Küsse im goldenen Salon

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Mein ganzer Gewinn für eine Nacht mit Ihnen …"Sally Bowes, schöne Betreiberin eines eleganten Spielsalons in London, glaubt, sich verhört zu haben! Aber das Glitzern in Jack Kestrels Augen verrät: Der vermögende Geschäftsmann und zukünftige Duke of Geenwood meint jedes Wort! Seit sie sich das erste Mal gesehen haben, prickelt es heiß zwischen ihnen. Soll Sally jetzt in ihrem Goldenen Salon alles auf die verführerische Karte der Leidenschaft setzen? Nur auf das Verlangen hören, das Jack in ihr wach geküsst hat? Sie wagt den Einsatz - und ein dramatisches Abenteuer um Liebe, Begehren, Erpressung und Betrug beginnt....


  • Erscheinungstag 21.09.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769161
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Juni 1908

Jack Kestrel suchte eine Frau.

Nicht irgendeine Frau, sondern eine, die so skrupellos, habgierig und leicht zu manipulieren war, dass sie einen sterbenden Mann erpresste.

Man hatte ihm versichert, dass sie an diesem Abend in der Kunstausstellung der Wallace Collection sein würde, aber er hatte keine Ahnung, wie sie aussah. Während er Ausschau nach dem Kurator der Sammlung hielt, der ihn mit ihr bekannt machen sollte, stand Jack ganz oben auf der Treppe und ließ den Blick über die Menge schweifen, die in Scharen in die Gemälde- und Miniaturenausstellung geströmt war. Die meisten Leute standen in kleinen Gruppen im Wintergarten und im Saal; sie plauderten, tranken Champagner und waren weniger darauf erpicht, die Gemälde zu betrachten, als vielmehr zu sehen und gesehen zu werden. Die Herren trugen Abendanzüge, die Damen in allen Farben des Regenbogens schimmernde Abendkleider und Florentinerhüte. Ihre Diamanten glitzerten im Wettstreit mit den funkelnden Kronleuchtern.

Jack drehte sich um und schlenderte langsam den Flur hinunter, der zur Grand Gallery führte. Sein Cousin, der Duke of Greenwood, hatte der Ausstellung für diesen Abend eine Reihe von Gemälden zur Verfügung gestellt, darunter zwei sehr schöne, von George Romney gemalte Porträts von Jacks Urgroßeltern, Justin Kestrel, Duke of Greenwood, und seiner Gemahlin. Jack war neugierig auf die Bilder, denn als er sie das letzte Mal gesehen hatte, waren sie in einer dunklen Ecke des Familiensitzes, Kestrel Court in Suffolk, verstaut gewesen und hatten dringend einer Säuberung bedurft. Buffy, der gegenwärtige Duke, war ein schamloser Kunstbanause. Für ihn war seine Sammlung nichts weiter als etwas, das man zu Geld machen konnte, besonders jetzt, wo seine Einkünfte aus seinen Ländereien beträchtlich schrumpften. Erst in der vergangenen Woche hatte Jack seinem Cousin tausend Pfund geliehen, um ihn davon abzuhalten, seine komplette Sammlung wertvoller Pferdegemälde von George Stubbs bei Sotheby’s versteigern zu lassen.

Nur eine Person betrachtete die in einem kleinen Salon ausgestellten Porträts der Kestrels. Sie waren äußerst wirkungsvoll aufgehängt worden und wurden raffiniert von unten mit Öllampen ausgeleuchtet. Dasselbe weiche Licht, das die Gemälde von Jacks Vorfahren beschien, fiel auch auf die davor stehende Frau; es ließ ihr Gesicht unter der breiten Hutkrempe leuchten und verlieh ihrem Teint einen rosig zarten Schimmer, während die Augen geheimnisvoll im Schatten blieben. Sie trug ein wunderschönes Abendkleid aus pfirsichfarbener Seide, das sich geschmeidig an ihren Körper schmiegte, und dazu einen großen schwarzen Florentiner, dessen Krempe mit pfirsichfarbenen Bändern und Rosen besetzt war.

Jack blieb in der Tür stehen und ließ den Blick auf ihrem Gesicht ruhen. Einen Moment lang verspürte er ein seltsames Gefühl in der Brust, fast als hätte die Unbekannte die Hand ausgestreckt und ihn körperlich berührt. So etwas hatte er noch nie erlebt. Abgesehen von einer verhängnisvollen Verstrickung in seiner Jugend hatte er seine Beziehungen zu Frauen stets unkompliziert gehalten, wie geschäftliche Übereinkünfte, die beiden Seiten körperliche Annehmlichkeiten versprachen. Bei keiner dieser Frauen war ihm der Atem gestockt oder das Herz stehen geblieben. Er beschloss, diesen plötzlichen und beunruhigenden Aufruhr seiner Gefühle zu ignorieren und ging auf die Unbekannte zu.

Sie drehte sich nicht um. Wie gebannt betrachtete sie das Porträt von Justin Kestrel; seine für das Regency typische dunkle Schönheit, das verwegene Lächeln auf seinen Lippen und den Anflug von Humor in seinen gefährlichen Augen.

„Gefällt Ihnen das Porträt?“

Auf Jacks leise Frage hin drehte sie sich endlich um, und ihre schönen haselnussbraunen Augen weiteten sich, als ihr Blick zwischen ihm und dem Bild hin und her wanderte. Er sah, wie sie den Mund widerstrebend zu einem Lächeln verzog.

