Küsse, die nur Lügen waren?

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Heiße Küsse - kalter Verrat! Cassie erfährt, dass die Nächte mit Chance nur Lügen waren. Er verschwieg, dass er zu den Barrons gehört. Zu der Familie, die ihr die Ranch nehmen will! Um ihr Zuhause wird Cassie kämpfen. Aber kommt sie auch gegen ihre verräterische Sehnsucht an?


  • Erscheinungstag 05.12.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729158
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Chance Barron wusste immer, was er wollte. Und im Moment wollte er die attraktive Blondine an der Hotelbar.

Es war Ende März. Ein Blizzard hatte den Flughafen Chicago O’Hare lahmgelegt. Laut Wettervorhersage sollte der Sturm am Morgen vorbei sein. Dann würde er die erste Maschine zurück nach Oklahoma City nehmen. In der Zwischenzeit konnte er sich um die Frau kümmern, die die Martinis hinunterkippte wie Wasser. Von dort, wo er saß, war sie nur von der Seite sehen. Kinn und Hals bildeten ein elegantes Profil. Die rote Jacke und die schwarze Hose waren modisch – und trotz des Schnees trug sie Stiefel mit unglaublich hohen Absätzen.

Sie bestellte noch einen Martini. Er sah zu, wie ihre schlanken Finger mit dem Plastikspieß spielten. Ihre vollen Lippen schlossen sich um die reife Olive – und ließen eine ganze Reihe erotischer Bilder vor Chances geistigem Auge ablaufen. Er unterdrückte ein Stöhnen. Ein One-Night-Stand wäre jetzt genau das Richtige. Vielleicht würde ihn das in eine entspanntere Stimmung bringen für das bevorstehende Treffen mit seinem alten Herrn.

Cyrus Barron. Gedanken an seinen Vater drängten sich immer zu den unpassendsten Momenten auf. Wahrscheinlich, weil der Mann eine solche Naturgewalt war. Öl, Land und Rinder. Politik und Medien. Ganz gleich, welchen Bereich man wählte, Cyrus Barron war überall eine große Nummer. Zu schade, dass seine Sympathiewerte nicht mithalten konnten. Er hielt seine Söhne an der kurzen Leine, und Chance war keine Ausnahme. Er hatte zwar seine eigene Anwaltskanzlei, aber die Familie war sein größter Mandant. Obwohl er mit dem Zuchtbetrieb nichts zu tun hatte, hatte sein Vater ihn auf die Suche nach einem Hengstfohlen geschickt – einem Fohlen, das es in Illinois eindeutig nicht gab.

Die Bedienung kam zu ihm, auf den Lippen ein spürbar interessiertes Lächeln. Er lehnte ihr Angebot eines weiteren Drinks ab und reichte ihr eine Fünfzig-Dollar-Note. „Der Rest ist für Sie.“ Er erhob sich und ging zur Bar – nur um feststellen zu müssen, dass die Unbekannte inzwischen verschwunden war.

„Verdammt!“ Aber weit konnte sie nicht gekommen sein. Er würde sie finden und ein flammendes Plädoyer dafür halten, sich in dieser kalten Nacht gegenseitig zu wärmen.

Cassidy Morgan stand am Fenster der Hotellobby. Dicke Schneeflocken trieben vorbei – sie kam sich vor wie in einer überdimensionalen Schneekugel. Für einen Moment schloss sie die Augen.

„Ich schaffe es nicht mehr rechtzeitig, oder?“, fragte sie leise in ihr Handy.

„Nein, Babygirl.“ Baxter – Boots – Thomas hielt nichts davon, um den heißen Brei herumzureden. „Die Ärzte wissen nicht, wie er es überhaupt so lange geschafft hat.“

Sie hörte das leise Piepen der Monitore im Hintergrund. Die Resignation in der Stimme des ältesten Freundes ihres Vaters war unverkennbar.

„Hältst du ihm das Telefon ans Ohr? Ich weiß, er kann mich nicht hören, aber …“ Plötzlich hatte sie Tränen in den Augen.

