Komm auf mein Schloss, Josie

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Nach einem Skandal hat Josie endlich Ruhe auf Elmhurst Hall gefunden. Sie leitet das Schlosscafé und ist mit ihrem neuen Leben fernab von der Londoner High Society zufrieden. Bis Lord William Radcliff, der neue Besitzer des traditionsreichen Herrenhauses auftaucht. Gegensätze ziehen sich an, sagt man. Aber zwischen der unkonventionellen Josie und dem korrekten Schlosserben William fliegen die Fetzen - und sprühen die Funken. Werden die heißen Küsse im verwunschenen Garten William überzeugen, dass die temperamentvolle junge Lady die Richtige ist für sein Schloss und für sein Herz?


  • Erscheinungstag 26.10.2008
  • Bandnummer 1764
  • ISBN / Artikelnummer 9783863493561
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Will hielt an und stieg aus seinem Wagen, den er mit halb offener Tür mitten auf der Straße stehen ließ. Er ging ein paar Schritte vor.

Die Türmchen und Schornsteine von Elmhurst Hall erhoben sich über den Bäumen, die das Gebäude umgaben, seine Mauern aus Sandstein erglühten in der Nachmittagssonne in einem warmen Goldgelb. Die Front wurde von zahlreichen länglichen Fenstern durchbrochen.

Auf diesen Moment hatte er gewartet, seit er vor einem Monat den Brief des Notars geöffnet hatte. Der Moment, auf den seine Familie seit drei Generationen gehofft hatte. Wenn er jetzt versagte – untypisch für ihn, aber nicht ausgeschlossen –, mochte es wieder drei Generationen dauern, sich von der Niederlage zu erholen. Eine Möglichkeit, mit der er sich jetzt nicht länger auseinandersetzen wollte.

Er stieg wieder in seinen Wagen, und sein Blick streifte die Werbebroschüre auf dem Beifahrersitz. Sie behauptete, dass Elmhurst Hall wie „ein Traumbild aus einem Märchen“ sei. Er hatte das für reine Marketing-Poesie gehalten.

Doch nun holte er tief Luft. Es war viel mehr als ein Traumbild. Es war atemberaubend.

Und es gehörte ihm.

Er drehte den Zündschlüssel herum und fuhr mit gemächlichen dreißig Stundenkilometern die Landstraße zum Herrenhaus hinunter. Zum Glück gab es keinen Verkehr, den er mit seiner Fahrweise aufhalten konnte.

Vor den riesigen schmiedeeisernen Toren musste er anhalten. Sie waren über drei Meter hoch und verriegelt – vermutlich um Bauern wie ihm den Zutritt zu verwehren. Dieser Gedanke brachte ihn wieder zum Lächeln. Was für ein Pech! Jetzt war er hier, und es gab nichts, womit der Rest der Familie Radcliff ihn aufhalten konnte.

Aus geringerer Entfernung betrachtet, wirkte das Gebäude nicht mehr ganz so prächtig. Lose herabhängende Regenrinnen und bröckelnder Putz ließen es wie eine alternde Diva aussehen, die ihre Glanzzeit hinter sich hatte, deren ehemalige Schönheit aber noch immer sichtbar war.

Er grinste. Welch eine Ironie, dass nun gerade der Enkel des verstoßenen Sohns der Familie über genügend Geld und vor allem die Fertigkeiten verfügte, um dieser alten Lady die erforderliche Schönheitsoperation zu verpassen. Offensichtlich hatte der verstorbene Lord Radcliff entweder nicht das nötige Geld oder kein Interesse an einer Renovierung gehabt.

Was für eine Verschwendung! Er hatte schon alte Häuser in einem wesentlich schlechteren Zustand vorgefunden, die nach der Restaurierung wieder märchenhaft ausgesehen hatten und nicht mehr erahnen ließen, wie heruntergekommen sie vorher gewesen waren. Das war sein Geschäft. Nun würde er hier seine Talente zum Einsatz bringen.

