmen, obwohl es ein harter Kampf gewesen war. Aber es hat sich gelohnt, dachte sie, als die leichte Brise sein dunkles Haar zerzauste.

Ihr wurde warm. So, wie er jetzt aussah, erinnerte er sie an den unbeschwerten, witzigen Studenten, in den sie sich damals auf dem College auf Anhieb verliebt hatte. Sie war drei Jahre jünger als er und entsprechend naiv gewesen, und sie hatte ihn buchstäblich angehimmelt. Kurz nach ihrem Examen hatten sie geheiratet.

Tamela kam mit einem leeren Wasserkrug hereingehüpft. „Was machst du da, Mommy?“

Rachel riss den Blick von ihrem Mann los, nahm ihr den Krug ab und stellte ihn auf den Tresen. „Ich serviere gleich den Nachtisch. Erdbeeren auf Löffelbiskuits.“

Sie wartete, bis ihre Tochter mit dem Herumhüpfen aufgehört hatte, ehe sie ihr ein Schälchen mit Erdbeeren gab.

„Die Gäste bekommen immer zuerst“, erklärte sie lächelnd.

„Ist Daddy ein Gast?“

Was sollte Rachel darauf antworten? „Ich … also, er ist der Grund, warum wir feiern. Deshalb darf er ruhig das erste Schälchen haben.“

Tamela hampelte unschlüssig herum und drehte sich im Kreis. Rachel wurde nervös, weil sie Angst um den Nachtisch hatte. Und um das Kristallschälchen.

„Mommy, wie lange bleibt Daddy bei uns?“

„Oh … also … darüber haben wir noch nicht gesprochen.“ Rachel deutete mit dem Kopf nach draußen. „Servier doch erst mal den Nachtisch, Süße.“

„Macht er noch mal Urlaub? Findet er diesmal seine Erinnerung wieder?“ Tamela rümpfte die Nase. „Wie kann er eigentlich denken, wenn er doch gar kein Gehirn mehr hat?“

„Sein Gehirn ist noch da, nur sein Gedächtnis nicht. Das ist ein bisschen kompliziert. Niemand weiß genau, wann es wiederkommt. Bei jedem Menschen ist es anders.“

Tamela nickte. „Bestimmt findet er es wieder. Früher hat er mir immer Teddybären mitgebracht. Ich möchte so gern noch ein paar mehr haben.“

Wie auf Kommando betraten in diesem Augenblick Chloe Lister und Matthews Stiefschwester Lacey Vedae die Küche und retteten Rachel vor weiteren unangenehmen Fragen.

Lacey nahm Tamela die Schüssel ab. Sie war eine zierliche Frau Ende zwanzig mit großen Augen und vollen Lippen. Wenn in Kane’s Crossing über die Shanes gesprochen wurde, fiel immer wieder ihr Name. Sie veränderte ständig ihr Aussehen, so ähnlich wie Madonna. Man führte ihr exzentrisches Wesen auf ihren Aufenthalt im Heim für verhaltensgestörte Kinder zurück. Die Klatschmäuler der Stadt zerrissen sich nur zu gern das Maul über sie.

Heute trug sie ein geblümtes Kleid aus Laura-Ashley-Stoff, das dunkle Haar fiel ihr locker und luftig über die Schultern. „Meine Brüder wollen etwas Süßes. Wir müssen die armen Wesen füttern.“

„Der Nachtisch ist schon unterwegs!“, rief Rachel und gab Schlagsahne auf die Erdbeeren.

Chloe Lister stellte sich dazu. „Brauchen Sie noch Hilfe, Mrs. Shane?“

Als Rachel Lacey ein volles Schälchen geben wollte, rutschte es ihr aus der Hand und zerschellte am Boden. Rachel schüttelte den Kopf und versuchte die Nerven zu bewahren. „Na großartig!“

Plötzlich wurde ihr alles zu viel. Als sie sich bückte, um die Scherben aufzusammeln, stiegen ihr die Tränen in die Augen.

„Mommy?“

Rachel reagierte nicht darauf, sondern schlug die Hand vor die Augen. Zwei lange Jahre hatte sie gewartet. Zwei lange Jahre voller vergeblicher Hoffnung, ohne Antwort auf ihre Fragen, auch wenn ihr Mann jetzt zurückgekehrt war.

Bis jetzt hatte sie sich wirklich tapfer gehalten.

„Tamela, willst du den Männern nicht schon mal den Nachtisch bringen?“, hörte sie Lacey sagen.

Als Tamela hinausging, spürte Rachel eine Hand auf der Schulter. Sie schluchzte auf und schämte sich gleichzeitig dafür. „Entschuldigt bitte …“

„Was denn?“, fragte Lacey.