„Okay“, hörte sie Boots’ gedämpfte Stimme.

Zögernd begann sie, zu ihrem Vater zu sprechen. Sprach von Erinnerungen. Schließlich brach ihre Stimme, und sie weinte nur noch. Als ihre Mutter an einer Lungenentzündung gestorben war, war Cassie gerade drei Jahre alt gewesen – zu klein, um den emotionalen Schmerz bewusst zu registrieren. Aber jetzt? Dieser Schmerz war schlimmer als alles, was sie je durchlebt hatte. Sie wollte bei ihm sein. Wollte seine Hand halten, während er ging. Er war immer für sie da gewesen. Und sie hatte ihn immer wieder enttäuscht.

Plötzlich glaubte sie die Stimme ihres Vaters zu hören: „Cowgirls weinen nicht, Baby. Aufstehen und weitermachen!“

Sie hörte ihn scharf einatmen. Und dann nichts mehr. Der große starke Bär von einem Mann, der ihr Vater gewesen war, lebte nicht mehr.

„Bist du okay, Babygirl?“ Boots war wieder in der Leitung.

Cass fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Verdammt, nein, sie war nicht okay. Aber sie musste sich zusammenreißen. Musste sich kümmern. Ob sie es wollte oder nicht. „Ich bin so bald wie möglich da, Onkel Boots. Ich stecke hier fest, bis der Blizzard vorbei ist. Ich konnte nicht einmal zurück in mein Apartment, deswegen verbringe ich die Nacht hier im Hotel am Flughafen.“ Sie schluckte, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. „Rufst du das Bestattungsinstitut für mich an? Damit sie ihn abholen und … Ich … Sie sollen mit der Einäscherung warten, bis ich da bin. Ich … ich muss ihn noch einmal sehen. Um mich zu verabschieden. Okay?“

„Natürlich, Babygirl. Ich kümmere mich darum.“

„Ich liebe dich, Onkel Boots.“

„Ich liebe dich auch, Babygirl.“

Sie ließ das Handy in die Tasche gleiten. Verdammt! Verdammt, Verdammt! Sie wollte nicht weinen. Nicht in der Öffentlichkeit. Hatte sie das nicht von ihrem Dad gelernt? Cowgirls weinen nicht. Aber verdammt, sie war kein Cowgirl mehr. Cass lehnte ihre Stirn an die kalte Scheibe.

Sie hatte die Ranch vor zehn Jahren verlassen. Mit großen Träumen. Träumen von einem Leben in der großen Stadt, wo die Sterne am Himmel hinter den Lichtern der Wolkenkratzer verblassten. Wo das Geräusch des Verkehrs klang wie ein fernes Gewitter.

Das Leben auf der Ranch war hart. Es begann früh am Morgen und endete spät am Abend. Ständige Sorgen um das Wetter – entweder war es zu heiß oder zu kalt, es regnete zu viel oder zu wenig. Dazu kamen Krankheiten, die eine Herde innerhalb kürzester Zeit dahinraffen konnten. Dann der Gipfel der Härte: das Rodeo. Ihr Vater hatte es geliebt. Und auch sie hatte es geliebt. Damals, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.

Cass wollte nicht nach Hause fahren. Wollte nicht Abschied nehmen müssen von dem Mann, an dem sie alle anderen Männer maß. Ganz gleich, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Ganz gleich, wie sehr er von ihr enttäuscht gewesen war – er hatte sie immer geliebt. Und nun war er nicht mehr da.

Sie beschloss, ins Bett zu gehen – auch wenn sie noch einen weiteren Martini hätte vertragen können. Nicht dass es helfen würde. Alkohol konnte den Schmerz nicht beseitigen, nur vorübergehend betäuben wie eine Spritze beim Zahnarzt. Und ähnlich fühlte sich ihr Herz an in diesem Augenblick – wie eine pochende Wunde. Verursacht von ihrem Egoismus. Seit einem Jahr war sie nicht mehr zu Hause gewesen. Und nun war es zu spät.

Cass drehte sich um – und prallte gegen eine muskulöse Brust.