Links von ihm verlief eine kleine Straße. Er folgte ihr und gelangte auf einen großen, fast leeren Besucherparkplatz, wo er parkte und ausstieg.

Der Fußweg zum Herrenhaus führte durch einen großen ummauerten Garten. Will sah auf die Uhr. Mr. Barrett erwartete ihn um vier Uhr, und jetzt war es schon fast fünf vor. Er sollte sich lieber etwas beeilen. Das klapperige Gatter, von dem die grüne Farbe abblätterte, ließ sich leicht aufstoßen. Der Garten war nicht die ausgedehnte Grünfläche, die er erwartet hatte, sondern durch dicke Eibenhecken in kleinere Abschnitte unterteilt.

Nachdem er fünf Minuten lang versuchsweise verschiedene Richtungen eingeschlagen hatte, wurde ihm klar, dass die Anlage keiner Logik folgte. An einer Kreuzung blieb er stehen und versuchte zu erschließen, welcher der Wege der richtige sein könnte. Der vor ihm liegende Weg schien ganz offensichtlich zum Wohnhaus zu führen, aber aus der Erfahrung der letzten fünf Minuten wusste er, dass hier nichts so war, wie es schien.

Gerade wollte er sich für den Weg zu seiner Linken entscheiden, als ein Wesen mit schimmernden Flügeln das Gebüsch durchbrach und direkt vor ihm landete. „Ein Traumbild aus einem Märchen“ hatte die Broschüre versprochen. Aber mit wirklichen Elfen hatte er nicht gerechnet. Wie erstarrt blieb er stehen, während sein Herz aufgeregt schlug.

Bevor er sich die Augen reiben konnte, purzelte noch eine Gestalt aus dem Strauchwerk und landete der Länge nach auf dem Weg. Melodisches Gelächter erfüllte die Luft. Das Geräusch verstummte abrupt, als die beiden bemerkten, dass sie nicht allein waren. Zwei Augenpaare betrachteten ihn verschmitzt.

Will starrte zurück, noch ganz überwältigt von den unerwarteten Eindrücken.

Die kleinere der beiden Gestalten, die mit den Flügeln, sprach zuerst.

„Wer bist du?“

Er entdeckte, dass die Flügel aus einem rosa Gewebe bestanden und von einem Gewirr von Gummibändern gehalten wurden. Das Ganze saß auf einer mit Pelz besetzten Jacke.

„Ich bin Will“, erwiderte er und wunderte sich dann, warum er sich nicht richtig vorgestellt hatte. Er legte großen Wert auf Manieren.

Sie stand auf und klopfte sich die Erde von ihrem Röckchen.

„Ich bin Harriet.“ Sie streckte ihm eine rosa behandschuhte Hand entgegen. Zu überrascht von dieser Geste, um nachzudenken, beugte Will sich vor und ergriff die ihm dargebotene Hand.

Ihm fehlte jegliche Erfahrung, das Alter kleiner Mädchen einzuschätzen. Älter als drei auf alle Fälle – sie sprach deutlich und korrekt –, aber vermutlich jünger als sieben. Ihm war nicht klar, warum es ihm so wichtig erschien, zu wissen, wie alt sie war. Vielleicht weil er einen konkreten Sachverhalt brauchte, um dieses ziemlich surrealistische Zusammentreffen in der Wirklichkeit zu verankern.

„Hattie, ich habe dir doch gesagt, dass du nur mit Fremden sprechen sollst, wenn ich es erlaube.“

Will registrierte die Stimme – sie klang älter, aber genauso klar und deutlich. Eigentlich wollte er die ältere Gefährtin der Elfe genauer unter die Lupe nehmen, aber das kleine Mädchen hielt seinen Blick fest.

