Küss den Richtigen!

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Nur knapp entgeht die zauberhafte Julia am Tag ihrer Hochzeit mit dem reichen Randall einer Entführung. Wie aus dem Nichts ist der breitschultrige Tanner aufgetaucht und hat sie in einem Haus am See in Sicherheit gebracht. Hier erleben sie sinnliche Stunden der Lust. Aber noch immer will Julia Randall heiraten …


  • Erscheinungstag 25.08.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733759100
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Eine Frau sollte am Vorabend ihrer Hochzeit nicht allein sein, dachte Julia. Sie könnte dabei auf dumme Gedanken kommen, besonders wenn sie auch noch von Zweifeln geplagt wird.

Julia zögerte, den Motor ihres Cabrios anzulassen. Es war Freitagabend. In vierundzwanzig Stunden würde sie Mrs. Randall Latrobe sein. Bei dieser Vorstellung hatte sie ein merkwürdiges Gefühl im Magen. Vielleicht hätte Randall sich nicht so schnell von ihr verabschiedet, um mit seinen Parteifreunden den letzten Junggesellenabend zu feiern, wenn er etwas von ihren Gedanken geahnt hätte.

Sie schaute zu ihrem Elternhaus hinüber. Wie sehr sie dieses Haus mit dem weißen Stuck und den Holzverzierungen liebte! Hoffentlich habe ich die richtige Entscheidung getroffen, dachte sie beunruhigt. Ihr Blick fiel auf die hinter dem Haus liegenden Weingärten. Seit dem Brand vor etwa fünfzehn Jahren trugen die Rebstöcke auf der Südseite nur wenige Trauben. Die Hänge hinter den Ställen im Osten hingegen versprachen reiche Ernte. Doch der Ertrag würde ihnen nichts mehr nützen.

Der Besitz stand kurz vor der Zwangsversteigerung, und genau das wollte Julia unter allen Umständen verhindern. Durch ihre Heirat mit Randall könnte ihr Vater eine neue Hypothek aufnehmen und so die Ranch vor dem Konkurs bewahren. Und Julia würde ihre geliebte Pferdezucht behalten. Allein dafür hätte sie fast alles getan.

Es wird sowieso Zeit, dass ich eine Familie gründe, redete sie sich ein. Schließlich bin ich siebenundzwanzig Jahre alt. Ich will Kinder und ein eigenes Heim. Warum soll ich also nicht heiraten? Randall ist eine sehr gute Partie. Davon war jeder in der Stadt überzeugt. Seit über einem Jahr waren sie nun zusammen, und Randall war stets aufrichtig, treu und liebevoll gewesen.

Spielte es denn wirklich eine so große Rolle, dass ihrer Beziehung die Leidenschaft fehlte? Sie hatte doch ihre Pferde, denen sie sich mit Begeisterung widmete. Und da Randall stark in der Politik engagiert war und stets einen vollen Terminkalender hatte, würde sie genug Zeit haben, sich ihren Traum von einer eigenen Pferdezucht zu erfüllen. Auch wenn Randall kein Pferdenarr war, er würde ihr keine Hindernisse in den Weg legen. Er hatte nur seine politische Karriere im Auge, und mit ihrem makellosen Ruf war Julia die ideale Frau an seiner Seite. Von dieser Verbindung profitierten sie daher beide.

Doch bevor Julia eine perfekte Ehefrau wurde, wollte sie eine Nacht einmal so sein, wie sie sonst nicht sein durfte. Einmal nur wollte sie ihren Gehorsam vergessen und über die Stränge schlagen. Einmal nur – bevor es zu spät war.

Entschlossen drehte sie den Zündschlüssel herum. Als der Motor ansprang, trat Lydia Grazer auf die Veranda.

