Küsse haben keine Kalorien

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Pralinen, Trüffel und feinste Schokoladen: Cafébesitzerin Allison Thomas ist eine Meisterin der süßen Verführung - allerdings nur, was die Herstellung zartschmelzender Köstlichkeiten angeht. Bei Männern hat sie leider kein so glückliches Händchen und lässt zur Sicherheit lieber die Finger vom starken Geschlecht. Bis Matt Baker in ihr Leben tritt. Der attraktive Handwerker renoviert nicht nur ihren Lagerraum, er ist auch die sinnlichste Versuchung, seit es Männer gibt. Doch obwohl Ali in seinen Armen dahinschmilzt, merkt sie, dass es in Matts Vergangenheit Dinge gibt, an denen er noch zu knabbern hat …


  • Erscheinungstag 24.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783956495519
  • Seitenanzahl 368
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Hey, Ali, ich habe einen Mann für Sie gefunden.“ Allison Thomas blinzelte verschlafen und überlegte, ob sie einfach den Kopf unter dem Kissen verstecken sollte, doch das Telefon, das sie gegen das Ohr gepresst hielt, würde dabei irgendwie stören.

„Bin ich denn auf der Suche nach einem Mann?“, fragte sie.

„Aber sicher. Seit Wochen nerven Sie mich schon deswegen.“ Es entstand eine kleine Pause, die von einem ungeduldigen Seufzer unterbrochen wurde. „Ali, ich bin’s, Harry.“

Ali schob das Kissen zur Seite und kam langsam hoch. „Harry?“

Ihr müdes Hirn bemühte sich, unterschiedliche Informationen zusammenzuführen. Harry, der Handwerker ihres Vertrauens. Ihr Geschäft unten im Erdgeschoss. Die Tatsache, dass Harry ihr seit Wochen versprach, in ihrem Laden ein paar Dinge zu erledigen. „Wollen Sie etwa tatsächlich endlich meine Regale bauen?“

„Nee. Ich hab aber einen neuen Typen eingestellt. Wenn der sich gut macht, dann bleibt er vielleicht hier und kauft mir meinen Betrieb ab.“

Ali widerstand dem Bedürfnis, die Augen zu verdrehen. Harry stellte ständig irgendwelche neuen Typen ein, und immer wenn einer von ihnen länger als eine Woche blieb, war Harry überzeugt davon, dass er endlich jemanden gefunden hatte, der ihm seinen kleinen Handwerksbetrieb abkaufen würde.

„Ich hoffe, es klappt“, sagte sie und meinte es durchaus ernst. „Glauben Sie, dass er in der Zwischenzeit ein paar Arbeiten für mich erledigen könnte?“

„Na sicher. Ich hab ihn schon rübergeschickt, damit er mit Ihren Regalen anfangen kann. Ich komme heute Nachmittag mal vorbei, um zu sehen, wie weit er gekommen ist.“

„Okay. Wunderbar.“ Sie erstickte schon fast unter all dem Büromaterial, den Backzutaten und den Pappkartons, die sich in ihrem Lagerraum stapelten. Sie brauchte dort unbedingt vernünftige Staukapazitäten. Auch wenn Harry nicht gerade dafür bekannt war, Leute einzustellen, die man als besonders helle bezeichnen konnte, konnte es doch wohl nicht so schwer sein, ein paar Regale anzubringen und die Wände zu streichen, oder? Wahrscheinlich würde sie es sogar allein schaffen, wenn sie mehr Zeit hätte. Die hatte sie aber nicht. „Wann kann ich mit ihm rechnen?“

„Er müsste jeden Moment da sein.“

„Okay.“ Ali blinzelte und setzte sich dann kerzengerade hin. „Was? Jetzt gleich?“

„Ja, klar. Er ist vor ungefähr fünfzehn Minuten los, aber er kommt zu Fuß.“

Ali blickte an sich herab auf das weiche Baumwoll-Shirt, das ihr nur knapp bis zu den Oberschenkeln reichte. Darunter trug sie … nichts. Ihre Haare waren garantiert völlig zerzaust; sie war zerzaust und definitiv nicht bereit, Harrys Hilfsarbeiter zu empfangen. Innerlich fluchend meinte sie: „Beim nächsten Mal sagen Sie mir bitte ein wenig früher Bescheid, Harry.“

„Klar doch.“

Seine muntere Antwort ließ Ali die Zähne zusammenbeißen. Sie beendete das Gespräch und krabbelte aus dem Bett.

Es war fast acht Uhr, und an einem normalen Morgen wäre sie schon seit Stunden wach. Oder zumindest seit sieben Uhr. Aber sie hatte bis weit nach Mitternacht gearbeitet. Wieder einmal.

Ali zog ihr Nachthemd aus und warf es auf das große Messing-Himmelbett. Dann schlüpfte sie in Jeans und T-Shirt. Als sie im Schrank nach ihren Sneakern suchte, fand sie einen und vergeudete dann wertvolle Minuten mit der Suche nach dem anderen. Verdammt. Irgendwann demnächst würde sie den Schrank aufräumen und sich ein Schuhregal anschaffen, eins mit einer durchsichtigen Tür davor, damit sie sofort sehen konnte, welche Schuhe wo waren. Oder sie würde ganz extravagant sein und einen der Ordnungsfanatiker engagieren, die sich ihr Geld damit verdienten, das Leben anderer Leute zu organisieren. Das war es, was sie wirklich brauchte. Ein neues, perfekt durchstrukturiertes Leben. In der Zwischenzeit würde sie sich schon mit einem Paar zusammenpassender Schuhe zufriedengeben.

„Na endlich hab ich dich“, murmelte sie, als sie unter dem Bett ein vertrautes grünes Schuhband entdeckte.

Auf Socken verzichtend, schlüpfte sie in die Sneaker, ging ihrer schwarz-weißen Katze Domino aus dem Weg, die ihr um die Beine strich, und drehte sich zum Spiegel um. Wie immer waren ihre langen schwarzen Locken wild zerzaust. Bei den Fotomodellen in irgendwelchen Zeitschriften sah so etwas immer richtig stylish aus. Bei ihr dagegen wirkte es eher wie ein schreckliches Vorher-Bild bei einer Verschönerungsaktion. Keine Zeit, dachte sie und wühlte in dem Haufen von Spangen, Make-up und Schmuck auf ihrer Kommode, bis sie ein Haargummi fand und ihre Haare schnell zu einem Pferdeschwanz zusammenband. Sie konnte sich gut vorstellen, wie stylish sie aussah – kein Make-up und ein dichter, buschiger Katzenschwanz auf dem Kopf. Ganz zu schweigen von dem T-Shirt und der Jeans, die beide vom vielen Waschen schon ganz ausgeblichen waren. Ali zuckte mit den Schultern. Sie war beschäftigt, was bedeutete, dass sie keine Zeit hatte, um ein Fashion-Statement abzugeben. Okay, sie hatte nie Zeit, und jegliche Fashion-Statements, die sie abgab, sollten nicht nachgeahmt werden.

Weniger als zwei Minuten später stürmte sie aus dem Badezimmer und eilte nach unten, gerade rechtzeitig, um mitzubekommen, dass jemand ungeduldig an die Hintertür klopfte.

„Bin schon da“, rief sie und lief durch den Lagerraum.

Aber die Person auf ihrer hinteren Veranda war nicht Harrys mysteriöser Hilfsmann. Stattdessen stand ihre Mutter dort – groß, schlank und perfekt zurechtgemacht. Und neben sich, an einer Leine, hielt sie ein hellrosa Schwein.

Ali seufzte. Den meisten Menschen war es vergönnt, ihren Tag mit einem Becher Kaffee und dem Lesen der Zeitung zu beginnen. Sie dagegen wurde mit ihrer Mutter konfrontiert.

„Na, das hat aber gedauert“, meinte Charlotte Elizabeth Thomas vorwurfsvoll, während sie sich an ihrer Tochter vorbeidrängte und in den hinteren Teil des Geschäftes ging. „Miss Sylvie und ich dachten, wir schauen mal auf einen Kaffee vorbei, nachdem wir schon unseren Spaziergang absolviert haben.“ Ihre Mutter kniff die Augen zusammen. „Du hast dir heute Morgen nicht einmal die Haare gebürstet. Und was hast du da überhaupt an?“

„Jeans, Mutter. Ein blau gefärbter Baumwollstoff, der zu Hosen verarbeitet wird, die sowohl Männer als auch Frauen tragen können.“

„Sarkasmus macht dich auch nicht attraktiver, Allison.“

Charlotte Elizabeth bückte sich und löste die Leine von Miss Sylvies Halsband. Das Schwein, das eine so helle Haut hatte, dass es fast wie ein Albino wirkte, trottete zu Ali und schnüffelte an ihren abgetragenen Sneakern. Ali war sich nicht sicher, ob es eine Begrüßung oder eine Kritik sein sollte, eigentlich wollte sie es auch gar nicht wissen. Charlotte Elizabeth drehte sich um und marschierte in Richtung Küche.

„Wir sind eine Stunde lang um den Teich gegangen. Der Arzt hat gemeint, bei richtiger Bewegung sollte das Herz eigentlich keine Probleme mehr bereiten“, rief Charlotte Elizabeth über die Schulter. „Ich gehe lieber hier spazieren als in Los Angeles. Die Seeluft ist sehr erfrischend, und es gibt hier keinen Smog.“

Ali folgte ihrer Mutter in die Küche und sah zu, wie Charlotte Elizabeth die Kaffeekanne mit Wasser füllte und es dann in die Maschine schüttete. Nachdem sie sechs Löffel aromatisierten Kaffee eingefüllt hatte, schloss sie den Deckel und drückte auf die Starttaste.

