Küss mich, schöner Fremder!

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Was für ein Zufall! Valerie muss ihr Haus renovieren lassen. Mac braucht einen Job und ein Dach über dem Kopf. Vom ersten Moment an sprühen die Funken zwischen Valerie und dem attraktiven Fremden, der so unverhofft vor ihrer Tür stand. Nach einem heißen Kuss und einer zärtlichen Massage ist Valerie kurz davor, ihr Herz an ihn zu verlieren. Doch dann beobachtet sie, wie er ihre Papiere durchsucht. Was hat er vor? Verbirgt er etwas vor ihr?


  • Erscheinungstag 09.10.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733727826
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Ein Paar Slingpumps von Chanel in der Hand und ein Kleid von Donna Karan über der Schulter, stand Valerie Bonnard vor ihrem geöffneten Schlafzimmerschrank und lauschte. Würde das leise Kratzen sich wiederholen? Fröstelnd sah sie zum Fenster hinüber. Da es draußen stürmte, war es vielleicht nur ein Zweig gewesen, der das Dach gestreift hatte. Was sollte es sonst sein? Sie war allein im Haus – oder etwa nicht?

Sie war allein. Punkt.

Valerie schluckte und starrte wieder auf die Schranktür. Man konnte sie nicht schließen, weil sich im ganzen Haus das Holz verzogen hatte. Alle Türen hingen leicht schief, und durch alle Fenster drang kalte Luft herein. Die Außentemperatur lag bei etwa sieben Grad plus, was in North Carolina für Mitte Januar nicht besonders kalt war. Aber durch den Wind und die Feuchtigkeit kam es ihr kälter vor. Und durch die Einsamkeit.

Valerie stand noch immer reglos da, als die Maus zum Vorschein kam, kurz innehielt und dann die Scheuerleiste entlanglief bis zu einem kleinen Loch in der Zimmerecke.

Das machte das Maß voll. Von Kummer, Wut und Hilflosigkeit übermannt, sank sie auf das altersschwache Eisenbett und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Ein paar Minuten später suchte sie schniefend in der Tasche ihrer Lederjeans nach einem Taschentuch. Als ob sich in einer schicken Designerhose etwas derart Praktisches finden ließe.

Erneut schniefend dachte sie, dass es nicht funktionierte. Was hatte sie bloß erwartet? Etwa, dass sich ihr Kummer wie von Zauberhand in Zuversicht verwandelte? Hatte sie wirklich geglaubt, sie müsste nur die zwei Tagen Autofahrt hinter sich bringen und das malerische Häuschen auf einer der Küste vorgelagerten Insel erreichen, damit ihr plötzlich ein Licht aufgehen und sie wissen würde, wer für den Ruin von „Bonnard Financial Consultants“ verantwortlich war, für die Demütigung ihres Vaters, seine Verhaftung und seinen vorzeitigen Tod?

Kommt Zeit, kommt Rat, hieß es so schön. Sie hatte nun schon zweieinhalb Monate Zeit gehabt, und sie fühlte sich noch kein bisschen klüger oder optimistischer.

Um auch räumlich Abstand zu gewinnen, war sie möglichst weit geflohen, zum einzigen Zufluchtsort, der ihr geblieben war. Mit dem Hab und Gut, das sich in ihren neuen preiswerten Gebrauchtwagen hatte verstauen lassen, war sie in einem Ort gelandet, der so klein war, dass es keine einzige Verkehrsampel gab. Wenigstens war sie so den entnervenden Anrufen entkommen, denn das Telefon im Haus war abgeschaltet, und ihr Handy schien hier in der Gegend nicht zu funktionieren.

Die Hälfte ihrer Garderobe konnte nicht gewaschen, sondern musste gereinigt werden, aber es gab auch keine Reinigung auf der Insel. Sich mit solch alltäglichen Problemen zu beschäftigen, hielt wenigstens andere Gedanken fern – Gedanken, die sie allzu sehr aufwühlten.