„Wo fährst du hin?“

Typisch Mutter, dachte Julia. Ich kann keinen Schritt tun, ohne dass sie wissen will, wo ich hingehe. Sie hasste es zu lügen. Doch sie brauchte diesen letzten Abend unbedingt für sich. „Ich treffe mich mit Charity in der Stadt. Wir müssen noch einige Dinge wegen der Hochzeitsfotos besprechen. Ich bin bald zurück.“

Sie gab Gas, bevor ihre Mutter sie aufhalten konnte. Der Wagen schoss an den ausgedehnten Weiden vorbei, auf denen die Pferde grasten. Honor Bleu, ihr preisgekrönter Hengst, war ihr Ein und Alles. Sie würde Bleu in ihr neues Zuhause mitnehmen, das hatte sie unmissverständlich klargemacht. Geduldig nahm sie hin, dass jeder in ihr Leben reinzureden versuchte, doch wenn es um Bleu ging, blieb sie hart. Ohne ihn würde sie nirgendwohin gehen.

Ihr Zukünftiger konnte mit ihrer Pferdeleidenschaft ebenso wenig anfangen wie ihr Vater. Aber Julia hatte nicht nachgegeben – und durchgesetzt, dass Randall Ställe auf seinem Anwesen baute. Bis dahin würde sie eben viel Zeit auf dem Besitz ihrer Eltern verbringen. Vorausgesetzt, es kam nicht zur Versteigerung.

Doch darüber wollte sie heute nicht nachdenken. Sie griff nach dem Handy und wählte Charity Ardens Nummer. Sie bat ihre Freundin, zu Gatlin’s zu kommen, einem Lokal außerhalb der Stadt.

Charity war über den Treffpunkt zwar etwas verwundert, denn der Club hatte keinen besonders guten Ruf. Dennoch willigte sie ein und versprach, in einer halben Stunde dort zu sein.

„Wunderbar. Wir können bei einem Drink über die Fotos reden. Bis gleich.“

Charity war freie Fotografin bei der Grazer’s Gazette. Der Auftrag, Julias Hochzeitsgäste aufzunehmen, war für sie als alleinerziehende Mutter ein erfreuliches Zubrot.

Julia drückte das Gaspedal durch. Die warme Juniluft spielte in ihrem Haar, und über ihr funkelten die Sterne wie Diamanten. Je weiter sie sich von ihrem Elternhaus entfernte, desto freier fühlte sie sich. Sie hielt das Lenkrad mit den Knien fest und zog ihren braven, hochgeschlossenen Pullover aus. Darunter trug sie ein tief ausgeschnittenes T-Shirt. Sie genoss den warmen Wind auf ihrem Dekolleté.

Sie liebte diese Gegend. Bereits am Stadtrand von Grazer’s Corners hatte man das Gefühl, mitten auf dem Land zu sein. Die weiten Wiesen und Felder boten genügend Raum zum Ausreiten. Bisher hatten die Stadtplaner das kleine, verschlafene Paradies im Herzen Kaliforniens noch nicht entdeckt. Es wäre ihnen auch nicht anzuraten. Sie bekämen es gewiss mit Julias Vater zu tun. Maynard Grazer vermittelte gern den Eindruck, ihm gehöre die ganze Stadt, weil sie den Namen seiner Vorfahren trug. Er würde niemals tatenlos geschehen lassen, dass auf dem Farmland Siedlungen mit Einfamilienhäusern entstünden.

Um zu Gatlin’s zu kommen, musste Julia quer durch die Stadt. Sie hoffte inständig, nicht gesehen zu werden. In dieser Stadt kannte jeder jeden – und wenn die Leute das Cabrio sahen, würden sie sich wahrscheinlich fragen, warum Julia Grazer in diesem Aufzug und ohne ihren Verlobten am Abend vor ihrer Hochzeit durch die Gegend fuhr.

Sie gab noch etwas mehr Gas. Ein Strafmandat wegen überhöhter Geschwindigkeit brauchte sie nicht zu fürchten. Sheriff Brockner war vorzeitig in den Ruhestand gegangen, und Hilfssheriff Kate Bingham war momentan nicht in der Stadt.