„Er sah sehr gut aus“, sagte sie trocken. „Die Ähnlichkeit ist verblüffend, wie Ihnen wohl zweifelsohne bewusst ist.“ Jack verneigte sich. „Er war mein Urgroßvater. Jack Kestrel, ganz zu Ihren Diensten, Madam.“

Sie zogen leicht die dunklen Brauen hoch, verriet ihm jedoch ihren Namen nicht. Jack ahnte, dass sie das ganz bewusst nicht tat. Wie ungewöhnlich! Nur sehr wenige Frauen weigerten sich, Jack Kestrels Bekanntschaft zu machen. Im Allgemeinen weckte sein Aussehen ihr Interesse, noch ehe sie überhaupt erfuhren, wie reich er war.

„Und das hier …“ Sie wandte sich dem Porträt der Duchess zu, einer lebhaft wirkenden, mit Juwelen behängten Frau in einem smaragdgrünen Satinkleid, die herrliches rotbraunes Haar hatte. „Das muss dann Ihre Urgroßmutter sein.“

„In der Tat“, bestätigte Jack. „Vormalige Lady Sally Saltire. Es heißt, sie sei ebenso klug wie schön gewesen. Die Hälfte der Londoner Gesellschaft lag ihr zu Füßen. In der Zeit des Regency nannte man sie die Unvergleichliche.“

„Wie wunderbar.“ Die Unbekannte wirkte amüsiert. „Man hört so selten von einer klugen Frau, die sich nicht bemüht, ihre Intelligenz zu verbergen. Ich bewundere sie deswegen.“

„Ich glaube nicht, dass sie sich viel daraus machte, was andere von ihr hielten“, meinte Jack. „Und mein Urgroßvater betete sie an. Er sagte, dass sie in jeder Hinsicht die perfekte Frau für ihn wäre.“ Er lachte. „Sie konnte auf jeden Fall besser schießen als er.“

„Eine äußerst nützliche Fähigkeit“, stimmte sie zu. Jetzt trat sie näher an ein kleines rechteckiges Gemälde heran, das ein kleines Mädchen in einem weißen Kleid zeigte. Das Licht der Öllampen fiel auf das lohfarbene Haar und verlieh ihm goldene Reflexe. „Ist das die Tochter der beiden?“, fragte sie.

Jack nickte. „Meine Großtante Ottoline.“

„Lebt sie noch?“

„O ja, sehr sogar“, erwiderte er gefühlvoll.

Ihre Augen funkelten spitzbübisch. „Sie ist eine ziemliche Persönlichkeit, könnte ich mir vorstellen.“ Sie drehte sich zu ihm um, und wieder spürte er die Schockwirkung, die diese klaren haselnussbraunen Augen auf ihn hatten. Irgendetwas regte sich in ihm, etwas Ergreifendes, Unerwartetes, so als legte sich eine Hand um sein Herz.

„Nun“, sagte sie, „es war mir ein Vergnügen, die Bekanntschaft Ihrer aufregenden Vorfahren gemacht zu haben, Mr. Kestrel.“

Sie wollte gehen, und Jack war fest entschlossen, das zu verhindern. Er wollte noch viel, viel mehr über sie wissen. Noch war er nicht gewillt, sie gehen zu lassen.

„Ist die Kunst eine Leidenschaft von Ihnen?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich interessiere mich nur ein wenig dafür, wie für die Musik. Meine Leidenschaft gilt meiner Arbeit.“

Jack sah sie überrascht an. Sie wirkte nicht wie eine dieser „neuen“ Frauen, die unabhängig waren und ihren Lebensunterhalt als Verkäuferinnen oder Fabrikarbeiterinnen selbst verdienten. Dazu sah sie zu schillernd aus, zu verwöhnt, zu reich. Er wollte sie gerade fragen, womit sie ihr Geld verdiente, als sie ihn anlächelte, strahlend, aber ohne irgendwelche Versprechungen.

„Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, Mr. Kestrel, ich möchte mir gern noch die Cosway-Miniaturen ansehen. Sie sollen außergewöhnlich hübsch sein.“

„Dann darf ich Sie vielleicht in die Grand Gallery begleiten?“, bot er ihr an.

Nach kurzem Zögern schüttelte sie den Kopf. „Nein, vielen Dank. Ich bin mit einem Freund hier. Ich sollte mich jetzt auf die Suche nach ihm machen.“

„Was fällt ihm ein, Sie allein zu lassen?“

Wieder schenkte sie ihm ein Lächeln. „Ich komme sehr gut allein zurecht. Und er ist wirklich nur ein Freund, nichts weiter.“

„Ich bin erfreut, das zu hören.“

Sie seufzte. „Das sollten Sie nicht sein. Ich möchte unsere Bekanntschaft nicht weiter vertiefen, Mr. Kestrel. Ich bin zu alt dafür, mir wegen eines hübschen Gesichts den Kopf verdrehen zu lassen.“

Sie sah nicht einen Tag älter aus als fünfundzwanzig, aber Jack fand, sie hörte sich des Lebens überdrüssig an. Abgesehen davon war er zu erfahren, um sie noch weiter zu drängen. Auf die Art würde er nur das Wenige wieder verlieren, was er bereits erreicht hatte. „Dann verraten Sie mir wenigstens Ihren Namen“, bat er und nahm ihre Hand. Die Unbekannte trug lange schwarze Abendhandschuhe, die bis zu ihren Ellenbogen reichten. Die Seide fühlte sich verführerisch zart unter seinen Fingern an, und einen Moment lang glaubte er, die Hand der Frau zitterte ein wenig. Sie senkte die Lider mit den langen schwarzen Wimpern und verbarg den Ausdruck ihrer Augen.

„Ich bin Sally Bowes“, sagte sie. „Guten Abend, Mr. Kestrel.“ Lächelnd entzog sie ihm die Hand und eilte davon, den Flur hinunter zur Grand Gallery. Das Licht fing sich schimmernd auf dem pfirsichfarbenen Kleid, das die ansprechenden Rundungen darunter ahnen ließ.