Einen so intensiven Blick hatte er in seinem ganzen Leben noch nie gesehen. Und sie zog sich nicht schüchtern zurück oder versteckte sich hinter dem anderen Mädchen, wie er es erwartet hätte. Stattdessen musterte sie ihn mit einem geradezu königlichen Blick der Überlegenheit und wich seinen neugierigen Blicken nicht aus. Dann schien sie mit ihrer Abschätzung seiner Person fertig zu sein und nickte anerkennend.

Wie seltsam. Kinder erwärmten sich äußerst selten für ihn. Er fühlte sich immer steif und befangen in ihrer Gegenwart. Aber diesem merkwürdigen kleinen Mädchen schien das nichts auszumachen.

Jetzt lenkten die Geräusche, die die andere Person beim Aufstehen verursachte, seine Aufmerksamkeit auf sich. Ihr Blick war genauso intensiv wie der ihrer Freundin. Obwohl er sich inzwischen wieder gefangen hatte und mit Sicherheit wusste, dass sie nichts weiter als ein menschliches Wesen war, wurde er das Gefühl nicht los, dass sie irgendetwas Ungewöhnliches an sich hatte.

„Elmhurst Hall ist bis April donnerstags und freitags für Besucher geschlossen“, sagte sie jetzt. „Wie sind Sie hereingekommen?“

Will warf einen kurzen Blick in Richtung Parkplatz. „Durch die Pforte natürlich. Ich habe eine Verabredung mit Mr. Barrett.“

Sie nahm Hattie an die Hand.

„Dann sollten Sie mir am besten folgen. Die Anlage des Gartens ist in diesem Teil ziemlich verwirrend, wenn man sich nicht auskennt.“

Hattie hüpfte nun neben dem älteren Mädchen her. Inzwischen vermutete er, dass sie nicht die Schwester der Kleinen, sondern eher deren Babysitter war. Sie hatte einen mehrfarbig gestreiften Hut mit merkwürdigen rosa Troddeln an den Seiten tief über die Ohren gezogen, der ihn an einen altmodischen Kaffeewärmer erinnerte. Außerdem trug sie eine kurze Jeansjacke, eine Cargohose und Stiefel.

Er zuckte die Schultern. Es stand ihm nicht zu, über ihre Kleidung zu urteilen. Zumal sich ihre Aufmachung für den Gang durch den Garten als erheblich geeigneter herausstellte als sein Designeranzug, dessen Hosensaum schon schlammverkrustet war – genau wie seine italienischen Schuhe.

Jetzt betraten sie einen tiefer liegenden Teil des Gartens mit riesigen Blumenbeeten und einem Brunnen in der Mitte. Von hier aus hatte er endlich einen freien Blick auf die Rückseite des Herrenhauses.

Er verstand genug von Architektur, um zu erkennen, dass das Gebäude ein Flickwerk aus verschiedenen Stilen und Epochen war.

Der Flügel, der mit seiner prächtigen Fassade dem Eingangstor gegenüberlag, war wohl erst später hinzugefügt worden, aber hier auf der Rückseite konnte man die Geschichte des Gebäudes ablesen. Jeder der ehemaligen Besitzer hatte einen Teil angebaut, wohl aus dem Wunsch heraus, es zu verschönern, und auch, um ihm seinen persönlichen Stempel aufzudrücken. Jetzt war es an ihm, das Gleiche zu tun.

Elmhurst Hall war wirklich ein ganz einzigartiges architektonisches Prachtstück, und er konnte es kaum erwarten, es genauer zu erforschen.

Plötzlich zogen kleine Finger an seiner Hand und schoben sich in seine Handfläche, bis sie mit seinen Fingern verschlungen waren.

„Komm schon, Will, hier entlang.“

Hattie zog ihn über eine ausgedehnte Rasenfläche bis zu einer Treppe, die zu einer großen Tür aus massivem Holz führte. Zu sehr damit beschäftigt, seine Umgebung in sich aufzunehmen, ließ er sich von dem kleinen Mädchen vorwärtsziehen.