Glücklicherweise zeigte die einzige Ampel des Ortes grünes Licht, und Julia fuhr unerkannt zu Gatlin’s. Sie stellte ihren Wagen neben einer glänzenden Harley ab und blickte sich zögernd um. Der Club war als Single-Treffpunkt bekannt. Julia war erst ein einziges Mal mit zwei Freundinnen hier gewesen.

Doch dies war ihr letzter Abend als Single. Entschlossen stieg sie aus dem Auto. Heute wollte sie nicht die wohlerzogene Tochter aus gutem Hause sein. Einmal noch wollte sie sich austoben. Und morgen würde sie die von allen respektierte Frau des Randall Latrobe werden.

Sie warf das glänzende, schwarze Haar zurück, strich den Rock mit dem Tigerfellmuster glatt und zupfte den tiefen Ausschnitt ihres T-Shirts zurecht. Ihre Zehnzentimeterabsätze brachten sie auf eine beeindruckende Größe von einem Meter achtzig. Julia sah sehr sexy aus, und sie spürte die bewundernden Blicke, als sie sich den Weg durch die Menge bahnte. Lässig lehnte sie sich an die Theke und bestellte ein Bier. Dann nahm sie einen tiefen Schluck aus der Flasche.

„Hallo, meine Schöne. Ich habe ein Leben lang auf dich gewartet.“

Zu plump, dachte Julia, als sie sich zu dem Mann umdrehte. Eigentlich wollte sie ihn mit einem vernichtenden Blick strafen, doch dann besann sie sich eines Besseren. Der Typ trug Cowboystiefel und sah ganz manierlich aus. Außerdem wollte sie ja nicht mit ihm nach Hause gehen, sondern sich einfach nur amüsieren, die Nacht durchtanzen, gleich mit wem. Notfalls würde sie auch allein auf die Tanzfläche gehen, falls sie keiner auffordern sollte.

Julia grinste den Cowboy an. „Ich habe dich ebenso lange gesucht, Süßer.“

Der Mann schluckte heftig. Offensichtlich fühlte er sich geschmeichelt.

„Tanzen wir, Cowboy?“ Ohne sich darum zu kümmern, ob er ihr folgte, ging sie zur Tanzfläche und begann sich zum Rhythmus der Musik zu bewegen. Sie war sich ihrer Ausstrahlung, ihres Sex-Appeals durchaus bewusst.

Allein ihre hohen Absätze erregten Aufmerksamkeit. Ihre gebräunten Beine, die der Minirock kaum verhüllte, taten ebenfalls ihre Wirkung. Sie stand im Mittelpunkt des Interesses, jedenfalls bei den Männern.

Julia genoss es, eine andere zu sein, genoss das prickelnde Gefühl, sich gehen zu lassen. Lachend warf sie den Kopf in den Nacken. Da bemerkte sie ihn. Er saß allein an einem Tisch, und sein Blick verfolgte jede ihrer Bewegungen.

Sie verlor fast das Gleichgewicht auf ihren hohen Schuhen. Seit zehn Jahren hatte sie Tanner Caldwell nicht mehr gesehen. War er es wirklich? Wieso war er nach Grazer’s Corners zurückgekehrt? Julia fand das ziemlich verwunderlich, so, wie ihre Familie ihn behandelt hatte.

Sein unverwandt auf sie gerichteter Blick faszinierte sie und zog sie in den Bann. In ihr erwachte eine Sehnsucht, die sie aus der Fassung brachte. Für ein paar Sekunden verlor sie den Rhythmus. Ein plötzlicher Adrenalinstoß verstärkte die Wirkung des Alkohols in ihrem Blut. Auffordernd warf sie den Kopf zurück und sah ihm tief in die Augen.

Komm schon, du toller Typ. Bist du es wirklich, oder täusche ich mich?

