Kannst du mir je verzeihen?

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Bess‘ Herz rast wie verrückt: Zach ist wieder in der Stadt! Und genau wie damals weckt er in ihr Lust und Leidenschaft. Doch wird Zach ihr jemals verzeihen können, dass sie geschwiegen hat, als man ihn verdächtigte, schwere Schuld auf sich geladen zu haben?


  • Erscheinungstag 11.08.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733759049
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Nichts bringt mehr Leben in eine Kleinstadt als Skandalgeschichten.

Noch vor Mittag waren mindestens zwei Dutzend ehrenwerter Bürger von Sweetheart in Bess Carreys Antiquariat aufgetaucht, um die Neuigkeit loszuwerden. Aber bei Bess rannten sie gegen eine Wand.

Dank Alice Barbor, der stadtbekannten Klatschtante, hatte sich das Gerücht wie ein Lauffeuer verbreitet. Kaum hatte Bess am Morgen ihre Buchhandlung aufgemacht, kam sie völlig aufgelöst hereingeplatzt.

„Hast du schon gehört?“

„Was denn, Alice?“, fragte Bess ungerührt.

„Na, dass der nichtsnutzige Crandall-Spross zurückgekommen ist.“

Bess brach der kalte Schweiß aus, und sie musste sich an der Tischkante festhalten.

„Welcher denn, Fletch, Ross oder Jordie?“, fragte sie mit versagender Stimme, obwohl ihr ein ganz anderer Name im Kopf hämmerte.

„Ich meine natürlich Zach. Du warst doch mit ihm auf der Schule.“

Als ob sie das vergessen hätte. Eine Gänsehaut überlief sie. Zach Crandall mit den eisblauen Augen, die einen mit unglaublicher Intensität ansehen konnten. Zach Crandall, zynisch lächelnd, die Zigarette im Mundwinkel. Vor siebzehn Jahren war er mit seinem Motorrad abgedüst und hatte nichts hinterlassen als eine Abgaswolke und jede Menge Gerüchte.

Er war der Letzte, den die Leute wieder in der Stadt haben wollten, aber für Bess war er der Einzige, der ihre Augen zum Leuchten brachte.

„Zach? Das gibt’s doch nicht.“ Sie ließ sich auf die erstbeste Sitzgelegenheit fallen, einen Karton mit Shakespeare-Sonetten, den sie noch auspacken musste. Alice plapperte aufgeregt weiter, während ihre Zuhörerin immer blasser wurde.

„Ich konnte es zuerst auch nicht glauben. Der hat vielleicht Nerven!“

„Warum ist er zurückgekommen?“ Bess sprach mehr zu sich selbst. Aber es spielte keine Rolle, warum er zurückgekommen war. Hauptsache, er war wieder da.

„Seine Mutter soll nächste Woche rauskommen. Siebzehn Jahre. Eigentlich hätte sie eher eine Medaille verdient. Falls sie’s überhaupt gewesen ist.“

Bess erholte sich langsam. „Ich muss wieder an die Arbeit, Alice.“

Alice nickte nur geistesabwesend, als überlege sie bereits, wen sie als Nächstes mit ihrer Neuigkeit beglücken könnte. „Falls ich noch was höre, sag ich dir Bescheid.“

Bess konnte sich unmöglich auf ihre Arbeit konzentrieren. Das Herz klopfte ihr wie damals mit siebzehn, als sie sich unsterblich in den ersten und einzigen Jungen verliebt hatte, der ihr schöne Augen machte.

Schon immer war sie ernst und verschlossen gewesen. Nicht gerade der Typ, der romantische Gefühle weckte. Mit ihren selbst genähten, unförmigen Kleidern, den zu einem strengen Pferdeschwanz zurückgekämmten Haaren und dem ungeschminkten Gesicht hatte sie damals ziemlich hausbacken gewirkt.