Sally Bowes. Ihm war, als hätte man ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt, so groß war der Schock für ihn. Skrupellos, habgierig und leicht zu manipulieren … eine Frau, die einen sterbenden Mann erpresste … Jetzt wusste er, womit sie ihren Lebensunterhalt verdiente. Sie war die Besitzerin eines Spielclubs, der die Schwäche der Männer ausnutzte, um ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Dennoch passte diese Neuigkeit so ganz und gar nicht zu dem spontanen Bild, das er sich von ihr während ihrer kurzen Unterhaltung gemacht hatte. Sie hatten zwar nicht lange miteinander gesprochen, trotzdem hatte sie ihn verzaubert. Normalerweise neigte er nicht zu so groben Fehleinschätzungen. Neben dem Schock empfand er plötzlich noch ein anderes, tiefer gehendes Gefühl, beinahe so etwas wie Enttäuschung.

Aus einem Impuls heraus wollte er ihr nacheilen, doch dann bemerkte er, wie sich ein Herr zu ihr gesellte und ihr seinen Arm bot, während sie ihn lächelnd ansah. Jähe Eifersucht durchzuckte Jack, schmerzhaft und völlig unerwartet. Er erkannte den Mann; Gregory, Lord Holt, war ein guter alter Freund von ihm. Er fragte sich, ob Holt wohl Miss Bowes’ nächstes Opfer sein würde.

Jack straffte die Schultern. Schon am nächsten Tag würde er Miss Bowes aufsuchen und ihr unmissverständlich klarmachen, dass sie ihre Versuche, Geld von seinem Onkel zu erpressen, unverzüglich zu unterlassen hatte. Er würde sie warnen, dass es sehr gefährlich war, wenn sie sich ihn zum Feind machte.

1. KAPITEL

Miss Bowes?“

Die Stimme klang leise, sanft und vertraut. Sie ertönte ganz dicht neben Sallys Ohr, sodass sie schlagartig erwachte. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie sich befand. Ihr Nacken war ein wenig steif, und etwas Kühles drückte gegen ihre Wange.

Papier.

Sie war schon wieder in ihrem Büro eingeschlafen. Ihr Kopf ruhte auf dem Stapel von Rechnungen und Aufträgen auf ihrem Schreibtisch. Sally öffnete die Augen, aber nur halb. Es war fast dunkel. Die Lampe verbreitete ein warmes Licht, und hinter der Tür waren leise Musik und Stimmengewirr zu hören. Der Geruch nach Zigarrenrauch und Wein lag schwach in der Luft. Das bedeutete, dass es schon spät sein musste; das abendliche Amüsement im „Blue Parrot Club“ hatte bereits begonnen.

„Miss Bowes?“

Dieses Mal klang die Stimme deutlich weniger freundlich und zudem mehr als nur ungeduldig. Sally richtete sich auf und verzog das Gesicht, als ihre schmerzenden Muskeln gegen diese Bewegung protestierten. Sie rieb sich die Augen und schlug sie dann ganz auf. Sie erstarrte und rieb sich die Augen erneut, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte.

Nein, sie träumte nicht. Er war immer noch da.

Jack Kestrel stand vor ihr, die Hände auf die Schreibtischplatte gestützt und den Oberkörper nach vorn gebeugt, sodass sich seine und ihre Augen auf ungefähr der gleichen Höhe befanden. Aus dieser geringen Entfernung konnte Sally sich nicht gleichzeitig auf alle seine Gesichtszüge konzentrieren, aber sie hatte sie von der vergangenen Nacht her noch allzu gut in Erinnerung. Er war kein Mann, den man schnell wieder vergaß, sah er doch auffallend gut aus. Er hatte dunkelbraunes Haar, das sehr weich und vom Sommerwind ein wenig zerzaust aussah, eine gerade Nase und einen sündhaft sinnlichen Mund. Im Allgemeinen ließ Sally sich nicht von gutem Aussehen allein beeindrucken. Sie war keine naive Debütantin mehr, die sich von einem attraktiven Mann den Kopf verdrehen ließ. Jack Kestrel jedoch hatte einen atemberaubenden Charme, und sie hatte es in der vergangenen Nacht sehr genossen, sich mit ihm zu unterhalten. Sie hatte es sogar fast zu sehr genossen. Seine Gesellschaft war gefährlich verführerisch gewesen. Wie leicht es ihr gefallen wäre, seine Begleitung zu akzeptieren und dann vielleicht auch noch eine Einladung zum Essen …

Schon lange hatte sie sich nicht mehr so versucht gefühlt und dabei gewusst, dass sie es sich nicht erlauben konnte, Jack Kestrel besser kennenzulernen. Sobald er ihr seinen Namen genannt hatte, war ihr Misstrauen erwacht, denn jedes Mitglied der vornehmen Gesellschaft kannte ihn. Aus der Ahnenreihe der Dukes of Greenwood waren im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert viele, viele Lebemänner und Filous hervorgegangen, und manche sagten, dass dieser Mann der Letzte seiner Art war, aus demselben Holz geschnitzt wie seine Vorfahren. Er war ein Cousin des derzeitigen Dukes und der mögliche Erbe des Herzogtums. Als junger Mann war er nach einem unerhörten Skandal, in den eine verheiratete Frau verwickelt gewesen war, ins Ausland verbannt worden. Zehn Jahre später war er zurückgekehrt und hatte es zwischenzeitlich zu einem eigenen Vermögen gebracht.