Doch der Mann zeigte keine Reaktion. Er fixierte sie nur unablässig.

Das brachte Julia erst recht in Fahrt. Na gut. Du hast es nicht anders gewollt. Verführerisch schwang sie die Hüften. Das war ihre Nacht. Sie durfte tun, was sie wollte. Morgen würde sie wieder die liebe, gehorsame Julia Grazer sein.

Der leichte Schwips machte sie noch mutiger. Sie bedankte sich lässig bei ihrem Cowboy für den Tanz und steuerte auf den Tisch mit dem Mann zu, der Tanner so ähnlich sah.

Noch immer bewegte er sich nicht, zuckte nicht einmal mit der Wimper. Sein Gesicht wirkte wie versteinert, und seine Augen waren ausdruckslos. Es irritierte sie. Zugleich fühlte sie sich aber magisch von ihm angezogen.

Er trug ausgetretene Stiefel und enge Jeans. Das schwarze T-Shirt betonte seinen breiten, muskulösen Oberkörper. Die dunklen, dichten Haare fielen ihm bis auf die Schultern.

Er wirkte verwegen, ungehobelt und arrogant. Aber es war genau diese Ausstrahlung, die ihn so attraktiv machte. Dagegen war auch Julia keineswegs immun.

„Julia?“

Der Klang ihres Namens brach den Zauber. Leicht verstört sah sie sich um. Charity Arden stand nur ein paar Schritte entfernt. Verflixt, dachte Julia, als ihr klar wurde, dass sie die Verabredung völlig vergessen hatte. Sie wollte sich auch gar nicht mit ihrer Hochzeit beschäftigen. Doch ihr angeborenes Verantwortungsbewusstsein holte sie wieder in die Wirklichkeit zurück.

„Hallo, Charity“, sagte Julia und ging auf die Fotografin zu. Sie konnte kaum dem Drang widerstehen, sich umzudrehen. Ob der Mann sie weiterhin beobachtete? Noch immer fragte sie sich, ob er Tanner war. „Schön, dass du da bist. Komm, wir suchen uns einen Tisch.“

„Hier ist einer frei.“ Charity deutete auf einen Tisch direkt neben dem geheimnisvollen Mann.

Doch aus unerfindlichen Gründen wollte Julia nicht, dass er ihr Gesprächsthema – ihre Hochzeit – mitbekam. Eilig lotste sie Charity an einen anderen Tisch und winkte der Kellnerin.

Aus den Augenwinkeln heraus sah sie, wie der Mann sich erhob. Ihr Herz klopfte wild. Kam er zu ihr herüber?

Er drehte sich um und verschwand in der Menge.

Jetzt würde sie niemals sicher wissen, ob der Mann wirklich Tanner war. Plötzlich verspürte sie den Wunsch, zu dem alten Wohnwagenpark zu fahren, wo er zuletzt gewohnt hatte, und nach ihm zu suchen. Sie hatte Tanner Caldwell nie ganz aus ihren Erinnerungen verbannen können.

Als sie siebzehn war, hatten sich all ihre Fantasien um ihn gedreht. In ihren Träumen war er ihr Romeo auf dem Motorrad gewesen, und sie seine Julia. Doch die sozialen Barrieren zwischen ihnen erwiesen sich als unüberwindbar. Sie waren sich niemals nahegekommen, denn das hätte ihren Ruf gefährdet. Heute Abend allerdings wäre sie bereit gewesen, diesen Ruf auf leichtsinnige Weise zu riskieren.

Plötzlich fühlte sie sich total fehl am Platz. Was für eine dumme Idee, in diesem Aufzug allein auszugehen. Sie kam sich albern vor in ihrem aufreizenden Minirock und den leuchtend rot geschminkten Lippen.