Schließlich wandte er sich an Hattie. „Wenn heute keine Besucher zugelassen sind, was macht ihr dann hier?“

„Wir spielen Prinzessin und Trolle.“

Ihre Stimme klang so sachlich, als würde sie annehmen, dass jeder Besucher ähnlichen Aktivitäten nachging. „Ich bin die Prinzessin“, sagte sie, „und Mummy ist der Troll.“

Sie war die Mutter des Kindes? Will betrachtete sie genauer, während er nach oben stieg. Sie wirkte kaum älter als ein Teenager. Vielleicht lag es an ihrer Größe. Sie war sehr zierlich und höchstens einen Meter sechzig groß.

So, wie sie die Hand nach Hatties ausstreckte, glich das eher einem Befehl als einer Bitte. Hattie entzog ihm ihre behandschuhten Finger und rannte zu ihrer Mutter.

Irgendetwas an ihm versetzte diese Frau in Alarmbereitschaft. Will sah es daran, wie eigensinnig sie das Kinn hob und einem direkten Blickkontakt mit ihm auswich. Bevor er sie erreicht hatte, ging sie schon wieder weiter, wobei sie immer einen gewissen Abstand zu ihm hielt.

Er folgte ihr, doch sie stieg nicht die Treppe hinauf, sondern ging um die Ecke zum früheren Dienstboteneingang. Hattie riss sich los und verschwand durch die schmale Tür, die sie hinter sich offen ließ.

Die junge Frau drehte sich zu ihm um.

„Und was haben Sie wirklich hier gemacht?“, fragte er, als sein normalerweise sehr scharfer Verstand allmählich wieder einsetzte.

Sie zuckte die Schultern. „Wie Hattie schon sagte, haben wir hier gespielt. Es gibt keinen besseren Platz für fantasievolle Spiele.“

Nun ja, aber dafür war es doch sicher nicht nötig, unbefugt auf den Besitz einzudringen. Er war schon drauf und dran, seine Gedanken auszusprechen, hielt sich jedoch zurück und fragte nur: „Und Sie haben die Erlaubnis des Eigentümers dazu?“

Sie nickte. „In gewisser Weise schon. Ich lebe und arbeite hier. Nutzung der Anlagen ist einer der Vorteile dieses Jobs.“

Darüber würde er später mehr herausfinden.

Sie nickte in Richtung der geöffneten Tür.

„Viel Glück“, sagte sie, doch ihr Blick war alles andere als ermutigend. „Sie sind nicht der erste gut gekleidete Mann, der hier auftaucht. Aber Sie verschwenden nur Ihre Zeit. Als Lord Radcliff starb …“ Hier unterbrach sie sich, schüttelte einmal heftig den Kopf, wie um einen unerwünschten Gedanken zu vertreiben, und fuhr fort: „Ich fürchte, Sie werden mit leeren Händen gehen müssen. Es ist so gut wie nichts übrig, um seine Schulden zu bezahlen.“

Als er sie jetzt näher betrachten konnte, verstand er, warum er sie zuerst für ein Kind gehalten hatte. Sie hatte große Augen und volle Lippen in einem elfengleichen Gesicht. Wäre ihr störrisches Kinn nicht gewesen, hätte man sie für eine Fee halten können – zeitlos, alterslos und weise.

„Vielen Dank für Ihren Rat …“

Sie zwinkerte ihm zu.

„Josie.“ Während sie ihren Namen nannte, griff sie mit einer Hand nach ihrem Kaffeewärmerhut und zog ihn vom Kopf.

„Ich bin nicht hier, um …“ Weiter kam er nicht, denn jetzt ging ihm auf, dass die leuchtend rosafarbenen Troddeln nicht zum Hut gehörten. Erstaunt riss er die Augen auf.

Keine Troddeln. Zöpfchen! Kurze, stoppelige Zöpfchen in einem besonders aggressiven Rosaton.

Bei dieser Frau nahmen die Überraschungen kein Ende.