Nach dem Tod ihres Vaters hatte es sie ihre ganze Energie gekostet, seinen Nachlass zu regeln und den Haushalt aufzulösen. Zu ihrem größten Erstaunen war das schöne Haus, das die meiste Zeit ihres Lebens ihr Zuhause gewesen war, so hoch mit Hypotheken belastet, dass sie erleichtert war, als die Bank den Verkauf übernommen hatte.

Alles, was sie schließlich nach North Carolina mitgenommen hatte, waren drei Kleidersäcke, ihr Handgepäck und drei Bananenkartons. Einer mit persönlichen Erinnerungsstücken, einer mit Haushaltsgegenständen und einer mit den Ordnern aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters.

Rückblickend kamen ihr die Ereignisse der letzten elf Wochen im wahrsten Sinne des Wortes unwirklich vor.

An jenem Abend damals hatte im Kühlschrank eine Flasche Champagner für ihre Geburtstagsfeier gelegen. Ihr Vater hatte sie einen Tag vor seiner Verhaftung gekauft. „Belinda hat Anweisung, dir zu kochen, was du am liebsten isst“, hatte er gesagt und dabei zur Abwechslung fast fröhlich ausgesehen. Trotz der Furchen und Falten hatte sein Gesicht wenigstens etwas Farbe gehabt.

Valerie hatte sich mehrmals erkundigt, ob ihn Sorgen plagten. Jedes Mal hatte er sie beschwichtigt. „Die Aktien fallen“, hatte er erklärt. „Aber meine Cholesterinwerte sind auch niedriger. Wenigstens das ist doch erfreulich, oder?“

Sie hatte ihn oft gescholten, weil er zu viel Zeit im Büro verbrachte und war froh gewesen, als er versprach, künftig häufiger zu Hause zu sein, obwohl sie genau wusste, dass er da meistens in seinem Arbeitszimmer sitzen würde.

Für ihren Geburtstag hatte sie ein Essen zu Hause arrangiert, nur mit ihrem Vater, statt der üblichen Party im Club. Bei dieser Gelegenheit hatte sie herausfinden wollen, was ihn bedrückte. Doch am frühen Morgen ihres dreißigsten Geburtstags waren zwei Polizisten in Zivil erschienen und hatten ihren Vater gebeten, sie in die Stadt zu begleiten.

Als sie, noch in Nachthemd und Morgenmantel, Näheres hatte erfragen wollen, hatte einer der Polizisten ihr höflich zu verstehen gegeben, dass nur ein paar Fragen geklärt werden müssten.

Aber offenbar hatte mehr dahinter gesteckt, denn ihr Vater war aschfahl geworden. Alarmiert hatte sie zunächst seinen Arzt angerufen, dann seinen Anwalt.

In den folgenden Stunden hatten sich die Ereignisse überschlagen. Valerie erinnerte sich nicht, sich angezogen oder frisiert zu haben, ehe sie aus dem Haus gestürzt war. In aller Eile hatte Belinda ihr noch die Tabletten für ihren Vater mitgegeben.

Auf der Polizeistation hatten sie nur wenige Minuten ungestört miteinander reden können, als der Polizist ihrem Vater ein Glas Wasser holen gegangen war. Leise, als fürchte er, dass jemand zuhören könnte, hatte Frank Bonnard sie angewiesen, alle unbeschrifteten Ordner aus dem Aktenschrank in seinem Arbeitszimmer zu entfernen und in ihrem Zimmer zu verwahren.

Verwirrt und voller Angst hatte sie mehr wissen wollen, aber da war der Polizist schon zurückgekommen. Ihr Vater hatte seine Tabletten eingenommen und gesagt: „Geh nach Hause. Ich komme nach, sobald ich hier fertig bin.“

Das war das letzte Mal, dass sie ihn lebend gesehen hatte. Noch ehe er auf Kaution hätte freikommen können, war er einem Herzinfarkt erlegen.

