Küss mich, geliebte Lügnerin!

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Bei Scarlets sexy Anblick muss Dr. Luke Edwards sogleich an heiße Küsse denken. Dabei hat ihn das berühmte Partygirl nach einem One-Night-Stand schamlos hintergangen! Doch als er sie jetzt vor den Paparazzi versteckt, droht er ihren Reizen trotz allem zu erliegen …


  • Erscheinungstag 23.01.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505345
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Neuigkeiten einfach zu ignorieren, war auch keine Lösung.

Daher schaltete Luke Edwards, nachdem er sich ein Glas Grapefruitsaft eingeschenkt hatte, den Fernseher ein und hörte die Nachrichten, während er sich für die Arbeit fertigmachte.

Es war kurz nach fünf Uhr morgens an einem Montag.

Nach den üblichen düsteren Meldungen aus der ganzen Welt ging es ohne Überleitung weiter mit der Nachricht, dass Anyas Konzert am Samstagabend, das letzte ihrer ausverkauften Welttournee, ein voller Erfolg gewesen war und sie heute zurück in die Staaten fliegen würde. Dann fuhr der Sprecher mit weiterem Promiklatsch fort.

Luke schaltete den Fernseher aus. Obwohl er noch eine halbe Stunde Zeit hatte, war er ruhelos und beschloss, direkt zur Arbeit zu fahren. Er ging nach oben, suchte eine Krawatte aus und steckte sie sich in die Jackentasche. Auf dem Weg nach draußen schnappte er sich seine Schlüssel, sah sich im Spiegel an und fragte sich, ob er sich noch rasieren sollte.

Nein.

Sein glattes dunkles Haar hatte einen Friseurbesuch nötig, aber das konnte bis nächste Woche warten.

Es war noch dunkel draußen, als sich das Garagentor öffnete und Luke in einen nasskalten Novembermorgen entließ. Er fuhr durch das verschlafene, menschenleere Dorf in Richtung einer der Zufahrtsstraßen nach London. Im Londoner Stadtzentrum war er als Facharzt in der immer gut besuchten Notaufnahme eines großen Lehrkrankenhauses tätig.

Viele verstanden nicht, warum er so weit draußen wohnte, aber für den Fall, dass er Bereitschaft hatte oder erst spät von der Arbeit kam, stand ihm ein Apartment im Krankenhaus zur Verfügung.

Luke wohnte gern in dem Dorf zwischen Oxford, wo seine Familie lebte, und London, wo er arbeitete. Die scharfe Trennung zwischen Arbeit und Privatleben kam ihm sehr entgegen. Die Leute im Dorf waren freundlich, aber nicht aufdringlich. Er lebte jetzt seit fast einem Jahr dort und lernte die Einheimischen nach und nach in seinem eigenen Tempo kennen. Luke wusste, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Oder auch nicht.

Alles hing davon ab, was heute geschehen würde.

Es war eine lange Fahrt, und es ging wegen des Verkehrs nur schleppend voran, aber daran war er schon gewöhnt. Oft hörte er Musik oder ein Hörbuch, aber an diesem Morgen schaltete er das Radio ein. Er musste wissen, ob es etwas Neues gab.

Die ganzen letzten vier Tage war Luke unruhig und nervös gewesen, hatte aber alles darangesetzt, es sich nicht anmerken zu lassen.

Auf der M25 gab es ein riesiges Verkehrschaos, hörte er. Und er stand mittendrin.

Kurz vor sieben Uhr ging endlich die Sonne auf, das Krankenhaus kam in Sicht, und ein neuer Tag war angebrochen. Er fuhr zur Einfahrt der Tiefgarage, wo er einen reservierten Parkplatz hatte, und wollte gerade das Radio ausschalten, weil der Empfang schlecht wurde, als das laufende Lied unterbrochen wurde.

„Unbestätigten Berichten zufolge wurde Anya …“, begann der Sprecher.

Luke bremste, hielt den gesamten Verkehr auf und hörte sich den kurzen Bericht an, bevor er in die Garage einbog. Er fuhr auf seinen Parkplatz, blieb aber noch kurz im Auto sitzen, um sich zu sammeln.