Er bemerkte, wie die Andeutung eines Lächelns ihre Lippen umspielte, bevor sie sich umdrehte und über die Türschwelle trat. Es gefiel ihr also, dass sie ihn so schockiert, ihm die Sprache verschlagen hatte.

Nun, dieses Spiel konnte man auch zu zweit spielen. Und er hatte das Gefühl, seine Ankunft hier würde weit mehr Aufregung verursachen als die Entdeckung einer Angestellten mit pinkfarbenem Haar. Wenn sein Instinkt ihn nicht trog, würden sie alle so überrascht sein, als hätten sie … plötzlich Elfen im Garten gesehen.

Im engen Gang des Dienstbotenflügels hallten die Schritte des Fremden hinter ihr. Josie klopfte an eine Tür, die in einem Jahrhundert angefertigt worden war, als die Menschen erheblich kleiner gewesen sein mussten.

Sie selbst mit ihren Einsachtundfünfzig hatte damit kein Problem, aber Will Wie-auch-immer-er-hieß würde den Kopf einziehen müssen.

Sie seufzte, als sie den Besucher zu Barrett hineingeführt und das Zimmer wieder verlassen hatte. Energisch schloss sie die Tür hinter sich. Sie verspürte nicht den Wunsch zu hören, was er zu sagen hatte. Das alles war viel zu deprimierend.

Harry war der liebenswerteste, reizendste alte Herr gewesen, den man sich vorstellen konnte, aber mit Geld hatte er überhaupt nicht umgehen können. Das hatte sie, seit sie vor sechs Jahren hierhergekommen war, immer geahnt. Aber erst nach seinem Tod und der Offenlegung seiner planlos geführten Konten hatte sich gezeigt, wie schlimm die Dinge wirklich standen.

Sie hingen jetzt alle in der Luft, bis die juristischen Streitereien um seinen Nachlass beendet waren. Er hatte ihr einmal gesagt, dass er ihr das Cottage, in dem sie lebte, vermachen würde. Doch in keinem der Räume, die mit Harrys angesammeltem Krimskrams vollgestopft waren, hatte sich ein Testament gefunden.

Damit waren sie und Hattie der Gnade des neuen Besitzers ausgeliefert. Ihr geliebter Patenonkel hatte sie in dem heruntergekommenen Cottage praktisch mietfrei wohnen lassen, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass der neue Lord Radcliff dieses Mietverhältnis anerkennen würde. Denn er hatte nicht nur das Herrenhaus geerbt, dessen Unterhalt Unsummen verschlang, sondern auch Harrys Schulden. Selbst wenn er gewillt war, ihr entgegenzukommen, so würde er es sich wahrscheinlich einfach nicht leisten können.

Das Gehalt, das sie dafür bekam, die Teestube zu führen, reichte nur knapp, um ihre festen Kosten zu decken. Miete konnte sie davon keine zahlen, selbst wenn sie Hatties Ballettunterricht strich.

Sie verzog das Gesicht, während sie sich durch die alten Korridore in Richtung Küche bewegte – denn dort würde sie ihre Tochter mit Sicherheit finden. Hattie liebte ihre Ballettstunden und würde mindestens einen Monat lang schmollen, wenn sie damit aufhören musste.

Josie selbst konnte nicht verstehen, warum man so viel Aufhebens darum machte. Es gab dabei keine Freiheit, keine Ausgelassenheit. Sich selbst zu unnatürlichen Posen zu verrenken und seine Füße in harte kleine Schuhe zu zwängen, die zwei Nummern zu klein waren – das war nichts für sie!

Aber Hattie schien diese Quälerei im Ballettröckchen zu mögen, und sie wollte sie nicht daran hindern, etwas zu tun, das sie liebte. Schließlich war es das, was gute Eltern taten: Sie förderten die Interessen ihrer Kinder und trugen dazu bei, dass sie zu den einzigartigen Wesen heranwuchsen, die sie sein sollten. Sie hatte nicht die Absicht, ihrer Tochter ihre eigenen Vorlieben und Abneigungen aufzudrängen, als wären es die Zehn Gebote.