„Vorsicht!“

Der Mann packte sie bei den Oberarmen und gab ihr Halt. Sie hob den Kopf. Registrierte ein markantes Kinn, den Schatten eines Bartes und braune Augen. Sein dunkles Haar, das ihm in die Stirn fiel, war gerade lang genug, um den Kragen seines Hemdes zu berühren.

„Es tut mir leid, ich habe Sie nicht gesehen.“ Es bestürzte sie, wie atemlos ihre Stimme selbst in ihren eigenen Ohren klang. Es war die Überraschung. Nichts weiter.

„Kein Problem. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“

Sie wich einen Schritt zurück. „Mich können Sie nicht erschrecken, Mister.“ Erst jetzt nahm sie ihn richtig wahr. „Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Haben wir uns schon einmal gesehen?“

„Daran würde ich mich erinnern.“ Er streckte die Hand aus, als wolle er sich vorstellen – aber in diesem Moment ließ die Erkennungsmelodie einer alten Fernsehshow sie beide zusammenfahren. Sein Handy.

Frustriert murmelte er etwas, das so klang wie „Verdammt, entschuldigen Sie mich“.

Cass trat beiseite, um etwas mehr Abstand zwischen sich und den Fremden zu bringen. Für einen Moment fragte sie sich, ob er ein Stalker war. In der Bar war ihr ein Mann aufgefallen, der sie zu beobachten schien. War es derselbe Mann gewesen? Sie hatte ihn nicht genau erkennen können, da er im Schatten gesessen hatte.

Er setzte ein Lächeln auf, doch weiter kam er auch dieses Mal nicht – jetzt meldete sich das Handy mit dem Klang einer schrillen Sirene. Einige Gäste des Hotels sahen irritiert zu ihnen herüber.

„Das hört sich wahrlich nach einem Notfall an“, bemerkte Cass trocken.

Chance griff in die Jackentasche. Irgendeiner seiner Brüder hatte die verdammten Klingeltöne umprogrammiert – er hätte ihn umbringen können! „Was ist?“, knurrte er unwirsch in den Hörer.

„Komme ich ungelegen?“

Chance sah das Grinsen seines Bruders förmlich vor sich. „Du kommst immer ungelegen, Cord. Sag dem alten Herrn, dass ich hier in Chicago feststecke, bis dieser Blizzard vorbei ist.“ Er hörte kaum auf die Antwort seines Bruders, weil er sich ganz auf die junge Frau konzentrierte. Irgendetwas in ihrem Ausdruck hielt ihn gefangen. Etwas, das er nicht gleich benennen konnte. Trauer vielleicht?

„Chancellor! Hörst du mir überhaupt zu?“

„Nein.“ Nicht einmal der Gebrauch seines vollen Namens konnte seine Aufmerksamkeit auf sich lenken.

„Das solltest du aber. Der Alte will, dass du sofort nach Hause kommst. Er wollte sogar eine seiner Maschinen schicken, aber die Piloten haben sich wegen des Wetters geweigert. Er ist stinksauer, aber er kann sie ja nicht alle entlassen.“

Chance seufzte. Der Jähzorn seines Vaters war legendär. Seine Neigung, Angestellte bei dem kleinsten Anlass fristlos zu feuern, sorgte dafür, dass es ständig juristische Probleme gab. Und das war dann sein Ressort. Es war seine Pflicht, diese Dinge auszubügeln, wie Cyrus Barron fand – Teil des Preises dafür, den er für das Privileg zu zahlen hatte, zu einer der reichsten und mächtigsten Familien Oklahomas zu gehören. Und er zahlte diesen Preis, weil es seine unbestreitbaren Vorzüge hatte, ein Barron zu sein.