Rachel schaute hoch, und Lacey wischte ihr eine Träne von der Wange. Chloe schloss die Tür und wirkte dabei ganz ruhig – ganz die kühle Karrierefrau eben. Es hätte Rachel nicht gewundert, wenn sie selbst inmitten einer Herde wild gewordener Nashörner nicht mit der Wimper gezuckt hätte.

„Tut mir leid, dass ich mich so gehen lasse“, sagte sie. „Anscheinend kann ich allen anderen mit ihren Problemen helfen, nur bei meinen eigenen versage ich kläglich.“

Lacey lachte. „Quatsch. Mich wundert, dass deine Nerven nicht schon eher schlappgemacht haben. Das hast du nun davon, dass du von mir kein Geld für die Farm annehmen willst.“

„Ich würde mich schämen, Geld von dir zu nehmen, Lacey.“

„Ganz wie du meinst.“ Sie massierte Rachels Rücken. „Bestimmt ist es nicht einfach, mit Matthews Gedächtnisverlust zurechtzukommen. Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich ihm seine wirre Story zuerst gar nicht abgenommen.“

„Man weiß ja nie“, meldete sich Chloe zu Wort. „Mrs. Shane, wenn Sie möchten, stelle ich weitere Nachforschungen an. Und was das Honorar betrifft, da machen Sie sich vorerst keine Sorgen …“

„Danke, aber nein.“ Rachel atmete tief durch. Gute Freunde waren Gold wert, und in Kane’s Crossing hatte sie einige davon. Wie hatte sie nur ernsthaft überlegen können, die Farm aufzugeben – die Menschen, denen sie wichtig war – und wieder nach New York zu ziehen?

Lacey half ihr hoch, führte sie zur Spüle und drehte den Hahn auf. Rachel spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Es half ein bisschen.

Ihre Freundin sagte: „Hoffentlich ist mein verrückter Bruder inzwischen erwachsen geworden und benimmt sich dir gegenüber anständig. Nicht so wie früher.“

„Ach, so schlimm war das alles gar nicht“, erwiderte Rachel und wünschte, Lacey wäre nicht so scharfsinnig. Wie vielen Leuten mochte aufgefallen sein, dass Matthew und sie kaum ein Wochenende miteinander verbracht hatten? Kurz bevor er verschwand, war ihre Ehe eigentlich am Ende gewesen.

„Nein, es war alles bestens“, sagte Lacey ironisch. „Rachel, du weißt doch, dass Männer sich nie ändern, oder? Sie machen ewig so weiter, bis ihnen irgendwann irgendjemand die Daumenschrauben anlegt. Vielleicht hat jemand den guten Matthew in New Orleans in die Mangel genommen und dir damit einen Riesengefallen getan?“

Und wenn dieser neue Matthew doch wieder zum alten wird? hätte Rachel ihre Freundin am liebsten gefragt. Der, der mich irgendwann nicht mehr geliebt hat?

Aber sie sagte nichts, sondern hielt einfach den Mund und hoffte, dass Lacey recht hatte. Rachel hatte sich immer so sehr gewünscht, seine Liebe irgendwann zurückgewinnen zu können!

3. KAPITEL

Der Himmel färbte sich dunkler. Das Zirpen und Summen umherschwirrender Insekten erfüllte die lauwarme Luft.

Matt saß allein auf der Veranda und leerte sein Dessertschälchen, schmeckte aber kaum etwas. Er wünschte, Rachel wäre bei ihm hier draußen, statt sich in der Küche zu verstecken. Als wollte sie nicht in seiner Nähe sein.

Ein paarmal schaute er unauffällig zum Fenster. Lacey und Chloe waren hineingegangen. Wahrscheinlich redeten die Frauen über ihn.

Verdammt, warum konnte der einzige Mensch, der ihm halbwegs vertraut war, nicht bei ihm bleiben und ihm eine Stütze sein? Er erinnerte sich ja nicht einmal an seine Stiefschwester und seinen Bruder, und das hatte das Essen noch peinlicher gemacht.

Er warf einen letzten heimlichen Blick zur Küche, stand auf und entfernte sich vom Haus. Nachdem er ein paar Minuten herumgeschlendert war, kam er zu einer Grasfläche, die bis an einen weiß eingezäunten Teich heranreichte. Der Himmel war purpurrot, und schon zeigten sich ein paar schwache Sterne.

Erst als er hinter sich eine tiefe Stimme hörte, merkte er, dass er nicht mehr allein war.

„Der alte Herr hätte dir kein Wort von deinem Gedächtnisverlust abgenommen.“

Matt drehte sich um und sah einen großen dunklen Schatten. Dann kam ein kratzender Laut, gefolgt vom Aufflammen eines Streichholzes. Schwaches Licht fiel auf das Gesicht seines Bruders Rick. Seine Miene wirkte düster.

Rick bemerkte, dass Matt ihn musterte. „Zigarette?“

„Nein, danke.“ Matt wusste nur, dass Rick Pilot war und sich oft in einer Hütte auf Laceys bewaldetem Anwesen verkroch. Er hatte das gleiche dunkelbraune Haar wie er selbst, trug es nur ein wenig länger.