Wie sie richtig vermutet hatte, saß Hattie am Küchentisch und sah Mrs. Barrett, die Küchenfee von Elmhurst, erwartungsvoll an. Ihr Ehemann hörte nur auf die Anrede „Barrett“, und Mrs. Barrett bestand darauf, mit „Cook“ angesprochen zu werden. Josie durfte „Mrs. B“ zu ihr sagen, wenn die Köchin in der richtigen Stimmung war.

„Das Übliche, Miss Hattie?“

Josie lächelte. Das war ein eingespieltes Ritual zwischen Hattie und der Köchin. Es erinnerte die treu ergebene Hausangestellte vermutlich an die glorreichen alten Zeiten, in denen sie zahlreiches Personal befehligte und die Bewohner des Herrenhauses zu verköstigen hatte.

Warum Hattie dieses Spiel gefiel, war leicht zu erraten. Der Traum eines jeden kleinen Mädchens: Dornröschen oder Aschenbrödel zu sein und in einem Schloss zu wohnen. Und sie würde Hattie ihre Träume nicht nehmen, auch wenn die Realität nicht so rosig aussah. Es würde nicht lange dauern, bis das kleine Mädchen lieber Rapunzel sein würde – sich die Haare wachsen lassen wollte, um aus diesem stickigen, altmodischen Mausoleum herauszukommen.

Hattie strahlte. „Ja, bitte, Cook.“

„Und kann ich Sie dazu mit einem frisch gebackenen Ingwerplätzchen in Versuchung führen, Miss?“

Josie musste sich beherrschen, um nicht loszuprusten, als Hattie mit schief gelegtem Kopf das Angebot in Erwägung zog. Sie sah so etepetete aus, wie sie mit absolut geradem Rücken und gekreuzten Knöcheln dasaß.

„Ja, ich denke, das würde mir sehr zusagen, Cook.“

Mrs. B nickte und goss Hatties Saft in eine zierliche kleine Teetasse, die eigens zu diesem Zweck reserviert war.

„Hi, Mrs. B“, begrüßte Josie die Haushälterin und zerzauste ihrer Tochter das Haar. Das brachte ihr einen finsteren Blick von Hattie ein, die ihre Tiara abnahm und sich das Haar glättete.

„Guten Tag, meine Liebe. Haben Sie heute irgendwelche Trolle gefangen?“

Josie lachte in sich hinein und setzte sich Hattie gegenüber an den Küchentisch. „So kann man das nicht sagen.“

Mrs. Barrett sah sie verwundert an und stellte einen Becher Tee für sie hin.

Hattie gab bereitwillig Auskunft. „Wir haben einen Mann im Garten getroffen. Sein Name ist Will. Ich glaube, er mag Elfen.“

„Ich habe ihn zu Barrett gebracht“, fügte Josie hinzu. „Allerdings wird er nicht viel Freude haben, bis der neue Lord ausfindig gemacht ist. Und selbst dann muss er sich in einer langen Schlange hinten anstellen, wenn er sein Geld bekommen will.“

Mrs. Barrett ließ sich mit ihrer ausladenden Figur auf dem Stuhl neben Josie nieder. „Barrett hat mir vorhin erzählt, dass sie ihn gefunden haben. Er arbeitet in Übersee und ist der Großneffe des verstorbenen Lord Radcliff. Er wird wohl irgendwann im Laufe der Woche ankommen. Heute Nachmittag um sechzehn Uhr dreißig findet eine Krisensitzung des Personals statt. Ich passe auf Hattie auf, während Sie dort sind. Barrett kann mir später alles berichten.“