Zach war der einzige Lichtblick in ihrem düsteren Leben gewesen, wie ein feuriger Komet, der über ihren Horizont geschossen war und einen flirrenden Schweif von bittersüßen Erinnerungen hinterlassen hatte.

Ob er sich überhaupt noch an sie erinnerte?

Sie nahm die Bücher aus der Kiste, zählte sie und stellte sie ins Regal. Dann zerriss sie vehement den Karton. Wo hatte er eigentlich die ganze Zeit gesteckt? All die Jahre hatte er nichts von sich hören lassen, nicht einmal seine Familie wusste, wo er sich aufhielt. Und ihretwegen war er ganz bestimmt nicht zurückgekommen, sonst hätte er sich schon gemeldet. Schließlich wusste er, wo er sie suchen musste.

Sie lebte immer noch im Haus ihrer Mutter und arbeitete in deren Buchhandlung. Nichts hatte sich geändert, außer dass sie ihr feines Haar statt mit einem Gummiband mit einer Spange zurücksteckte.

Ob er sich verändert hatte?

Versonnen presste sie die Shakespeare-Bände an die Brust und versuchte sich vorzustellen, wie er jetzt aussah. Gewiss nicht so wie andere aus ihrer Klasse, die ihre Bierbäuche vor sich hertrugen und ihr schütteres Haar unter Baseballmützen versteckten. Er war keiner von der sesshaften Sorte. Ob er überhaupt geheiratet hatte?

Ihr Herz krampfte sich zusammen. Falls er sein Glück gefunden hatte, so wäre es unfair von ihr, es ihm zu missgönnen. Sie konnte wohl schlecht erwarten, dass er die ganze Zeit so einsiedlerisch gelebt hatte wie sie.

Seufzend klopfte sie sich den Staub vom Rock. Sie war schon fast so vertrocknet und langweilig wie ihre Bücher. Wer las schon noch die angestaubten Klassiker, die in ihren Regalen vor sich hin dämmerten? Heute wollten die Leute spannende Actionromane.

Die Ladentür bimmelte. Sicher wieder einer, der über Zach herziehen wollte.

Doch dann erstarrte sie.

Im Türrahmen stand, genau wie damals, der Mann, der sie vor siebzehn Jahren verlassen hatte. Ihr war plötzlich, als sei die Zeit stehen geblieben.

Doch dann merkte sie die kleinen Veränderungen. Er trug immer noch ausgebleichte Jeans und eine schwarze Lederjacke, war aber viel muskulöser. Und er sah nicht mehr wie ein junger Rebell aus, sondern wirkte aufregend reif und männlich. Aber in seiner Erscheinung lag immer noch etwas Gefährliches.

Früher hatte er weiche Gesichtszüge und eine verwegene Frisur gehabt. Jetzt war sein Gesicht markant, seine schwarzen Haare kurz geschnitten. Um seine eisblauen Augen hatten sich Fältchen gebildet, aber sein Blick war noch genauso intensiv. Er blieb ernst, aber sie wusste, wenn er lächelte, lagen ihm alle Frauen zu Füßen. Er sah einfach unwiderstehlich aus.

„Hallo, Bess.“

„Zach“, stieß sie atemlos hervor, während sein durchdringender Blick ihr das Blut in die Wangen trieb.

„Gut siehst du aus“, sagte er. Es war eine simple Feststellung, kein Kompliment. So war er immer gewesen. Wenn er etwas sagte, meinte er es auch so. Sie mochte diese Offenheit, die ihn bei andern oft in Schwierigkeiten gebracht hatte.

„Ich … ich habe schon gehört, dass du … zurückgekommen bist.“ Sie wollte sagen nach Hause, aber nach dem, was man ihm angetan hatte, würde er diese Stadt wohl kaum noch als sein Zuhause bezeichnen. Nach dem, was sie ihm angetan hatte! Das Schuldgefühl krampfte ihr den Magen zusammen. „Es ist lange her.“

„Hier hat sich jedenfalls nichts verändert.“

Wie recht er hatte. In Sweetheart schien die Zeit stillzustehen. Tage, Monate, Jahre verflossen in monotoner Vorhersehbarkeit. Sie hätte sagen können, dass die Bank jetzt immerhin automatische Türen hatte und ihre Buchhandlung Internetanschluss, aber das waren nur äußerliche Veränderungen. Der Geist der Kleinstadt war noch derselbe, und Leute wie Zach störten hier nur.