Schweigend standen die beiden Brüder da. Was sollten sie sich auch sagen? Den ganzen Abend über hatte Rick kaum zehn Worte herausgebracht und nicht einmal bei der Begrüßung Gefühle gezeigt.

Seine Stiefschwester Lacey hingegen hatte ihn fast umgebracht, so ungestüm hatte sie ihn umarmt. Und ihm versichert, er solle sich keine Sorgen machen, sie wäre längst nicht so verrückt, wie die Leute in Kane’s Crossing es aussehen ließen, wenn sie sich mal wieder die Mäuler über sie zerrissen. Aber wen kümmerte das schon?

Rick stieß den Zigarettenrauch aus. „Dad würde dich wegen dieser Gedächtnisgeschichte gnadenlos ins Kreuzverhör nehmen, weil er irgendeinen Haken dabei vermutet hätte.“

Sollte das eine indirekte Beschuldigung sein? Matt wurde ärgerlich. „Lass mich mal raten – unsere Beziehung war nicht die beste, stimmt’s?“

Sein Bruder lächelte grimmig. „So, wie du deine Familie die letzten Jahre behandelt hast, bestimmt nicht. Und deine Story ist mir auch nicht ganz geheuer.“

Bevor sich die beiden weitere Anschuldigungen um die Ohren hauen konnten, heulte ein Motor auf, gefolgt von lauten Jubelrufen und Hupen. Matt und Rick wandten sich dem Lärm zu.

Ein kleiner roter Sportwagen brauste die Auffahrt entlang aufs Haus zu. Ein Mann mit Baseballkappe winkte wild.

„Mattie!“, brüllte er.

„Na, hast du immer noch Fragen zu deiner Vergangenheit, Matt?“, erkundigte Rick sich zynisch.

„Was glaubst du denn?“

Rick lachte kurz auf und schlenderte davon. Über die Schulter hinweg sagte er: „Gleich wirst du ein paar Antworten bekommen.“ Und er ging, ohne seinem Bruder eine gute Nacht zu wünschen.

In diesem Moment fragte Matt sich, ob er nicht besser in Texas geblieben wäre.

Mit quietschenden Reifen kam der Sportwagen vor dem Haus zum Stehen. Drei Gestalten sprangen heraus.

„Mattie!“, schrien sie im Chor.

Matt ahnte schon, dass er es noch bereuen würde, trotzdem ging er zum Wagen.

Zwei stämmige Männer in schmutzigen T-Shirts und Jeans, mit Baseballkappen auf dem Kopf, flankierten eine zierliche junge Frau in Shorts, T-Shirt und Turnschuhen.

„Juhu!“, kreischte sie, schlang die Arme um Matt und knutschte ihn ab. Kräftiger Whiskeyduft umwehte ihn.

Die beiden Männer holten Schnapsflaschen aus dem Wagen. „Wir sind wieder da, Mattie! Siehst du, Sonny, ich hab dir doch gesagt, dass die Gerüchte stimmen.“

Der Mann namens Sonny torkelte auf Matt zu.

„Sieh dir das an, Junior, Mattie hat sich endlich entschlossen, seine schicken Anzüge in den Müll zu werfen.“ Er schlug Matt so kräftig auf den Rücken, dass der beinahe vornüberstürzte, weil die junge Frau immer noch an ihm hing.

Matt versuchte, die idiotische Situation mit Humor zu nehmen. Es konnte doch wohl nicht sein, dass der alte Matthew mit diesen Typen herumgehangen hatte. „Hört mal, ich bin mir nicht sicher …“

„He, Mattie“, rief die junge Frau, wich ein Stück zurück und riss Junior die Schnapsflasche aus der Hand. „Wir sind es. Erinnerst du dich nicht?“

Sein Gesicht musste Bände sprechen.

Brüllendes Lachen hallte durch die Nacht. Sonny klopfte mehrmals gegen Matts Kopf. „Hallo, da drinnen? Ist das zu glauben? Er tut so, als würde er uns nicht kennen!“

Langsam wurde Matt sauer. Das war ja der reinste Albtraum! Oder der reinste Witz. Ja, so musste es sein. Rachel hatte ein paar Spaßvögel engagiert, um ihm die letzten beiden höllischen Jahre heimzuzahlen.

„Okay, ihr seid also das Empfangskomitee von Kane’s Crossing …“ Aber als er die verständnislosen Gesichter der drei bemerkte, sprach er nicht weiter.

Die junge Frau hängte sich an seinen Arm. „Na komm schon, Mattie. Wir sind hier, um mit dir die vielen Tage nachzuholen, die du Armer ohne uns trinken musstest. Farmer Fred macht heute Abend ein Fass auf. Es gibt reichlich zu schlucken.“

„Und ein paar Mädchen vom College sind auch dabei“, grinste Junior.