Josie trank einen Schluck Tee. „Ich wusste gar nicht, dass Edward Radcliff einen Sohn hatte. Sie hatten mir doch erzählt, er habe den Versuch nach vier Töchtern aufgegeben.“

„Nein. Edward war der jüngste Bruder von Lord Radcliff. Der Großvater des neuen Lords wäre dann der mittlere der drei Radcliff-Brüder.“

„Es gab noch einen dritten Radcliff-Bruder? Ich kann mich nicht erinnern, über ihn etwas im Stammbaum gesehen zu haben.“

„Das können Sie auch nicht. Diese Ereignisse liegen in der Zeit lange vor Ihrer Geburt, Josie. Es gab einen großen Zwist zwischen der Familie und dem mittleren Sohn, der enterbt wurde. Der Detektiv, den die Anwälte beauftragt hatten, hat herausgefunden, dass er seinen Namen geändert hatte, weshalb es auch so schwierig war, seine Nachkommen aufzuspüren.“

Josie lächelte ironisch. „Noch ein schwarzes Schaf also.“

Mrs. B wechselte das Thema. „Sie sollten sich lieber beeilen, sonst kommen Sie noch zu spät zu der Versammlung.“

Josie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und legte die Beine auf den Tisch. Die vorwurfsvollen Blicke der beiden anderen ignorierte sie. „Ein paar Minuten habe ich noch. Jedenfalls genug Zeit, um meinen Tee auszutrinken.“

Der Enkel des schwarzen Schafes hatte also Elmhurst geerbt. Zweifellos bewegte sich das Leben auf Elmhurst Hall in ausgefahrenen Gleisen und konnte es vertragen, aus diesem Alltagstrott herausgerissen zu werden. Nur wollte sie nicht, dass irgend so ein aufgeblasener Angehöriger der Oberschicht in ihr Revier stürmte und Unruhe stiftete. Wenn es einen Aufruhr geben sollte, dann wollte sie ihn schon selbst verursachen.

Als Josie von der Personalversammlung zurückkehrte, kam sie sich ein wenig dumm vor. Was hieß hier „ein wenig“? Sie kam sich sehr dumm vor. Aber das hatte sie sich gegenüber Will Wie-auch-immer-er-hieß nicht anmerken lassen.

Sie stürmte zurück in die Küche. Wie konnte er es wagen, in Elmhurst Hall aufzutauchen und dabei ganz normal auszusehen? Er entsprach überhaupt nicht dem, was sie erwartet hatte. Er war selber schuld, wenn sie sich ihm gegenüber nicht ganz angemessen verhalten hatte. Es gehörte sich nicht, sich an jemanden im Garten heranzuschleichen und dann zu erwarten, dass derjenige wusste, wer er war.

Am darauffolgenden Montagmorgen, als sie mit Mrs. B die Kuchen für die Teestube arrangierte, war Josie immer noch nicht ganz darüber hinweg.

„Wer ist dieser Typ überhaupt? Und wohin ist er am Freitag nach der Versammlung verschwunden? Er hat sich das ganze Wochenende über nicht blicken lassen.“

Mrs. B seufzte und schnitt den Möhrenkuchen weiter in gleichmäßig große Stücke.

„Barrett sagt, dass er Geschäftsmann ist, ein ziemlich erfolgreicher sogar.“

„Was für Geschäfte betreibt er? Das würde ich gern wissen!“, murmelte Josie vor sich hin.

Mrs. B zuckte die Schultern und platzierte den geschnittenen Kuchen in der Vitrine. Ihre Backwaren gehörten zu den beliebtesten Angeboten in der Teestube.

„Och, irgendetwas, das mit alten Gebäuden zu tun hat“, erwiderte Mrs. B.

Es war sinnlos, weiter nachzufragen. Für die treue Köchin war er Lord Radcliff, und damit basta.

Niemand wusste etwas über ihn. Alte Gebäude. Das konnte alles Mögliche bedeuten. Er konnte ein Bauunternehmer sein, der vorhatte, das ehrwürdige Herrenhaus abzureißen und stattdessen eine scheußliche moderne Wohnanlage zu errichten.