Langsam kam er näher. Sein animalischer Gang hatte sie schon immer fasziniert. Er ging wie ein Tier, das sich auf seine Beute zubewegt. Die meisten hatten ihm früher erschrocken Platz gemacht. Aber die schüchterne kleine Elizabeth Carrey hatte hinter die Fassade geblickt. Sie war ihm nicht ausgewichen. Im Gegenteil, sie hatte sich ihm mit Haut und Haar ergeben.

Diesmal würde sie vorsichtiger sein. Sein verächtlicher Blick glitt über die Buchreihen. „Immer noch in dieser Gruft begraben.“ Und dann fragte er direkt: „Wo ist deine Mutter?“

Bess zuckte zusammen. „Sie ist … tot. Es ist fast drei Jahre her.“

„Oh.“ Keine Beileidsbekundung. Sie wusste, dass es ihm nicht leidtat. „Und du bist immer noch hier.“

Diese simple Feststellung sprach Bände. Dass sie immer noch die abhängige Tochter war, die Angst vor der Veränderung hatte, Angst vor dem Leben. Sie wusste, dass er recht hatte, und fühlte sich in die Defensive gedrängt. Was bildete er sich eigentlich ein, nach all den Jahren ein Urteil über sie zu fällen?

„Ich bin zufrieden damit.“

„Zufrieden“, echote er. „Du vielleicht.“ Er wäre es bestimmt nicht. Er hatte nie die Sicherheit gesucht.

„Wie lange bleibst du?“

„Keine Ahnung. Ich muss einiges erledigen. Kommt drauf an, wie alles läuft.“ Das klang lässig, aber er sah ihr dabei fest in die Augen. Gehörte sie etwa auch zu den unerledigten Dingen? Bei Zach konnte man nie sicher sein.

„Und was dann? Verschwindest du dann wieder wie damals, ohne ein Wort zu sagen?“ Ihre Stimme zitterte vor Verletztheit und Empörung.

„Vielleicht“, erwiderte er kühl.

Bess spürte, wie ihr die Tränen in den Augen brannten. Stolz hob sie den Kopf, um nicht zu zeigen, wie verwundbar sie war.

„Dann sollten wir uns besser gleich wieder verabschieden.“ Sie wandte sich ab, aber er hielt sie am Arm fest. „Tut mir leid.“ Es klang ehrlich. „So schnell fahre ich nicht wieder.“

Als sie ihn versöhnlich anblickte, legte er die Arme um sie und zog sie an sich. Wie oft hatte sie in schlaflosen Nächten davon geträumt! Es kam ihr vor, als seien die vergangenen Jahre wie weggefegt.

„Ich will dir nicht wehtun, Bess“, sagte er leise. „Und ich muss dir so vieles sagen.“

Bess wusste, sie sollte sich von ihm losmachen, aber sie fühlte sich so wohl in seinen Armen. Tief sog sie seinen männlichen Duft ein. Sie hatte ihn immer geliebt und sehnte sich so sehr danach, es ihm zu sagen. Aber sie wagte es nicht. Zärtlich strich sie über seine Brust. Sie erinnerte sich, wie sie hinter ihm auf dem Motorrad gesessen hatte, die Knie an seine Schenkel gepresst und die Arme um seine Taille geschlungen, während der Wind ihr durchs Haar brauste. Ein derartiges Freiheitsgefühl hatte sie nie wieder erlebt.

Sie schmiegte sich an ihn, ehe sie sich zögernd losmachte.