Er hatte den richtigen Riecher gehabt. Heute war tatsächlich der Tag, allerdings nicht aus dem Grund, den er sich erhofft hatte.

Luke stieg aus und fuhr mit dem Aufzug ins Krankenhaus hoch.

Die Sicherheitsleute rannten schon zur Notaufnahme, aber Luke weigerte sich, besonders schnell zu laufen. Nur die Krawatte band er sich noch unterwegs um.

„Morgen“, sagte Luke zu Geoff, einem der Sicherheitsmänner, als dieser an ihm vorbeihastete. Er sagte nicht „Guten Morgen“, denn gut war schon lange nichts mehr.

„Hast du gehört, wer reinkommt?“, fragte Geoff, statt den Gruß zu erwidern. Er verlangsamte seinen Schritt und lief neben Luke her.

„Habe ich.“ Luke nickte. „Kam gerade im Radio. Kannst du Verstärkung anfordern und den Sichtschutz aufstellen? Wie lange haben wir noch, bis sie ankommt?“

„Zehn Minuten.“

Luke nickte dankend und ging in die Notaufnahme.

„Gott sei Dank bist du früher hier.“ Paul, sein Assistenzarzt, kam direkt auf ihn zu.

Paul war sichtlich froh, dass sein Chef da war. Luke Edwards verkörperte die Gelassenheit, die die Abteilung heute brauchen würde. Er ließ sich nie aus der Ruhe bringen.

„Anya ist auf dem Weg“, erklärte Paul. „Kreislaufstillstand. Hier wird gleich die Hölle los sein.“

Luke sah das anders. Ja, es würde gleich dramatisch werden, aber solange er das Sagen hatte, würde trotzdem alles in geordneten Bahnen verlaufen. „Was wissen wir?“, fragte er, als sie den Schockraum betraten, wo sich das Pflegepersonal bereits vorbereitete.

„Nichts weiter“, antwortete Paul.

„Hast du einen Anästhesisten gerufen?“

„Der diensthabende ist im OP. David ist noch da, aber der ist gerade auf der Kinderintensivstation beschäftigt. Er kommt, so bald er kann“, antwortete Paul. Luke begann, die Medikamente zu prüfen, die Barbara, eine erfahrene Krankenschwester, bereitlegte. „Ich wollte gerade mal schauen, ob die Zentrale herumtelefonieren könnte …“

„Nicht nötig.“ Luke schüttelte den Kopf. „Wir kommen klar, bis David hier ist.“

„Weißt du überhaupt, wer Anya ist?“, fragte Paul, da Luke sich offenbar gar nicht davon irritieren ließ, wer da auf dem Weg in ihre Notaufnahme war und dass kein Anästhesist zur Stelle war.

„Ja.“

Oh ja, Luke kannte sie. Besser als die meisten.

Anya war seit vierzig Jahren, seit sie zehn Jahre alt war, weltberühmt, und nach dem heutigen Tag würde sie sogar noch berühmter sein. Besonders, wenn sie sterben würde.

„Am besten, du sagst der Pflegedirektorin Bescheid“, meinte Luke.

Paul nickte besorgt. „Habe ich schon.“

„Gut. Ich schaue mal nach, ob die Sichtschutzwände stehen.“ Luke war kaum draußen, da kam Heather, die Pflegedirektorin, auf ihn zugerannt.

„Wissen wir, was sie genommen hat?“, war ihre erste Frage.

„Wir wissen nicht, ob sie überhaupt etwas genommen hat“, antwortete Luke scharf, und Heather errötete. „Erst einmal sollten wir uns darum kümmern, dass der Sichtschutz steht, damit die Kameras keine Chance haben.“

Die Reporter waren schon auf dem Weg. Er konnte einen Hubschrauber über dem Krankenhaus kreisen hören, doch die Ambulanzeinfahrt war zum Glück überdacht.

Jetzt ging es darum, Anyas Privatsphäre zu schützen. Ob sie das wollte oder nicht.

Paul kam heraus und hatte neue Informationen für sie. „Die Leitstelle hat gerade angerufen. Eine nicht näher bezeichnete Überdosis …“

„Na, wer hätte das gedacht.“ Heathers Ton klang sarkastisch.