Valerie riss ein Stück Papier von der Küchenrolle auf der alten Eichenkommode, putzte sich die Nase, trocknete ihre Tränen und seufzte tief. Das tat sie in letzter Zeit entschieden zu oft.

Sie musste sich unbedingt Klarheit verschaffen. Jetzt, da es zu spät war, fragte sie sich, ob es ein Fehler war, Greenwich zu verlassen. Sie hätte sich dort ein Zimmer oder sogar eine Wohnung mieten können. Antworten auf ihre vielen Fragen würde sie kaum in diesem kleinen Dorf an der Ostküste finden, das ihr Vater nur ein einziges Mal in seinem Leben besucht hatte.

Andererseits waren die Buchprüfer, die Männer vom Dezernat für Wirtschaftskriminalität und auch die anderen in die Sache verwickelten Behörden überzeugt, den richtigen Mann – ihren Sündenbock –, bereits ermittelt zu haben, auch wenn sie inzwischen einen weiteren Verdächtigen verhaftet hatten. Und selbst wenn sie den Schlamassel aufklären und zweifelsfrei beweisen könnte, dass ihr Vater unschuldig war, würde sie ihn dadurch nicht wieder lebendig machen. Sie konnte nur darauf hoffen, seinen guten Ruf wiederherzustellen.

Die Strahlen der untergehenden Sonne ließen die schmutzigen Fenster noch trüber erscheinen. So vieles hatte sich auf der Insel verändert, seit Valerie zum letzten Mal hier war, dass sie das alte Haus ohne die genaue Wegbeschreibung der Maklerin nie gefunden hätte.

Vor gut einer Woche hatte sie die Verwaltung angerufen, die das Anwesen betreute, das sie von ihrer Urgroßmutter geerbt hatte. Und vor ein paar Stunden hatte sie Marian Kuvarky vom Maklerbüro persönlich kennengelernt.

„Schön, dass Sie es noch geschafft habe, ehe ich schließe“, hatte Marian sie begrüßt und ihr die Schlüssel überreicht. „Ich muss Sie allerdings warnen – ich habe immer noch niemanden für die Reinigung des Hauses gefunden, seit die letzten Mieter ausgezogen sind. Vielleicht möchten Sie lieber für ein paar Tage in ein Motel ziehen.“

Valerie hatte zu viel hinter sich, um ihren Einzug auch nur um einen Tag zu verschieben. Zudem konnte sie sich ein Motel nicht leisten. Selbst mitten im Winter würde eine Unterkunft am Strand ihr mageres Budget empfindlich belasten. „Um die Reinigung kann ich mich selbst kümmern, sagen Sie mir nur, wie ich zu meinem Haus komme.“ Bevor sie zurück in ihr Elternhaus in Connecticut gezogen war, hatte sie für ihr Apartment schließlich auch nur einmal die Woche eine Putzfrau gehabt.

Marian Kuvarky, eine jugendliche Blondine mit müden Augen und einem gewinnenden Lächeln, hatte geantwortet: „Okay, aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.“ Dann hatte sie den Weg beschrieben und hinzugefügt: „Den Strom habe ich gleich nach Ihrem Anruf anschalten lassen. Ach übrigens, habe ich Ihnen schon gesagt, dass die letzten Mieter die Miete für zwei Monate schuldig geblieben sind? Leider habe ich auch noch niemanden für ein paar notwendige Reparaturen gefunden. Und wie gesagt, meine Putzfrau ist im Schwangerschaftsurlaub, und weil ich momentan die Endreinigung der Häuser selbst durchführen muss, bin ich ziemlich im Rückstand.“

Valerie war zu müde gewesen, um auf die Probleme der Maklerin einzugehen. Viel gegessen hatte sie den ganzen Tag über auch noch nicht. „Ich habe Wäsche und Handtücher mitgebracht. Möbliert ist das Haus ja, wie Sie sagten.“

„Genau, allerdings ist alles ziemlich zusammengewürfelt. Wegen der Reparaturen hatte ich im Übrigen Ihrem Vater geschrieben, aber nie eine Antwort erhalten. Wie auch immer, momentan wird hier so viel gebaut, dass es selbst außerhalb der Saison schwierig ist, Handwerker zu bekommen.“

Solange das Haus ein Dach hatte und es ein Bett darin gab, konnten Reparaturen Valeries Meinung nach warten. Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher.