Aber als er einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein bekam, klappte er seinen vorlauten Mund umgehend wieder zu.

Langsam reichte es Matt. „Jetzt hört mir mal gut zu …“

In diesem Moment mischte Rachel sich ein. „Junior, Sonny, Mitzi – ich dachte, wir hätten ein Abkommen getroffen?“ Sie kam gerade aus dem Haus. Ihr leichtes Sommerkleid schmiegte sich um ihre schlanke Figur und die festen Brüste. Junior und Sonny nahmen schuldbewusst die Baseballkappen ab und senkten die Köpfe, aber Mitzi ließ sich nicht einschüchtern. „Ach, hör doch auf. Wenn Mattie zu Haus herumhockt, wird er ein Langweiler. So wie du.“

Rachel seufzte nur. Da kam ein Streifenwagen die Auffahrt hoch, ohne Sirene und blinkende Lichter. Er hielt vor ihnen an, und der Sheriff stieg aus.

Sein Blick heftete sich kurz auf Matt, bevor er Rachel ansah. „Hallo, Rachel.“

„Hi, Sam. Endlich von der Hochzeitsreise zurück?“

Sam. Sam Reno.

Wieso kannte er seinen Nachnamen?

Nach außen hin wirkte Rachel immer noch ruhig, aber sie hatte die Finger in ihr Kleid gekrallt. „Es sieht so aus, als hätten wir hier ein Problem“, fügte sie hinzu.

Wieder schaute Sam auf Matt, und das gefiel ihm überhaupt nicht. War er etwa das Problem?

„Nein, das ist nicht das Problem, das ich meine“, sagte Rachel. „Das ist Matthew. Erinnerst du dich an ihn?“

Sam nickte langsam, und es lag so etwas wie Verachtung in seinem Blick. In gewisser Weise konnte Matt es sogar verstehen. Wenn er auch nur halb so schlimm gewesen war, wie er vermutete, hatte Rachel allen Grund, ihn zu hassen.

Sam wandte sich Junior, Sonny und Mitzi zu. „Ich habe euch vorhin Schlangenlinien fahren sehen. Ihr seid hackevoll. Man riecht es bis hierher.“

Mitzi grinste. „Wir heißen doch nur unseren lieben Mattie willkommen.“

Eine Flasche knallte zu Boden, zersplitterte, und zu Juniors Füßen breitete sich eine Whiskeylache aus. „Na, so was.“ Er kratzte sich am Kopf.

Sonny gab ihm einen Schlag auf den Schädel. Sam runzelte die Stirn. „Junior Crabbe, Sonny Jenks und Mitzi Antle, keiner von euch fährt heute noch eure Kiste nach Haus. Ihr kommt mit in mein Büro.“

Während er die drei in seinen Wagen verfrachtete, spürte Matthew Rachels Blick auf sich. Er mochte sie aber nicht ansehen, weil er ihre enttäuschte Miene fürchtete. Er selbst war auch von sich enttäuscht. Hatte sich der alte Matthew etwa wirklich mit solchen „Freunden“ herumgetrieben?

Sam stieg ein und schaute dabei zu Rachel. „Wollt ihr zwei in ein paar Tagen nicht mal bei uns vorbeikommen? Alle sind furchtbar gespannt darauf, dich und Matthew zusammen zu sehen.“

Rachel sah Matt fragend an.

Er nickte, weil er wusste, dass er sich sowieso den restlichen Einwohnern von Kane’s Crossing stellen musste. Der Neugier konnte er nicht entgehen.

Rachel lächelte Sam zu. „Wir kommen gern. Und grüß bitte Ashlyn und Taggert.“

„Mache ich. Gute Nacht, Rachel.“ Sein Lächeln verblasste. „Matthew.“

So, wie Sam ihn ansah, wusste Matt, dass es für ihn nicht einfach werden würde, Rachels Freunde zu treffen. Wahrscheinlich war die ganze Stadt der Meinung, dass er einfach abgehauen war und seine Frau betrogen hatte.

Wieder blitzte das Bild der blonden Frau mit dem Kind in seinem Kopf auf.

Er wünschte, er könnte mit Sicherheit sagen, dass er Rachel nicht hintergangen hatte.

Als der Sheriff davonfuhr, sagte sie: „Lass uns ins Haus gehen.“

Die nächsten Worte waren heraus, ehe er sie zurückhalten konnte. „Der Sheriff hat sich ja sehr um dich bemüht.“

„Du meine Güte, Matthew.“ Rachel sah auf einmal schrecklich müde aus. Auch ihre Stimme klang matt. „Sam ist ein guter Freund. Wenn du sehen könntest, wie sehr er seine Frau liebt, würdest du vor Scham im Boden versinken.“

Matt stand da und wollte nicht ins Haus. Niemand sollte mitbekommen, wie unsicher er war. „Geh doch schon mal wieder rein zu den Gästen, Rachel.“

Einen Moment lang blieb sie noch neben ihm stehen, aber Matt wandte sich ab. Er wusste, dass sie mit ihm über Sonny und seine Freunde reden wollte, aber was sollte er ihr dazu bloß erzählen?