„Ich habe einen Platz in der ersten Maschine morgen früh. Hast du eine Ahnung, worum es geht?“

„Es scheint irgendein Megaproblem zu sein. Der Alte hat schon Spuren in den Teppich getreten vom vielen Hin- und Herrennen. Dabei murmelt er ständig etwas vor sich hin von einem alten Bastard, der glaubt, ihm entkommen zu können, indem er einfach stirbt. Das Ganze garniert mit jeder Menge Flüche. Er hatte eine Karte auf dem Konferenztisch liegen. Ich nehme an, er will irgendetwas kaufen und wird kein Nein akzeptieren.“

„Und was ist daran neu?“

Cord begriff den rhetorischen Charakter der Frage nicht und erging sich lang und breit in einer Antwort, die Chance nur als Hintergrundrauschen wahrnahm. Seine Aufmerksamkeit galt wieder der jungen Frau. Sein Instinkt riet dringend zur Flucht. Die Trauer in ihrem Blick verhieß nichts als Ärger und Komplikationen. Mit seinem Vater auf dem Kriegspfad konnte er sich weder das eine noch das andere leisten. Er schaltete innerlich wieder um auf die Stimme seines Bruders.

„Nicht genug damit, dass Clay Senator ist. Der Alte will, dass Chase sich im nächsten Jahr um das Amt des Gouverneurs bewirbt.“

Das war ein Thema, das eindeutig nicht für fremde Ohren bestimmt war. Er kehrte der jungen Frau den Rücken zu und trat ein wenig beiseite. „Chase soll in die Politik gehen? Mein Gott, der Alte scheint den Blick für die Wirklichkeit zu verlieren!“

„Wir wollen dankbar sein, dass er im Moment weder Pläne für dich noch für mich hat, Bruder.“

Chance drehte sich um und sah seine Pläne des Abends gerade im Fahrstuhl verschwinden. Er hatte noch ihren Duft in der Nase – Mandel, Orange und eine Spur Zitrone. Ein Duft, so einzigartig wie die ganze Frau. Frustriert konzentrierte er sich wieder auf die Stimme seines Bruders.

„Der Alte ist wütend, Chance. So habe ich ihn noch nie erlebt. Nicht einmal, als Tammy mit dem Vorarbeiter durchgebrannt ist.“

Chance verdrehte die Augen. Tammy war Ehefrau Nummer sechs gewesen. Oder sieben? Halb so alt wie sein Vater und mit einer Figur wie Dolly Parton. Irgendwann hatte sie ein Auge auf den Vorarbeiter der Ranch geworfen und ihn überredet, mit ihr durchzubrennen. Sie drohte, sich mit irgendwelchen Familiengeschichten an die Boulevardpresse zu wenden, um für einen Skandal zu sorgen. Als Anwalt der Familie hatte Chance die Aufgabe, eine finanzielle Einigung mit ihr zu erzielen, um den Ärger abzuwenden. Ihre Tinte unter der Vereinbarung war noch nicht trocken, als er schon für seinen Vater die Scheidung einreichte.

„Was zum Teufel ist los, Cord? Du hast mich gerade um eine heiße Nacht gebracht. Ich hoffe, es gibt einen guten Grund für den Aufstand des Alten.“

„Sagt der Name Ben Morgan dir etwas?“

Chance überlegte einen Moment. „Vage. Ein alter Rodeo-Reiter, oder?“

„Genau der. Der Alte und Morgan sind bei paarmal aneinandergeraten, einmal wegen einer Frau.“

„Ach Gott, nein – welche der Stiefmonster war es?“

„Keine. Das Ganze liegt schon Ewigkeiten zurück. Bevor er Mom geheiratet hat.“

Chance rieb sich die Stirn. „Verdammt, Cord – ich weiß, dass der Alte nachtragend ist, aber so lange? Das wäre doch absurd!“

„Wem sagst du das?“ Cord stöhnte theatralisch. „Du kannst es dir nicht vorstellen! Wie konnte Morgan es wagen zu sterben, bevor der Alte ihn vernichten konnte?! Im Moment interessiert ihn nicht einmal, dass du dieses verdammte Fohlen nicht gefunden hast.“