Sally verstand, wie er zu seinem Ruf gekommen war. Er hatte in der Tat eine unglaublich maskuline Ausstrahlung. Die Frauen lagen ihm scharenweise zu Füßen, aber Sally hatte nicht vor, sich ihren Reihen anzuschließen.

Ihr wurde bewusst, dass sie ihn immer noch anstarrte. Ihre Wangen begannen zu glühen, und sie wandte den Blick von seinem Mund, um ihm in die Augen zu sehen. Sein Blick war ausgesprochen unfreundlich. Ohne nachzudenken, wich sie zurück und merkte, dass ihm ihre Reaktion nicht entging. Er richtete sich auf und entfernte sich ein paar Schritte vom Schreibtisch.

Dieses Mal trug er keine Abendkleidung, und Sally fand, dass man ihn in seiner jetzigen Aufmachung kaum für einen der üblichen Kunden des Blue Parrot Club halten konnte. Der Club sprach eigentlich die unverschämt reichen Mitglieder der Gesellschaft um König Edward an, die vom müßigen Leben gezeichnet waren, oder mondäne amerikanische Besucher, deren Geld und Einfluss in London mehr und mehr eine Rolle spielten. Gelegentlich wurde der Club auch von den Soldatensöhnen des alten Adels besucht, die lautstark ihren Fronturlaub feierten. Von seinem Aussehen her hätte Jack Kestrel früher auch beim Militär gewesen sein können – er hatte eine lange Narbe auf einer Wange – und machte durchaus den Eindruck, dass er sich an irgendeiner Front oder in Südafrika wohler gefühlt hatte als in einem Club in der Nähe des Strands. Er war sehr groß, breitschultrig und braungebrannt, und Sally schätzte ihn auf ungefähr dreißig. Statt Abendgarderobe trug er einen langen dunkelbraunen Ledermantel über einem Anzug, der so lässig elegant wirkte, dass er nur aus der Savile Row stammen konnte. Trotz seiner Größe bewegte er sich mit einer geschmeidigen Anmut, die alle Blicke auf sich zog. Als er sich jetzt zu Sally umdrehte, fiel ihr plötzlich das Atmen schwer. Von Jack Kestrel ging unbestritten eine gefährlich männliche Ausstrahlung aus, seine Züge waren hart und kompromisslos.

„Ich bitte um Verzeihung, dass ich Sie geweckt habe“,sagte er gedehnt. „Ich vermute, in Ihrem Beruf müssen Sie zusehen, dass Sie Ihren Schlaf bekommen, wann immer Sie eine Gelegenheit dazu finden.“

Darauf konnte Sally sich keinen rechten Reim machen. Die Buchhaltung machte ihr zwar Spaß, aber sie fand sie nicht so fesselnd, dass sie sich davon vom Schlafen abhalten ließ. Sie war nur deswegen so müde, weil sie in der vergangenen Nacht noch spät in der Wallace Collection gewesen war und früh wieder hatte aufstehen müssen, um die letzten Renovierungsarbeiten am Purpursalon zu überwachen. Die Arbeiten hatten sechs Monate gedauert und sollten – wenn alles gut ging – in einer Woche abgeschlossen sein. Die Veränderungen würden sicher das Stadtgespräch in London werden, und selbst der König hatte versprochen, an der Feier zur Wiedereröffnung teilzunehmen.

„Sie sind doch Miss Bowes?“, fragte Jack Kestrel nach, als Sally immer noch nichts sagte. Jetzt hörte er sich an, als wäre er allmählich mit seiner Geduld am Ende.

„Ich … Ja, natürlich. Das sagte ich Ihnen bereits gestern Abend.“ Sally räusperte sich. Sie merkte selbst, dass sie ein wenig unsicher klang. Ganz gewiss nicht wie die energische Eigentümerin des erfolgreichsten und modernsten Clubs in ganz London. Einst, vor langer Zeit, in den eleganten Salons von Oxford war sie tatsächlich Miss Bowes gewesen, die älteste Tochter der Familie und Schwester von Miss Petronella und Miss Constance. Doch seitdem war viel geschehen.

Unter Jack Kestrels unbeirrbarem Blick fühlte sie sich jünger als ihre siebenundzwanzig Jahre, viel jünger und seltsam verwundbar. Sie setzte sich gerade hin, strich sich das wirre Haar aus dem Gesicht und hoffte inständig, dass die Tintenflecken, die sie an ihren Fingern entdeckte, nicht auf ihre Stirn abgefärbt hatten. Es machte sie wütend, derart überrumpelt worden zu sein. Normalerweise zog sie ein Abendkleid an, ehe der Club öffnete, aber dazu war sie nicht gekommen, weil sie eingeschlafen war und niemand sie geweckt hatte.

„Was kann ich für Sie tun, Mr. Kestrel?“ Sie schlug einen betont geschäftsmäßigen Ton an. Ihr war längst klar geworden, dass dies kein gesellschaftlicher Besuch war, gedacht als Fortsetzung ihrer Begegnung in der letzten Nacht. Wie kurz und reizvoll ihr diese Begegnung auch erschienen war – inzwischen hatte sich etwas Grundlegendes geändert. Jetzt war er zornig.

„Ich denke, Sie wissen ganz genau, weshalb ich hier bin, Miss Bowes“, erwiderte Jack knapp. „Wäre mir gestern Nacht schon bewusst gewesen, wer Sie sind, hätte ich die Angelegenheit gleich an Ort und Stelle zur Sprache gebracht. Nun, ich habe zu spät reagiert. Aber Sie müssen doch bestimmt gewusst haben, dass ich Sie aufsuchen würde.“

Sally stand auf, dadurch fühlte sie sich größer und mutiger. „Ich bedauere“, erwiderte sie höflich, „aber ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen, Mr. Kestrel, oder warum Sie hier sind. Es sei denn, Sie möchten die berühmte Gastfreundschaft des Blue Parrot genießen.“

Sie hatte gehört, dass Jack Kestrel einmal tausend Pfund für Champagner ausgegeben hatte – bei einem einzigen Besuch des Casinos von Monte Carlo. Sally wünschte, er würde dasselbe im Blue Parrot tun, aber seinem feindseligen Gesichtsausdruck nach war das eher unwahrscheinlich.