Zum Schluss hatte die Maklerin noch gesagt: „Falls Sie Arbeit suchen und wissen, was ein Besen ist, können Sie sofort bei mir anfangen.“

Das war ein Scherz gewesen, doch inzwischen dachte Valerie, dass sie möglicherweise darauf zurückkommen musste. Aber im Moment hatte sie anderes zu tun. Angefangen damit, ihre Hausmaus loszuwerden.

Es gab tatsächlich Strom, das war die gute Nachricht. Das Telefon funktionierte allerdings nicht. Vielleicht war auch das gut. So konnte sie hier wenigstens nicht von lästigen Anrufen verfolgt werden.

Zentralheizung gab es nicht, nur einen Ölofen im Wohnzimmer und einige kleine Heizlüfter, die auf die anderen Räume verteilt waren. Nach einigen Fehlversuchen hatte sie es geschafft, den Ölofen in Gang zu setzen.

Der Wasserboiler dagegen machte Valerie Sorgen. Sie ließ den Heißwasserhahn fünf Minuten laufen, aber das Wasser wurde nur lauwarm. Als sie Marian Kuvarky darüber informieren wollte, musste sie feststellen, dass auch ihr Handy nicht funktionierte. Kein Netz.

Na schön, dann würde sie sich eben nach der Decke strecken. Wenigstens hatte sie ein Dach über dem Kopf. Sie war dreißig Jahre alt, hatte einen Abschluss an einem exzellenten College gemacht, und obwohl sie momentan nicht ganz in ihrem Element war, hatte ihr noch nie jemand nachgesagt, sie lerne nicht schnell.

Größere Haushaltsgeräte zu reparieren würde ihre Fähigkeiten allerdings doch übersteigen. Früher oder später – vermutlich früher – würde sie sich nach einem Job umsehen müssen, um die Dinge in Stand setzen zu lassen, die sie selbst nicht in Ordnung bringen konnte.

Ihr Haus putzen konnte sie jedenfalls selbst. Wenn das erledigt war, würde sie die Akten ihres Vaters durchsehen, um festzustellen, was es darin zu finden gab. Dann konnte sein Anwalt den Fall posthum erneut aufrollen, um den guten Ruf ihres Vaters wiederherzustellen.

Irgendetwas musste in den Akten zu finden sein. Warum sonst hätte ihr Vater sie in aller Eile gebeten, sie an sich zu nehmen? Er hatte doch nicht ahnen können, dass er ein paar Stunden nach seiner Verhaftung tot sein würde.

Valerie stand auf, ging in die Zimmerecke und trat kräftig gegen die Scheuerleiste. „Okay, Mickey, deine Zeit ist um. Tut mir leid, aber ich habe keine Lust, das Zimmer mit dir zu teilen. Pack also deine Siebensachen und zieh aus.“

Das Haus, das sie von ihrer Urgroßmutter geerbt hatte, war absolut nicht mit dem zu vergleichen, das sie zurückgelassen hatte. Es mochte modernisiert worden sein, seit sie es zuletzt gesehen hatte, doch die Farbe blätterte inzwischen ab, und einige der verblassten grünen Fensterläden hingen schief in den Angeln.

Wenigstens war der verschnörkelte Dachüberstand am Vordergiebel unbeschädigt. Valerie hatte an ein Pfefferkuchenhaus in ihrem Märchenbuch denken müssen, als sie das malerische Häuschen als Kind zum ersten Mal gesehen hatte. Und die Tatsache, dass ihre Urgroßmutter damals gerade Pfefferkuchen gebacken hatte und das ganze Haus danach duftete, hatte diesen Eindruck noch verstärkt.