Josie wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch trocken und nahm die Schürze ab. „Ich gehe dann mal zum Abholmarkt, um unsere Vorräte an Chips und Knabberzeug aufzustocken. Ich müsste vor der Mittagszeit wieder zurück sein.“

Mrs. B nickte und beschäftigte sich damit, Muffins ansprechend auf einem Teller zu arrangieren. Josie zog ihren Mantel an, holte eine gestreifte Mütze aus der Manteltasche hervor und setzte sie auf, wobei sie sich die Haare hinter die Ohren schob.

Wenig später ließ sie das Dorf Elmhurst hinter sich und fuhr weiter zum nahe gelegenen Städtchen Groombridge. Nachdem sie ihre Einkäufe erledigt und den Kofferraum des alten Morris Minor mit Vorräten für die Teestube vollgeladen hatte, beschloss sie, noch einen kleinen Abstecher zu machen. Zwar hatte das nicht direkt etwas mit der Arbeit zu tun, aber alle Angestellten im Herrenhaus würden davon profitieren, also konnte man es beinahe als Arbeit gelten lassen.

Nur fünf Minuten später betrat sie die Stadtbücherei. Josie ignorierte die Bücherregale und ging direkt zu einem der Computer mit Internetanschluss. Sie rief eine Suchmaschine auf und tippte den Namen William Roberts ein. Seinen Nachnamen hatte sie von Barrett erfahren.

Sofort wurde ihr eine lange Liste von Einträgen angezeigt. Zuerst landete sie auf der Website eines William Roberts, der ein begeisterter Angler war. Aber nach zwei, drei weiteren Versuchen wurde sie schließlich fündig.

Ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich.

Sie war auf einen Zeitungsartikel gestoßen. Es sah so aus, als habe Will vor ein paar Monaten einen Preis für eins seiner Projekte gewonnen. Die Bildunterschrift unter einem Foto beschrieb seine Firma als ein Unternehmen, das sowohl alte Gebäude restaurierte als auch neue Bauprojekte durchführte.

Sie stützte den Kopf in die Hände und massierte sich die Schläfen. Schon sah sie ihr derzeitiges Leben zerbrechen. Wenn Elmhurst Hall geschlossen wurde, hätte sie keine andere Wahl, als zu ihren Eltern zu ziehen. Dabei hatte sie sich immer geschworen, das niemals zu tun.

Josie surfte weiter, in der Hoffnung, etwas mehr Informationen über den mysteriösen Mr. Roberts zusammenzutragen. Sie fand nicht sehr viel, stellte aber fest, dass er seine Firma quasi aus dem Nichts aufgebaut hatte und sehr erfolgreich war.

Wie aus heiterem Himmel hörte sie plötzlich die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf widerhallen: „Er mag ja reich sein, Schätzchen, aber er ist wohl kaum einer von uns.“

Ihre Mutter war so ein Snob.

„Er ist ziemlich attraktiv, nicht wahr?“

Josie sah sich um. Marianne, die Bibliothekarin, stand hinter ihr und sah ihr über die Schulter. Seit sie hier arbeitete, wurde das Gebot der Ruhe, die in einer Bibliothek zu herrschen hatte, nicht sehr strikt eingehalten. Irgendwie hatte sich dieser Ort der Besinnlichkeit und des Studiums eher in eine Gerüchteküche verwandelt. Und das lag hauptsächlich an Marianne.

Autor

Fiona Harper
Als Kind wurde Fiona dauernd dafür gehänselt, ihre Nase ständig in Bücher zu stecken und in einer Traumwelt zu leben. Dies hat sich seitdem kaum geändert, aber immerhin hat sie durch das Schreiben ein Ventil für ihre unbändige Vorstellungskraft gefunden. Fiona lebt in London, doch sie ist auch gern im...
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