„Nun sag nur nicht, dass die Sache mit dem Fohlen derart wichtig war!“

„Du weißt, wie er es hasst zu verlieren. Die gute Nachricht ist doch, dass er im Moment von diesem Problem abgelenkt ist. Es gibt da irgendeinen juristischen Mist mit diesem Ben Morgan. Der Alte will, dass du dich darum kümmerst. Ich dachte, ich warne dich vor, damit du weißt, was auf dich zukommt.“

„Danke. Ich werfe gleich mal den Laptop an und mache ein paar Nachforschungen.“

„Ich maile dir die Einzelheiten. Und Chance? Tut mir leid, dass ich dir die Nacht verdorben habe.“

„Das hört man!“

Chance ließ das Handy in der Jackentasche verschwinden. Diese ganze Reise war eine einzige Katastrophe. Sein Blick glitt zur Bar. Die Bedienung würde über kurz oder lang Feierabend machen … Erstaunlicherweise war sein Interesse an ihr nach dem Kontakt mit der blonden Unbekannten plötzlich erloschen – zumindest für diesen Abend. Kurz entschlossen begab er sich zum Fahrstuhl. Er hatte einiges zu erledigen.

2. KAPITEL

Cass löste den Gurt, als die Durchsage kam, der Abflug werde sich verspäten. Offenbar ließ irgendein Passagier auf sich warten. In der Economy war alles besetzt, also musste es sich um jemanden aus der Ersten Klasse handeln.

Sie schloss die Augen. Nach Hause zu fahren war immer schwer – deswegen hatte sie es so lange vermieden, obwohl Boots sie immer wieder gedrängt hatte zu kommen. Und nun war ihr Dad nicht mehr da – und so vieles war ungesagt geblieben zwischen ihnen. Sie schluckte ihre Schuldgefühle hinunter. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Vater verstanden hatte, was sie ihm hatte sagen wollen …

Endlich war die Maschine bereit zum Abflug. Cass drückte ihre Füße gegen den Boden und verschränkte die Finger im Schoß. Sie flog nicht gern. Besonders Start und Landung waren ihr ein Gräuel. Sie zwang sich, gleichmäßig zu atmen, und konzentrierte sich darauf, ruhig zu bleiben. Aus irgendeinem Grund musste sie an den Mann aus dem Hotel denken. Er hatte nach Leder und Regen an einem heißen Tag gerochen. Eine merkwürdige Kombination, die Erinnerungen an ihre Kindheit weckte. Erinnerungen an das Leben auf der Ranch und an die Rodeo-Arenen.

Er hatte ein modisches weißes Hemd getragen wie ein Banker, aber dazu eine eng sitzende Jeans. Und Stiefel. Sie runzelte die Stirn. Nicht dass Menschen in Chicago keine Westernstiefel getragen hätten. Einige von ihnen trugen sie sogar in echt, nicht nur als modisches Accessoire.

Ihr Magen machte einen Satz, als die Maschine abhob. Eine Durchsage informierte über Wetter und Flughöhe, aber Cass konnte es kaum verstehen, weil ihre Ohren wie blockiert waren. Um sich abzulenken, dachte sie wieder an die kurze Begegnung vom Vorabend.

Unter anderen Umständen hätte sie sich von dem Mann vielleicht auf einen Drink einladen lassen. Er war unglaublich sexy. Die Hände kräftig und gleichzeitig zart. Sie war nicht klein, aber er überragte sie noch um einiges. Er hatte etwas an sich, das ihr heiß werden ließ. Schon seit Ewigkeiten hatte kein Mann sie mehr derart fasziniert. Plötzlich fiel ihr wieder der Anlass für ihren Flug ein.

Es tut mir leid, Daddy! Sie entschuldigte sich in Gedanken für ihr unangebrachtes Interesse an dieser Zufallsbekanntschaft. Und nicht nur dafür. Sie kämpfte mit den Tränen. Aber sie durfte nicht weinen. Nicht hier. Nicht jetzt!

In Gedanken hörte sie wieder die leise Stimme ihres Vaters. Cowgirls weinen nicht.

Sie war schon seit zehn Jahren kein Cowgirl mehr. Seit sie von zu Hause fortgegangen war, um das College zu besuchen. Und anschließend hatte sie dann den Job in Chicago angenommen. Seither war sie nur wenige Male auf der Ranch gewesen. Sie hasste die Hitze und den Staub. Hasste den Geruch von Pferdemist.