Marian Kuvarky hatte ihr erzählt, dass ihre Urgroßmutter ein paar Jahre vor ihrem Tod die hintere Veranda zu einem Zimmer mit winzigem Bad und separatem Eingang umgebaut hatte, für den Fall, dass eine ständige Hilfe bei ihr würde wohnen müssen. Seit ihrem Tod war das Zimmerchen gelegentlich separat vermietet worden. Valerie dachte kurz an diese Möglichkeit, entschied jedoch, dass sie nicht dazu geeignet war, die Vermieterin zu spielen.

Andererseits wäre ein Einkommen, für das sie nicht zu arbeiten bräuchte, nicht zu verachten.

Sie legte Pumps und Kleid beiseite und eilte nach unten, um nach Putzutensilien zu suchen. Ehe sie auch nur daran denken mochte, in ihrem Schlafzimmer zu schlafen, musste sie etwas gegen den Mief unternehmen. Da es zum gründlichen Lüften zu kalt war, blieb nur das Putzen.

Wenn Marian Kuvarky auch nur eine Ahnung davon gehabt hätte, wie ungeübt Valerie in häuslichen Fertigkeiten war, hätte sie ihr nie angeboten, Häuser für sie zu reinigen, nicht mal im Spaß.

Später am Abend stieg Valerie aus der altmodischen Badewanne in der oberen Etage auf ein Handtuch, das mit einem Monogramm bestickt war. Dinge wie Badematten oder Tischdecken hatte sie nicht mitgebracht, sonst hätte sie sich einen Anhänger mieten müssen.

Sie hatte einen Kessel mit kochendem Wasser aus der Küche in das lauwarme Badewasser gekippt. Doch da ein Kessel voll nicht reichte und es zu lange gedauert hätte, einen zweiten zum Kochen zu bringen, hatte sie sich damit begnügen müssen, ein lauwarmes Bad zu nehmen.

Fröstelnd wickelte sie sich in ein Badelaken. Das Haus war nicht nur schmutzig und miefig, es zog auch überall. Der Heizlüfter, den sie zwischen Wanne und Toilette aufgestellt hatte, wärmte sie ein wenig, solange sie in seiner Nähe blieb. Ihr einziger Trost war, dass sie wegen der Zugluft im Haus wenigstens keine Kohlenmonoxidvergiftung durch den Ölofen zu befürchten hatte. Wie groß die Gefahr eines Brandes, ausgelöst durch schadhafte elektrische Leitungen, war, konnte sie allerdings nicht einschätzen. Sie würde den Wasserboiler reparieren und die elektrischen Leitungen überprüfen lassen müssen.

Ihr kam ein anderer Gedanke – wie stand es mit einer Versicherung?

„Willkommen in der Welt der kleinen Leute, Miss Bonnard“, murmelte sie ein paar Minuten später vor sich hin, als sie ein großes Bettlaken über die durchgelegene Matratze des Doppelbetts breitete.

Valerie hatte einen blauen Satinpyjama angezogen, einen handgestrickten Pullover und dicke Wollsocken. Januar hin oder her, dachte sie, soll das hier nicht der sonnige Süden sein?

Zum Glück hatte sie zwei flauschige Steppdecken mitgebracht. Eine davon hatte sie sofort über das hässliche braune Sofa unten im Wohnzimmer gelegt. Die andere war eigentlich viel zu groß für das Doppelbett, aber sie würde ihr gute Dienste leisten.

Seufzend holte sie sich etwas zu schreiben und setzte sich damit ins Bett, um aufzulisten, was sie besorgen musste. Dabei ignorierte sie ihren knurrenden Magen, der sie daran erinnerte, dass sie außer zwei Laugenbrezeln, etwas Popcorn und zwei Schokoriegeln seit dem Frühstück nichts gegessen hatte. Ab dem nächste Morgen würde sie jede Menge zu tun haben, um das Haus wenigstens halbwegs wohnlich zu machen. Erst danach konnte sie sich darauf konzentrieren, in den Akten ihres Vaters nach einem Beweis für seine Unschuld zu suchen.