„Wenn Sie helfen wollen …“ Luke hatte genug Spekulationen gehört, noch bevor die Patientin überhaupt eingetroffen war. Er drehte sich um und sagte Heather seine Meinung ins Gesicht: „… dann lassen Sie Ihre Vorurteile draußen. Wenn Sie das nicht können, gehen Sie bitte.“ Das meinte er ernst.

Luke hatte schon vor langer Zeit gelernt, nicht zu urteilen und seine Gefühle für sich zu behalten. Heute würde ihm das allerdings viel abverlangen.

„Ich wollte nur …“, setzte Heather an.

„Lassen sie es einfach“, unterbrach Luke sie.

Heather schaute zu Paul, und die beiden tauschten einen Blick aus. Luke arbeitete jetzt seit etwas mehr als zwei Jahren im Royal. Er war nie der Fröhlichste, aber er raunzte nur selten jemanden an. Heute schien seine Stimmung besonders schlecht zu sein.

Der Krankenwagen traf ein. Luke öffnete die Hintertüren und sah, dass ein Notfallsanitäter bei Anya eine Herzdruckmassage durchführte, während ein sonnengebräunter Mann in einem starken kalifornischen Akzent Kommandos brüllte. Erst auf Nachfrage informiert er Luke, dass er Vince hieße und Anyas Leibarzt sei.

Das wusste Luke bereits.

Und er hasste diesen Mann mehr als alles andere auf der Welt.

„Was ist passiert?“, fragte Luke ihn, während er einen Kittel und Handschuhe anzog und die Notfallsanitäter die bewusstlose Frau in die Notaufnahme fuhren.

„Sie muss ein paar Schlaftabletten genommen haben“, sagte Vince.

Die Antwort war sehr vage, aber da sie keine Zeit verlieren durften, ignorierte Luke ihn vorerst. Stattdessen hörte er Albert zu, einem der Notfallsanitäter, der wesentlich mehr Informationen mitzuteilen hatte.

„Ihre Tochter hat sie um sechs Uhr morgens bewusstlos aufgefunden“, berichtete Albert, während sie Anya auf ein Bett legten.

„Halb bewusstlos“, korrigierte Vince.

„Die Tochter, Scarlet, ist völlig aufgelöst“, fuhr Albert fort. „Es war schwer, irgendwelche Informationen aus ihr herauszubekommen. Offenbar hatte Anya ein Opioid-Antidot bekommen, sich dann aber erbrochen, woraufhin Atemstillstand und anschließend Kreislaufstillstand eintraten.“

„Was hat sie genommen?“, fragte Luke Vince, aber der schien weiterhin nicht gewillt, klare Aussagen zu treffen.

„Wir wissen es nicht genau.“

Albert warf Luke einen Blick zu, der ihm verriet, dass es die Notfallsanitäter genauso schwer gehabt hatten, Genaueres aus Vince herauszubekommen.

Paul übernahm die Herzdruckmassage, während Albert die restlichen Informationen weitergab. „Es waren keine Medikamente oder Spritzen zu sehen, und sie war vor ihrer Ankunft intubiert worden.“

Alles klar, Vince hat also aufgeräumt, dachte Luke. Er sah zu Vince hinüber, während er Anyas Brustkorb abhörte. „Welche Medikamente nimmt sie?“, fragte er.

Vince nannte eine Reihe von Beruhigungsmitteln und leichten Schlaftabletten.

„Warum wurden dann keine Verpackungen gefunden?“, hakte Luke nach.

„Ich gebe Anya alle ihre Medikamente persönlich“, antwortete Vince kühl. „Außerdem habe ich ihr eine Reihe von Nahrungsergänzungsmitteln verschrieben …“

„Zu denen kommen wir später“, blaffte Luke, während er begann, Medikamente zu verabreichen, die die Wirkung dessen, was Anya genommen hatte, aufheben könnten. „Irgendwelche Opiate?“

„Nur wenn ihre Rückenschmerzen schlimm werden.“

„Fordere bitte einen Tox-Screen an“, sagte Luke zu Barbara, die Blut entnahm, während er Anya abhörte. „Ihr Brustkorb klingt schlimm.“ Luke fürchtete, dass der Beatmungstubus blockiert sein könnte. „Ich werde neu intubieren.“ Er war nicht überzeugt, dass ein Tubus der richtigen Größe eingesetzt worden war, auch nicht, dass der Schlauch frei war, schließlich hatte Anya sich erbrochen.