„Es freut mich, dass der medizinische Bericht so positiv ist“, sagte Ali und versuchte, ein wenig Enthusiasmus und Ernsthaftigkeit in ihre Stimme zu legen. Schließlich redeten sie hier über das Herz des Schweins, nicht das ihrer Mutter. Aber auch wenn Ali nicht verstehen konnte, was ihre Mutter an diesem großen, plumpen Tier fand, waren Charlotte Elizabeth und Miss Sylvie unzertrennlich.

Wie konnte es angehen, dass eine ansonsten intelligente, gebildete Frau sich solch ein Haustier anschaffte? Wieso konnte ihre Mutter nicht so sein wie die exzentrischen Verwandten von anderen Leuten, die einfach nur Dutzende von Katzen oder kleine Hunde um sich scharten? Ali konnte ja noch verstehen, dass jemand irgendwelche streunenden Tiere bei sich aufnahm, das hatte sie im Laufe der Jahre auch immer mal wieder getan. Aber ein Schwein? Und nicht mal eins von diesen niedlichen kleinen Schweinchen. Nein, Miss Sylvie, das waren mehrere hundert Pfund blasses, sonnenbrandanfälliges Schweinefleisch auf Hufen – oder worauf auch immer Schweine so liefen.

Charlotte Elizabeth tätschelte den großen Kopf des Schweins. „Ich glaube, diese neue Sonnencreme hilft wirklich. Habe ich dir davon erzählt? Die habe ich in einem Katalog gefunden. Ich liebe es, Sachen im Versandhandel zu bestellen. Es ist eine rein pflanzliche Sonnencreme, die garantiert keine allergischen Reaktionen hervorruft. Denn darüber machen wir uns immer Sorgen, nicht wahr, Liebling?“

Miss Sylvie antwortete mit einem Grunzen.

„Du könntest sie hier im Laden vertreiben.“

Ali schaute ihre Mutter entgeistert an. „Die Sonnencreme?“

„Du magst doch natürliche Produkte.“

„Dies hier ist ein Süßwarengeschäft, Mutter. Schokolade, Kekse, Scones und Muffins. Kein Laden für Sonnencreme.“

„Na ja, stimmt. Obwohl es dir nicht schaden könnte, dein Angebot zu erweitern. Ach, und da wir gerade davon sprechen – von Muffins, meine ich, nicht vom Expandieren –, hast du noch welche von diesen fettreduzierten in deinem Gefrierschrank?“

„Ja.“ Ali deutete auf den Gefrierschrank auf der anderen Seite ihrer großen Küche. „Ich habe ungefähr vier Dutzend gebacken und vielleicht drei innerhalb von zwei Tagen verkauft.“

Ihre Mutter öffnete die Tür und blickte auf die beschrifteten Behälter darin. „Drei Dutzend ist exzellent. Das bedeutet fünfundsiebzig Prozent von dem, was du gebacken hast. Nicht schlecht für ein neues Produkt.“

Schön wär’s, dachte Ali. „Nein, Mutter. Ich habe drei Muffins verkauft. Die anderen fünfundvierzig musste ich einfrieren.“

Sie hatte ihre Lektion gelernt. Fettreduzierte Produkte jeglicher Art ließen sich in ihrem Laden Decadent Delight nicht gut verkaufen. Die Leute reisten von weit her an, um ihre Gourmet-Schokolade zu erstehen, und wenn sie einmal hier waren, wollten sie nicht über gesundes Essen oder über reduzierte Kalorien nachdenken.

„Zumindest kommen sie nicht um. Ich dachte, statt eines Scones könnte ich Miss Sylvie einen fettreduzierten Muffin geben.“ Ihre Mutter blickte auf und lächelte. „Sie genießt eine Leckerei zu ihrem Kaffee am Morgen.“

Ali starrte in das aparte Gesicht ihrer Mutter. Charlotte Elizabeth hatte große grüne Augen, eine kleine Nase und einen perfekt geschnittenen Mund. Ihre Gesichtszüge wiesen eine Symmetrie auf, die weniger gesegneten Sterblichen das Gefühl vermittelte, im Vergleich dazu völlig deformiert zu sein. Obwohl sie schon fast fünfundsechzig war, hatte Charlotte Elizabeth eine glatte, fast faltenfreie Haut. Teilweise war das das Resultat sorgfältig geplanter Schönheitschirurgie, doch größtenteils war das auf hervorragende Gene zurückzuführen.

Ich dagegen, dachte Ali resigniert, komme natürlich nach meinem Vater.

Charlotte Elizabeth fand den großen Behälter mit den Muffins und nahm einen heraus. Sie legte ihn auf einen Teller und stellte ihn in die Mikrowelle, die neben der großen Spüle in der Ecke stand. Während sie wartete, schaute sie durch die offene Tür, die zu Alis Lagerraum führte, und runzelte die Stirn. Mit ihrem scharfen Blick erfasste sie die Stapel an Vorräten für den Laden, das Büro und die Küche. Ungeöffnete Säcke mit Zucker standen neben Kartons mit Briefumschlägen.

„In dem Raum herrscht ja das reinste Chaos. Du solltest dir ein paar Regale anbringen lassen.“

„Lustig, dass du das erwähnst“, erwiderte Ali, fand es jedoch sinnlos zu sagen, dass eine Renovierung schon lange geplant war. Genau genommen müsste Harrys Hilfsmann jede Minute hier eintrudeln. Bitte, lieber Gott, dachte sie flehend, lass ihn schnell auftauchen, damit er mich von dieser Naturgewalt in Form meiner Mutter rettet.

Die Mikrowelle piepte im selben Moment, als die Kaffeemaschine einen dezenten Ton von sich gab, um anzudeuten, dass sie bereit war, ihren heißen Zaubertrank preiszugeben. Miss Sylvie kam, wo auch immer sie gewesen war, angetrottet und grunzte begeistert.

„Einen Moment noch, Liebling“, beruhigte Charlotte Elizabeth das Schwein. Sie schnitt den Muffin auf und pustete, um ihn abzukühlen. Dann goss sie Kaffee auf einen Unterteller und pustete noch einmal.

„Hast du mich eigentlich auch jemals so gut behandelt, als ich noch ein Kind war?“, fragte Ali, während sie dem gut eingespielten Ritual zusah.

„Natürlich. Kannst du dich nicht daran erinnern?“

„Nicht wirklich. Ich glaube, Rick und ich sind zu kurz gekommen. Miss Sylvie erhält viel mehr Aufmerksamkeit von dir.“ Das meinte Ali nur halb scherzhaft. Konnte man das Verhalten ihrer Mutter eigentlich noch normal nennen, oder fiel es schon in eine andere, sehr viel beängstigendere Kategorie? Und war das vielleicht auf ihr Alter zurückzuführen? „Mutter, bist du in letzter Zeit ein wenig vergesslich? Nimmst du deine Hormone auch regelmäßig?“

Charlotte Elizabeth stellte den Unterteller mit dem Kaffee und den Muffin-Teller auf den Boden, bevor sie das Schwein streichelte. „Wenn du damit andeuten willst, dass ich nicht mehr ganz richtig im Kopf bin, höre ich dir gar nicht zu. Ich schenke meine Liebe Miss Sylvie, weil ich keine Enkelkinder habe, die ich verwöhnen kann. Ich bin fast sechzig. Ich habe Enkelkinder verdient.“

„Fünfundsechzig“, korrigierte Ali sie geduldig, wohl wissend, dass sie selbst Schuld hatte, wenn jetzt eine Tirade mit der Heftigkeit eines Wintersturms über sie hereinbrechen würde. Schätzungsweise würden jetzt gleich Blitz und Donner auf sie niedergehen, ganz zu schweigen von den dunklen Wolken und den eisigen Temperaturen, die nun drohten. Schon unzählige Male hatten sie und ihre Mutter sich über dieses Thema gestritten. Warum konnte sie es nicht einfach gut sein lassen? Charlotte Elizabeth hatte eine seltsame Beziehung zu einem Schwein, na und? War das so ungesund?

„Versuch nicht, mich mit der Wahrheit abzulenken“, schimpfte ihre Mutter, während sie sich einen Kaffee einschenkte. „Hättest du geheiratet und ein paar Babys bekommen, so wie die Kinder von anderen Leuten auch, dann wäre ich nicht allein. Aber nein. Du wolltest ja unbedingt Karriere machen und ein Geschäft eröffnen. Also musste ich mir ein Schwein anschaffen, damit ich jemanden habe, den ich auf meine alten Tage verwöhnen und mit dem ich kuscheln kann.“

Ali blickte auf Miss Sylvies stattlichen Körperumfang. Das Schwein war niedlich, vor allem wenn ihre Mutter es, passend zur Jahreszeit, mit Jäckchen und flotten Hüten ausstaffierte, aber es war nun wirklich alles andere als ein Schoßtier. „Wie genau kuschelst du mit ihr?“

„Du weißt, was ich meine.“

Genau genommen wusste Ali es nicht, aber sie überlegte sich, dass es wohl kein guter Zeitpunkt war, um nachzuhaken. Im Grunde wollte sie es auch gar nicht wissen.

„Möchtest du auch einen Kaffee?“, fragte ihre Mutter.

Ali nickte. Sie brauchte den Koffeinschub, um auf Zack zu sein. Charlotte Elizabeth war ja vieles, aber dumm war sie nicht. Und sie konnte ziemlich stur werden, wenn etwas nicht nach ihrem Willen ging. Wenn Ali sie nicht schnell ablenkte, dann würde sie sich den Rest des Morgens anhören müssen, wie schrecklich es war, keine Enkelkinder zu haben. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, nahte Alis dreißigster Geburtstag – in einer Woche war es so weit. Glücklicherweise gehörte Charlotte Elizabeth nicht zu den Menschen, die sich Geburtstage gut merken konnten, und das nächste Wochenende würde sie in Los Angeles verbringen. Mit ein bisschen Glück vergaß sie den großen Tag, an dem ihre Tochter die unsägliche Drei vor der Null erreichte. Sollte Charlotte Elizabeth sich allerdings doch daran erinnern, dann würde Ali das noch ewig vorgehalten bekommen.