„Schön, dich wiederzusehen, Zach. Ich habe dich vermisst.“

„Wirklich?“ Er blickte sie zweifelnd an.

Bevor sie antworten konnte, ging die Ladentür auf. Hastig trat sie einen Schritt zurück.

„Störe ich?“

Zach drehte sich um und erblickte ein hübsches Mädchen, das ihn herausfordernd ansah. Sie mochte fünfzehn oder sechzehn sein. Als sie lächelte, erschienen Grübchen in ihren Wangen, und ihre blauen Augen blitzten.

„Wer ist das?“ Sie schaute Bess fragend an.

„Faith, das ist Zach Crandall. Faith ist Julies Tochter.“ In den Augen des Mädchens erschien ein wissender Ausdruck. „Sie sind das also.“

Lächelnd streckte Zach ihr die Hand hin. Faith war ganz offensichtlich von seinem Charme ebenso beeindruckt wie Bess. „Wer bin ich denn?“

„Der Rebell von Sweetheart.“

„Faith!“

Aber Zach grinste nur. „Stimmt.“

„Ich hätte nie geglaubt, Sie mal kennenzulernen.“ Faith merkte, dass sie noch immer seine Hand hielt, und wurde rot.

„Ich bin bestimmt eine Weile hier, dann haben wir Gelegenheit genug, uns kennenzulernen. Ich habe deine Mutter sehr gemocht. Sie war die Rebellin von Sweetheart.“

„Zach!“

Faith kicherte.

„Wie geht es deiner Mutter?“

„Sie ist auf Hochzeitsreise in Mexiko.“ Sie wurde ernst. „Mein Vater ist vor ein paar Jahren gestorben.“

„Das tut mir leid.“

„Aber Dave ist auch ganz in Ordnung. Er passt gut zu Mom.“

„Dann verbringst du also den Sommer hier?“ Sie nickte.

Bess legte lächelnd die Arme um das Mädchen, und sie hielten sich eine Weile eng umschlungen.

Zach fand die Szene sehr anrührend.

„Darf ich deine Tante morgen auf das Fest entführen?“

Faith warf einen erstaunten Blick auf Bess. Dann grinste sie. „Klar!“

„Es sei denn, sie will lieber nicht mit mir gesehen werden.“

Bess verspürte einen Stich. So war es vielleicht früher gewesen, aber diesmal würde es anders sein.

„Ja, gern. Wann willst du mich abholen?“

„Morgen früh gegen neun?“

Bess nickte. „Okay.“

„War nett, dich zu treffen, Faith.“

Als er draußen war, stieß Bess den Atem aus, und Faith seufzte.

„Wow! Was für ein Mann.“

„Faith Marie, er ist alt genug, um dein … Er ist ein alter Freund, nichts weiter.“

„Aha. Das habe ich bemerkt.“ Faith warf ihr einen anzüglichen Blick zu.

Bess machte sich wieder an ihren Bücherkisten zu schaffen, aber Faith ließ nicht locker.

„War was zwischen euch?“

„Nein. Wir haben uns einfach umarmt, weil wir uns seit Urzeiten nicht mehr gesehen haben.“

„So alt bist du nun auch wieder nicht, Tante Bess.“

„Danke vielmals.“ Meistens fühlte sie sich allerdings uralt. Nur heute war das anders. Jetzt war sie plötzlich wieder ein aufgeregter Teenager.

Faith legte ihr einen Stapel Bücher auf den Arm. „Also, wie war das damals?“

„Ich habe ihm Nachhilfe gegeben.“

„Cool!“

Na ja, eigentlich war es eher heiß gewesen, denn bald hatten sie nicht mehr Englisch oder Mathe gelernt, sondern etwas ganz anderes. Energisch stellte Bess die Bücher ins Regal. „Wie auch immer. Er ging noch vor dem Abitur weg, und ich habe nie wieder was von ihm gehört.“

Faith setzte sich auf die Bücherleiter und musterte ihre Tante aufmerksam. „Und das hat dir das Herz gebrochen.“