Bei ihren Worten verzog Jack spöttisch den Mund. „So legendär die Gastfreundschaft des Blue Parrot auch sein mag, Miss Bowes, das ist nicht der Grund für mein Kommen“, antwortete er gedehnt.

Sally zuckte die Achseln. „Wenn Sie mich dann vielleicht aufklären könnten?“ Sie zeigte auf die Papiere auf ihrem Schreibtisch. „So anregend Ihre Gesellschaft auch ist, Mr. Kestrel, aber ich habe keine Zeit für Ratespielchen. Wie ich gestern Nacht bereits erwähnte, ist meine Arbeit meine große Leidenschaft, und ich möchte mich ihr gern wieder zuwenden.“

Irgendein unbestimmtes Gefühl flackerte in seinen Augen auf, und Sally konnte seinen Zorn und seine Feindseligkeit jetzt deutlicher spüren, zwar eisern beherrscht, aber doch fast greifbar. Sie wünschte, die Lampen würden brennen, denn im Halbdunkel fühlte sie sich entschieden im Nachteil.

„Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie Ihrer Tätigkeit mit großer Leidenschaft nachgehen“, gab Jack gepresst zurück. „Sie müssen darüber hinaus auch äußerst nervenstark sein, so zu tun, als hätten Sie keine Ahnung, weswegen ich hier bin.“

Sally antwortete nicht gleich. Sie wagte sich hinter dem schützenden Schreibtisch hervor, zündete ein Streichholz an und entflammte erst eine Gaslampe, dann noch eine zweite und dritte. Erfreut stellte sie fest, dass ihre Hände dabei nicht zitterten und nichts von ihrer Nervosität verrieten. Sie fühlte deutlich, wie Jack Kestrel sie beobachtete und den Blick seiner dunklen Augen nicht von ihrem Gesicht wendete. Wenn der Raum doch nur ein wenig größer wäre! Jack Kestrels körperliche Präsenz wirkte beinahe erdrückend.

Sie drehte sich um und merkte, dass er plötzlich genau hinter ihr stand. So etwas wie ein Lächeln blitzte in seinen Augen auf, aber es war kein sonderlich beruhigendes Lächeln. Im Stehen fiel ihr auf, dass sie ihm mit dem Kopf nur bis zur Schulter reichte, obwohl sie eine recht große Frau war. Sie war es nicht gewohnt, nach oben blicken zu müssen, um einem Mann in die Augen sehen zu können.

„Nun?“, fragte er sanft. „Haben Sie Ihre Meinung geändert in Bezug auf dieses wenig überzeugende Spielchen der Verstellung?“ Er betrachtete sie prüfend. „Ich muss gestehen, dass ich Sie mir etwas anders vorgestellt hatte“, fügte er langsam hinzu. Er hob die Hand und drehte ihr Gesicht dem Licht zu. „Als wir uns letzte Nacht kennengelernt haben, fand ich Ihr Aussehen ungewöhnlich, doch als ich herausfand, wer Sie sind, war ich überrascht. Ich hatte mit jemandem gerechnet, der eher im herkömmlichen Sinn hübsch ist. Immerhin werden Sie doch die ‚schöne Miss Bowes‘ genannt, nicht wahr …“

Sally schlug seine Hand fort. Trotz ihres Zorns hatte sie von seiner Berührung eine Gänsehaut bekommen. Bei seinem Blick wurde sie sich plötzlich überdeutlich ihres Körpers unter der schlichten braunen Bluse und dem Rock bewusst. Es war ein sehr seltsames Gefühl, und sie versuchte es sich zu erklären. Es war wie ein Brennen, ein Dahinschmelzen, so als würde ihr plötzlich ihre Kleidung zu eng. Kein einziger der Herren, die den Blue Parrot Club besuchten, hatte je so eine Empfindung in ihr ausgelöst, obwohl viele es durchaus versucht hatten.

„Mr. Kestrel“, sagte sie so gelassen wie möglich, „Sie sprechen in Rätseln. Schlimmer noch, Sie langweilen mich. Mein Aussehen, ob schön oder nicht, geht nur mich ganz allein etwas an. Wenn Sie mich also nicht weiter aufklären wollen, werde ich mein Personal herbeirufen müssen, damit man Sie hinausbegleitet.“

Er ließ lachend die Hand sinken. „Das würde ich gern mit ansehen! Aber ich komme mit dem größten Vergnügen zur Sache, Miss Bowes.“ Er sprach mit trügerischer Freundlichkeit. „Ich bin gekommen, um die Briefe abzuholen, die Ihnen mein törichter Cousin Bertie Basset geschrieben hat. Die Briefe, die Sie zu veröffentlichen drohen, sollte sein sterbender Vater Sie nicht ausbezahlen.“

Seine Worte ergaben für Sally keinerlei Sinn. Natürlich kannte sie Bertie Basset. Er war ein junger Adelsspross, charmant, aber nicht sonderlich mit Verstand gesegnet, der oft in den Club kam, um mit den Mädchen zu trinken und um hohe Einsätze zu spielen. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte ihre Schwester Connie auf seinem Schoß gesessen, während er im Grünen Zimmer Poker spielte.