Ihre Mutter vertrat die Ansicht, dass es ein schreckliches Schicksal war, fast schlimmer als der Tod, wenn eine Frau dreißig wurde, ohne verheiratet zu sein. Noch dazu, wenn nicht einmal die Spur eines Mannes in Sicht war. Dieser Fehler wog sogar noch schwerer als neue Falten.

Die Tatsache, dass Ali ein schlechtes Gewissen hatte, was das Thema Enkelkinder anging, machte die Sache nicht besser. Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie ihrer Mutter Enkelkinder schuldete. Und noch weitaus mehr.

„Du siehst sehr gut aus“, wechselte sie hastig das Thema.

Es war ein schwacher Ablenkungsversuch, aber das Beste, womit sie unter all diesem Druck aufwarten konnte. Zum Glück entsprach es der Wahrheit. Ihre Mutter trug einen rosafarbenen Jogginganzug, der an anderen Frauen altbacken gewirkt und die Illusion vermittelt hätte, dass sie zehn oder fünfzehn Pfund mehr wogen, aber hier ging es ja um ihre Mutter. Natürlich schaffte Charlotte Elizabeth es, sowohl modisch als auch gertenschlank auszusehen. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass sie viele Jahre lang als Schauspielerin gearbeitet hatte. Sie hatte für jede Gelegenheit die passende Garderobe und zudem die Gabe, genau zu wissen, wann sie was tragen musste.

„Glaub ja nicht, ich wäre schon so senil, dass du mich mit einem albernen Kompliment ablenken könntest“, erwiderte ihre Mutter und funkelte sie böse an. „Was ist mit meinen Enkelkindern?“

Ali stöhnte. Es war ja nicht so, dass sie kein Kind wollte. Im Gegenteil, sie wünschte sich verzweifelt Kinder. Aber unter den richtigen Bedingungen und im richtigen Moment. Und nicht auf Befehl ihrer Mutter.

Sie holte tief Luft und versuchte noch einmal, ihre Mutter mit einem anderen Thema abzulenken. „Ich wünschte wirklich, ich würde so toll aussehen wie du.“

„Wenn du ein wenig Zeit und Mühe investieren würdest, könntest du das auch.“

„Zeit ist das Einzige, was ich nicht im Übermaß habe.“

„Zeit und Mühe sind nicht dasselbe. Du könntest dir mal die Haare schneiden lassen oder dir was anderes anziehen. Nimm dir ein Beispiel an Clair, die immer elegant aussieht. Sie ist nicht zu beschäftigt, um attraktiv auszusehen.“

Ali zuckte zusammen. Jetzt wurde ihr schon ihre beste Freundin als Vorbild vorgehalten. Verdammt. Noch bedauerlicher war, dass sie schlecht behaupten konnte, ihr Leben wäre im Vergleich zu Clairs so viel komplizierter. Clair schaffte es, fast genauso perfekt auszusehen wie Charlotte Elizabeth, während sie zwei Kinder großzog, verheiratet war, mehreren Wohltätigkeitsvereinen in Los Angeles vorstand und ihrem Ehemann gelegentlich auf dessen Weingut half. Ach ja, und schwanger war sie auch noch. Das Einzige, was Ali vorweisen konnte, waren ein Süßwarengeschäft und eine Katze.

Charlotte Elizabeth musterte ihre Tochter kritisch. „Du bist fast eins siebzig groß, was nicht gerade Modelmaße sind, aber es ist auch nicht so klein, dass du dir Sorgen darum machen müsstest, dass modische Sachen an dir nicht gut aussehen.“

Ali schloss die Augen und seufzte. Sie hatte es sich selbst zuzuschreiben. Jetzt war ihre Mutter in Fahrt und würde kaum mehr zu bremsen sein.

„Du hast meine Brüste und meine Beine geerbt“, fuhr Charlotte Elizabeth fort. „Beides sieht spektakulär aus. Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich gebeten wurde, oben ohne zu posieren, was ich natürlich verweigert habe. Das wäre zu billig gewesen. Aber es würde dich nicht umbringen, wenn du hin und wieder mal ein wenig mehr Dekolleté oder Bein zeigen würdest. Und du hast wunderhübsche große Augen, Schätzchen. Mach davon Gebrauch. Ändere mal deinen Stil. Ich würde dir auch gern …“

Miss Sylvie hatte ihren Morgenkaffee und den Muffin vertilgt und kam nun schnüffelnd näher, auf der Suche nach mehr. Das Schwein schaffte, was Ali nicht gelungen war, es lenkte ihre Mutter ab. „Nein, Liebling, mehr gibt es nicht. Du musst darauf achten, was du isst. Dein Herz, Liebling. Hast du es schon vergessen?“

Miss Sylvies kleine Schweinsäuglein blickten enttäuscht drein. Sie ging zurück zu den leeren Tellern und schnüffelte hoffnungsvoll daran herum.

„Was ist jetzt mit meinen Enkelkindern?“, wollte Charlotte Elizabeth noch einmal wissen.

Ali wusste nicht, was schlimmer war. Die Ich-will-Enkelkinder-Ansprache oder die Runderneuerungsansprache. „Lass mich in Frieden, Mutter. Wenn du was Hübsches willst, such dir ein Model. Und wenn du Enkelkinder möchtest, geh und rede mit Rick.“

Ihre Mutter gab einen missbilligenden Ton von sich. „Erstens ist es nicht nett von dir, so etwas zu sagen. Rick ist ein wunderbarer junger Mann, aber er hat seine Beschränkungen. In der Regel bekommen schwule Männer nicht so häufig Kinder. Zweitens ist er mein Stiefsohn, nicht mein eigen Fleisch und Blut. Es wäre nicht dasselbe.“

„Die Empfehlung, dir ein Enkelkind zu mieten, wäre also auch keine Lösung? Sehr schade. Ich wette, Clair würde dir nur zu gerne eins von ihren Kindern mal ausleihen.“

Charlotte Elizabeth seufzte. „Du weißt, dass ich immer versucht habe, dir eine gute Mutter zu sein. War ich nicht für dich da? Habe ich dir nicht Kekse gebacken und dich immer gefragt, wie dein Tag war?“

„Du hast mich nach meinem Schultag gefragt, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass du je gebacken hättest.“

Charlotte Elizabeth überlegte kurz. „Na gut, aber ich habe jemanden dafür bezahlt, dass er backt, also waren immer Kekse im Haus. Das zählt.“

Wenn Ali ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass es wirklich zählte, aber das würde sie jetzt niemals zugeben. „Such mir einen Mann, und dann reden wir über Enkelkinder. Bis dahin lass mich einfach in Ruhe.“

Kaum waren die Worte aus ihrem Mund, hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Sie müsste es doch eigentlich besser wissen. Wenn es eine Sache gab, die man niemals tun durfte, dann war das, jemandem aus ihrer Familie eine solche Steilvorlage zu liefern. Noch dazu ihrer Mutter.

Perfekt geschwungene Augenbrauen hoben sich zum perfekt geschnittenen Pony. „Wirklich?“ Ihrer Mutter gelang es, das Wort fast vier Sekunden in die Länge zu ziehen.

Hastig versuchte Ali, den verlorenen Boden wiedergutzumachen. „Nein, das war ein Scherz. Haha. Sehr witzig, oder? Du wärst fast darauf reingefallen, was?“

Charlotte Elizabeth ließ sich davon nicht beeindrucken.

Glücklicherweise klopfte in diesem Moment jemand an die Hintertür.

„Das ist bestimmt der Hilfsmann“, sagte Ali. „Harry hat ihn rübergeschickt, damit er mir ein paar Regale baut.“

„Du gestattest?“, sagte Charlotte Elizabeth und marschierte dann, ohne eine Antwort abzuwarten, nach hinten.

Ali starrte ihr hinterher und überlegte, warum ihre Mutter sich auf einmal für den Handwerker interessierte. Charlotte Elizabeth hatte es gern, wenn in ihrem Leben alles reibungslos lief. Allerdings wollte sie mit solchen Details wie Reparaturen oder Bauarbeiten nicht belästigt werden. Sie wollte nur …

Ali fluchte laut und rannte hinter ihrer Mutter her. Harrys Hilfsmann – hatte der arme Kerl eigentlich einen Namen? – war der Neue in der Stadt. Ali hatte ihre Mutter gerade herausgefordert. Wenn der Mann noch eigene Zähne im Mund hatte, keinen allzu großen Buckel besaß und keine Warzen seine Nase zierten, könnte es sein, dass Charlotte Elizabeth versuchen würde …

Sie blieb abrupt stehen. Zu spät. Die Unterhaltung drang durch die halb geöffnete Tür zum Vorratsraum, und Ali konnte nichts anderes tun, als erstarrt und gedemütigt dazustehen und zu lauschen.

„Also, Mr … Baker, sagten Sie?“

„Ja, Ma’am. Aber Sie können mich ruhig Matt nennen.“

„In Ordnung. Sagen Sie, Matt, sind Sie verheiratet?“

Ali schloss die Augen und ließ sich gegen den Türrahmen des Lagerraums sinken. Das konnte doch nicht wahr sein, oder? Vielleicht würde sie, wenn sie ganz fest an eine andere Szene, einen anderen Ort oder vielleicht sogar eine andere Zeit dachte, auf wundersame Art und Weise dorthin verschwinden? Dann müsste sie nicht hier in ihrem eigenen Geschäft stehen und sich von ihrer eigenen Mutter derart demütigen lassen.