„Julia?“ Charity berührte ihre Hand. „Ist alles in Ordnung?“

„Aber ja. Wahrscheinlich habe ich Bammel vor der Hochzeit und stehe deshalb irgendwie neben mir.“

„Jede Frau hat das Recht auf eine wilde Nacht … und ein oder zwei kleine Geheimnisse.“

Julia lächelte. Sie wusste, Charity sprach aus eigener Erfahrung. Ihr Geheimnis war der Name des Vaters ihres mittlerweile sieben Jahre alten Sohnes Donnie. Sie hatte ihn nie preisgegeben. Julia bewunderte ihre Freundin wegen ihres starken Charakters. Charity würde nie einen Mann heiraten, wenn sie sich über ihre Gefühle im Unklaren wäre.

„Wie geht es Donnie?“

„Er ist ein Energiebündel wie eh und je“, antwortete Charity liebevoll.

„Du musst unbedingt einmal mit ihm vorbeikommen. Ich bringe ihm das Reiten bei.“ Julia hatte nicht nur einige preisgekrönte Pferde, sondern auch mehrere lammfromme Stuten im Stall, die für Reitstunden zur Verfügung standen. Einmal im Monat lud sie Kinder einer Behindertenschule auf die Ranch ein. Die Beschäftigung mit den Pferden machte den Kleinen großen Spaß.

Als Julia an die süßen, unschuldigen Kindergesichter dachte, fiel ihr wieder der Grund ihres Treffens ein – ihre Hochzeit mit Randall. Mit dem Bankkredit, den sie danach erhielt, konnte sie einen großen Teil der Schulden bezahlen, die Pferde behalten und weiterhin anderen Menschen eine Freude machen.

Plötzlich schämte sie sich. Warum war sie in diesen Club gegangen? Wie hatte sie nur dem Wunsch nachgeben können, auszubrechen und ihren wilden Fantasien freien Lauf zu lassen? Sie wusste doch, was von ihr erwartet wurde und was sie zu tun hatte.

„Ich werde gern auf dein Angebot zurückkommen“, erwiderte Charity lächelnd.

„Zum Thema.“ Julia nahm die Flasche und schüttete das Bier in ihr Glas. Sie bemühte sich, in kleinen, wohlerzogenen Schlucken zu trinken. Doch die hastigen Bewegungen verrieten ihre Verzweiflung. „Hier hast du eine Liste der Familienmitglieder. Du musst sie alle mindestens einmal vor die Linse bekommen.“

Julia leerte ihr Glas. Sie würde mit einem ziemlichen Kater an ihrem Hochzeitsmorgen aufwachen – und mit dem Gedanken an einen anderen Mann.

Tanner wusste genau, dass er sich selbst quälte. Aber nachdem er die Heiratsanzeige in den Zeitungen gelesen hatte, hatte er einfach kommen müssen. Julia Grazer heiratete einen Bankier. Diese Hochzeit schien ein wichtiges gesellschaftliches Ereignis zu sein. Immerhin erschien die Anzeige in jeder großen Zeitung zwischen Los Angeles und San Francisco.

Niemals hätte er erwartet, sie bei Gatlin’s zu treffen. Und noch nie hatte er eine Braut am Vorabend ihrer Hochzeit in solch einem Aufzug gesehen. Wie sie ihn mitten in der überfüllten Bar mit den Augen zu verführen versuchte …

Die Leute würden darüber reden. Tanner machte das nichts aus, aber er wusste, dass Julia anders war. Vor zehn Jahren war es genau dieser Tratsch gewesen, der zwischen ihnen gestanden hatte. Zum hundertsten Male fragte er sich, warum er eigentlich gekommen war. Die Antwort war einfach: Es war die unbeherrschbare Sehnsucht nach einer für ihn unerreichbaren Frau.

Julias Familie hatte ihn stets abgelehnt. Er hatte weder den richtigen Namen noch den richtigen Titel und schon gar nicht das Geld, um in ihren Kreisen akzeptiert zu werden. Doch über all die Jahre hinweg hatte er sie nie ganz vergessen können und sich ständig über sie auf dem Laufenden gehalten.