Sie überflog ihre Einkaufsliste: Tischdecke – ein gewisses Niveau hatte man schließlich. Matratzenschoner – die alte Matratze behagte ihr gar nicht, daran hatte auch die Tatsache nichts geändert, dass sie sie umgedreht hatte. Ach ja, eine Badematte. Sie würde sich erkundigen müssen, wo man hier auf der Insel Haushaltswäsche kaufen konnte.

Als Nächstes machte Valerie eine Liste der dringend benötigten Lebensmittel. Naserümpfend schrieb sie auch Mausefallen auf. Und Putzmittel.

Ein sauberes Haus war für sie immer selbstverständlich gewesen. Nach dem College hatte sie in einem kleinen Apartment gewohnt, erst in Chicago, dann in Manhattan – immer in den besseren Vierteln. Nach seinem ersten leichten Schlaganfall war sie zurück zu ihrem Vater gezogen, und bald darauf hatte sie sich in einigen Wohltätigkeitsorganisationen engagiert. Das konnte sie schließlich am besten – Veranstaltungen zum Spendensammeln organisieren. Sie hatte auch regelmäßig Partys und Essen für ihren Vater ausgerichtet, obwohl er seine Kunden und Geschäftspartner meistens in den Club eingeladen hatte.

Rückblickend stellte Valerie fest, dass sie ein angenehmes Leben geführt hatte, wenngleich kein sonderlich aufregendes.

„Da wäre durchaus Platz für eine Steigerung“, murmelte sie vor sich hin.

Müde und hungrig, aber seltsam aufgekratzt, sah sie sich um. Die französische Tapete in ihrem alten Schlafzimmer, die gepflegten, wenn auch nicht besonders wertvollen alten Möbel, der verblasste Perserteppich und ihre bescheidene Kunstsammlung waren Vergangenheit. Hier sah sie sich mit sandigen Holzdielen konfrontiert, nackten, weiß gestrichenen Wänden, schmutzigen Fenstern und dem schwachen Geruch nach Mäusen.

Okay. Sie konnte damit umgehen. Der Sand, hatte sie schnell entdeckt, befand sich in den Ritzen zwischen den Dielen, und je mehr sie fegte, desto mehr davon kam zum Vorschein. Mit ein bisschen Sand konnte sie leben. Schließlich war sie hier am Strand. Selbst wenn sie das Meer vom Haus aus nicht sehen konnte, hören konnte sie es.

Sie setzte noch Glasreiniger auf ihre Einkaufsliste und einen Badreiniger. Mehr Papiertücher. Schwämme und Gummihandschuhe, obwohl sie die wahrscheinlich nicht würde tragen können, ohne einen Ausschlag zu bekommen. Sie hatte nun einmal empfindliche Haut.

Außerdem durfte sie nicht vergessen, das Schild im Vorgarten, das darauf hinwies, dass das Haus und das separate Zimmer zu vermieten waren, zu entfernen.

Der Vorgarten selbst sah schlimm aus. Sobald sie mit der Grundreinigung des Hauses fertig war, konnte sie vielleicht die Haustür mit einer leuchtenden Farbe streichen. Das würde etwas vom schäbigen Zustand des Anwesens ablenken, bis sie es sich leisten konnte, etwas im Garten zu tun und das Haus streichen zu lassen. Alt war durchaus in Ordnung, aber sie fand alt und malerisch einfach besser als alt und vernachlässigt.

Das Beste wäre ein Job, bei dem es im Voraus Geld gab.

Valerie lehnte sich in die beiden Daunenkissen zurück und schloss die Augen. „Dad, was soll ich bloß tun?“, flüsterte sie. „Charlie, Belinda – Miss Mitty, wo seid ihr alle, wenn ich euch brauche?“

Die einzige Antwort darauf waren die klagenden Schreie einiger Wildgänse, die über das Haus flogen. Es war noch nicht einmal neun Uhr abends. Normalerweise ging Valerie nie vor elf zu Bett, meist sogar erst nach Mitternacht.