Etwas stupste gegen ihren Fuß. Als sie nach unten sah, entdeckte sie Miss Sylvie, die erneut ihren Schuh inspizierte. Offenbar war der Muffin nicht zufriedenstellend gewesen.

„Ich frage nur, weil meine Tochter Allison ganz bezaubernd ist. Außerdem ist sie Single. Das bedeutet aber nicht, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Sie ist einfach nur zu beschäftigt.“

Ersticktes Lachen versuchte sich einen Weg durch Alis zugeschnürte Kehle zu bahnen. Beschäftigt? Etwas Besseres fiel ihrer Mutter nicht ein, um den Mangel an männlichen Bekannten zu erklären? Beschäftigt? Nach dem Motto: Wenn sie erst einmal die letzte Sockenschublade aufgeräumt hat, dann kann sie sich auch um ihr Privatleben kümmern?

Ali hörte, wie jemand sich räusperte, und sie vermutete, das es nicht ihre Mutter war. Die männliche Stimme, die folgte, bestätigte ihre Vermutung. „Ma’am, ich bin nur wegen der Regale hier.“

„Oh.“ Enttäuschung schwang in Charlotte Elizabeths Stimme mit. „Sie mögen keine Frauen. Ich verstehe schon. Na ja, mein Sohn Rick ist auch schwul, obwohl ich glaube, er steckt gerade in einer festen Beziehung. Und selbst wenn es nicht so wäre und ich ihm sein Glück wirklich gönne, hatte ich doch eher an eine etwas traditionellere Beziehung gedacht.“ Sie hielt inne und fuhr dann voller Selbstvertrauen fort. „Wissen Sie, ich wünsche mir nämlich Enkelkinder.“

„Ma’am, ich bin nicht schwul. Ich bin hier, um Regale anzubauen.“

Ali spürte, dass sie vor Verlegenheit knallrot wurde. Trotzdem zwang sie sich, sich vom Türrahmen abzustoßen und um Miss Sylvie herumzugehen. Das reichte jetzt aber wirklich.

„Mutter, lass den armen Mann in Ruhe“, sagte sie forsch, als sie zur Tür ging. Der einzige Weg, diesem unglaublich demütigenden Moment zu entkommen, war, die Tatsache zu ignorieren, dass ihre eigene Mutter sie gerade wie einen alten Schaukelstuhl auf einem Flohmarkt feilgeboten hatte. „Harrys Mitarbeiter ist hier, um Regale zu bauen, nicht, um sich von dir drangsalieren zu lassen.“

Sie trat auf die Veranda und lächelte strahlend. „Hallo. Ich bin Allison Thomas. Meine Mutter haben Sie ja schon kennengelernt.“

Es war ein schöner Tag, und die Sonne stand bereits hoch am Horizont. Ali musste kurz blinzeln, bis ihre Augen sich an das helle Licht gewöhnt hatten. Und dann musste sie noch einmal blinzeln, denn der neue Gehilfe gehörte nicht zu den schrägen Typen, die Harry sonst so engagierte. Dieser Typ – sie blinzelte erneut und musste aufschauen – war im Gegensatz dazu viel zu groß und viel zu gut aussehend.

„Er will Rick nicht“, meinte Charlotte Elizabeth munter. „Also würde ich sagen, er gehört dir.“

2. KAPITEL

Ali öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Das war alles viel zu peinlich. Noch ärgerlicher war, dass Harrys Gehilfe sie ansah, als wäre diese ganze peinliche Angelegenheit ihre Schuld. Oh, verdammt, jetzt würde sie diese Regale vermutlich doch nicht gebaut bekommen.

In diesem Moment tapste noch jemand durch die offene Hintertür. Miss Sylvie gesellte sich zu ihnen auf die Veranda.

„Das ist mein Schwein“, erklärte Charlotte Elizabeth. „Miss Sylvie, das ist Matt. Er ist hier, um Ali mit ihrem schrecklich unordentlichen Lagerraum zu helfen. Und darüber sind wir sehr froh, oder?“

Der letzte Satz kam in einem Ton heraus, den Menschen häufig anschlugen, wenn sie mit Babys redeten. Ali erschauderte. Wenn all das hier schon vor neun Uhr morgens passierte, wie würde dann der Rest ihres Tages aussehen?

Sieh zu, dass du die Sache unter Kontrolle kriegst, ermahnte sie sich und trat einen Schritt weiter auf die Veranda. „Sie sagten, Sie sind Matt?“

„Ja, Ma’am. Matt Baker.“ Er deutete auf den Werkzeuggürtel, den er sich um seine schmale Hüfte gebunden hatte. „Ich kann sofort loslegen, wenn Sie auch so weit sind.“

„Aber sicher. Mein Lagerraum ist da hinten. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.“ Sie hielt kurz inne und sah zu ihrer Mutter hinüber. „Bleibst du noch?“ Bitte, sag Nein.

Charlotte Elizabeth hob die Augenbrauen, bevor sie sich – die reine Unschuld – an die Brust tippte. „Du weißt, dass ich mich nie in deine Arbeit einmische, Liebes. Wir machen uns jetzt auf den Heimweg.“ Sie lächelte Matt an. „Es war nett, Sie kennenzulernen. Ich hoffe, ich sehe später noch etwas mehr von Ihnen.“

Charlotte Elizabeth hätte dem Alter nach zwar die Mutter dieses Handwerkers sein können, aber Ali wusste aus Erfahrung, dass sie nicht davon sprach, Matt demnächst mal wiederzusehen. Wenn ihre Mutter „mehr“ sagte, meinte sie mehr. Und zwar in dem Sinne von „Wäre es nicht nett, wenn dieser gut aussehende junge Mann bei der Arbeit sein Hemd ausziehen würde?“

Ihr Leben lang hatte Ali darum gebetet, eine normale Mutter zu haben. Leider hatte Gott sie nie erhört. Vielleicht hätte sie stattdessen lieber um mehr Geduld bitten sollen.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Matt Baker zu, der sie unverwandt ansah. Bei einem anderen Mann hätte sie einen derartigen Blick vielleicht als eine Art von Interesse gedeutet. Doch Matt schaute sie nicht so an, wie ein Mann eine Frau ansah. Vielleicht war es ihre Einbildung, aber es kam ihr vor, als würde er sie gar nicht richtig wahrnehmen. Oder vielleicht hatte er auch nur Angst, dass sie genauso seltsam war wie Charlotte Elizabeth.

Was auch immer er dachte – oder nicht dachte –, spiegelte sich jedenfalls nicht auf seinem Gesicht wider. Er sah ziemlich gut aus mit den dunklen Haaren, die er sich aus dem Gesicht gestrichen hatte, und den braunen Augen, die ein wenig traurig und nachdenklich wirkten. Die gebräunte Haut und die attraktiven Falten auf seiner Stirn und in den Augenwinkeln zeugten von langen Arbeitsstunden im Freien. Er war schlank und muskulös, wenn auch fast ein wenig zu dünn.

Sie schenkte ihm ein Lächeln, das er jedoch nicht erwiderte. Okay, übermäßig freundlich schien er nicht zu sein. Kein Lächeln, kein Smalltalk. In Ordnung, sie konnte auch nicht reden. Schließlich war sie nicht auf der Suche nach einem neuen besten Freund. Ihr ging es nur um die Regale. Sobald sie ihm die Anweisungen erteilt hatte, würde sie kein Wort mehr sagen.

„Wie gesagt: Der Lagerraum ist da hinten“, murmelte sie, bevor sie sich zum Haus umdrehte und wieder hineinging.

Matt folgte ihr. Für einen so stattlichen Mann ging er ziemlich leise. Okay, eher groß als stattlich. Auch wenn er bestimmt gut einen Meter achtzig maß, bezweifelte Ali, dass er auch nur ein Gramm Fett an seinem Körper hatte. Sie fragte sich, ob er so schlank war, weil er es wollte, oder ob das an den Umständen lag. Sollte es an den Umständen liegen, würde Harry schon dafür sorgen, dass seine Aushilfskraft in Zukunft genügend zu essen bekam. Der alte Handwerker hatte Matt vermutlich schon einen Platz zum Schlafen angeboten. Harry neigte dazu, Leuten Arbeit zu geben, die es nie lange an einem Ort hielt. Sie arbeiteten ein paar Wochen bei ihm und zogen dann weiter. Ali hoffte, dass Matt wenigstens so lange blieb, bis die Regale fertig waren.

„Willkommen in meinem Leben“, sagte sie und blieb mitten im Lagerraum stehen. Hier herrschte das reinste Chaos. Sie benutzte alte Bücherregale, um ihre Vorräte unterzubringen, aber die boten längst nicht genügend Stauraum. Zwei Campingtische, die in der Mitte standen, dienten als Arbeitsfläche. Das Linoleum auf dem Boden war alt, aber sauber, doch es musste dringend ersetzt werden.

Sie deutete auf das Chaos und erklärte mit einem leicht schiefen Grinsen: „Ich stelle mir diesen Raum immer als eine Metapher für mein Innenleben vor. Eine Kombination aus nicht zusammengehörenden Teilen, die so magisch wie Schokolade oder so praktisch wie Büromaterial sein können.“ Sie hielt inne. „Okay, das mit dem Praktischen war ein Witz. Bis jetzt jedenfalls. Aber es ist ein Ziel, auf das ich hinarbeite.“

Die Hände in die Hüften gestemmt, drehte sie sich langsam im Kreis. „Was ich gern hätte, ist Folgendes: einen Schrank für mein Büromaterial. Irgendwo, wo er nicht im Weg ist, vielleicht dort drüben an der Wand.“

Sie deutete nach rechts.