Welche Ironie des Schicksals, dachte er bitter. Jetzt, wo er Julia ebenbürtig war, war es zu spät. Schon morgen heiratete sie einen anderen Mann.

Aber er hatte sie einfach noch einmal sehen müssen. Er wollte wissen, ob er sich noch immer so zu ihr hingezogen fühlte wie damals. Und er musste sich eingestehen, dass seine unerfüllte Sehnsucht stärker war als je zuvor.

Komm schon, Mann, sagte er sich. Es hat keinen Zweck. Er schwang sich auf seine Harley und wollte die Maschine gerade starten, als ihm zwei plump aussehende Burschen auffielen. Sie benahmen sich, als ob sie etwas zu verbergen hätten. Durch seinen Job als Sicherheitsexperte hatte er gelernt, Situationen richtig einzuschätzen. Und diese beiden Jungs führten etwas im Schilde, das sah er genau.

Sie kamen näher und stellten sich fast neben sein Motorrad, beachteten ihn aber nicht.

„Ich sage dir, die Sache lohnt sich. Bei der Alten steckt richtig Kohle dahinter“, sagte der kleinere der beiden. Er war fast kahlköpfig. Die wenigen Haarsträhnen, die ihm geblieben waren, trug er quer über den Kopf gekämmt.

„Dann lass es uns doch heute Abend noch erledigen“, schlug der andere vor. Er war älter als sein Gefährte, sah aus wie ein in Ehren ergrauter Hippie und trug einen stattlichen Bierbauch vor sich her.

„Dummkopf. Hast du vergessen, dass der Boss sich das Geschehen vor dem richtigen Publikum wünscht?“ Der Glatzkopf rollte mit den Augen. „Wir brauchen die feine Gesellschaft im Hintergrund. Das hier ist nicht gerade der Parkplatz des Golfclubs. Wir müssen es vor der Kirche machen. Hier, nimm das.“ Er gab ihm einen Zettel. Dann nahm er ihn am Arm und steuerte auf einen klapprigen VW-Bus zu.

Tanner konnte das Gespräch der beiden nicht weiterverfolgen, dazu waren sie nun zu weit weg. Trotzdem war er beunruhigt. Kirche, Golfclub und Kohle? Den einzigen Namen, den er damit in Verbindung bringen konnte, war Julia Grazer. Und wenn sie in Gefahr war, musste er seinen Stolz vergessen und noch eine Weile bleiben, zumindest solange, bis er seinen Verdacht dem Sheriff mitteilen konnte. Wenn allerdings noch der alte Brockner im Amt sein sollte, würden seine Worte nicht viel Beachtung finden.

Der Name Caldwell war nicht sehr angesehen in der Stadt – denn es war Tanners Vater gewesen, der in Grazers Weingärten Feuer gelegt hatte.

2. KAPITEL

Julia fühlte sich ein wenig wie ein Gast auf ihrer eigenen Hochzeit. Ihre Brautjungfern drängten sich vor dem Spiegel und waren ausschließlich mit ihrem Make-up beschäftigt. Es war nicht viel Platz in dem kleinen Hinterzimmer der Sonntagsschule, die in einem Seitenflügel der Kirche untergebracht war.

Julia war zum Heulen zumute. Sie fühlte sich allein gelassen vor diesem Ereignis, das ihr ganzes Leben verändern würde. Außerdem war es unerträglich heiß. Trotz Klimaanlage klebte der weiche Satinstoff ihres Kleides schon jetzt auf der Haut. Pfarrer Lewis hatte ihnen diesen kleinen Raum zugewiesen, weil das Grüne Zimmer, das normalerweise der Braut und ihren Jungfern vorbehalten war, nach einer Sitzung am Abend zuvor noch nicht aufgeräumt worden war.