„Passen Sie auf die Stimmbänder auf“, warnte Vince.

Die milliardenschweren Stimmbänder!

Luke blickte nicht auf, aber ihm war deutlich anzusehen, was er von diesem unnötigen Hinweis hielt. Er machte unbeirrt weiter und quittierte die Bemerkung des ungebetenen Gastes in seinem Schockraum mit einem einzigen Wort: „Raus!“

Doch der Promiarzt blieb.

Luke wiederholte seine Anweisung, dieses Mal ausgeschmückt mit ein paar Kraftausdrücken, und alle zuckten zusammen, denn Luke zeigte nur selten Gefühle. Er fluchte nie, wurde nicht einmal laut. Das hatte er nicht nötig. Doch jetzt entschied er sich bewusst dazu. Keiner der Anwesenden konnte ahnen, wie sehr er diesen Mann verabscheute.

Luke hörte Anya noch einmal ab, um sich zu vergewissern, dass der Tubus richtig saß und dass die Luft besser fließen konnte. Dann nahm er sein Stethoskop wieder weg und bat Vince, zu wiederholen, was er gerade vor sich hin gemurmelt hatte.

„Ich werde Anya nicht allein lassen“, sagte der Mann.

„Oh doch, das werden Sie“, antwortete Luke. „Wenn Sie mir nicht sofort sagen, was genau Anya genommen hat und warum Sie sie erst jetzt ins Krankenhaus gebracht haben, verlassen Sie meinen Raum auf der Stelle.“

Leichtsinnigerweise tat Vince das nicht.

In diesem Moment kam David, der Anästhesist, und übernahm die Kontrolle von Anyas Atemwegen. Luke forderte ein weiteres Opioid-Antidot an, verabreichte es Anya intravenös und wartete darauf, dass es Wirkung zeigen würde.

„Können wir den Sicherheitsdienst rufen?“, fragte Luke.

„Den Sicherheitsdienst?“, fragte Heather nach. „Die haben draußen genug zu tun. Wozu brauchen wir den hier?“

„Ich will ihn hier raus haben“, antwortete Luke und drehte sich kurz zu dem ungebetenen Besucher in seiner Notaufnahme um, der keine Hilfe war und ihn ablenkte, aber sich noch immer weigerte, zu gehen.

Luke trat nach einem Metallwagen. Der krachte gegen eine Wand und vermittelte eine ganz deutliche Botschaft: Er würde dafür sorgen, dass Anyas Leibarzt den Raum verließ, und dabei würde er nicht zimperlich sein.

Paul hatte also doch recht gehabt – es würde die Hölle los sein, nur nicht aus den Gründen, die alle erwartet hatten.

„Sie kotzen mich an!“, schrie Luke, und Vince war endlich schlau genug, zu gehen.

Alle schauten sich an, aber Luke sagte nichts weiter. Er strengte sich an, sich ganz auf Anya zu konzentrieren, die dem Tod näher war als dem Leben.

Die Wiederbelebung dauerte lange. Die Wirkung der Drogen wurde aufgehoben, und ihr Herz begann wieder zu schlagen, aber Erbrochenes war in die Atemwege eingedrungen. Es dauerte über eine Stunde, bis Anya stabil war. Weitere fünfzehn Minuten dauerte es, bevor sie das Bewusstsein wiedererlangte und sich gegen den Tubus wehrte.

„Es ist alles gut, Anya“, sagte Luke und atmete tief aus, denn eine Zeit lang hatte er nicht daran geglaubt. „Sie sind im Krankenhaus.“

Anya wehrte sich und war verwirrt, aber das war gut – sie konnte immerhin alle Gliedmaßen bewegen, und Luke fing kurz ihren erschrockenen Blick ein, bevor David sie in ein künstliches Koma versetzte.

