Kleine Lügen, große Liebe

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Den Wind im duftigen Haar und die Arme fest um Nicks Schultern geschlungen: So rast Eva auf einem Motorrad in den Sonnenuntergang. Eigentlich sollte die Ermittlerin Nick eine Botschaft seiner ungeliebten Familie überbringen, aber sein Sex Appeal raubt ihr den Atem. Sie kann und will den erfolgreichen Drehbuchautor nicht auf seine dunkle Herkunft ansprechen, nicht nachdem sie die aufregendsten Stunden ihres Lebens mit ihm verbracht hat. Doch schneller als erwartet kommt alles ans Licht: Nick erfährt von Evas wahrer Mission - und ihre Liebeslüge hat bittersüße Folgen …


  • Erscheinungstag 07.07.2012
  • Bandnummer 162012
  • ISBN / Artikelnummer 9783864942006
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Schau dich nicht um. Er steht nämlich genau hinter uns.“

Eva Redmond schlug das Herz bis zum Hals, als das verschwörerische Flüstern von Tess, ihrer alten Freundin aus Collegetagen, durch das Stimmengewirr und das Klingen der Champagnergläser in der angesagten Kunstgalerie an ihr Ohr drang. „Bist du sicher?“

Tess schaute über Evas rechte Schulter. „Schlank und groß? Stimmt!“ Sie nickte. Dunkelhaarig? Stimmt! Gut aussehend? Exakt! Der einzige Mann, der keinen Anzug trägt? Treffer!“ Sie warf Eva ein verschmitztes Grinsen zu. „Ja, es ist definitiv dein rebellischer Schriftsteller.“ Wieder schaute sie an Eva vorbei. „Und du hast Glück. Er ist nicht nur allein. In natura sieht er sogar noch schärfer aus als auf dem Foto.“

Eva starrte auf das zwei Quadratmeter große Bild mit dem Titel „Die Explosion der Sinne“, ohne etwas wahrzunehmen. Ihrem ungeschulten Auge erschien es mehr wie eine Explosion in einer Farbenfabrik. Dabei versuchte sie den Kloß in ihrer Kehle hinunterzuschlucken, der ihr seit dem Abflug von Heathrow an diesem Morgen zu schaffen machte.

Um diesen Mann zu treffen, war sie fünftausend Meilen weit geflogen. Und jetzt stand er nur ein paar Meter von ihr entfernt. Der Kloß in ihrem Hals wurde zu einem Felsbrocken.

„Oje“, murmelte sie.

Lachend versetzte Tess ihr einen Rippenstoß. „Bremse deinen Enthusiasmus!“

„Warum sollte ich enthusiastisch sein?“, flüsterte Eva zurück. Sollte dieser Nick Delisantro tatsächlich so ein heißer Typ sein, war die Begegnung mit ihm bestimmt nicht gut für sie. Davon war sie überzeugt. Wäre er doch bloß ein weltfremder Akademiker! Freilich – immer nur mit Leuten zu tun zu haben, die man kannte, war auf Dauer langweilig. Aber Langeweile hatte auch ihre Vorteile.

„Warum nicht?“, erwiderte Tess. „Einem fantastisch aussehenden Mann die frohe Botschaft zu überbringen, dass ein gigantisches Erbe in Italien auf ihn wartet, würde ich als Win-Win-Situation bezeichnen.“

Es kostete Eva einige Mühe, sich nicht zu ihm umzudrehen. „Ja, aber ich bin nicht du“, erwiderte sie trocken, während sie versuchte, so gelassen wie möglich zu sein.

In ihrem eisblauen schulterfreien Kleid und den hochhackigen Designerschuhen wirkte Tess ausgesprochen elegant und selbstbewusst. Außerdem schien sie sich auf der Eröffnung dieser Galerie, die in der Nähe des Union Square mitten in San Francisco lag, wie zu Hause zu fühlen. Das lag gewiss daran, dass Tess sich in den vergangenen drei Jahren in ganz Amerika einen ausgezeichneten Ruf als Event-Veranstalterin erarbeitet hatte. Mit Evas Selbstbewusstsein war es dagegen nicht so weit her. Seit ihrem Universitätsabschluss in Cambridge hatte sie ihre Nase die meiste Zeit in verstaubte Dokumente gesteckt oder lange Recherchen im Internet vorgenommen. Niemals hätte sie PR machen können – und inmitten all dieser schönen Leute, die den belanglosen Small Talk zu einer Kunst veredelt hatten, fühlte sie sich ausgesprochen unwohl.