Ihre letzten Gedanken, ehe sie einschlief, galten ihrem Vater. Wieder sah sie vor sich, wie er von den Polizisten in Zivil hinausgeführt und auf den Rücksitz ihres Wagens gedrängt wurde, und sie stand an der Haustür, zu benommen, um zu protestieren.

Es war Sonntag gewesen, ihr Geburtstag. Belinda hatte Blaubeerpfannkuchen zum Frühstück gebacken. Frank Bonnard, ein Frühaufsteher, hatte offenbar schon in seinem Arbeitszimmer gearbeitet, als die Polizisten ihn abholen gekommen waren.

Ein paar Stunden später hatte es vor dem Haus von Reportern gewimmelt. Dann hatte es mit den Anrufen angefangen. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen war es einigen Leuten gelungen, mit ihrem Zorn zu ihr durchzukommen. „Wo ist mein Geld?“ Oder: „Frank Bonnard schuldet mir meine Pension, verdammt! Wo ist sie? Was soll ich jetzt machen?“ Und das waren nur die harmloseren Vorwürfe gewesen.

Nachdem die Polizei alle drei Anschlüsse im Haus mit Fangschaltungen versehen hatte, hatten die Anrufe aufgehört, obwohl Valerie das nicht ganz erklärlich war.

Die Albträume dagegen hatten nicht aufgehört. Nicht nur im Schlaf, auch tagsüber, sah sie immer und immer wieder die Szene von der Verhaftung ihres Vaters an jenem Morgen im Spätseptember vor sich.

Nicht einmal zwölf Stunden später war ihr Vater tot. Belästigt von Reportern, Buchprüfern und Männern in schlecht sitzenden Anzügen, die der Meinung waren, sie hätten jedes Recht, in ihre Privatsphäre einzudringen, hatte Valerie verzweifelt versucht, ihre Gefühle tief in sich zu verschließen. Sie hatte schnell gelernt, nur einsilbige Antworten zu geben, wie: Ich weiß es nicht. Oder: Kein Kommentar. Und: Mein Vater ist unschuldig.

Sie musste endlich die Wahrheit herausfinden, auch wenn die, so unwahrscheinlich das auch war, nicht so sein sollte, wie sie es erwartete. In Greenwich war sie den Ereignissen zu nah gewesen, um objektiv sein zu können. Hier würde sie in der Lage sein, klar zu denken, wenn sie sich erst mit den Akten befasste. Dann würden die Anrufer, die wissen wollten, wo ihr Geld geblieben war, eine Antwort bekommen, selbst wenn die ihnen vielleicht wenig helfen würde.

In dieser Nacht schlief Valerie Bonnard sehr unruhig. Irgendwann kurz vor Tagesanbruch wachte sie auf und dachte sofort an die Maus, die sie gesehen und all die anderen, die sie gehört und gerochen hatte. Die würden doch wohl nicht über ihr Bett laufen, oder?

Himmel, jetzt würde sie nicht mehr einschlafen können.

Sie schloss die Augen und warf sich auf der durchgelegenen Matratze hin und her, um eine bequeme Schlafposition zu finden.

Grax, wenn das hier dein Bett war, war es kein Wunder, dass du einen krummen Rücken hattest, dachte sie schuldbewusst. Ihre Urgroßmutter hieß Achsah, ausgesprochen Axa. Als Kind hatte Valerie daraus Grax gemacht. Obwohl sie sie nur einmal kurz besucht hatte, erinnerte sie sich an ihre strahlenden blauen Augen und ihr kurzes weißes Haar. Grax hatte im Vorgarten gearbeitet, als sie vorgefahren waren. Auf dem Weg nach Hilton Head hatten ihre Eltern einen Umweg über die Outer Banks gemacht, damit ihre Mutter ihnen ihre Großmutter vorstellen konnte.