Sie würde die Ranch verkaufen, würde Boots irgendwo gut unterbringen und dann so schnell wie möglich nach Chicago zurückkehren. Das hätte auch ihr Vater von ihr erwartet. Sie hatte ihm oft genug gesagt, sie werde nicht zurückkommen. Werde die Ranch nicht übernehmen.

Der Passagier vor ihr schob seinen Sitz so weit zurück, dass der Kaffee, den die Stewardess gerade gebracht hatte, aus dem Becher schwappte. Der Mann zu ihrer Rechten am Fenster schnarchte. Sein Kopf drohte auf ihre Schulter zu fallen. Sie konnte ihm gerade noch ausweichen, stieß dabei aber die Frau zu ihrer Linken an, was ihr einen eisigen Blick eintrug. Cass verdrehte die Augen. Blieb nur zu hoffen, dass dieser Höllenflug bald zu Ende war.

Sie trank den restlichen Kaffee und reichte der vorbeigehenden Stewardess den leeren Becher und die vollgesogene Serviette. Eine Sardine in der Büchse konnte sich nicht beengter fühlen. Um die Realität auszublenden, schloss sie die Augen. Gedanken an den attraktiven Cowboy vom Vorabend schwirrten ihr durch den Kopf. Sie war sicher, ihn von irgendwo her zu kennen. Da sie nicht viel fernsah, verwarf sie den Gedanken, er könne Schauspieler sein. Konnte sie ihn vom College her kennen? Oder vielleicht noch von der High School? Sie hatte kein gutes Gedächtnis für Gesichter, aber dieser Mann hatte irgendetwas an sich, das vage Erinnerungen wachrief.

Als sie nicht weiterkam, gab sie es schließlich auf. Sie klappte das Tischchen hoch und schloss den kleinen Riegel mit mehr Schwung als nötig. Dann streckte sie die Beine aus und stieß energisch mehrmals mit den Zehen von unten an den Sitz vor ihr. Der Fluggast drehte sich empört zu ihr herum, und sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihm wie eine Zweijährige eine Grimasse zu schneiden. Ihr war alles einerlei. Nach ein paar Sekunden wandte der Mann sich kopfschüttelnd wieder ab, und da er seinen Sitz ein wenig höher stellte, hörte sie auf, dagegenzukicken.

Erinnerungen an ihren Vater kamen hoch und trieben ihr erneut Tränen in die Augen. Vergebens versuchte sie, sie zurückzuhalten. Sie war eine schreckliche Tochter. Ihr Vater war gestorben, und sie hatte es nicht einmal geschafft, rechtzeitig bei ihm zu sein und sich zu verabschieden. Boots hatte sie seit Monaten gebeten zu kommen, und sie hatte es immer wieder hinausgeschoben. Ihr Vater war zu stolz gewesen, selbst anzurufen. Und sie zu stolz, um nachzugeben. Jetzt war es zu spät.

Cass fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Dabei stieß sie mit dem Ellenbogen gegen ihre Nachbarin. Die Frau atmete hörbar ein und beugte sich ein wenig zur Seite. Ihre Miene sprach Bände.

Plötzlich riss der letzte Faden mühsam gezügelter Selbstbeherrschung. „Entschuldigen Sie, dass ich weine!“ Cass machte sich nicht die Mühe, ihre Stimme zu senken. „Mein Vater ist letzte Nacht gestorben, und ich konnte nicht bei ihm sein. Ich bin auf dem Weg nach Hause, um ihn zu beerdigen. Falls mein Weinen Sie zu sehr behelligt, setzen Sie sich doch woanders hin!“

Das allgemeine Gemurmel rundum verstummte abrupt. Cass spürte, dass sie rot geworden war – ein Erbe ihrer Mutter. Sie wurde immer rot, wenn sie wütend wurde, weinte oder zu sehr lachte.

Ihre Sitznachbarin sah sie fassungslos an.