Der Gedanke wirbelte einige Erinnerungen an das Gefühl von Einsamkeit in ihr hoch. Deshalb verjagte sie ihn schnell. Sie war nicht einsam. Ihr Leben war genau so, wie sie es immer gewollt hatte. Vorhersehbar, risikolos, beschaulich. Bis vor zwei Tagen, als ihr Chef von ihr verlangt hatte, um die halbe Welt zu reisen und mit einem – wahrscheinlich – ziemlich halsstarrigen Menschen in Kontakt zu treten.

„Es ist ja nicht so, als bräuchte ich ihm bloß mitzuteilen, dass er der Enkel des Duca D’Alegria sein könnte. Ich muss ihm auch erzählen, dass der Mann, den er bisher für seinen leiblichen Vater gehalten hatte, genau das nicht ist.“ Eva wurde ganz mulmig zumute, als sie daran dachte, sich mit einem Wildfremden über derart persönliche Dinge unterhalten zu müssen. Ein Wildfremder, der sich fast einen Monat lang hartnäckig ihren Versuchen, Kontakt mit ihm aufzunehmen, widersetzt hatte. „Ich hätte mich von dir nicht zu einem Treffen überreden lassen dürfen. Nicht hier. Es passt einfach nicht.“

Tess zuckte mit den Schultern. „Fall einfach nicht mit der Tür ins Haus. Flirte erst ein bisschen mit ihm. Dann wird er viel zugänglicher sein. Garantiert.“

Eva bezweifelte es. Im Gegensatz zu ihr verstand sich dieser Mann meisterhaft auf die Kunst des Flirtens, wie sie bei den gründlichen Nachforschungen über den derzeit berühmtesten Klienten der Firma Roots Registry herausgefunden hatte. Es war eine der wenigen Informationen über diesen nur schwer zu fassenden Niccolo Carmine Delisantro, derer sie sich sicher sein konnte. Höchstwahrscheinlich war er der illegitime Enkel von Don Vincenzo Palatino Vittorio Savargo De Rossi, Duca D’Alegria. Um ihn zu finden, hatte der Adlige ein kleines Vermögen ausgegeben.

Aus den knappen Fakten über Delisantros Leben hatte sie nur wenig über den Menschen selbst erfahren – ein Junge von den Straßen im Norden Londons, der ein erfolgreicher Hollywood-Drehbuchschreiber geworden war und vor fünf Jahren den größten Box-Office-Erfolg des Jahrzehnts landen konnte. Inzwischen lebte er in San Francisco, kam bei Frauen sehr gut an und schirmte sein Privatleben hermetisch vor der Öffentlichkeit ab.

„Jetzt kannst du dich umdrehen und dir anschauen, auf was du dich da eingelassen hast.“ Tess deutete mit ihrem Champagnerglas in seine Richtung. „Im Moment wird er von Kate Elmsly belagert.“ Sie war die umtriebige Galeristin, die sie beide zuvor überschwänglich begrüßt hatte.

Eva holte tief Luft und drehte sich um. Prompt stockte ihr der Atem. Ihre Nackenhaare richteten sich auf. Hastig nahm sie einen Schluck von ihrem Champagner. Das war schlimmer, als sie befürchtet hatte.

Während sie den Mann betrachtete, der ungefähr drei Meter von ihr entfernt stand, hatte sie das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.

Tess hatte recht. Das grobkörnige Foto, das sie von Nick Delisanto im Internet entdeckt hatte, wurde ihm überhaupt nicht gerecht.

Kein Mensch sollte so gut aussehen. Seine dichten braunen Locken fielen ihm auf den Kragen einer abgewetzten schwarzen Fliegerjacke, die zu seinem dünnen Pullover und den Jeans passte. Scharf geschnittene Wangenknochen mit einem Anflug von Dreitagebart, dunkel gebräunte Haut, ein muskulöser Körper, knapp ein Meter neunzig groß, dazu ein distinguiertes Äußeres, das ihn aus der Menge der nichtssagenden lokalen Berühmtheiten und Honoratioren heraushob. Sein grüblerisches Wesen, verbunden mit einer maskulinen Schönheit, zog die Blicke aller Frauen auf sich – auch Evas. Die lässige Art, mit der er an der Säule lehnte, während die Galeristin auf ihn einredete, ließ ihn noch unnahbarer erscheinen. Selbstsicher, sexy, geradezu magnetisch und auf unangestrengte Weise erfolgreich als Jäger und Sammler: Nick Delisantro war der perfekte männliche Prototyp, um das Überleben seiner Spezies zu sichern.