„An den anderen Wänden hätte ich gerne offene Regale für den Küchenkram. Zucker, Mehl, Schokolade.“ Sie schaute ihn an und lächelte. „Vielleicht haben Sie das Schild vorn bemerkt. Der Laden heißt Decadent Delight – es ist eine Confiserie mit der besten Schokolade weit und breit.“

Keine Antwort. Okay, also war er ein gut aussehender Pantomime.

„In der Mitte hätte ich gern zwei Reihen Tische. Wir verschicken viele Bestellungen mit der Post, und dafür brauchen wir Arbeitsfläche. Unter den Tischen sollten noch Regale angebracht sein. Vielleicht ein tiefes rechts und zwei auf der anderen Seite. Bevor die Regale aufgebaut werden, müssten die Wände gestrichen und der Fußboden erneuert werden. Was meinen Sie?“

Matt schaute sich um und nickte. „Kein Problem.“

Es spricht?

Sie ging ans andere Ende des Raumes, wo eine lange Papprolle zwischen einem Bücherregal und einem Sack Mehl stand. „Ich habe sogar schon Pläne gezeichnet. So weit bin ich mit Harrys letztem Gehilfen immerhin gekommen.“ Sie öffnete die Rolle und breitete die Zeichnungen auf dem Tisch aus.

Matt kam näher und betrachtete sie. Ali war überrascht, als sie einen frischen, maskulinen Geruch wahrnahm. Kein Aftershave, aber die Essenz des Mannes selbst. Es war ein sehr, sehr netter Duft, und als ihr Magen anfing zu knurren, hatte sie das dumme Gefühl, dass es in diesem Fall nicht nur am ausgefallenen Frühstück lag.

Er musterte den schlichten Entwurf für die Regale, ehe er zur zweiten Seite blätterte. „Kein Ding“, murmelte er, ohne sie anzuschauen. „Wenn der Fußboden neu gemacht werden soll und die Wände noch frische Farbe brauchen, dann reden wir hier von einer Woche Arbeit.“ Er blickte auf den Boden und tippte mit der Fußspitze auf das Linoleum. „Vielleicht noch einen zusätzlichen Tag, um dieses Zeug abzubekommen. Je nachdem wie es verklebt ist.“

„Es gibt da allerdings ein kleines Problem“, warf Ali ein, während sie sich dafür hasste, dass es ihr irgendwie gefiel, neben diesem Typen zu stehen. Sie konnte praktisch die Wärme spüren, die von ihm ausging. Was natürlich völlig idiotisch war. Er war ein Mensch, keine Heizung. „Ich kann nicht meinen ganzen Stauraum aufgeben. Der Job muss etappenweise gemacht werden, weil ich den Platz brauche. Hier gehen ständig Leute ein und aus.“

Sie hob eine Hand und begann an den Fingern aufzuzählen. „Meine Mutter und Miss Sylvie.“ Sie grinste. „Beängstigend, aber wahr. Dann sind da noch meine Angestellten. Ich habe Teilzeitkräfte, die im Laden und in der Küche arbeiten. Außerdem kommen zwei Collegestudenten, um beim Verpacken zu helfen. Die Kunden stellen kein Problem dar. Die wenigsten kommen bis hier nach hinten, obwohl die Einheimischen oft die Hintertür benutzen.“

Er runzelte die Stirn. „Mich wundert, dass das Geschäft so gut läuft.“

„Hey, wir sind hier in Saint Maggie. Aufgrund all der Weingüter, der Nähe zum Meer, des Spas, einer Frühstückspension, ganz zu schweigen von der Teestube gegenüber, bekommen auch wir unseren Anteil an Touristen ab.“

Wieder runzelte er die Stirn. Ooh, das sieht einfach toll aus, dachte Ali. Ihr gefiel es, wie er seine Augenbrauen zusammenzog und seine Stirn in Falten legte.

„Saint Maggie?“, fragte er.

„Santa Magdelana“, erklärte sie. „Saint Maggie sagen die Einheimischen. Also, sind Sie noch immer gewillt, den Job anzunehmen? Ich meine, wir reden hier von einem Haufen Arbeit sowie von meiner Mutter und dem Schwein.“

Er starrte sie an. Irgendwie war der Blick, mit dem er sie betrachtete, merkwürdig. Eindringlich, doch zugleich völlig emotionslos. Als hätte dieser Mann keine Seele. Das bedeutete, er war gut aussehend, aber mysteriös. Ein Spion vielleicht? Quatsch. Eher ein …

Das geht dich überhaupt nichts an, ermahnte sie sich.

Hastig presste Ali die Lippen aufeinander. Sie wusste nicht, wer oder was er war. Und es konnte ihr auch völlig egal sein. Matt Baker war nicht ihr Problem.

„Können wir mal kurz über das Schwein reden?“, fragte er.

Eine halbe Sekunde lang flackerte in seinen Augen etwas auf, und Ali dachte schon, er würde lächeln. Vor Erwartung hielt sie doch tatsächlich die Luft an, doch dann verschwand das Flackern wieder – zusammen mit ihrer Hoffnung.

„Tja, das Schwein. Was soll man dazu sagen? Die Mütter anderer Leute sammeln Spitzendeckchen oder diese Puppen, die man im Teleshopping-Sender kaufen kann. Meine Mutter hat ein Schwein. Es ist ein harmloses Hobby. Alles in allem ist Miss Sylvie ziemlich sauber und wohlerzogen. Das größte Problem ist, dass ihre Haut sehr lichtempfindlich ist und daher ständig mit Sonnenmilch eingecremt werden muss.“ Sie machte eine kleine Pause und wartete auf das Lächeln, das nicht kam.

Fast hätte Ali ihm erklärt, dass es ihn nicht umbringen würde, mal ein bisschen freundlicher zu sein, doch dann erinnerte sie sich noch einmal daran, dass er ihr völlig egal sein konnte. Das Einzige, was zählte, war ihr neuer Vorratsraum. Wenn Harrys Aushilfskraft sich darum kümmerte, war sie mehr als zufrieden.

Matt rollte die Pläne wieder zusammen. „Ich müsste mal Ihr Telefon benutzen, damit ich Harry durchgeben kann, was ich alles brauche“, sagte er.

Sie deutete den Flur entlang. „Im Büro ist eins. Oh, und in der Küche ist Kaffee. Bedienen Sie sich.“

Matt marschierte davon, ohne noch etwas zu sagen.

Idiot, dachte sie, als sie hinter ihm herging, dann die Treppe hinaufstieg und die Tür zu ihrem Appartement hinter sich schloss. Klar, er sah ziemlich gut aus. Aber irgendwie war er trotzdem nicht ihr Typ. Nicht, dass sie einen Typ hatte. Aber sie könnte einen Typ haben, wenn sie besser organisiert wäre. Okay, eins nach dem anderen.

Willkommen in der Welt der Irren. Na gut, der leicht Irren, korrigierte sich Matt am Nachmittag, als er das uralte Linoleum vom Boden löste und ein meterlanges Stück hochriss. Decadent Delight war kein Ort für Leute mit schwachen Nerven. Seit neun Uhr heute Morgen hatte er eine weitere Begegnung mit dem Schwein gehabt, war von Highschool-Mädchen gemustert worden, die noch gar nicht alt genug waren, um überhaupt jemanden zu mustern, schon gar nicht einen Mann, der allmählich auf die Vierzig zuging. Er war dazu verdonnert worden, Vorräte in die Küche zu schleppen, eine große Bestellung hinaus zum Wagen eines Kunden zu bringen und ein Werbeschild ein paar Zentimeter weiter nach rechts zu versetzen.

Jetzt drang der Klang von lachenden weiblichen Stimmen bis in den Stauraum, und Matt zuckte zusammen. Es war definitiv ein Fehler gewesen, diesen Job hier anzunehmen. Das war ihm jetzt klar. Innerhalb des letzten Jahres hatte er immer wieder Arbeit wie diese übernommen – Zäune und Treppen reparieren, sogar ein paar Renovierungsarbeiten. Im Sommer hatte er Obst gepflückt und auf einem Weingut gearbeitet. Aber all diese Gelegenheitsjobs hatten einen wichtigen Faktor gemeinsam gehabt – er war kaum in Kontakt mit anderen Leuten gekommen. Die Arbeit hier im Decadent Delight kam ihm vor, als würde er auf einem Busbahnhof leben – ohne Vorwarnung kamen und gingen die merkwürdigsten Leute.

Der Duft von Schokolade stieg ihm in die Nase. Vor ungefähr einer Stunde waren zwei Collegestudentinnen eingetroffen, die im Augenblick damit beschäftigt waren, in der Küche irgendetwas zuzubereiten. Der süße Duft vermischte sich mit dem Aroma von Kaffee, und das war fast zu verlockend. Matt runzelte die Stirn. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal den Geruch oder den Geschmack von Essen genossen hatte. Um ehrlich zu sein, er konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann er das letzte Mal Hunger verspürt hatte.

Mechanisch zog er an dem Fußbodenbelag und entfernte ein weiteres großes Stück Linoleum. Am späten Vormittag war ein Müllcontainer gebracht und hinter dem Haus aufgestellt worden, wo die Kunden ihn nicht sehen konnten. Matt schnappte sich eine Armladung voll mit dem brüchigen, fleckigen Belag und trug ihn nach draußen.

Als er die Treppe hinunterging, konnte er gar nicht anders, als zu registrieren, was für ein herrlicher Septembertag es war. Der Himmel leuchtete in einem Blau, das man nur an der kalifornischen Küste fand. Er konnte das Meersalz riechen, und die Temperaturen waren noch angenehm warm. In Chicago wäre es jetzt schon …

Er schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu verscheuchen, ehe er in seinem Kopf Gestalt angenommen hatte. Nein, er würde nicht mehr an Chicago denken. Was ihn betraf, existierte diese Stadt gar nicht. Genauso wenig wie seine Firma.