Cassie hatte noch eine Fortsetzung ihrer Tirade auf der Zunge, hielt sie aber doch zurück. Stattdessen verschränkte sie die Arme vor der Brust und starrte mit eisiger Miene geradeaus.

Chance nippte an seinem Kaffee und überflog die Informationen auf dem Bildschirm seines Laptops. Er fand alles Mögliche über seinen Vater. Der Alte tat so, als sei er mit dem legendären goldenen Löffel geboren, aber die Wahrheit sah anders aus. Als junger Mann hatte er auf den Ölfeldern und auch als Rancher gearbeitet. Nebenher hatte er sich als Reiter beim Rodeo Geld verdient.

Und er hatte eine Frau namens Colleen geliebt, bevor er Alice, die spätere Mutter seiner Söhne, kennengelernt und geheiratet hatte. Durfte man den Zeitungen der Zeit Glauben schenken, hatte Cyrus sogar ein paar Tage im Gefängnis verbracht. Das war nach einer riesigen Schlägerei auf einer Rodeo-Veranstaltung in Fort Worth gewesen. Dabei hatte er Ben Morgan ins Krankenhaus gebracht und seine Karriere als Rodeo-Reiter beendet. Kurz darauf hatte Colleen ihm den Laufpass gegeben und Ben geheiratet. Aber Cyrus Barron war nicht der Mann, der seinen Hass auf Ben vergaß. Immer wieder warf er ihm Steine in den Weg, um ihn zu vernichten. Aber Morgan ließ sich nicht beirren. Er baute sich eine Existenz auf, um seiner Frau etwas bieten zu können – zunächst machte er sich einen Namen als Händler für Rodeo-Pferde, dann auch als Pferdetrainer.

Chance rieb sich den schmerzenden Nacken. Sein Vater war kein Mensch. Das Objekt seines Hasses war tot, und nicht einmal jetzt konnte er Ruhe geben. Cord hatte am Morgen eine E-Mail geschickt. Offenbar hatte Ben Morgan einen Kredit bei einer kleinen Bank aufgenommen und als Sicherheit eine Hypothek auf seine Ranch aufgenommen. Diese Bank war unlängst von Barron Enterprises aufgekauft worden. Der Alte wollte, dass Chance sich die Kreditunterlagen besorgte. Da er Ben Morgan nun nicht mehr mit seinem Hass verfolgen konnte, wollte er seinen Feldzug offensichtlich gegen seine Erben fortsetzen und eine Möglichkeit suchen, den Kredit sofort fällig zu stellen.

Typisch sein Vater! Chance musste ihm zugestehen, dass er seinen Gegnern immer mehrere Schritte voraus war. Er selbst hatte den Kauf der Bank seinerzeit für Unsinn gehalten, da der Aufwand in keinem Verhältnis zum Gewinn zu stehen schien. Aber Cyrus bestand auf seinem Willen, sodass Chance schließlich ein paar Experten an Bord holte, die sich mit den Regularien der Übernahme einer Bank auskannten. Der Alte wollte die Bank. Also bekam er die Bank. Und jetzt wusste Chance, wieso.

Er schloss den Laptop und hielt seinen Becher zum Nachfüllen hin, als die Stewardess mit der Kanne vorbeikam.

„Wissen Sie, ich habe gelegentlich Zwischenlandungen in Oklahoma City“, flüsterte sie mit einem vielsagenden Lächeln. Chance sah auf. Sie mochte Ende zwanzig sein. Die Uniform zeigte Rundungen an all den richtigen Stellen. Die Frau war genau sein Typ. Sehr weiblich. Aber noch während er ihr Lächeln erwiderte, erschien ein anderes Gesicht vor seinem geistigen Auge. Sein Herz machte einen Satz. Er wusste nicht einmal ihren Namen, und schon verfolgte sie ihn!

„Tut mir leid, dies ist nur eine kurze Geschäftsreise für mich“, log er. Und während er ihre Enttäuschung registrierte, fragte er sich, was in ihn gefahren war. Wieso lehnte er ein derartiges Angebot ab?