„Sie muss auf die Intensivstation“, sagte David und blickte zu Heather, die gerade von einem längeren Gespräch mit der Verwaltung zurückkam. „Können Sie dort anrufen und fragen, wie lange die brauchen? Der Flur muss dann rechtzeitig frei sein.“

Heather nickte. „Ich kümmere mich sofort darum. Luke, reden Sie mit der Presse?“

Luke ärgerte sich darüber, dass man bei dieser Patientin alle üblichen Regeln über Bord zu werfen schien. Er war sich ziemlich sicher, dass in der Nacht einige Fälle von Überdosis in die Notaufnahme gekommen waren. Dass bei Anya alles anders gehandhabt wurde, nur weil sie berühmt war, war ihm zuwider.

„Ich rede zuerst mit den Angehörigen“, entgegnete Luke auf Heathers Bitte.

Zumindest hatte Heather die Güte, rot anzulaufen. „Ich habe sie alle in den Personalraum gesteckt.“

„Wen?“

„Ihre Managerin, den Gesangslehrer, ihren Arzt, ihre Bodyguards. Scarlet ist auch da.“

„Scarlet ist ihre Tochter“, fügte Paul hinzu, denn wenn es nicht gerade um Rugby oder Medizin ging, kannte sich Luke meistens nicht aus.

„Okay, ich rede gleich mit ihr“, sagte Luke, während er Handschuhe und Kittel auszog und in den Mülleimer warf.

Alle Blicke in der Notaufnahme waren auf ihn gerichtet, als er aus dem Schockraum kam. Jeder wollte wissen, was los war und wie es Anya ging. Doch Luke ging wortlos weiter.

Im Personalraum fand er Anyas gesamtes Gefolge vor. Alle waren mit ihren Handys beschäftigt. Als Luke eintreten wollte, um mit der Tochter zu sprechen, forderte ihn einer von ihnen doch tatsächlich auf, sich auszuweisen.

„Sie müssen sich hier ausweisen“, entgegnete Luke und warnte damit alle Anwesenden, dass mit ihm nicht zu spaßen war.

„Wie geht es ihr?“, fragte eine aufgelöste Frau.

„Wir haben schon seit über einer halben Stunde nichts mehr gehört“, schimpfte jemand anderes.

Luke ignorierte sie einfach und betrat den überfüllten Personalraum. „Ich bin Luke Edwards, ich habe Anya behandelt. Ich möchte mit den engsten Angehörigen sprechen.“

Und dort, inmitten all der anderen, war sie.

Scarlet.

Immer noch wunderschön, dachte Luke.

Da saß sie, mit zitternden Knien, das Gesicht in den Händen vergraben. Selbst ihre schwarze Lockenmähne bebte. Sie schien nichts um sich herum mitzubekommen, doch dann blickte sie plötzlich auf, und ihr ohnehin schon blasses Gesicht wurde noch weißer, als sie ihn sah.

„Luke?“

„Luke Edwards“, sagte er, um nicht alle Anwesenden wissen zu lassen, was hier vor sich ging. „Ich habe Ihre Mutter behandelt. Sind noch andere Angehörige da?“

Scarlet schüttelte den Kopf und brachte mit Mühe zwei Worte heraus. „Nur ich.“

„Dann würde ich gern allein mit Ihnen sprechen.“

„Wir wollen auch wissen, was los ist!“, protestierte eine Frau. „Ich bin Sonia, Anyas Managerin.“

„Jetzt spreche ich erst einmal mit den Angehörigen.“

Luke machte deutlich, dass man mit ihm nicht zu diskutieren brauchte. Er war zwar groß und breitschultrig, doch einige der anwesenden Bodyguards waren deutlich kräftiger. Es waren mehr sein unerbittlicher Gesichtsausdruck und seine kühle Geringschätzung, die bewirkten, dass die Managerin zurücktrat.

Scarlet war völlig aufgelöst. Ihre Knie fühlten sich so weich an, dass sie kaum laufen konnte. Gleich würde sie erfahren, dass ihre Mutter tot war, da war sie sich ganz sicher.