Er hörte, wie sie davonging. Wieder einmal hatte er den Zeitpunkt verpasst, ihr zu sagen, wie sehr er alles bedauerte. Und obwohl Matthew Shane wieder zu Hause war, war er jetzt einsamer als je zuvor.

Zehn Minuten später hatten die Gäste sich verabschiedet. Nachdem Rachel sich davon überzeugt hatte, dass Lacey Tamela vorher ins Bett gebracht hatte, kam sie zurück ins Wohnzimmer. Matthew saß auf dem Sofa und hatte den Kopf gesenkt.

Rachel stellte sich hinter ihn und lugte über seine Schulter.

Er erschrak und sah sie schuldbewusst an. In der Hand hielt er ein aufgeschlagenes Fotoalbum. Auf den Bildern waren Tannenzweige, Lametta und weihnachtlich verpackte Geschenke zu sehen.

Rachel spürte, dass ihm seine unbedachten Worte über Sam Reno leidtaten. Der Sheriff war ein guter Freund, der erst vor Kurzem Ashlyn Spencer geheiratet hatte, die Tochter seines ärgsten Feindes. Des Mannes, der für den Unfalltod seines Vaters in der Fabrik der Spencers verantwortlich war.

Rachel deutete mit dem Kopf auf die Bilder. „Das ist unser Weihnachtsbuch. Wir kleben jedes Jahr Bilder von unserem Fest ein – für Tamela zur Erinnerung.“

Er presste die Lippen zusammen und blätterte die Seite um. „Auf vielen Fotos bin ich gar nicht zu sehen, stimmt’s?“

Sie mochte ihm nicht erzählen, dass er am Heiligabend meist sehr spät nach Hause gekommen war und sein Fehlen mit großzügigen Geschenken hatte wiedergutmachen wollen. Und immer hatte er irgendeine Ausrede gefunden, um nicht mit ihnen feiern zu müssen.

Rachel wusste nicht, wie viel sie ihm an einem Tag zumuten durfte. Gedankenverloren strich sie mit dem Daumen über ihren silbernen Ehering mit den eingravierten Rosen. Der Ring war nicht sehr teuer gewesen, trotzdem war er ihr unendlich viel wert. Nicht einmal gegen das teuerste Schmuckstück der Welt hätte sie ihn eingetauscht. Dieser Ring erinnerte sie an eine Zeit, zu der Matt und sie schrecklich verliebt ineinander gewesen waren. Gleich nach dem College, auf ihrer Reise nach Madrid.

„Du warst schon immer ein bisschen kamerascheu“, redete sie sich heraus. Die Geschichte vom Workaholic, der nur selten bei seiner Familie war, würde sie ihm später erzählen.

Matthew schloss vorsichtig das Buch und runzelte die Stirn. Rachel wusste, dass er mit ihr darüber reden wollte, wer er war und was er ihr bedeutet hatte. Aber sie konnte es einfach nicht. Noch nicht.

Er schien in Gedanken versunken, schaute mit leerem Blick vor sich hin.

„Matthew, ist irgendwas?“, fragte sie besorgt.

Es dauerte einen Moment, ehe er antwortete. Mit einer Gegenfrage: „Waren das eben meine Zechkumpane?“

„Matthew, hast du mir zugehört?“

Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja, ich habe zugehört. Hast du denn auch meine Frage gehört?“

Sie seufzte. „Die drei stammen noch aus deiner Highschool-Zeit. Kurz bevor du verschwunden bist, hatten wir vereinbart, dass du dich nicht mehr mit ihnen einlässt. Sonny, Junior und Mitzi sind einfach widerlich.“

Ein betretenes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.

„Darf ich dich um etwas bitten, nur zu meiner Beruhigung?“, sagte sie schließlich.

Er blickte auf. „Worum denn?“

Sie schwieg einen Moment lang. „Seit du dein Gedächtnis verloren hast, bist du nie bei einem Arzt oder im Krankenhaus gewesen. Darf ich …“ Sie zögerte kurz. „Darf ich mir deinen Kopf anschauen? Nur um zu sehen, ob es da irgendwelche Narben gibt.“

Andererseits – selbst wenn es welche gab, würde sie daran auch nicht viel erkennen können. Er müsste sich schon einer Computertomographie unterziehen. Trotzdem wollte sie wenigstens ihre Neugier befriedigen.