Connie … natürlich …

Sally überlegte. Jack hatte die „schöne Miss Bowes“ erwähnt, aber es war ihre jüngste Schwester Connie, die man so nannte. Wenn Jack Kestrels Berührung sie nicht so verwirrt hätte, wäre ihr schon früher klar geworden, dass er sie mit Connie verwechselt haben musste. Miss Constance Bowes war in der Tat so schön, dass die Herren Sonette über ihre Augenbrauen schrieben und sich zu extravaganten Versprechungen hinreißen ließen, aus denen Connie geschickt Kapital schlug. Sally hatte ihre Schwester jedoch nie um ihr Aussehen beneidet, dazu war sie schlichtweg zu intelligent.

Jack Kestrel beobachtete die vielen Emotionen, die über ihr Gesicht huschten. „Nun“, begann er nachdenklich, „als ich die Angelegenheit das erste Mal erwähnte, hatten Sie nicht die geringste Ahnung, wovon ich redete, oder, Miss Bowes? Und dann haben Sie ganz plötzlich verstanden.“

„Woher wollen Sie das wissen?“, brauste Sally auf. Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie so viel von sich preisgegeben hatte.

„Sie haben ein sehr ausdrucksstarkes Gesicht.“ Jack ließ sich auf der Kante ihres Schreibtischs nieder. „Sie sind also nicht Berties Geliebte. Das hätte ich mir eigentlich denken können. Er wäre ein viel zu junger und unbeholfener Partner für Sie, Miss Bowes.“

„Während Sie, Mr. Kestrel“, gab Sally kühl zurück, „ohne Zweifel und wahrscheinlich zu Recht von sich behaupten, weitaus erfahrener zu sein.“

Jack bedachte sie mit einem sündhaft durchtriebenen Grinsen. Für eine Sekunde fühlte Sally sich an die vergangene Nacht erinnert, und ihre Knie drohten nachzugeben. „Selbstverständlich“, stimmte er zu. „Und bitte, nennen Sie mich Jack. Ich denke, Formalitäten sind in diesem Hause fehl am Platz.“

Das stimmte sogar, aber Sally hatte nicht vor, sich von Jack Kestrel sagen zu lassen, wie sie sich in ihrem eigenen Club verhalten sollte. „Mr. Kestrel, wir schweifen vom Thema ab. Wie Sie so scharfsinnig bemerkt haben, bin ich nicht die Geliebte Ihres Cousins. Diese Angelegenheit ist vollkommen neu für mich. Ich denke, hier liegt ein Missverständnis vor.“

Jack seufzte, und seine Gesichtszüge verhärteten sich wieder. „In Fällen wie diesen ist das meistens so, Miss Bowes. Das Missverständnis in diesem Fall besteht darin, dass mein Onkel eine große Summe Geld zahlen soll.“

Zornesröte schoss Sally in die Wangen. „Ich versuche nicht, jemanden zu erpressen!“

„Vielleicht nicht.“ Mit einer fließenden Bewegung stellte Jack sich wieder hin. „Ich glaube aber, dass Sie wissen, wer das tut.“

Sally starrte ihn an und dachte fieberhaft nach. Wenn sie richtig vermutete, hatte ihre Schwester Connie, der Liebling der Londoner, eine monumentale Torheit begangen und versucht, ein Mitglied des Hochadels zu erpressen. Leider war das gar nicht so unwahrscheinlich, denn Connie mochte zwar unglaublich hübsch sein, aber übermäßig intelligent war sie nicht. Und sie war verwöhnt. Wenn sie nicht das bekam, was sie wollte, stampfte sie mit dem Fuß auf. Und wenn sie es auf Bertie abgesehen hatte und die Affäre unglücklich verlaufen war, dann war es sehr gut möglich, dass sie versuchte, sich dafür zu entschädigen. Die Folge dieses ganzen Irrsinns war, dass Jack Kestrel jetzt wütend und unnachgiebig in Sally Büro stand.

„Vielleicht ist Ihre Schwester ja die Schuldige“, meinte Jack sanft, und Sally zuckte zusammen. Konnte er so leicht ihre Gedanken lesen? „Ich bin ihr noch nie begegnet, aber ich habe von ihr gehört. Sie arbeitet auch hier, nicht wahr?“

Sally presste die Finger an die Schläfen, um die sich anbahnenden Kopfschmerzen in Schach zu halten. Sie konnte Connie nicht verraten, das wäre Treuebruch gewesen. Sie musste zuerst mit ihrer Schwester sprechen. Nur leider vertraute Connie sich ihr in letzter Zeit nie an. Sie standen sich nicht nahe – nicht mehr – seit Connies letzter, grausam gescheiterter Liebesbeziehung. Danach hatte ihre Schwester sich in sich selbst zurückgezogen und kaum noch mit Sally gesprochen. Doch nun würde Sally sie zum Reden bringen müssen.

„Bitte, überlassen Sie die Angelegenheit mir, Mr. Kestrel“, sagte sie. „Ich werde mich darum kümmern.“ Sie sah ihn an. „Ich gebe Ihnen mein Wort, dass Ihr Onkel nicht länger belästigt werden wird.“

Jack seufzte erneut. „Ich würde Ihnen ja gern vertrauen, Miss Bowes, aber das tue ich nicht. Ich bin ja schließlich nicht von gestern.“ Er schüttelte leicht den Kopf. „Sie könnten ohne Weiteres an dieser Sache beteiligt sein, und es wäre sehr leichtsinnig von mir, mich einfach auf Ihr Wort zu verlassen.“ Er ließ den Blick verächtlich über sie schweifen, und Sally glühte vor Zorn und vor Gekränktheit. „Sie sollten wissen, dass mein Onkel alt und seit Jahren zunehmend gebrechlicher wird“, fügte Jack hinzu. „Erst kürzlich wurde uns mitgeteilt, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Eine solche Angelegenheit wird sein Ende beschleunigt herbeiführen. Aber vielleicht ist Ihnen das gleichgültig.“