Eva dagegen war der weibliche Prototyp, der sein Aussterben garantierte. Eine Akademikerin, deren Kenntnisse über Männer sich auf ein paar Knutschereien als Studentin und eine heimliche Leidenschaft für schwülstige historische Liebesromane beschränkten, auf deren Buchumschläge halb nackte Männer mit stattlichen Oberkörpern abgebildet waren.

Sie konzentrierte sich wieder auf die „Explosion der Sinne“, während ihre eigenen implodierten, als sie an sich herabschaute und das Designerkleid begutachtete, das Tess ihr geliehen hatte. „Das wird nicht funktionieren“, murmelte sie. „Ich sehe lächerlich aus.“

Die blutrote Samtkreation mit dem geschlitzten Rock und dem tiefen Ausschnitt hätte bei ihrer Freundin sensationell ausgesehen. Leider war Eva fünf Zentimeter kleiner und hatte den überflüssigen Stoff an der Taille gerafft. Als sie es vor einer Stunde überstreifte, hatte sie sich zunächst großartig gefühlt. Jetzt kam sie sich mehr wie eine Hochstaplerin vor.

Sie gehörte nicht zu den umwerfend aussehenden Frauen, die über genügend Selbstbewusstsein verfügten, um einen vagabundierenden Piratenkapitän in die Knie zu zwingen. Sie war eine Intellektuelle, die jedem Risiko aus dem Weg ging und in deren Kleiderschrank nur gedeckte Farben zu finden waren. Technisch gesprochen war sie noch Jungfrau – und das im reifen Alter von vierundzwanzig Jahren!

Tröstend legte Tess die Hand auf Evas Arm. „Du siehst nicht lächerlich aus. Sondern umwerfend.“

Eva verschränkte die Arme vor der Brust. „Mit diesem Ausschnitt sollte ich ihn besser nicht überfallen“, beschloss sie. Von Minute zu Minute fühlte sie sich unbehaglicher. „Ich gehe morgen zu seinem Agenten und mache einen Termin.“ Das wäre die klügere und sicherere Variante. So hatte sie es von vornherein geplant – bis Tess dank ihrer zahlreichen Kontakte herausfand, dass Nick Delisantro an diesem Abend an der Vernissage teilnehmen würde. Im Handumdrehen hatte sie sich zwei Einladungen verschafft.

„Ein Ausschnitt ist nie fehl am Platz, wenn es um Männer geht“, widersprach Tess. „Hast du nicht selbst gesagt, dass es sich um eine wichtige Angelegenheit handelt? Wenn dieser Agent dich nun abwimmelt – was willst du dann deinem Chef erzählen?“

Darauf wusste Eva keine Antwort. Von Mr Crenshawe war ihr unmissverständlich klargemacht worden, dass der De-Rossi-Auftrag oberste Priorität hatte, und wenn Eva den vermissten Erben dingfest machen konnte, ehe es einem der Konkurrenzunternehmen gelang, die der Duca ebenfalls mit der Suche beauftragt hatte, würde die langersehnte Beförderung in greifbare Nähe rücken.

Das war ein enormer Ansporn. Eva liebte ihre Arbeit. Wenn sie sich durch Tagebücher und Zeitschriften wühlte und Hinweise auf Geburten, Hochzeiten und Todesfälle miteinander verglich, konnte sie sich gut vorstellen, wie das Leben vor Hunderten von Jahren ausgesehen hatte – die Leidenschaften, der Kummer, die Triumphe und die Tragödien. Und die berufliche Beförderung würde ihr endlich die Sicherheit garantieren, die ihr so wichtig war.

Tess verrenkte sich den Hals, um an Eva vorbeischauen zu können. „Sieht so aus, als wäre er Kate losgeworden“, teilte sie ihr mit. „Los jetzt.“ Sie stieß Eva mit dem Ellbogen an. „Lauf ganz dicht an ihm vorbei, wenn du zur Bar gehst. Das Kleid wird alles Übrige erledigen.“

„Und wenn nicht?“ Eva war sich nicht sicher, ob die Wirkung des Kleides wirklich so überwältigend war.