Sein Gesicht blieb ausdruckslos. „Werden Sie jetzt dienstlich, Schwester Rachel?“

„Wenn es nötig ist.“

Als er seufzte und wegsah, nahm sie das als Einwilligung. „Danke.“

Sie stellte sich vor ihn hin. Unwillkürlich hielt sie den Atem an, als sie bemerkte, dass seine Augen genau in Höhe ihrer Brüste waren. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus … und unwillkürlich musste sie an heiße Küsse denken.

Rachel wartete darauf, dass er den Kopf senkte, aber damit wartete er noch. Erst ließ er den Blick über ihre Brüste, dann weiter hinunter zu ihrem Bauch gleiten. Sofort stellte sie sich vor, wie er die Hände unter ihr dünnes Kleid schob und ihre nackte Haut erforschte.

Zurück in die Wirklichkeit! Sie räusperte sich und hoffte, dass er den Kopf beugte. Als er es endlich tat, lächelte er dabei so sinnlich, dass ihr erst recht heiß wurde.

Stopp!, dachte sie. Ich muss auf mich aufpassen! Auf keinen Fall darf ich wieder auf Matthews Charme hereinfallen … am Ende werde ich bloß wieder verletzt.

Rachel richtete sich auf, schob die Finger in sein Haar und schloss die Augen. Es war wundervoll weich und seidig.

Schon früher hatte sie es genossen, ihn zu berühren. Er hatte sich zurückgelehnt, während sie ihm über die Brust strich, dann über den Bauch und immer tiefer …

Matthew bewegte sich unruhig und brachte sie in die Realität zurück. Sie riss die Augen auf.

„Na, schon etwas gefunden?“, fragte er.

Sie schüttelte stumm den Kopf, fuhr mit den Fingern über seine Kopfhaut und bemühte sich, diese Berührung nicht wie eine Einladung wirken zu lassen.

Er stöhnte leise, und sie wich zurück. Aber nicht schnell genug: Er umfasste ihre Schenkel. Rachel stand atemlos da, während er seine Finger ihre Beine hochgleiten ließ, bis zum Po. Das Kleid raschelte auf ihrer Haut.

„Ich …“, begann sie leise. Was dachte er sich eigentlich dabei? Und sie selbst? Wenn Matthew immer noch so heißblütig war wie damals, war er inzwischen bestimmt unendlich erregt.

Genau wie sie.

Sie konnte ja kaum noch aufrecht stehen!

Ob es wohl schlimm wäre, wenn sie ihm ein bisschen näherkäme? Nur ganz kurz? Wenn sie sich von ihm küssen ließe? Seinen Kuss erwiderte?

Es war herrlich gewesen, als er sich heute Nachmittag an sie geschmiegt hatte. Beinahe hätte sie die zwei Jahre der Einsamkeit und Sorgen vergessen. Sich zurückversetzt gefühlt in ihre Flitterwochen, als sie Stunden damit verbracht hatten, sich zu küssen, zu streicheln und zu erregen. Meistens waren sie dabei im Bett gewesen …

Und jetzt, wo Matthew sich mit seinen Liebkosungen wieder in ihr Herz schlich, konnte sie sich einfach nicht vorstellen, was daran so falsch sein sollte.

Er beugte sich vor und küsste die Haut oberhalb ihrer Brüste, wo der Ausschnitt endete. Rachel schnappte nach Luft. Ohne zu überlegen, umfasste sie seinen Kopf und drängte sich an ihn.

„Rachel“, flüsterte er. Sein warmer Atem drang durch den Stoff. Ihre Brüste spannten, ihre Knie drohten nachzugeben, als Matt mit den Daumen ihren Bauch streichelte, langsam und kreisend. Dann zog er sie mit sich aufs Sofa, um sie leidenschaftlich zu küssen.

Rachel lag auf ihm, ihre nackten Schenkel rieben sich an seinen Jeans. Dabei spürte sie deutlich seine Erregung. Sie küsste ihn leidenschaftlich.

Er schmeckte nach Mann, würzig und berauschend. Zwei Jahre lang hatte sie darauf verzichten müssen! Jetzt erinnerte sie sich wieder an alles: an endlose Nächte in zerwühlten Betten, an verliebte Blicke, stürmische Liebkosungen und feuchte Haut. Matthew ließ die Finger in ihr Haar gleiten, während er ihre Zunge zu einem erotischen Spiel herausforderte.

Wunderschöne Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf, Bilder aus den Flitterwochen in Sevilla. Sie sah die alten Kathedralen vor sich, sah, wie das Sonnenlicht auf dem Fluss tanzte. Den silberhellen Mond, der auf die Fontänen in den gefliesten Wasserbecken schien. Die spanischen Tänze.

Nach den Flitterwochen waren sie schnell in die Wirklichkeit zurückgekehrt. Rachel hatte sich unendlich leer gefühlt.

Sie zuckte zusammen und zog den Kopf mitten im Kuss zurück. Als sie Matthews fragenden Blick sah, stand sie auf und strich sich das Kleid glatt.