„Vielleicht sollten Sie einmal mit Ihrem Cousin reden“, fuhr Sally ihn an, „und ihn davon abbringen, unüberlegte Liebesbriefe zu schreiben. Jede Affäre hat nun mal zwei Seiten!“

Jack lächelte. „Das ist allerdings richtig, Miss Bowes, und ich werde mit Bertie sprechen und ihm raten, sich künftig nicht mehr mit leichten Mädchen einzulassen, die nur auf sein Geld aus sind.“

„Sie werden beleidigend, Mr. Kestrel“, sagte Sally. Ihre Stimme bebte vor Zorn und vor Anstrengung, beherrscht zu bleiben.

„Ich bitte um Verzeihung.“ Er klang nicht im Entferntesten reumütig. „Ich hasse nun mal Erpressung und Nötigung, Miss Bowes. So etwas bringt meine dunkelsten Seiten zum Vorschein.“

Sally schüttelte gereizt den Kopf. „Ich glaube nicht, dass uns das jetzt weiterbringt, Mr. Kestrel.“

„Nein, da haben Sie recht“, stimmte Jack zu. „Und ich werde nicht ruhen, bis ich meinem Onkel sagen kann, dass ich diese Briefe eigenhändig vernichtet habe. Etwas anderes würden Sie von mir doch auch nicht erwarten, oder, Miss Bowes?“

Sally hätte nichts anderes von ihm erwartet. Ein so konsequenter, energischer Mann wie Jack Kestrel gab in einer solchen Angelegenheit nicht nach. Und das wiederum stellte sie vor ein großes Problem. Wie konnte sie Connie schützen und gleichzeitig zuverlässig dafür sorgen, dass die Briefe entweder zurückgegeben oder zerstört wurden? Sie hatte Connie immer verteidigt, das war ihr zur festen Gewohnheit geworden, obwohl sie in letzter Zeit geglaubt hatte, ihre Schwester wäre inzwischen hart wie Stahl und brauchte ihren Schutz nicht mehr.

„Miss Bowes?“ Jacks Stimme unterbrach ihre Gedanken. „Sie scheinen einige Schwierigkeiten zu haben, einen Entschluss zu fassen. Vielleicht hilft es Ihrer Konzentration, wenn ich Ihnen sage, dass ich die Polizei rufen lasse, sollten Sie mir die Briefe nicht aushändigen.“

Sie fuhr herum, und ihre Augen funkelten. „Das würden Sie nicht wagen!“

„O doch.“ Sein Blick wirkte zwar leicht belustigt, aber seine Stimme klang kalt. „Wie ich bereits sagte, ich mag keine Erpresser, Miss Bowes. Nur aus Rücksicht auf meinen Onkel habe ich mich nicht direkt an die Behörden gewandt.“ Seine Miene wurde noch eisiger. „Außerdem werde ich alles tun, um den Ruf des Blue Parrot zu ruinieren und Ihnen das Geschäft zu verderben. Seien Sie versichert, mein Einfluss ist weitreichend.“

Sally starrte ihn an, und auf ihren Wangen zeichneten sich rote Flecken des Zorns ab. Sie bezweifelte nicht, dass er seine Drohung in die Tat umsetzen konnte. Er war reich und verfügte über gute Beziehungen; ein Mitglied des exklusiven, ausschweifenden Freundeskreises von König Edward und jederzeit in der Lage, die Aufmerksamkeit des wankelmütigen Monarchen in eine andere Richtung zu lenken. Momentan war der Blue Parrot Club in Mode, aber wie lange mochte es noch dauern, bis die erlauchten Gäste, die durch seine Pforten strömten, beschlossen, sich anderweitig zu vergnügen? Und sie hatte gerade einen großen Kredit bei der Bank aufgenommen, um ihr Geschäft weiter anzukurbeln. Sie war von ihren Investoren abhängig. Wie leicht konnte man sie finanziell ruinieren …

Sie schloss die Augen, atmete einmal tief durch und schlug die Augen wieder auf. Jack Kestrel betrachtete sie mit dem gleichen rätselhaften Gesichtsausdruck, den sie schon einmal an ihm wahrgenommen hatte. Ihr Herzschlag stockte kurz und normalisierte sich dann wieder.

„Ihre Drohungen sind sehr heftig, Mr. Kestrel“, sagte sie so ruhig wie möglich. „Das alles hat nichts mit mir zu tun, und doch wollen Sie, dass ich dafür büße. Das ist nicht das Verhalten eines Gentlemans.“

Jack zuckte die Achseln. „Ich spiele das Spiel nach den Regeln, die man mir gesetzt hat, Miss Bowes. Es war Ihre Schwester, die den Einsatz erhöht hat.“

Sally presste die Hände zusammen. Sie sah keinen Sinn darin, weiter zu streiten; er würde keine Zugeständnisse machen. „Nun gut“, antwortete sie. „Wenn Sie mir ein paar Stunden Zeit geben, mich um die Angelegenheit zu kümmern …“

„Eine Stunde. Ich gebe Ihnen genau eine Stunde.“

„Aber ich brauche mehr Zeit! Ich weiß nicht, wo Connie …“, entfuhr es ihr unbedacht.