Bess warf ihr einen unsicheren Blick zu und entschloss sich dann zu der Bemerkung: „Ein bisschen schon. Er war der einzige Junge – ach, wir waren einfach noch viel zu jung.“

Faith nickte und fühlte sich ihrer Tante plötzlich sehr verbunden. „Der Rebell und das Mädchen aus gutem Hause.“

Bess schüttelte unwillig den Kopf. „Das hört sich ja an wie aus einem Film mit James Dean.“

„Wer ist denn das?“

„Ach, nicht so wichtig.“ Bess kam sich wieder einmal sehr alt vor.

„Warst du in ihn verliebt?“

„Ich war erst siebzehn.“

„Warst du?“

„Bring mal die Bücher da rüber, ja?“

„Erst, wenn du’s mir sagst.“

„Ja“, sagte Bess knapp und blickte ihre Nichte beinahe entschuldigend an.

„Und jetzt gehst du mit ihm aus. Cool!“ Faith grinste.

Bess gab es auf, ihr zu widersprechen. In den Augen eines Teenagers war das Ganze sicher furchtbar romantisch. Der verlorene Geliebte, der zurückkehrt. Wie man es sich erträumte.

Alberne Träume. Sie rieb sich den Staub von den Händen. Zach war nicht zurückgekommen, um ihre Träume zu erfüllen. Außerdem würde er bald herausfinden, dass sie in der Tragödie seiner Familie eine wichtige Rolle spielte.

Es wäre verrückt, sich wieder mit Zach Crandall einzulassen, und gefährlich obendrein.

2. KAPITEL

Nein, nichts hatte sich verändert in Sweetheart.

Zach spürte die Blicke der Gäste wie Pfeile im Rücken, während er an der Theke in Sophie’s Bistro saß. Dass seine Schwester ihn kaum ansehen konnte, machte ihm allerdings noch mehr zu schaffen.

Melody stellte ein Steaksandwich vor ihn hin. „Warum kommst du denn hierher? Zu Hause hättest du umsonst essen können. In einer Stunde habe ich frei.“ Nervös blickte sie sich um.

„Ich bin wohl schlecht fürs Geschäft, was?“

Melody wand sich vor Verlegenheit. „Nein, so meine ich es nicht. Ich dachte nur, zu Hause ist es vielleicht gemütlicher …“

Er verzog das Gesicht. „Ich fühle mich ganz wohl hier, aber es sieht so aus, als würde ich den Gästen den Appetit verderben.“

„Tut mir leid, Zach.“

„Hör auf, dich zu entschuldigen, Mel. Es ist nicht deine Schuld.“

Tränen traten ihr in die Augen, und sie biss sich auf die Lippe. Als sie sich abwenden wollte, hielt Zach sie am Arm fest. Er fühlte, wie sie erstarrte. In ihrem Blick lag Panik, und er musste an die Augen seiner Mutter denken, wenn sie vor den Schlägen seines Vaters zurückgewichen war. Er ließ Melody los, und sie rieb sich den Arm. Dabei hatte er ihr bestimmt nicht wehgetan. Zumindest nicht körperlich.

„Mel, ich würde dir nie wehtun. Dazu mag ich dich viel zu sehr.“

Sie legte ihre Hand an seine Wange und lächelte ihn an. „Ich weiß. Lass dir’s schmecken. Wir reden später weiter.“

Aber unter den vorwurfsvollen Blicken verging ihm doch bald der Appetit. Er trank seinen Kaffee aus und hatte plötzlich einen bitteren Geschmack im Mund, der nicht von dem Getränk kam. Er wusste, was sie dachten. Wie der Vater, so der Sohn. Es war der reine Irrsinn, hierher zurückzukommen. All die Jahre hatte er hart gearbeitet, um auf eigenen Füßen zu stehen und die schrecklichen Erinnerungen zu vergessen. Er konnte stolz sein auf das, was er erreicht hatte. Aber ein Tag in Sweetheart genügte, um aus ihm wieder den kleinen wütenden Jungen zu machen, der versuchte, sich aus den Fängen seines Vaters zu befreien. Wenn er auch nur ein Jahr länger hier geblieben wäre, hätte er keine Chance mehr gehabt. Das hatte er Bess zu erklären versucht. Aber sie hatte ihn nicht verstanden, oder vielleicht hatte sie Angst gehabt. Jedenfalls hatte sie ihn gehen lassen.