Offensichtlich überrascht, lehnte er sich zurück und legte einen Arm auf die Sofalehne. „Die Untersuchung hat mir gefallen, Rachel. Kann ich gleich einen neuen Termin abmachen?“

Sie schaute zur Seite. „Lass es gut sein, ja?“

Er lachte freudlos auf. „Das habe ich schon die letzten beiden Jahre getan.“

Wollte er damit etwa sagen, dass er die ganze Zeit mit keiner Frau geschlafen hatte? Sie selbst war natürlich auch mit keinem anderen Mann zusammen gewesen, weil sie sich immer noch verheiratet gefühlt hatte, aber … Bei Matthew konnte sie sich das gar nicht vorstellen.

Sie richtete sich auf. „Ich habe nichts gefunden, trotzdem möchte ich, dass du gleich morgen früh zum Arzt gehst. Und ich schlage vor, dass du dich auch auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lässt. Einverstanden?“

Das brachte ihn ein bisschen außer Fassung. „Es wäre ganz schön dumm von mir gewesen, wenn ich in den letzten zwei Jahren einfach irgendwelche Affären angefangen hätte. Ohne zu wissen, wer ich eigentlich bin. Ich habe mit niemandem geschlafen.“

Klar, dachte sie, und ich bin die Kaiserin von China!

Offenbar war ihr der Argwohn anzusehen. „Wie du meinst, Rachel“, sagte Matthew lässig und grinste auf die ihr so vertraute charmante Art. Ihr Herz klopfte schneller.

„Ich kann dir gar nicht sagen, welche Hochachtung ich vor dem habe, was du hier in den letzten beiden Jahren geleistet hast.“ Pause. „Oder wie wunderschön du in diesem Kleid aussiehst.“

Solche Komplimente kannte sie von ihm. Sie hatten sie immer richtig heiß gemacht, und mit dem alten Matthew wäre sie jetzt längst auf dem Weg ins Bett. Aber dieser Mann blieb ihr fremd – von der körperlichen Anziehung einmal abgesehen.

„Vielen Dank, Matthew“, sagte sie so neutral wie möglich.

„Nenn mich doch bitte Matt.“

Ein weiterer Hinweis darauf, dass er sich geändert hatte. Matthew hatte diese Kurzform gehasst. Unter Pferdezüchtern legte man einen gewissen Wert auf geschliffene Umgangsformen.

„Na schön.“ Rachel wandte sich ab, um Distanz zu dem neuen Matt zu schaffen. „Und um gleich noch ein heikles Thema anzusprechen – ich finde es am besten, wenn du in einem der Gästezimmer schläfst.“

Wieder ließ er den Blick über ihren Körper gleiten, und auf einmal war sie angespannt.

„Ich habe da einen besseren Vorschlag, Rachel.“

„Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass du mit mir im Ehebett schlafen kannst!“

„Keine schlechte Idee.“ Er grinste, und ihr Blut schoss ihr heiß durch die Adern. „Wirklich nicht schlecht.“ Sein Grinsen verblasste. „Aber das könnte leider schwierig werden, wenn du so leidenschaftlich auf mich reagierst.“

„Leidenschaftlich?“ Ihre Augen wurden groß.

„Ich wollte dir eigentlich vorschlagen, in ein Motel zu ziehen, bis sich die erste Aufregung gelegt hat.“

Rachel seufzte erleichtert. „Ja, das hört sich vernünftig an.“

„Ausgezeichnet.“

„Gut.“ Sie wandte sich zur Treppe. „Ach übrigens, Tamela möchte dir Gute Nacht sagen.“

Matt stand auf. Er war noch ganz benommen von Rachels Küssen. Zu gern hätte er sie wieder in die Arme gezogen und seine Nase in ihr duftiges, weiches Haar gedrückt, seine Lippen über ihre sanfte Haut gleiten lassen.

Das bisschen, das sie ihm gegeben hatte, konnte seinen Appetit nicht stillen.

Er folgte ihr die Treppe hinauf und genoss den Anblick ihrer Hüften unter dem Sommerkleid. Noch immer brannten seine Handflächen, mit denen er ihre samtweiche Haut berührt hatte.

Einfach würde es nicht werden, allein im Motel. Bestimmt lag er bis zum Morgengrauen wach, starrte gegen die Decke und fluchte dabei die ganze Zeit vor sich hin.

Zusammen betraten sie Tamelas Zimmer. Es war ganz in Rosa gehalten, und überall lagen und standen Teddybären und Puppen herum. Das Mädchen saß im Bett und trug ein mit Elefanten bedrucktes gelbes Nachthemd. Das lockige Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.

„Daddy, das war toll heute Abend“, schwärmte sie.

„Fand ich auch, Mäuschen“, erwiderte er mit schlechtem Gewissen, weil es aus seiner Sicht nicht ganz stimmte. Als er noch mit seiner Tochter zusammen gewesen war, war es wirklich toll gewesen. Aber dann war es für ihn ziemlich ernst geworden.