Tess zuckte mit den Schultern. „Ist es auch nicht schlimm. Dann fahren wir zu mir nach Hause, und morgen früh kannst du es dann immer noch mit Plan B versuchen.“

„Okay.“ Eva holte noch einmal tief Luft. Sie kam sich vor wie ein Model bei einer Modenschau, das nichts als Unterwäsche trug. „Auf dem Weg zur Toilette gehe ich an ihm vorbei.“ Das durfte ja nicht so schwer sein. „Wenn es nicht klappt, verschwinden wir.“

Sie drückte Tess ihr leeres Champagnerglas in die Hand und strich nervös das kostbare Kleid glatt. Das weiche Material umschmeichelte ihre Schenkel, während sie sich bemühte, in den ungewohnt hochhackigen Schuhen, die sie ebenfalls von Tess geliehen hatte, nicht zu stolpern. Während sie sich ihm näherte, musterte sie ihn verstohlen. Wahrscheinlich hatte er sie nicht einmal bemerkt. Und dann blieb sie wie vom Donner gerührt stehen.

Mit seinen schokoladebraunen Augen unter schweren Lidern hatte er sie längst erspäht. Das Bild von Rafe, dem Piratenkapitän aus ihrem Lieblingsbuch, tauchte vor ihrem inneren Auge auf – und verschwand sofort wieder. Fast stockte ihr der Atem, als sie die goldenen Pünktchen bemerkte, die die Deckenlampen in seinen Augen zum Leuchten brachten. Diesen bemerkenswerten Effekt kannte sie bereits. Sie hatte ihn schon einmal erlebt – als der Duca ihr Büro in London betreten und ihr die Tagebücher seines verstorbenen Sohnes überreicht hatte.

Um die Lippen seines Enkels zuckte es nun, als habe er gerade einen guten Witz gehört. Dann musterte er sie von oben bis unten. Eva klopfte das Herz bis zum Hals – als habe sie gerade einen Tausend-Meter-Lauf absolviert.

Es fühlte sich fast wie eine körperliche Liebkosung an, als er sie herausfordernd betrachtete. Erneut trafen sich ihre Blicke. „Kennen wir uns?“, fragte er. Seine dunkle Stimme klang amüsiert – ein britischer Akzent, vermischt mit langgezogenen kalifornischen Vokalen.

Eva schüttelte den Kopf. Sie hatte das Gefühl, die Zunge sei ihr am Gaumen festgeklebt.

„Warum haben Sie und Ihre Freundin mich denn die ganze Zeit angeschaut?“, wollte er wissen.

Oh Gott, er verfügte über telepathische Fähigkeiten!

Eva geriet in Panik. Aber nein, versuchte sie sich zu beruhigen. Er konnte sie unmöglich belauscht haben. Dafür war der Geräuschpegel in der Galerie viel zu hoch. Wahrscheinlich war ihm nur aufgefallen, wie Tess ihn beobachtet hatte. Sie verhielt sich nicht gerade sehr diskret.

„Wir können nichts dafür“, entschuldigte sie sich. „Sie sind viel interessanter als die Kunstobjekte.“

„Ach ja?“ Er zog eine Augenbraue hoch, und erneut ging ihr Atem schneller. „Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment auffassen soll. Jedes Kindergekleckse ist interessanter als dieses Zeug.“ Sein ungerührter Tonfall strafte seine Worte Lügen. „Was ist denn so interessant an mir?“

Eva wurde ein wenig leicht im Kopf.

Flirtete er etwa mit ihr?

„Sie passen nicht hierhin“, stammelte sie. Unvermittelt spürte sie ein merkwürdiges Gefühl unterhalb der Magengrube. „Aber es macht Ihnen nichts aus. Das ist ungewöhnlich in einer solchen Situation. Normalerweise will man dazugehören. Teil der Gesellschaft sein. Dass es bei Ihnen nicht so ist, macht Sie eben interessant.“

Die Worte erstarben auf ihren Lippen, als seine Lippen sich zu einem ironischen Grinsen verzogen, was seine markigen Gesichtszüge weicher machte.

Hör auf mit deiner Besserwisserei, du Dummkopf. Du klingst wie eine Oberlehrerin.

Er stieß sich von der Säule ab, und sie stellte fest, dass er mindestens fünfzehn Zentimeter größer war als sie – selbst in ihren geliehenen High Heels.