Es war unwahrscheinlich, dass er der Unbekannten je wieder über den Weg laufen würde. Aber hatte er nicht einen Bruder, der Privatdetektiv war und Barron Security leitete? Er würde Cash auf sie ansetzen. Eine Nacht mit ihr, das war alles, was er wollte. Dann hatte er sie wieder aus dem Kopf, da war er sicher.

Er rutschte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her – froh, dass der kleine Tisch und der Laptop seinen Zustand kaschierten. Er wusste nicht, wieso diese Frau ihm so unter die Haut gegangen war, aber genau das hatte sie getan – sie saß fest wie eine Klette unter dem Sattel.

Nach der Landung gehörte er zu den Ersten, die die Maschine verließen. Da er kein Gepäck aufgegeben hatte, konnte er gleich durchgehen zum Parkdeck. Angenehme Märzwärme empfing ihn. Keine Spur von dem Blizzard, der den Norden heimgesucht hatte. Chance registrierte es voll Dankbarkeit. Er hasste Kälte. Hitze natürlich auch. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er irgendwo gelebt, wo das ganze Jahr über eine angenehme Temperatur von zwanzig Grad herrschte.

Nachlässig warf er Tasche und Laptop auf den Beifahrersitz, bevor er seinen schwarzen Audi R8 die Rampe hinunter zum Ausgang rollen ließ. Er stoppte gerade lange genug, um an der Schranke seine Gebühren zu zahlen, dann gab er Gas, ohne auf die Wagen der anderen Spuren zu achten. Das Geräusch bremsender Reifen und ein empörtes Hupen ließen ihn nach links schwenken und einen Aufprall in letzter Sekunde vermeiden. An der nächsten Ampel warf er einen flüchtigen Blick auf den alten Pick-up auf der Nebenspur. Dann sah er genauer hin. Der alte Mann am Steuer sagte ihm nichts, aber die Frau daneben … Ja, das war sie! Die blonde Unbekannte aus dem Hotel! Sie hatte das Fenster heruntergelassen. Die Empörung, die in ihrem Blick brannte, hätte die Metallic-Legierung seines Audis zum Schmelzen bringen lassen können.

Seine Scheiben waren dunkel getönt. Es war also unwahrscheinlich, dass sie ihn erkennen konnte. Als die Ampel umsprang, beschleunigte er nicht wie gewohnt, sondern wartete, bis er sich hinter den Pick-up schieben konnte. Er merkte sich das Nummernschild. Nun hatte er etwas in der Hand, worauf er Cash ansetzen konnte.

Die Welt sah doch gleich ganz anders aus!

„Hast du den Idioten gesehen? Der hat seinen Führerschein wohl aus der Baumschule!“

„Die Leute hier haben etwas mehr Tempo drauf, Babygirl. Ist ja nichts passiert.“ Boots spuckte aus dem Fenster.

„Der Kautabak ist nicht gut für dich, Onkel Boots.“

„Das ist das einzige Laster, das mir geblieben ist, Cassie, und ich werde nicht ewig leben. Lass mir dieses Vergnügen.“

Sie schwieg. Die alte Pferdedecke, die auf dem Sitz lag, kratzte durch ihren Pullover hindurch. Sie hatte die schwere Jacke gleich ausgezogen, als sie den Terminal verlassen hatte. Verglichen mit den Temperaturen in Chicago fühlten sich die zehn Grad in Oklahoma City schon fast sommerlich an. Der Australian Shepherd, der neben ihr auf dem Sitz lag, gähnte. Geistesabwesend kraulte Cass ihm das Fell.

„Dein Leben möchte ich haben, Buddy. Den ganzen Tag nichts anderes tun als in der Sonne schlafen oder Eichhörnchen jagen. Du brauchst dich nicht um die blöden Menschen zu kümmern. Kannst sie einfach wegbeißen oder anpinkeln.“

„Gib acht, was du sagst, Cassidy Anne Morgan! Ich möchte nicht, dass du den armen Hund verdirbst.“

Autor

Silver James
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