Rachel kniete sich neben das Bett und Tamela neben sie. Matt blieb stehen, weil er ihr abendliches Ritual nicht stören wollte.

Als Tamela ihr Gebet sprach, wurde ihm warm ums Herz. Diese beiden Frauen gehörten zu ihm, und das Schicksal hatte sie wieder zusammengeführt.

Doch dann überfielen ihn wieder Zweifel: Wieso bildest du dir eigentlich ein, dass du eine Familie verdient hast?, zischte die hämische Stimme in seinem Kopf.

Er musste ihr recht geben.

Leise trat er einen Schritt zurück.

„Gott beschütze Mommy, die Pferde, Tante Lacey, Onkel Rick, Grandma, Granddad und alle anderen Menschen auf der Welt“, betete seine Tochter laut. Es klang wie eingeübt, besonders, als sie hinzufügte: „Und bring uns unseren Daddy zurück.“

Schweigen breitete sich im Raum aus, und Rachel presste die Stirn gegen die gefalteten Hände. Dann aber blickte Tamela auf und lächelte Matt an. „Aber jetzt ist Daddy ja wieder da“, sagte sie.

Rachel schaute ihre Tochter an, und Matt konnte sehen, dass sie um Fassung rang.

Er wandte den Blick ab.

Tamela fuhr fort und endete dann mit: „Lieber Gott, ich danke dir, dass du meinen Daddy zu uns zurückgebracht hast. Und lass Mommy bitte mehr lächeln. Amen.“

Matt hustete, sonst hätte er losgelacht.

Rachel hob den Kopf, wischte sich über die Augen und stand schnell auf. „Und jetzt wird geschlafen, Tamela“, sagte sie ruhig.

Die Kleine schlüpfte unter die Bettdecke. „Daddy muss mir noch eine Gutenachtgeschichte vorlesen.“

Vielleicht wäre es besser, Abstand zu den beiden zu halten, bis er mehr über sich wusste. „Deine Mommy kann bestimmt besser Geschichten vorlesen als ich“, sagte er.

Rachel zog ein Buch aus dem Regal und hielt es ihm hin. „Heute machst das ausnahmsweise du.“

Er verstand sofort, wie sie das meinte. Er durfte gern hin und wieder den Daddy spielen, mehr konnte er aber im Moment nicht erwarten.

Matt nahm das Buch und setzte sich aufs Bett, um seiner Tochter daraus vorzulesen.

Nachdem Tamela eingeschlafen war, folgte Rachel Matt die Treppe hinunter. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihn zum Wagen zu begleiten und ihn dort zu verabschieden.

Aber jetzt war sie sich nicht mehr so sicher.

Als sie gesehen hatte, wie ihre Tochter sich beim Vorlesen an Matts breite Brust geschmiegt und er den Arm um ihre schmalen Schultern gelegt hatte, war Rachel ganz warm ums Herz geworden.

Ein großer Mann, der ein kleines Mädchen festhielt. Er war ihr Beschützer.

Und Tamela war ganz verrückt nach ihm, da gab es keine Zweifel. Zwei Jahre lang hatte das Mädchen ihren Vater vermisst. Durfte ihre Mutter ihn ihr gleich wieder wegnehmen?

Und selbst wenn der alte Matthew als Ehemann durchaus seine Mängel gehabt hatte, als Vater war er liebevoll und zärtlich gewesen.

Trotzdem …

Matt hatte inzwischen die Haustür erreicht und griff nach dem Türknauf. Bei dem Gedanken, dass diese Hand heute so leidenschaftliche Gefühle bei ihr ausgelöst hatte, durchlief sie ein lustvoller Schauer.

Matts verhaltenes und gleichzeitig so anziehendes Lächeln ließ sie verlegen zur Seite blicken.

„Danke, dass ich ihr vorlesen durfte. Das war sehr nett von dir.“

„Das war selbstverständlich. Du bist so liebevoll zu Tamela. So war es schon immer.“

Er streckte die Hand aus und strich ihr eine Strähne hinters Ohr. Rachel keuchte leise auf und packte seine Finger.

Sie starrten sich an. Rachel hätte schwören können, dass Matt sich für einen winzigen Augenblick an alles erinnerte. Schnell ließ sie ihn wieder los. Und auf einmal war sie sich doch nicht mehr so sicher.

Autor

Crystal Green
<p>Crystal Green – oder bürgerlich Chris Marie Green – wurde in Milwaukee, Wisconsin, geboren. Doch sie blieb nicht lange: Sie zog zunächst nach Südkalifornien, von dort nach Kentucky und wieder zurück nach Kalifornien. Die Reisezeit vertrieb sie sich, indem sie Gedichte und Kurzgeschichten über die ultimativen Superhelden Supermann und Indiana...
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