Mit einer Hand an der Säule stellte er sich so vor sie hin, dass sie die anderen Galeriebesucher nicht mehr sehen konnte. Sein betörender Duft von Seife, Leder und Pheromone stieg ihr in die Nase. Außerdem entdeckte sie die halbmondförmige Narbe durch den Schatten seiner Bartstoppeln am Kinn. Wieder schoss ihr das Bild eines Piraten durch den Kopf, und erneut begann ihr Herz wie wild zu schlagen.

„Das haben Sie alles in den paar Minuten herausgefunden?“, fragte er in seinem gedehnten Tonfall.

Prompt meldete sich ihr schlechtes Gewissen.

Nicht wirklich.

„Das ist mein Job. Ich bin Anthropologin.“ Gewissermaßen. „Ich studiere die Menschen und ihre Verhaltensweisen. Wie sie auf sozialem und kulturellem Gebiet miteinander umgehen.“ Das war nicht wirklich eine Lüge, und außerdem konnte sie es mit ihrer Bachelor-Arbeit beweisen.

„Anthropologin“, wiederholte er. Er schien das Wort wie einen Schluck alten Whiskey zu genießen. Unter seinem prüfenden Blick wurden ihre Brustspitzen hart. „Ich bin noch nie einer Anthropologin begegnet.“

Und er hat es auch jetzt mit keiner zu tun, dachte sie, während sie die Augen niederschlug. Jetzt war der perfekte Zeitpunkt gekommen, um ihm reinen Wein einzuschenken – dass sie die Frau war, dessen Telefonanrufe und E-Mails zu beantworten er sich seit dreieinhalb Wochen weigerte. Doch statt die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen und ihn in geschäftlichem Tonfall um einen Termin zu bitten, entwickelten die Schmetterlinge in ihrem Bauch ein reges Eigenleben, und sie schwieg.

Nie zuvor war sie in die Situation gekommen, mit einem Mann wie ihm zu flirten. Noch keiner hatte sie so unverhohlen neugierig gemustert. Die Luft zwischen ihnen schien förmlich zu knistern.

„Anthropologie kann tatsächlich sehr faszinierend sein“, hörte sie sich murmeln. Wie aus heiterem Himmel hatte das köstliche Ziehen zwischen ihren Schenkeln eingesetzt und wollte einfach nicht mehr aufhören.

„Bestimmt“, erwiderte er. „Obwohl Sie sich irren, was mich betrifft.“ Er betrachtete ihr Haar, das Tess zu einem Haarknoten gebändigt hatte. „Ich gehöre durchaus hierher.“ Er streckte die Hand aus und berührte eine Locke, die sich aus dem Knoten gelöst hatte. „Sie dagegen gehören nirgendwohin.“ Mit dem Finger strich er über ihre Wange. Der Kontakt war so unerwartet, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich.

Er lachte glucksend. „Wovor haben Sie Angst?“

Vor Ihnen.

Bei dieser sehr persönlichen Frage wurde ihr ganz heiß. Natürlich hatte sie keine Angst vor ihm, das wäre ja noch schöner! Es war nur so, dass sie noch nie jemand auf diese Weise berührt hatte – als sei er dazu berechtigt.

„Ich habe keine Angst“, platzte es aus ihr heraus. Am liebsten wäre sie Hals über Kopf davongestürzt. „Ich muss auf die Toilette.“

Behutsam schob er ihr die Locke hinters Ohr, was das Tempo ihres Pulses noch beschleunigte. „Setzen wir unser Gespräch über Anthropologie fort, wenn Sie zurückkommen.“

Der Vorschlag klang beiläufig, aber gleichzeitig sehr bestimmend, und er verwirrte sie noch mehr. Obwohl sie nicht über viel Erfahrung verfügte, ahnte sie, dass ihre Unterhaltung nicht mehr allzu viel mit Anthropologie zu tun hatte.

Sie nickte kurz. Als sie sich umwandte, überkam sie das Gefühl, dass sich der Blick seiner braunen Augen in ihren Rücken bohrte – mit der Geduld eines hungrigen Löwen, der eine Gazelle erspäht hatte.

Die Vorstellung nahm ihr fast den Atem. Sie musste von hier verschwinden, ehe sie vollkommen die Fassung verlor. Sie würde sich mit Plan B begnügen müssen, denn Plan A war zu Furcht einflößend – und aufregend.

Erstaunlich!