Nachdem er das Linoleum in den Container geworfen hatte, kehrte er in den Lagerraum zurück und blieb nur kurz stehen, um einen Schluck Wasser aus der Flasche zu trinken, die Ali ihm hingestellt hatte. Gegen Mittag hatte sie hereingeschaut und ihm gesagt, er könne eine Pause machen, wann immer er wolle. Nachdem er ihr erklärt hatte, dass er gedachte durchzuarbeiten, hatte sie damit begonnen, ihn mit diesen Essensvorschlägen zu löchern: ob er denn nicht Hunger habe und etwas essen wolle. Wenigstens irgendeine Kleinigkeit. Vielleicht ein Sandwich. Sie sei gerade auf dem Weg nach oben in ihre Wohnung, um sich ein Truthahn-Sandwich zu machen. Sie würde ihm gern eins mitmachen. Gar kein Problem.

Während er das kalte Wasser trank, ließ Matt das Gespräch noch einmal Revue passieren. Irgendetwas daran störte ihn. Etwas …

Die Flasche auf halbem Weg zum Mund, hielt er inne, verzog das Gesicht und fluchte leise. Sie dachte, er wäre pleite. Ihr Angebot, ihm ein Sandwich zu machen, resultierte aus der Annahme, dass sie glaubte, er hätte nichts zu essen.

„Heiliger Strohsack“, murmelte er, bevor er das Wasser austrank und den Deckel energisch wieder auf die Flasche schraubte.

Na und, redete er sich ein. Sie konnte doch denken, was sie wollte. Er würde seine Situation nicht erklären.

„Machen Sie gerade eine Pause?“

Er blickte auf und sah Ali erneut in der Tür zum Stauraum stehen. In der Hand hielt sie ein Tablett und lächelte.

„Es schien mir ein guter Zeitpunkt dafür zu sein“, fuhr sie fort, „deshalb habe ich gedacht, ich bringe Ihnen eine Kleinigkeit auf Kosten des Hauses.“ Sie stellte das Tablett auf einen der Campingtische, die er noch hatte stehen lassen.

Irgendwann, bevor der Laden am Morgen geöffnet worden war, hatte sie sich umgezogen. Statt Jeans und T-Shirt trug sie jetzt ein schwarzes, wadenlanges Kleid und eine grüne Schürze mit dem aufgestickten Namen des Ladens. Es war ein altmodischer Look, doch er stand ihr. Ihr langes, lockiges Haar hatte sie zu einem Zopf gebändigt, obwohl ein paar Korkenzieherlocken inzwischen entschlüpft waren und über ihre Wange strichen. Hastig wandte Matt seine Aufmerksamkeit wieder dem Tablett zu.

Es gab einen kleinen Teller mit Schokolade und einen größeren mit klumpig aussehenden Keksen sowie winzigen, dreieckigen Sandwiches. Das Essen reizte ihn nicht im Geringsten, obwohl er nichts gegen einen Becher Kaffee einzuwenden hatte.

„Ich dachte, Sie verkaufen nur Schokolade“, meinte er und deutete auf die Dinger, die irgendwie nach mutierten Muffins aussahen. „Ist das ein fehlgeschlagenes Experiment?“

„Experiment?“

„Worum handelt es sich denn dabei? Kekse oder was?“

Sie lachte. „Oder was trifft es ganz gut. Das sind Scones.“ Sie deutete auf die verschiedenen kleinen Schüsseln und winzigen Kannen. „Das ist ein echt englischer Fünf-Uhr-Tee, Sie Banause. Es gibt Scones, Gurkensandwiches, Sahne, Marmelade, Butter.“ Sie berührte die Karaffe, die in der Mitte des Tabletts stand. „Allerdings habe ich ein wenig geschummelt, indem ich Kaffee statt Tee serviere, da Sie mir nicht der Teetrinkertyp zu sein scheinen. Also, was darf es sein?“

Er musterte das Essen. „Kaffee“, antwortete er. „Schwarz.“

„Was noch?“

„Nichts.“

Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Die Tatsache, dass sich ihre Schultern leicht anspannten, verriet ihm, dass er Ali beleidigt haben musste. Und erstaunlicherweise verspürte er sofort ein schlechtes Gewissen.

„Ich bin nicht hungrig“, fügte er hinzu und fragte sich dann, warum er sich die Mühe machte.

„Aber Sie haben doch nichts zu Mittag gegessen.“

Er fragte gar nicht erst, woher sie das wusste. Frauen reimten sich solche Dinge immer irgendwie zusammen. „Ich bin kein großer Esser.“

„Sieht man.“ Sie holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. „Wissen Sie, Matt, auch auf die Gefahr hin, Ihnen zu nahezutreten, aber Sie müssen ein wenig zunehmen. Was glauben Sie, wie das auf meine Kunden wirkt, wenn Sie nichts als Haut und Knochen sind? Die denken doch, da stimmt was nicht mit meinen Kochkünsten.“

Er musterte sie eindringlich. „Das heißt, wenn ich Ihr Essen verweigere, folgt daraus unweigerlich der wirtschaftliche Ruin von Decadent Delight?“

Sie grinste. „Genau.“

Sieht nett aus, wenn sie lächelt, dachte er beiläufig.

„Außerdem habe ich die Schokolade selbst gemacht.“

Er zögerte. Natürlich wollte er sie nicht beleidigen, aber er hatte trotzdem keinerlei Interesse an dem Essen. „Vielleicht beim nächsten Mal.“

Sie presste die Lippen zusammen. „Gut. Dann also nur Kaffee.“ Sie schenkte ihm einen Becher ein und reichte ihn ihm.

Matt trank einen Schluck. „Der ist gut. Danke.“

„Gern geschehen.“

Mit ihren graugrünen Augen betrachtete sie ihn eindringlich. Das verhieß nichts Gutes – denn es war der typische Blick einer Frau, die gleich anfangen würde, Fragen zu stellen. Was hatte es nur mit den Frauen und der Neugier auf sich? Von jedem Menschen, den sie trafen, wollten sie am liebsten alles wissen.

In der Hoffnung, sie abzulenken, deutete er auf den Fußboden. „Ich schätze, dass ich heute damit fertig werde, das Zeug rauszuholen. Morgen mache ich mich dann daran, die Wände vorzubereiten, damit sie gestrichen werden können.“

„Gut.“ Sie schenkte sich ebenfalls einen Becher Kaffee ein, bevor sie nach einer Praline griff. „Schokolade mit Haselnuss“, erklärte sie. „Meine Lieblingssorte.“ Sie biss ab und kaute. Nachdem sie die Schokolade heruntergeschluckt hatte, sagte sie: „Wie lange arbeiten Sie schon für Harry?“

„Ungefähr eine Woche.“

„Und davor?“

Matt stellte den Kaffeebecher ab und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Fußboden zu. „Keine Sorge. Ich werde meinen Job gut machen, Ms Thomas.“

Er hörte, wie sie leise seufzte. „In Ordnung, Matt. Ich werde keine Fragen mehr stellen. Es ist nur so, dass Sie nicht wie die üblichen Hilfskräfte von Harry aussehen. Sie erscheinen …“ Sie zögerte. „Ich weiß nicht. Irgendwie kompetenter, vielleicht? Ihre Hände sind ordentlich schwielig, daher ist es offensichtlich, dass Sie diese Art von Arbeit schon seit geraumer Zeit machen, aber aus irgendeinem Grund passt das nicht so wirklich zu Ihnen.“

Er reagierte, indem er ein unverbindliches Brummen von sich gab. Selbstverständlich wusste er genau, wovon sie sprach, aber er würde ihr ganz sicherlich nicht erzählen, was sie wissen wollte.

„Sie möchten wirklich nichts hiervon, oder?“

Er drehte sich um und sah, dass sie auf das Tablett mit dem Essen deutete. Schweigend schüttelte er den Kopf.

„Okay.“ Sie nahm das Tablett. „Aber wenn Sie vor Hunger ohnmächtig werden, dann fallen Sie bitte nicht in meine Vorräte.“

„Versprochen.“

Ohne noch mehr zu sagen, verschwand sie wieder, doch Matt wusste, dass sie zurückkommen würde. Sie hatte ihm bereits zweimal an einem Tag etwas zu essen angeboten, was ihm verriet, dass Ali zu den Menschen gehörte, die sich um andere kümmerten. Das war genau das, was er nicht brauchte – jemand, der sich überall einmischte. Es war besser, wenn er sich möglichst von ihr fernhielt, denn wenn er nicht aufpasste, würde sie ihm alle Geheimnisse entlocken und sie ans Tageslicht bringen. Und was dann?

Eine Stunde später hatte Matt den Fußboden fast fertig abgezogen. Kunden waren gekommen und gegangen, bis er das Klingeln der Glocke über der Eingangstür kaum noch registrierte. Erst als er Harrys Stimme vernahm, machte er sich wieder die Mühe, der Unterhaltung zu lauschen, die aus dem Laden herüberdriftete.

„Ich habe Charlotte Elizabeth den ganzen Tag lang gar nicht gesehen“, beschwerte Harry sich. „Geht sie normalerweise nicht nachmittags mit Miss Sylvie spazieren?“

„Doch“, erwiderte Ali fröhlich. „Um den Teich herum. Es hilft dem Herzen. Miss Sylvies, meine ich.“

„Ich habe schon gehört, dass sie leichte Probleme hat. Charlotte Elizabeth ist bestimmt ganz besorgt.“

Matt verzog das Gesicht. Sie redeten über ein Schwein, nicht über ein Kind. Aber er fuhr fort, seine Arbeit zu machen, und versuchte, die Stimmen zu ignorieren. Leider fiel es ihm ziemlich schwer, nachdem er nun einmal angefangen hatte zuzuhören.

„Was meinen Sie, sie wird wohl nicht demnächst hier vorbeikommen, oder?“, drängte der alte Handwerker.