Valerie war damals sieben gewesen, und die Autofahrt war ihr endlos erschienen. Ihre Eltern hatten ständig miteinander gestritten. Komisch, dass sie sich jetzt daran erinnerte. Rückblickend kam es ihr vor, als sei es ihre Mutter gewesen, die sich nur ungern Zeit für den Besuch nahm, nicht ihr Vater.

Sie hatten in einem Motel übernachtet, aber in dem kleinen weißen Haus zu Abend gegessen. Es hatte sie sofort an Aunty Ems Häuschen im „Zauberer von Oz“ erinnert.

Grax hatte gekochten Fisch serviert, der unter Kartoffelpüree mit rohen Zwiebeln und knusprig gebratenen, geräucherten Speckwürfeln gemischt war. So seltsam sich diese Zusammenstellung anhörte, es hatte gut geschmeckt.

Ihre Mutter hatte das Gericht nicht angerührt. Ihr Vater hatte ein paar Gabeln voll davon probiert. Sie, Valerie, dagegen hatte ihren ganzen Teller leer gegessen und zum Nachtisch auch noch zwei Pfefferkuchen.

Das war ihr erster und letzter Besuch bei ihrer Urgroßmutter gewesen. Zwei Jahre später hatten sich ihre Eltern getrennt. Ihr Vater hatte das Sorgerecht erhalten – hatte ihre Mutter sich überhaupt darum bemüht? Wie auch immer, Lola Bonnard hatte danach mehrere Jahre im Ausland verbracht, also kamen Besuche bei ihr nicht infrage.

Valeries Beziehung zu ihrer Mutter war nie sehr eng gewesen, nicht einmal vor der Scheidung. Danach hatte sie nur noch aus dem Austausch von Weihnachtskarten bestanden und gelegentlich einer Geburtstagskarte. Grax’ Nachlass hatte der Anwalt ihres Vaters geregelt. Er hatte auch jemanden damit beauftragt, das Haus zu vermieten. Seinerzeit hatte Valerie in Chicago gelebt und für eine Stiftung gearbeitet, die sich um Mädchen kümmerte, die von zu Hause durchgebrannt waren.

„Es tut mir leid, Grax“, flüsterte sie in die Dunkelheit hinein, weil sie auf einmal ein schlechtes Gewissen hatte. „Ich hoffe nur, du hattest jede Menge Freunde hier und hast uns gar nicht vermisst.“

Kein Wunder, dass die Atmosphäre im Haus so kalt und ungemütlich war. Wie viele Fremde hatten hier gelebt, seit Grax gestorben war? Nichts erinnerte mehr an Achsah Dozier. Unvermittelt fiel Valerie der Jasminstrauß ein, den sie damals von den einstmals prächtigen Sträuchern im Garten ins Haus geholt hatte. Ihre Mutter hatte sich über den schweren Duft beschwert, und Grax hatte die Vase, ohne ein Wort zu verlieren, auf die Veranda gestellt.

Insgeheim gelobte Valerie, dass sie sich, sobald das Haus geputzt und in Stand stand gesetzt war, um den Garten kümmern würde.

Aber vorher musste sie diese Akten durchsehen. Herausfinden, was es da zu entdecken gab, und den Ruf ihres Vaters wiederherstellen. Frank Bonnard war ein guter Mensch gewesen, ein ehrlicher Mann, wenn auch ein Träumer. Er verdiente nicht, was ihm widerfahren war.

Autor

Dixie Browning

Dixie Browning, Tochter eines bekannten Baseballspielers und Enkelin eines Kapitäns zur See, ist eine gefeierte Malerin, eine mit Auszeichnungen bedachte Schriftstellerin und Mitbesitzerin einer Kunstgalerie in North Carolina. Bis jetzt hat die vielbeschäftigte Autorin 80 Romances geschrieben – und dabei wird es nicht bleiben - sowie einige historische Liebesromane zusammen...

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