Schmunzelnd sah Nick der attraktiven Anthropologin hinterher, wie sie in der Menge verschwand. Dabei begutachtete er anerkennend den Schwung ihrer Hüften in dem signalroten Kleid.

Wann hatte er zuletzt auf einer dieser öden Ausstellungseröffnungen eine so faszinierende Person getroffen?

Er würde Jay, seinem Presseagenten, einen Dankesbrief schicken, weil er darauf bestanden hatte, dass er sich an diesem Abend von seinem Laptop löste. Dabei war er in erster Linie gar nicht auf Jays Drängen zu dieser Vernissage gegangen, sondern aus purer Langeweile, nachdem er den Tag damit verbracht hatte, nur Blödsinn in seinen Computer zu tippen.

Mit geschlossenen Augen lehnte er sich wieder an die Säule. Hoffentlich sprach ihn niemand an, während er auf die Rückkehr der Frau in Rot wartete.

Sie übte eine besondere Wirkung auf ihn aus, was ziemlich überraschend war. Er schätzte es gar nicht, wenn man ihn beobachtete oder über ihn redete. Genau das aber hatte sie mit ihrer Freundin getan. Doch in ihrem Blick war nichts von der berechnenden Art zu entdecken gewesen, wie er sie von anderen Frauen gewohnt war. Und als sie ihm gegenübergestanden hatte, waren seine Sinne Achterbahn gefahren – wie bei einem Teenager, der nicht wusste, wie er mit seinen Hormonen klarkommen sollte.

Er ließ die Augen geschlossen, während er überlegte, was an ihr so besonders war. Die cremefarbene, schimmernde Haut? Die großen blauen, fast violetten Augen? Das Pochen ihrer Halsschlagader, das er in der Vertiefung ihrer Kehle bemerkt hatte? Die kastanienbraunen Locken, die sich aus ihrem kunstvoll aufgeschichteten Knoten gelöst hatten? Die Rundungen ihrer Brüste, die vom Ausschnitt ihres Kleides betont wurden? Der frische Geruch von Seife und Frühlingsblumen? Der unverkennbar forsche Londoner Akzent, den er seit Jahren nicht mehr gehört hatte?

Jedes dieser Dinge besaß für ihn seinen Reiz. Schließlich war er ein Mann. Und dennoch: Sie war nicht schön in konventionellem Sinn und auch eher klein. Ihre Augen waren vielleicht ein bisschen zu groß, und die freimütigen Erklärungen zu seinem Charakter hatten ihn ein wenig aus der Fassung gebracht. Obwohl sie möglicherweise nur reine Vermutungen waren.

Seltsam. Es gab keine vernünftige Erklärung dafür, warum man jemanden attraktiv fand. Nicht wirklich. Oder vielleicht …?

Er öffnete die Augen und stellte fest, dass er sich suchend nach ihr umsah.

Und dann wurde ihm klar, was ihn so sehr an ihr fasziniert hatte: ihre Reaktion auf ihn. Ihr Atem war schneller geworden, ihre Pupillen hatten sich geweitet, sobald sie vor ihm stand. Was Frauen anging, war er eigentlich ziemlich abgebrüht. Schon als Teenager. Als er älter wurde, hatte er Sex gewollt wie alle Männer, aber für ihn war es kaum mehr als eine körperliche Entspannung gewesen. Und seit ihn Die tödliche Berührung berühmt gemacht hatte und er zu einer der ganz großen Nummern in Hollywood geworden war, hatte er Frauen gegenüber eine zynische Haltung entwickelt, die sich darin äußerte, dass der Sex zwar befriedigend, aber gleichzeitig immer langweiliger geworden war.

Er wusste genau, auf welche Knöpfe er drücken musste, um bei Frauen landen zu können. Aber wann war er zuletzt von einer Frau dermaßen fasziniert gewesen? Sie wirkte so durchschaubar, und der Kontakt zwischen ihnen war so intensiv, dass er davon überzeugt war, das Schicksal habe seine Hand im Spiel gehabt. Aber, ob mit oder ohne Schicksal – er war hingerissen. Fast verzaubert. Es war schon lange her, dass er so etwas empfunden hatte. Er schaute sich um und musste über seine eigene Ungeduld lächeln. Dann entdeckte er sie bei den Toiletten. Sie hatte das Handy am Ohr und schien nicht einfach nur zu telefonieren, sondern inständig um etwas zu bitten. Kurz darauf klappte sie das Telefon zu, stopfte es in ihre Handtasche und eilte zum Hinterausgang der Galerie.