Ali lachte. „Harry, Sie sind unmöglich. Ich werde Ihnen keine genaue Auskunft über das Kommen und Gehen meiner Mutter geben.“

„Ich wünschte, Sie würden es tun. Charlotte Elizabeth zu sehen ist der Höhepunkt meines Tages. Seit ich siebzehn bin, schwärme ich für sie.“

„Sie und ungefähr drei Millionen andere Männer.“

Matt riss das letzte Stück Linoleum hoch und sammelte die Reste zusammen. Drei Millionen Männer? Na, wenn das mal nicht leicht übertrieben war. Selbst wenn Alis Mom in ihrer Jugend eine umwerfende Schönheit gewesen war, konnte sie wohl kaum mehr als ein paar Dutzend Männer bezirzt haben.

„Machen Sie heute Abend wieder Ihre Runde?“, fragte Harry.

„Nein, wohl erst in ein paar Tagen wieder. Ich war gestern Abend unterwegs, damit sollten sie bis Donnerstag versorgt sein.“

Matt hielt inne und lauschte. Wovon redeten sie? Doch dann ermahnte er sich, dass es ihm egal sein konnte. Er war schon fast an der Hintertür angelangt, als Harry fortfuhr.

„Wie macht Matt sich?“

„Er scheint ein fleißiger Arbeiter zu sein“, erwiderte Ali.

„Hab ich doch gesagt.“

„Haben Sie. Wenn er seine Sache mit dem Stauraum gut macht, können Sie beide sich vielleicht der verflixten Liste annehmen, die ich schon seit über einem Jahr mit mir herumschleppe. Der Zaun um den Parkplatz herum muss dringend gestrichen werden. Ehrlich, die Meeresluft scheint sich vom Holz zu ernähren … oder zumindest von der Farbe. Jeden Tag frisst sie ein weiteres Stück weg. Außerdem braucht der Parkplatz eine neue Ladung Kiesel. Und das sind nur die Sachen, die hier bei mir anliegen. In der Teestube und in der Frühstückspension wartet noch viel mehr Arbeit.“

„Keine Sorge“, meinte Harry. „Wenn es gut läuft, dann wette ich, dass er mir noch vor Ende des Jahres meinen Laden abkauft. Sie werden sehen.“

„Harry, Sie würden nicht einmal für eine Million Dollar verkaufen.“

Der alte Mann lachte leise. „Wollen Sie mir einen Scheck ausstellen?“

„In diesem Leben ganz sicher nicht.“

Matt marschierte aus dem Haus in Richtung Müllcontainer. Der Kies knirschte unter seinen Füßen, als er um die Ecke ging. Er hatte Harry gesagt, dass er lediglich eine Zeit lang Arbeit suchte, aber der hatte das nicht hören wollen. Dieser alte Sturkopf. Er würde noch einmal mit ihm reden müssen, um die Sache klarzustellen. Denn eines war sicher, dachte Matt grimmig: Er würde nicht lange hierbleiben, und er würde definitiv nicht Harrys Firma übernehmen.

Er warf das Linoleum in den Container und kehrte zurück in den Laden. Als er wieder reinkam, sah er Harry und Ali am Campingtisch stehen. Sie diskutierten über die Pläne für den Lagerraum.

Erstaunt starrte Matt seinen Arbeitgeber an. Der alte Mann hatte geduscht, sich rasiert und sogar sein schütteres graues Haar gekämmt. Mit seinen gebügelten Jeans und dem strahlenden Gesicht sah er aus, als würde er direkt aus einem dieser antiquierten Schwarz-Weiß-Filme kommen. Ein Kavalier der alten Schule. Und das alles nur zu Ehren der berüchtigten Charlotte Elizabeth. Matt überlegte, dass er nicht einmal mehr sagen konnte, wie diese Seniorenversion einer Femme fatale eigentlich ausgesehen hatte. Wenn er heute Feierabend machte, würde er sich wahrscheinlich nicht mal mehr an Ali erinnern können. Menschen hinterließen bei ihm kaum noch Eindruck, und das war auch gut so.

„Ich habe beschlossen, dass ich dich hasse“, erklärte Ali fröhlich, während sie die Gabel hob, um ihren Salat zu essen.

Clair St. John schien Alis Aussage nicht im Geringsten zu beeindrucken. „Das überrascht mich nicht. Du warst schon immer eifersüchtig auf mich. Irgendwann musste das ja mal in Hass umschlagen. Es wundert mich nur, dass es so lange gedauert hat.“

„Liegt nur an meiner Charakterstärke.“

Ali betrachtete die kunstvoll arrangierte Kombination aus Hähnchenfleisch, aufgeschnittenen roten Trauben und Walnüssen, die auf einem Bett von zarten Salatblättern ruhten. Mehrere Scheiben frisch gebackenen Weißbrots lagen auf einem Extrateller neben ihrer Dessertgabel. Dann blickte sie auf das Blumengesteck, das den runden Eichentisch schmückte.

„Das hast du gemacht, oder?“, fragte sie.

Clair grinste und strich sich eine kurze blonde Strähne hinters Ohr. „Den Salat, das Brot oder das Blumengesteck?“

Ali stöhnte. „Alles, und bitte, sag jetzt nichts. Ich kenne die Antwort.“ Sie biss von dem Brot ab und stöhnte erneut. Es war perfekt: außen knusprig und innen schön locker, luftig und weich.

Ihre beste Freundin – seit fast zwanzig Jahren – lachte. „Ali, komm schon, okay, ich kann kochen und Blumen arrangieren, na und? Das kannst du auch alles. Du kannst sogar unglaublich leckere Schokolade machen.“

„Ja, klar. Aber meine Mutter hat dich heute Morgen mal wieder als leuchtendes Vorbild angepriesen. ‚Sei mehr wie Clair‘“, ahmte sie Charlotte Elizabeth nach.

Clair beugte sich zu ihr vor. „Du weißt, dass sie dir damit nur zeigen will, dass sie um dich besorgt ist.“

„Nein. Sie will nur ihren Willen durchsetzen. Sie will, dass ich schleunigst heirate und Nachwuchs kriege.“

„Ist das so schlimm?“

„Vermutlich nicht. Es ist ja nicht so, dass ich nicht auch gern einen Ehemann und Kinder hätte. Hätte ich wirklich gern. Aber, na ja …“

Ali blickte sich in der Essecke um, die an die Küche der St. Johns angrenzte. Bogenfenster boten einen Blick auf den ausgedehnten Garten, der an diesem kühlen Abend von Lampen erhellt wurde. Martin St. John, seit sechs Jahren Clairs Ehemann, hatte sein ganzes Leben schon in diesem Haus verbracht. Das Weingut war seit zwei Generationen im Familienbesitz. Das großzügig angelegte Wohnhaus aus ungebrannten Lehmziegeln war vor über hundert Jahren von einem spanischen Adligen erbaut und seitdem diverse Male modernisiert worden. Der Originalgrundriss war jedoch erhalten geblieben, zusammen mit den dicken Wänden und dem abgetretenen Fliesenboden.

„Du bist eben eine von diesen Frauen, bei denen im Leben alles glatt geht“, sagte Ali und trank einen Schluck Wein. Es war ein Sauvignon Blanc mit angenehm leichter Fruchtnote, der hier auf dem Weingut produziert worden war. „Kaum bist du sechs Wochen mit der Schule fertig, triffst du Martin und verliebst dich Hals über Kopf. Du hast zwei perfekte Kinder, und das dritte ist unterwegs. Ich dagegen habe eine Mutter, die ein Schwein als Haustier hält, ein Geschäft, das mich bestimmt fett werden lässt, und eine Neigung, mich mit Männern einzulassen, die …“

Sie verstummte. Wie sollte sie die Männer beschreiben, die ihr Leben bisher bevölkert hatten?

Clair legte sich die rechte Hand auf den runden Bauch. Wie immer perfekt zurechtgemacht, trug sie heute ein blau-weißes T-Shirt zu einer farblich genau abgestimmten blauen Stoffhose. Sie wirkte frisch, ausgeglichen und sah aus, als würde sie hierher und nirgendwo anders hingehören.

„Außenseiter“, sagte Clair entschieden. „Diese Typen waren alle Außenseiter. Du meidest das Normale und verabredest dich stattdessen mit Männern, die eine Herausforderung darstellen. So wie, warte, wie hieß er noch? Dieser Künstler?“

„Byron.“ Ali seufzte. „Er war sehr talentiert.“

„Mag sein. Aber er war auch selbstsüchtig und total ichbezogen. Seine Kunst bedeutete ihm alles. Damit konntest du niemals konkurrieren.“

Ali nickte. Sie hatte in Byrons Leben immer die zweite Geige gespielt. „Okay, aber er brauchte mich. Jemand musste sein Leben in Ordnung halten.“

„Und für alles bezahlen, als sich seine wandgroßen Gemälde von irgendwelchen Autobussen als nicht sonderlich erfolgreich erwiesen.“

„Was ich sagen will“, wandte Ali ein, ohne den Einwand ihrer Freundin zu beachten, „ist, dass ich mit einem Handicap starte. Du hast schon alles, was du willst.“

„Mein Leben hat auch so seine Probleme“, entgegnete Clair. „Die Kinder streiten sich, Schädlinge machen dem Wein zu schaffen, der Vorstand des Wohltätigkeitsvereins ist ständig anderer Meinung als ich. Glaubst du etwa, dass ich manchmal nicht auch lieber Single und völlig frei in meinen Entscheidungen wäre?“

„Nein“, erklärte Ali rundheraus. „Willst du mit mir tauschen?“

„Nur wenn du die letzten drei Monate Schwangerschaft übernimmst. Das sind die schlimmsten. Na, willst du immer noch tauschen?“

Ali musterte den Bauch ihrer Freundin. Ihr eigener Unterkörper fühlte sich im Vergleich flach und leer an – und nicht unbedingt auf positive Weise. Irgendwie erschien ihr der Traum von eigenen Kindern unerreichbarer als je zuvor. „Sofort.“

Clair schüttelte den Kopf. „Du musst deinen eigenen Weg finden. Das passiert nicht, wenn du mein Leben lebst.“

„Ich hasse es, wenn du so erwachsenes Zeug von dir gibst“, grummelte Ali. „Also, wo sind Martin und die Kinder?“

„Im Kino. Es gibt einen neuen Disney-Film, und er hat die Jungs mit in die Stadt genommen, um mir eine kleine Verschnaufpause zu verschaffen. Danke, dass du den Weg hier heraus auf dich genommen hast, um mit mir zu essen.“

„Gern geschehen.“

Ein Kojote heulte in der Ferne. Sofort begannen mehrere Hunde zu bellen.