Nach siebzehn Jahren war der Schmerz noch genauso lebendig.

Er lächelte sarkastisch, als er sich die Gesichter der Leute vorstellte, wenn sie herausfänden, weshalb er zurückgekommen war. Es war nicht nur, weil seine Mutter nach Hause kam. Er wollte den Leuten den Spiegel vorhalten. Auch wenn er wusste, dass es nicht der Mühe wert war, ihre engstirnigen Köpfe ändern zu wollen. Eigentlich sollte es ihm egal sein, was sie dachten.

Aber als seine Schwester mit ihrem müden Lächeln vor ihm stand, wusste er, dass er die Vergangenheit nicht ruhen lassen konnte, bevor seine Familie von ihrem Stigma befreit war.

Außerdem war da noch Bess.

„Erzähl mir von Bess. Ich habe gehört, dass ihre Mutter gestorben ist.“

„Ja, vor ein paar Jahren.“

„Wie hat sie das verkraftet?“

„Wie sie alles verkraftet. Stark. Klaglos. Wir sind mittlerweile ganz gute Freundinnen geworden.“

Das hörte er gern. Melody hatte wenig Freunde. Sie war als Einzige in der Stadt geblieben, während seine Brüder längst weggezogen waren. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie schwer es für sie gewesen sein musste, die ganze Verachtung allein zu tragen.

„Hat sie einen Freund?“, fragte er so beiläufig wie möglich, aber Melody durchschaute ihn.

„Nein. Keinen einzigen seit damals.“

Zach empfand Schuldgefühle, aber gleichzeitig schmeichelte es ihm. „War es schlimm für sie, nachdem ich weg war?“

„Du hättest ihr schreiben sollen.“ Aber als er sie schweigend ansah, seufzte sie resigniert. „Sie war eine Weile weg. Ihre Mutter hat sie zu ihrer Schwester geschickt, bis der Prozess vorbei war. Als sie zurückkam, hat sie einen sehr unglücklichen Eindruck gemacht.“

„Und wie geht’s ihr jetzt?“

„Jetzt lächelt sie wieder. Sie engagiert sich in Vereinen. Und der Besuch ihrer Nichte hat sie auch sehr aufgeheitert.“

„Ich habe sie kennengelernt. Nettes Mädchen.“

Melody schwieg einen Moment, dann brach es aus ihr heraus: „Was hast du mit Bess vor, Zach?“

Er zuckte zusammen. Diese Frage hatte er nicht erwartet. „Was soll ich vorhaben? Sie hat mir ja ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, wie sie zu mir steht.“

Mel legte ihre Hand auf seine und sah ihn ernst an. „Sie hat dich geliebt, Zach. Du kannst es ihr nicht zum Vorwurf machen, dass sie nicht den Mut hatte, mit allen Konventionen zu brechen.“

Doch, das tat er. Immer noch.

Er zog seine Hand weg.

„Hi, Mr. Crandall.“

Die fröhliche Mädchenstimme überraschte ihn. Ein freundlicher Gruß in dieser Stadt. Er drehte sich auf dem Hocker um und erblickte Faith inmitten einer Gruppe von Teenagern, die auf einen Ecktisch zusteuerten.

„Schmeckt’s Ihnen nicht?“ Sie warf einen Blick auf seinen Teller.

„Doch. Esst ihr auch hier?“

„Nein, wir trinken nur was.“

Die schockierten Blicke der Gäste schienen Faith nichts auszumachen.