Er war so verblüfft, dass er einen Moment brauchte, bis ihm klar wurde, dass sie gegangen war. Ohne zu zögern bahnte er sich einen Weg durch die Menge und folgte ihr.

Wohin zum Teufel war sie so schnell verschwunden? Er kannte nicht einmal ihren Namen. Dabei war er noch gar nicht mit ihr fertig. Und zwar noch lange nicht.

2. KAPITEL

„He warten Sie!“

Beim Klang seiner Stimme drehte Eva sich um. Wie angewurzelt blieb sie stehen, als sie die markante Silhouette im Türrahmen sah, die sich gegen das helle Licht abzeichnete.

Mit kraftvollem Griff hielt er sie fest. „Alles in Ordnung?“

Laut krachend fiel die Feuertür ins Schloss. Sofort war es in der schmalen Gasse stockdunkel.

„Ja“, murmelte sie. „Danke. Ich bin diese hohen Absätze nicht gewohnt.“

Beiläufig streichelte er über ihren Arm, was ihr zahlreiche Schauer über den Rücken jagte. Dann ließ er sie wieder los. „Ich habe mich immer gefragt, warum Frauen diese Knochenbrecher tragen.“

„Damit unsere Beine länger wirken.“

Er lachte amüsiert. In der Dunkelheit klang es seltsam vertraut. „Wirklich?“ Inzwischen hatte sie sich an das schwache Licht gewöhnt. Als sie Luft holte, stieg ihr sein atemberaubender Duft in die Nase, der den Geruch von nassem Pflaster und Desinfektionsmitteln überlagerte.

„Das haben Sie doch gar nicht nötig“, meinte er anerkennend.

Sie schlang die Arme um ihren Körper. Nicht nur wegen der kühlen Herbstluft hatte sie eine Gänsehaut. Flirtete er etwa schon wieder mit ihr? Warum war er ihr gefolgt? Und warum empfand sie seine Aufmerksamkeit ebenso reizvoll wie beängstigend?

„Wahrscheinlich haben Sie recht“, stimmte sie zu. „Gebrochene Knöchel sind noch weniger attraktiv als kurze Beine.“

Erneut jagte ihr sein herzhaftes Lachen einen Schauer über den Rücken.

Hör auf, so geschwollen daherzureden!

„Wo wollen Sie denn hin?“, erkundigte er sich, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen.

„Ich …“ Sie unterbrach sich. Was sollte sie darauf antworten? Ihr überstürzter Fluchtversuch erschien ihr mit einem Mal noch lächerlicher als ihr dummes Geschwätz. „Ich brauchte ein wenig frische Luft“, log sie. „Da drinnen ist es so stickig.“

Dummerweise zitterte sie vor Kälte, kaum dass sie die Worte ausgesprochen hatte.

„Sie frieren ja.“ Er zog seine Jacke aus und nahm ihr die Handtasche von der Schulter. „Hier.“ Das warme Leder umfing sie wohlig. Sein Duft befand sich in dem Kleidungsstück, und fast hätte sie laut geseufzt.

„Machen wir einen Ausflug.“

„Wie bitte?“, fragte sie ungläubig. Kaum hatte er seinen Vorschlag gemacht, schossen ihr Hunderte von Ideen durch den Kopf – alle ziemlich unpassend, aber dennoch äußerst verlockend.

„Einen Trip.“ Er schob die Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans, zog den Kopf tiefer in seinen Rollkragenpullover, um sich vor der Kälte zu schützen, und deutete mit dem Kopf ans Ende der Gasse. „Mein Motorrad steht um die Ecke. Außerdem habe ich selber nach einer Ausrede gesucht, um mich verdrücken zu können.“

„Ein Motorrad?“

Er legte seine warme Hand auf ihren Rücken und schob sie sanft zum Anfang der Gasse. „Es ist eine tolle Art, die Stadt kennenzulernen. Sie sind aus London, stimmt’s? Genau wie ich.“

Autor

Heidi Rice
<p>Heidi Rice wurde in London geboren, wo sie auch heute lebt – mit ihren beiden Söhnen, die sich gern mal streiten, und ihrem glücklicherweise sehr geduldigen Ehemann, der sie unterstützt, wo er kann. Heidi liebt zwar England, verbringt aber auch alle zwei Jahre ein paar Wochen in den Staaten: Sie...
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