Julia seufzte. In einem schlimmeren Zustand als diese Abstellkammer konnte das Grüne Zimmer gar nicht sein. Verärgert schaute sie auf die mit Zeitungspapier verklebten Fensterscheiben. Einen Augenblick lang glaubte sie, durch einen Spalt das Gesicht eines Mannes zu sehen. Unsinn, dachte sie. Ich bin einfach überdreht. Sie rieb sich die Schläfen. So hatte sie sich ihren Hochzeitstag nicht vorgestellt.

Warum eigentlich waren ihre Eltern nicht bei ihr? Schließlich waren sie es gewesen, die auf eine baldige Heirat gedrängt hatten. Konnten sie ihr jetzt nicht wenigstens beistehen, damit sie ruhiger wurde? Doch ihr Vater hatte behauptet, er müsse noch einige Kleinigkeiten regeln, und ihre Mutter begrüßte die Gäste vor der Kirche.

Julia glaubte zu ersticken. Sie nahm ihren Schleier, das kleine Täschchen und das Blumenbouquet und verließ den Raum. Irgendwo musste Charity Arden sein. Ihr war nach einem vertrauten Gesicht zumute.

Sie legte den langen Schleier über den Arm, raffte ihr Kleid zusammen und trat hinaus in die Halle. Hoffentlich bemerkte sie niemand! Durch eine Seitentür konnte sie in das Kirchenschiff sehen. Die kleine Kirche quoll über vor Gästen, vornehmlich aus der feinen Gesellschaft. Randall hatte auf eine große, pompöse Feier bestanden.

Eine solche Hochzeit konnte sich Julias Vater eigentlich gar nicht leisten. Doch Maynard Grazer war bedacht darauf, den Schein zu wahren. Julia konnte nur hoffen, dass in Grazer’s Corners niemand herausfand, dass ihr Vater am Rand des finanziellen Ruins stand.

Sie entdeckte Charity in einer Gruppe von Gästen. Wie konnte sie sie nur auf sich aufmerksam machen, ohne dass die anderen sie bemerkten? Plötzlich öffnete sich eine Seitentür. Wahrscheinlich hatte jemand den falschen Eingang genommen.

„Sie haben sich wohl in der Tür geirrt“, meinte Julia, als ein kleiner, fast kahlköpfiger Mann eintrat.

Hinter ihm tauchte ein zweiter Mann auf, ein alternder Hippie, der Hosenträger über seinem dicken Bauch trug.

Wer sind denn die beiden? fragte sich Julia verwundert. Sie mussten von Randalls Familie eingeladen worden sein.

„Wir haben schon die richtige Tür gefunden, mein Mädchen.“ Der Dicke mit dem grauen Pferdeschwanz packte Julia am Arm und drängte sie zur Tür.

Irgendetwas stimmt hier nicht, sagte sie sich. Alles schien ganz normal zu sein – ein Duft von Rosen und Gardenien lag in der Luft, die Orgel spielte laut, und die letzten Gäste huschten auf ihre Plätze. Und doch war etwas faul.

„Warten Sie. Was soll das?“, fragte sie in einem Ton, den sie sonst nur gegenüber widerspenstigen Vierbeinern anzuschlagen pflegte.

„Schnauze. Wir haben unsere Anordnungen.“ Der Kerl zog sie hinter sich her.

„Welche Anordnungen?“ Julia versuchte sich loszureißen, doch der Mann zerrte sie weiter. „Daddy!“ Sie versuchte, die Füße in den Boden zu stemmen, doch mit ihren hohen Absätzen fand sie keinen Halt. Der Schleier glitt ihr aus der Hand und fiel mit der Tasche zu Boden.

„Schluss jetzt. Wenn du Ruhe gibst, wird dir nichts passieren, mein Täubchen.“

„Ich denke nicht daran, du Mistkerl!“ Wieder schrie sie um Hilfe, doch die Orgel übertönte sie. Wo, zum Teufel, war ihr Vater? Wo war Randall? Wieso hörte er sie nicht? Spürte er denn nicht, dass sie in Schwierigkeiten war? Als ihr zukünftiger Ehemann sollte er sie doch beschützen!