„Hier entlang“, sagte Luke.

Sie gingen einen weiteren Korridor hinunter, und sie hätte seinen Arm gebrauchen können, aber er schritt zügig voran. Luke öffnete die Tür zu seinem Büro, und sie sah seinen düsteren Blick.

Anya war tot, ganz bestimmt.

Aber Luke war hier.

Sie betrat sein Büro. Das Erste, was ihr auffiel, war die Stille. Nach dem Chaos dieses Morgens wirkte sie regelrecht erschlagend. Zum ersten Mal, seit sie ihre Mutter gefunden hatte, war neben ihrer eigenen schnellen Atmung nur der Klang der Stille zu hören.

Den Moment, als sie das Hotelzimmer ihrer Mutter betreten hatte, würde sie nie vergessen.

„Mom?“

Sie hatte sich leise hineingeschlichen und ihre Mutter mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett liegen sehen.

„Mom?“

Scarlet hatte versucht, sie umzudrehen, war aber mit ihrer schmalen Statur nicht kräftig genug gewesen. Sie hatte um Hilfe geschrien, und kurz darauf war der schockierte Butler gekommen.

Seitdem war es ein einziges Chaos gewesen. Immer mehr Hotelmitarbeiter waren hinzugekommen. Vince, der Arzt ihrer Mutter, war in Hemd und Hose eingetroffen, und Scarlet konnte nicht verstehen, warum er sich die Zeit genommen hatte, sich ordentlich anzuziehen.

Sie hatte abseitsgestanden und schluchzend das Durcheinander beobachtet, bevor sie schließlich ihr Handy genommen und die britische Notrufnummer gewählt hatte. Sie hätte nicht anrufen sollen, hatte man ihr danach gesagt, es sei bereits eine Privatambulanz auf dem Weg.

Scarlet öffnete den Mund, um Luke nun die unvermeidliche Frage zu stellen. „Ist sie …“ Doch ihr Hals war trocken und kratzig, und es kam kein Wort heraus.

„Setz dich“, sagte Luke und schaltete die Lampe über seiner Tür ein, was bedeutete, dass er nicht gestört werden durfte.

Scarlet stand immer noch da.

Sie würde in die Hölle kommen für all das, was sie getan hatte. Nein, sie würde sogar zweimal in die Hölle kommen, denn statt zu fragen, wie es ihrer Mutter ging, statt ihn anzuflehen, ihr alles zu sagen, platzte sie mit dem heraus, was ihr gerade auf den Lippen lag. „Es tut mir leid …“

„Setz dich“, wiederholte Luke. Er hob die Hand zu ihrer Schulter, um sie zu seinem Schreibtisch zu führen, doch dann entschied er sich anders.

Stattdessen griff er nach ihrem Arm, drehte sie zu sich herum und zog sie fest an seine Brust. Für einen Moment gab es nur sie beide.

Da waren der Duft, den Scarlet vermisst hatte, der Körper, nach dem sie sich gesehnt hatte, und das Verständnis, das ihr vor Luke so noch niemand entgegengebracht hatte. Sie war sich sicher gewesen, dass sie seine Umarmung nie wieder spüren würde.

„Es tut mir so wahnsinnig leid“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme.

„Es ist in Ordnung, Scarlet.“ Diese tiefe, sanfte Stimme beruhigte sie. An Lukes Brust konnte sie sich so wunderbar anlehnen. Sein Atem auf ihrer Wange, seine Hand, die ihr durchs Haar strich – sie hätte nie gedacht, dass sie das noch einmal erleben würde. „Ich denke, sie kommt wieder in Ordnung“, sagte Luke.

Er sprach von ihrer Mutter.

Während sie um sie beide weinte, um ihre wunderschöne, schmerzliche Vergangenheit und all das, was sie verloren hatten.

2. KAPITEL

Besonnen, professionell und distanziert.

So hatte sich Luke gegenüber Scarlet verhalten wollen, als er sie über den Zustand ihrer Mutter in Kenntnis setzte. Den ganzen Weg vom Personalraum zu seinem Büro hatte er sich vorgemacht, dass er absolut in der Lage wäre, diesen Vorsatz einzuhalten.