Ali stand auf und ging zur Hintertür. „Meine Babys rufen mich“, sagte sie und schlüpfte nach draußen, wo sie sofort von vier Hunden umringt war.

Ihre Freundin folgte ihr. „Martin hat mir verboten, noch mehr von deinen Streunern aufzunehmen. Und diesmal meint er es wirklich ernst.“

„Ja, ja, als hätte ich das nicht schon hundert Mal gehört.“

Ali ließ sich auf den Verandastufen nieder und umarmte die Tiere. Sasha, der Schäferhundmischling, war auf der Straße ausgesetzt worden, als er noch ein Welpe war. Misha, teils Dobermann, teils Was-auch-immer, war ein Streuner, der von einem Auto angefahren worden war. Er war vor achtzehn Monaten humpelnd und blutend vor Alis Hintertür aufgetaucht. Die beiden kleineren Hunde waren über Freunde von Freunden zu ihr gekommen, abgeschoben von irgendwelchen herzlosen Besitzern.

Mit der Zeit und mit viel Liebe hatten diese vier verschüchterten Wesen wieder Mut und Vertrauen gefasst. Clair und ihre Familie hatten sie aufgenommen, da das große Grundstück den Tieren viel freien Auslauf bot.

„Wenigstens hier bin ich beliebt“, stellte Ali fest und wich einem begeisterten Hundekuss auf die Wange aus.

„Wir lieben dich alle“, meinte Clair.

Ali wusste, dass das der Wahrheit entsprach. Ihre Freunde liebten sie, und das taten auch ihre Mutter und ihr Bruder. Doch auch wenn es vielleicht selbstsüchtig klang, manchmal fand sie, das war trotzdem nicht genug.

Am späten Donnerstagabend parkte Ali ihren schwarzen Toyota vor dem kleinen Tor zum östlichen Eingang des Spas. Es war schon fast Mitternacht, und nur noch wenige Lampen leuchteten in der Dunkelheit. Zu hören war nichts. Über ihr prangten die Sterne am klaren Septemberhimmel. Plötzlich entdeckte sie ein halbes Dutzend dunkler Gestalten, die vor dem Tor unruhig auf und ab tigerten. Jogginghosen und leichte Jacken ließen sie aussehen wie zu dick geratene Gespenster.

„Hallo, da bin ich wieder“, rief sie, als sie ausstieg und nach hinten zum Kofferraum ging. „Wie haben Sie alle die Woche überstanden?“

„Pst“, zischte jemand hinter dem Tor. „Die werden Sie hören.“

Ali lachte leise. „Ich verkaufe Schokolade, keine Drogen. Das hier ist nicht illegal.“

„Ich weiß, aber …“ Die Frau verstummte.

Ali nickte verständnisvoll. Die Regeln auf der Wellnessfarm waren strikt. Sämtliche Mahlzeiten wurden gemäß einem vorgegebenen Plan ausgegeben. Eine zusätzliche Stunde Aerobic wurde allenfalls mit einem Stück Obst zum Nachtisch belohnt. Wenn Menschen wie Kinder behandelt wurden, fiel es ihnen schwer, sich nicht wie Kinder zu benehmen. Deshalb die geheimen mitternächtlichen Treffen statt eines Besuchs im Laden oder einer normalen Lieferung bei Tageslicht.

Die Gäste trafen samstags im Seaside Spa ein – voller guter Vorsätze, sich sportlich zu betätigen und abzunehmen. Es grenzte manchmal schon an religiösen Wahn. Am Sonntagabend, spätestens jedoch am frühen Montagmorgen, machte sich dann der Mangel an Zucker und Koffein bemerkbar. Da halfen auch alle Kräutertees der Welt nicht mehr. Dann gab es nur ein Heilmittel – Schokolade.

Ali schloss erst einmal das Tor auf. Schon seit Jahren besaß sie einen eigenen Schlüssel. Eine Maßnahme, zu der sie sich entschlossen hatte, nachdem ein hungriger Spa-Patient einmal versucht hatte, über die breite Mauer zu klettern und sich dabei ein Bein gebrochen hatte. Auch wenn das Personal ihre mitternächtlichen Besuche keineswegs guthieß, war es für alle sicherer, wenn sie freien Zugang hatte.

Die heutige Gruppe bestand aus sieben Leuten, sechs Frauen und einem Mann, der schwor, dass die Schokolade für seine Frau sei. Vier der Gäste waren schon Anfang der Woche zu ihr gekommen, doch die anderen waren neu.

Während Ali die Hecktür ihres Wagens öffnete, begann sie, ihr Angebot aufzuzählen. „Ich habe drei Sorten Kaffee dabei und mehrere Schachteln mit Schokolade. Trüffelpralinen, Erdbeeren mit Zartbitter-Überzug sowie einige Pralinen. Es ist alles aus Eigenproduktion und wird nach Gewicht verkauft. Abgesehen natürlich von dem Kaffee. Der kostet einen Dollar fünfzig pro Becher.“

Zwei der Frauen stöhnten. Eine große Blondine mit kurzen Haaren drängte sich nach vorn. Trotz des unvorteilhaft sitzenden grauen Trainingsanzugs konnte man erkennen, dass sie einen fast perfekten Körper besaß. „Kaffee“, sagte die Frau. „Und eine Tafel Schokolade. Für den Anfang“, fügte sie hinzu. „Ich brauche den Zucker im Blut, um überhaupt wieder klar denken zu können.“

Kaum hatte Ali die grüne Kiste mit dem Goldrand geöffnet, schnappte die Blonde schon nach dem Stapel mit den Bechern, die in einem mit einem Tuch ausgeschlagenen Korb lagen. Die glänzenden schwarzen Kaffeekannen waren alle beschriftet. Es gab „Amaretto“, „Haselnuss“ und „Dark French Roast“. Die Frau schenkte sich etwas „French Roast“ ein und hob den Becher mit zitternden Händen an den Mund. Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, gab sie einen Ton von sich, den Ali nicht mehr gehört hatte, seit sie damals in der Highschool zusammen mit Clair heimlich einen nicht jugendfreien Film gesehen hatte.

Sie hielt der Frau die Schachtel mit der Schokolade hin. Die schaute hinein, wählte zwei Stücke aus und schob sie beide zugleich in den Mund. Dann trat sie zur Seite, um auch ihren Leidensgenossen die Möglichkeit zu geben, ihren Heißhunger zu befriedigen.

Zwanzig Minuten später war der so weit gestillt, dass eine Unterhaltung möglich war. Eine nicht mehr ganz junge Rothaarige mit Brille lehnte sich gegen die Motorhaube von Alis Toyota. „Das ist die beste Schokolade, die ich je gegessen habe“, erklärte sie und biss noch ein winziges Stück von der Champagner-Trüffel-Praline ab. „Ehrlich, und ich habe schon eine Menge probiert.“ Sie tätschelte ihre üppigen Hüften.

„Freut mich, dass Sie so denken.“ Ali griff in ihre Jackentasche und zog einen Stapel Visitenkarten heraus. „Decadent Delight befindet sich auf der Hauptstraße von Santa Magdelana. Auf dem Weg zum Freeway kommen Sie direkt daran vorbei; also, schauen Sie gern rein, bevor Sie nach Hause fahren. Ich mache sämtliche Schokoladen selbst, und ich verschicke sie auch gern überall hin.“

Die Spa-Gäste versprachen vorbeizukommen, während Ali die Karten verteilte und gleichzeitig ein Tablett mit Pralinen herumreichte.

Eine kleine grauhaarige Frau starrte auf die Pralinen mit den Pekannüssen. „Ich habe zwei Pfund abgenommen“, murmelte sie.

„Oh.“ Ali zog das Tablett zurück. „Tut mir leid. Ich habe auch ein paar Gummibärchen dabei. Die mache ich nicht selbst, aber sie sind süß und haben nur vier Kalorien pro Stück. Möchten Sie lieber welche von denen?“

Die Frau biss sich auf die Lippe. „Ich sollte wirklich nicht … ich kann nicht.“ Ihr Körper schwankte, und schon im nächsten Moment hatte sie sich vier Pralinen geschnappt. „Ach was, Diät. Da pfeife ich drauf. Dann lasse ich mir eben das Fett absaugen.“

Während sie die Pralinen hinunterschlang, kaufte sie zusätzlich noch ein paar Tafeln Schokolade. „Eine Kleinigkeit für später“, murmelte sie und brachte damit auch die anderen Gäste dazu, sich für den restlichen Aufenthalt im Spa einzudecken.

Ali rechnete die Einkäufe zusammen, erhielt von dem Mann sowie von vier der Frauen Bargeld. Anschließend stellte sie Kreditkartenbelege für die anderen beiden aus.

„Sie haben jetzt ja meine Visitenkarte, falls Sie noch irgendetwas brauchen“, sagte sie, als sie die Heckklappe ihres Toyotas schloss.

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