Sie versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren, und klammerte sich an den Türrahmen, damit die Kerle sie nicht weiter mit sich ziehen konnten. Ihr Brautstrauß wurde an die Wand gequetscht. Sie sah, wie einige zerdrückte Blütenblätter zu Boden fielen. Plötzlich kam Charity um die Ecke.

„Bleib, wo du bist, Süße“, rief ihr der Kahlköpfige warnend zu. „Halt die Klappe, dann wird niemandem etwas geschehen.“

Julia erschrak, als sie in seinem Hosenbund den Knauf einer Pistole erblickte. Sie nickte Charity fast unmerklich zu. Ihre Freundin verstand sie sofort und blieb stehen.

Die Sonne blendete Julia, als sie von den Kerlen ins Freie geschoben wurde. Plötzlich war aus der Ferne ein tiefes, grummelndes Geräusch zu hören. Für eine Sekunde lockerte sich der Griff um Julias Arm. Sie riss sich los, trat dem Dicken mit ihrem spitzen Absatz heftig auf den Fuß und rammte ihm gleichzeitig den Ellbogen in den Bauch. Er stolperte, verlor das Gleichgewicht und fiel die Stufen hinunter. Fast hätte er seinen Kumpan mit zu Boden gerissen, doch der sprang gerade noch zur Seite. Dabei fiel ein Zettel aus seiner Hand. Geistesgegenwärtig hob Julia das Papier auf. Sie wollte wissen, wer diese Komiker waren.

Das Geräusch wurde lauter. Es war das tiefe Blubbern einer Harley. Das Motorrad hielt direkt auf Julia zu, doch sie bewegte sich nicht. Die beiden Kerle rappelten sich auf und flüchteten hinter einen Busch. Im letzten Augenblick riss der Fahrer die Maschine herum und brachte sie nur wenige Zentimeter vor Julia zum Stehen.

Ihr stockte der Atem. Die dichten, dunklen Haare, die fast so lang wie ihre waren, die kräftige, männliche Figur, das markante Gesicht mit den glühenden Augen …

Kein Zweifel – es war Tanner Caldwell.

„Steig auf, Partygirl.“

Julia war wie gelähmt. Ihr Herz raste. Einige Gäste drängten sich, von dem Lärm angelockt, in der Tür. Der kleine Kahlköpfige griff nach der Pistole in seinem Hosenbund.

„Du kannst mit mir gehen – oder mit ihnen.“

Seine Stimme war tief, rau und ungeduldig. Doch in seinen Augen lagen Ruhe und Gelassenheit. Das muss irgendein bizarrer Traum sein, dachte Julia. Doch es war tatsächlich Tanner, der vor ihr stand, und auch die beiden Typen, die drohend auf sie zukamen, waren durchaus real. Die verblüfft dreinschauenden Hochzeitsgäste waren zu weit entfernt, um ihr zu Hilfe zu kommen. Blitzschnell traf sie ihre Entscheidung. Sie hatte gar keine andere Wahl.

Sie schleuderte ihren ramponierten Brautstrauß über die Schulter und raffte die Röcke.

Ohne sich um die herbeieilenden Gäste zu kümmern, half Tanner Julia auf den Sozius.

„Pass bloß auf, dass dein Kleid nicht in die Speichen gerät.“ Er fischte eine Sonnenbrille aus der Brusttasche und gab Gas. Die Harley heulte auf.

Autor

Mindy Neff
Mindy Neff stammt ursprünglich aus Louisiana, dem Süden der USA, lebt aber jetzt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern im sonnigen Kalifornien. Das Wichtigste im Leben sind ihr Familie, Freunde, schreiben und lesen. Wenn sie nicht an einer Romance arbeitet, dann kümmert sie sich um die Buchhaltung der Baufirma...
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