„Geh lieber zu deinen Freundinnen.“ Er lächelte grimmig.

„Sehen wir uns morgen?“ Sie sah ihn erwartungsvoll an.

„Klar.“ Er zog seine Geldbörse aus der Tasche. Das nächste Mal würde sie ihn nicht mehr so unbefangen grüßen. Dann hatten ihre Freundinnen ihr sicher von seiner unrühmlichen Vergangenheit erzählt.

„Ich muss gehen, Mel. Bis später.“

„Ich bin hier draußen, mein Schatz“, rief Bess, als sie hörte, wie die Hintertür zufiel. Sie saß in ihrem Schaukelstuhl auf der Terrasse. „War’s schön?“

Faith ließ sich mit zusammengezogenen Augenbrauen auf ein Sitzkissen fallen. „Ich hab so einiges über Zach Crandall gehört.“

Bess hielt den Atem an. Es ging also schon los. „Ach, die Leute haben immer viel zu tratschen.“

„Stimmt es denn? Er sieht so nett aus.“ Faith blickte sie ängstlich an.

„Was hast du denn gehört?“

„Dass seine Mutter im Gefängnis sitzt, weil sie angeblich seinen Vater ermordet hat, aber dass Zach es war und sie die Schuld auf sich genommen hat.“

Sie hatten anscheinend nichts ausgelassen. Bess nestelte an den Fransen eines gestickten Kissens herum. Wie viel sollte sie Faith erzählen? Die Wahrheit, die sie bisher niemandem erzählt hatte? Sie beschloss, zunächst mit dem anzufangen, was allgemein bekannt war.

Ständig hatten die Crandalls Anlass zu Gerede gegeben. Sam Crandall war ein Trinker gewesen, der seine Frau schlug und seine Kinder tyrannisierte. Die vier Söhne wurden genauso harte Burschen wie er, und die einzige Tochter war nur ein blasser Schatten. Niemand war sonderlich überrascht, als Sam Crandall umgebracht wurde. Aber dass seine stille, gutmütige Frau Mary es getan haben sollte, das verstand niemand. Das Gerücht verbreitete sich, dass der älteste der Crandall-Söhne, Zach, die Tat begangen habe. Er und sein Vater hatten an jenem Abend Streit gehabt, und Zach war noch in derselben Nacht von der Stadt weggezogen. Die Leute glaubten, Mary habe die Schuld auf sich genommen, um ihren Sohn zu schützen und weil sie annahm, dass eine misshandelte Ehefrau glimpflicher davonkäme als ein jähzorniger Sohn. Sie war bei ihrer Aussage geblieben und ins Gefängnis gewandert.

„Hat er seinen Vater umgebracht?“ Faiths Stimme zitterte.

„Nein“, sagte Bess, ohne sie anzusehen.

„Woher weißt du das so genau?“

„Ich … weiß es eben.“ Sie fühlte sich schrecklich.

Zach Crandall war bei ihr gewesen, als sein Vater starb. Er hatte sie auf dem Nachhauseweg von der Buchhandlung abgefangen. Sie hatte Angst bekommen, weil er fürchterlich aussah. Sein Gesicht war ganz geschwollen gewesen, und er hatte ein blaues Auge gehabt. Hinten auf seinem Motorrad hatten seine Habseligkeiten gelegen. Er war gekommen, um sie zu überreden, mit ihm von Sweetheart wegzugehen …

Sie hatte abgelehnt, und als er nach dem Grund fragte, konnte sie ihm keinen vernünftigen nennen. Da war er einfach gegangen. Vielleicht hätte sie ihn zurückgehalten, wenn sie gewusst hätte, dass sie ihn so lange nicht mehr sehen würde.

Aber das erzählte sie Faith nicht, aus Angst, ihr Vertrauen zu verlieren.

„Wieso hassen sie ihn immer noch nach all den Jahren?“, wollte Faith wissen.

Autor

Nancy Gideon
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