Luke hatte schon vor langer Zeit gelernt, seine Gefühle beiseitezulassen – bei Patienten und deren Angehörigen und auch bei seinen eigenen Angehörigen.

Nur gegenüber Scarlet war ihm Objektivität nie ganz gelungen.

Besonnen, professionell und distanziert – so eine Haltung war das Letzte, das Scarlet jetzt brauchte, doch abgesehen davon hatte auch der Schock des Wiedersehens dafür gesorgt, dass er ohnehin nichts davon sein konnte.

Als er sie in den Arm nahm, brauchte er das genauso sehr wie Scarlet. In ihnen beiden war so viel Wut und Schmerz. Ihre traumatische Vergangenheit mochte unüberwindbar sein, doch jetzt musste er sich mit der Gegenwart auseinandersetzen.

Sie war hier. Nicht aus dem Grund, den er bevorzugt hätte – er hatte gehofft, sie würde sich vor ihrer Rückreise nach Amerika heute bei ihm melden. Aber sie war da, und Luke hielt sie fest, roch wieder ihr Haar und musste sich zusammenreißen, ihr die salzigen Tränen nicht wegzuküssen.

Er hatte ein paar Monate Zeit gehabt, um sich gedanklich auf ein mögliches Wiedersehen vorzubereiten. Seitdem Anyas Tournee durch Großbritannien Ende letzten Jahres angekündigt worden war, hatte er ständig daran gedacht, dass sich ihre Wege kreuzen könnten. Nachdem Anya mit ihrem Team in England gelandet war, hatte er sich immer wieder gefragt, ob Scarlet ihn anrufen würde, ob ihre gemeinsame Vergangenheit ihr genauso viel bedeutete wie ihm. Und seit sieben Uhr an diesem Morgen, als es hieß, Anya sei in einem Krankenwagen auf dem Weg ins Royal, musste er mit der Gewissheit fertigwerden, dass er Scarlet heute gegenübertreten würde.

Er hatte sich überlegt, wie er auf sie reagieren sollte, doch davon fiel ihm jetzt nichts mehr ein.

Scarlet hatte die Hände unter Lukes Jacke gesteckt, hielt ihn fest umschlungen und atmete tief seinen Duft ein.

Herb und männlich. Nach diesem Duft hatte sie sich gesehnt, sie hatte ihn nie vergessen. Wie konnte es sein, dass er sich noch immer genauso anfühlte? Wie konnten es, nach allem, was geschehen war, Lukes Arme sein, die sie aufrecht hielten?

Sie hatte gehofft, dass sie sich in England sehen würden, aber sie hatte mit harschen, vorwurfsvollen Worten gerechnet. Mit Worten, zu denen er jedes Recht hatte. Doch stattdessen umarmte er sie und ließ sie die grausame Welt für einen Moment vergessen.

Als sie im Personalraum gesessen und auf Neuigkeiten gewartet hatte, hatte sie den Lärm der Menschen um sich herum völlig ausgeblendet. Vince hatte versucht, mit ihr zu reden, ihr einzutrichtern, was sie sagen sollte, sie davon zu überzeugen, dass ihre Version der Ereignisse falsch war. Sonia, die Managerin ihrer Mutter, hatte von ihr wissen wollen, wo sie gestern gewesen war und warum sie sich den Auftritt ihrer Mutter nicht angesehen hatte.

Keiner von ihnen wusste von dem Streit, den sie am frühen Morgen mit ihrer Mutter gehabt hatte. Diesen Streit war sie im Kopf immer wieder durchgegangen, während sie sich bemüht hatte, alles andere auszublenden. Und dann, inmitten des ganzen Irrsinns, hatte sie Lukes tiefe, ruhige Stimme gehört.

Ihr rasendes Herz schien eine Sekunde lang auszusetzen.

Sie hatte zwar gewusst, dass Luke Arzt war, aber nicht, dass er in London arbeitete. Als sie sich kennenlernten, hatte er hier ein Vorstellungsgespräch gehabt, aber noch nicht genau gewusst, ob er die Stelle annehmen würde.

Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass Luke hier im Krankenhaus sein und höchstpersönlich um das Leben ihrer Mutter kämpfen könnte.

Als Scarlet zu ihm aufsah, traf sie der gleiche Blitz wie an jenem Abend, als sie den Klub betreten hatte und ihrer beider Welt sich für immer verändert hatte.

„Erzähl’s mir.“ Scarlet hielt Luke noch fester. Sie war noch nicht bereit, loszulassen. Wenn es schlechte Nachrichten gab, und damit rechnete sie, wollte sie sie in seiner Umarmung hören.

„Es geht ihr besser.“

Scarlet hielt den Atem an.

„Deine Mutter hat kurz die Augen geöffnet“, erklärte Luke. „Und sie hat sich gegen den Atemschlauch gewehrt. Das ist ein gutes Zeichen. Jetzt haben wir sie erst mal in ein künstliches Koma versetzt.“

„Wird sie sterben?“, fragte Scarlet.

„Ich glaube nicht, aber sie war sehr nah dran.“

„Ich weiß“, sagte Scarlet. „Ich habe den Krankenwagen gerufen.“

„Das war gut.“

„Du hast mir damals die Nummer gesagt.“

Sie griff ein Bruchstück ihrer gemeinsamen Zeit auf, und sie beide betrachteten es einen Moment lang. Ein kleiner Gesprächsfetzen, der, wäre er von jemand anderem gekommen, schnell wieder vergessen gewesen wäre, aber nun erinnerten sie sich beide ganz deutlich an diesen kurzen Augenblick.

Scarlet blickte auf, aber sie sah ihm nicht in die Augen.

Nie wieder würde sie Luke in die warmen schokoladenbraunen Augen schauen können. Dafür waren ihre Reue und die Scham zu groß. Stattdessen sah sie seine sexy unrasierte Wange und seine verführerischen Lippen an. Sie hatte seinen Mund auf ihrem gespürt, hatte sich seinen Küssen mit ganzer Seele hingegeben und geglaubt, ein neues Leben beginnen zu können …

Luke konnte ihren Blick fast auf seinen Lippen fühlen. Trotz allem, was passiert war, hätte er am liebsten den Kopf gesenkt und sie geküsst.

Doch diese Zeiten waren vorbei, und er musste sie loslassen. „Nimm Platz“, sagte er in seinem besten ärztlichen Ton.

Besonnen, professionell, distanziert.

Wenn er das hier richtig machen wollte, gab es keine andere Möglichkeit.

Scarlet blieb stehen, während Luke seine Jacke auszog, sie auf einen Stuhl warf und sich dann an seinen Schreibtisch setzte. Erst dann setzte sie sich auch.

„Erzähl mir, was passiert ist“, sagte er.

„Habe ich doch schon“, erwiderte Scarlet. „Ich habe einen Krankenwagen gerufen. Vince hatte Verstärkung angefordert, aber die brauchten ewig, und …“

„Scarlet“, unterbrach Luke sie. „Von Anfang an, bitte. Wo hast du deine Mutter vor heute Morgen zuletzt gesehen?“

„Gestern Abend. Es gab eine Party, um das Ende ihrer Tournee zu feiern, und …“ Scarlet zuckte mit den Schultern und verstummte.

„Und wie ging es ihr?“, fragte Luke.

„Ich war nicht bei der Party“, sagte Scarlet. „Ich habe sie dann später im Hotel gesehen.“

„Wann war das?“

„Etwa um Mitternacht.“

„Wie ging es ihr da?“

„Sie war müde.“

„Wer war der Letzte, der sie gesehen hat?“

„Das war ich“, sagt Scarlet. „Glaube ich.“

Autor

Carol Marinelli
Carol Marinelli wurde in England geboren. Gemeinsam mit ihren schottischen Eltern und den beiden Schwestern verbrachte sie viele glückliche Sommermonate in den Highlands. Nach der Schule besuchte Carol einen Sekretärinnenkurs und lernte dabei vor allem eines: Dass sie nie im Leben Sekretärin werden wollte! Also machte sie eine Ausbildung zur...
Mehr erfahren