„Also ist Connie die ‚schöne Miss Bowes‘?“ Jack zog die Brauen hoch. „Aber natürlich.“ Er zog einen Brief aus seiner Manteltasche und faltete ihn auseinander. „Die Unterschrift beginnt mit einem C. Das hätte mir früher auffallen müssen.“

„Wirklich, Sie hätten sich besser vorbereiten sollen, ehe Sie mit wilden Anschuldigungen um sich werfen!“, beschwerte Sally sich. „Sie sind äußerst unhöflich, Mr. Kestrel.“

Jack lachte, faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder ein. „Ich bin eben direkt, Sally. Das ist einer meiner Vorzüge.“

Sein warmer Tonfall und die Art, wie er ihren Namen aussprach, ließen ihr Herz schneller schlagen, trotzdem konnte sie sich diese Vertraulichkeit nicht gefallen lassen. „Ich habe Ihnen nicht gestattet, mich mit dem Vornamen anzusprechen, Mr. Kestrel!“, fuhr sie ihn an.

„Nein?“ Er warf ihr einen spöttischen Blick zu. „Ich räume ein, Sie scheinen doch Wert auf Formalitäten zu legen. Müssen Ihre Gäste Sie auch mit Miss Bowes anreden?“ Er machte ein nachdenkliches Gesicht. „Aber ich vermute, ein Hauch Strenge ist für einige von ihnen sogar ganz reizvoll, wenn damit noch ein Rohrstock und leichte Züchtigungen einhergehen.“

Wieder spürte Sally, wie ihr die flammende Röte in die Wangen schoss. Jack Kestrel war nicht allein mit seiner Annahme, der Blue Parrot Club wäre ein Freudenhaus der gehobenen Kategorie. Selbst Sally hatte öfter den Verdacht, dass ein paar der Mädchen eigene Wege mit ihren Gästen beschritten. In der Anfangszeit hatte sie aus Sorge um ihre Sicherheit versucht, die Mädchen davon abzuhalten, nicht nur ihre Gesellschaft, sondern auch ihre Körper zu verkaufen, aber schließlich hatte sie begriffen, dass sie nur wenig dagegen tun konnte. Daraufhin hatte sie es zur Bedingung gemacht, dass so etwas wenigstens nicht in ihrem Haus geschah. Trotzdem machte sie sich Sorgen um die Mädchen und wusste, dass diese zwar gerührt waren von ihrer Anteilnahme, sie aber doch für naiv hielten. Sally glaubte das manchmal selbst von sich. Sie lebte in einer glitzernden, aufregenden Welt, aber ihre Schwester behauptete, sie hätte die Moralvorstellungen einer viktorianischen Jungfer.

„Sie ziehen da einige falsche Schlüsse, Mr. Kestrel“, erwiderte sie kalt. „Die einzige teure Ware, die unsere Gäste hier im Haus kaufen können, ist Champagner. Ich muss schließlich an meine Lizenz denken. Ich bin die Eigentümerin des Blue Parrot, Mr. Kestrel, und das bedeutet, dass ich nicht mehr bin als eine bessere Buchhalterin.“ Wieder zeigte sie auf den Stapel Rechnungen und Aufträge auf ihrem Schreibtisch. „Wie Sie sehen können.“

Jack lachte leicht verbittert. „Ich nehme die Beteuerung Ihrer Tugendhaftigkeit zur Kenntnis, Miss Bowes.“

„Sie verstehen nicht ganz“, fauchte Sally. „Ich brauche mich vor Ihnen nicht zu rechtfertigen, Mr. Kestrel, ich wollte nur etwas klarstellen.“

Er neigte den Kopf zur Seite. „Und Ihre Schwester? Sie arbeitet doch gewiss nicht ebenfalls hier im Büro?“

„Sie ist eine unserer Animierdamen“, erklärte Sally. „Deren Aufgabe ist es, mit den Gästen zu plaudern und sie zu ermuntern, Geld auszugeben.“

„Eine Aufgabe, auf die Ihre Schwester sich meisterhaft zu verstehen scheint, dem Brief an meinen Onkel nach zu urteilen.“

Sally knirschte insgeheim mit den Zähnen, dem hatte sie nicht viel entgegenzusetzen.

„Arbeitet Ihre Schwester heute Abend?“, wollte Jack wissen. „Ich will augenblicklich mit ihr sprechen.“ Er bewegte sich auf die Tür zu.

Sally geriet in Panik. Sie wusste, er würde von Connie vor aller Augen Antworten verlangen, und er war so selbstherrlich, dass es ihm gleichgültig war, ob er dadurch den gesamten Betrieb ihres Clubs durcheinanderbrachte. Ein öffentlicher Tumult war genau das, was sie sich nicht leisten konnte. „Warten Sie!“, rief sie und eilte ihm nach. Zu ihrer Erleichterung blieb er stehen. „Ich weiß es nicht! Ich weiß nicht, ob Conie heute Abend arbeitet oder nicht. Ich sehe selbst nach.“

Sie war sich Jacks Nähe sehr bewusst, als er hinter ihr die Treppe vom Untergeschoss hinaufstieg. Einer der Kellner kam an ihnen vorbei; er balancierte ein mit leeren Tellern vollgestelltes Tablett auf seinem Arm. Der Blue Parrot Club verfügte über ein Restaurant, das mit jedem Herrenclub Schritt halten konnte; der französische Koch war so launenhaft wie viele seiner Kollegen in den großen Herrenhäusern auf dem Land. An diesem Abend jedoch schien Monsieur Claydon einigermaßen friedlich zu sein, und Sally schickte insgeheim ein Dankgebet zu Himmel. Eine Krise in der Küche war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.

Jack hielt ihr die mit grünem Stoff bespannte Tür mit formvollendeter Höflichkeit auf, und Sally trat in die Eingangshalle. Dieser Bereich war wie der Eingang eines Privathauses gestaltet worden, mit einem schwarzweißen Marmorfußboden, Topfpflanzen und geschmackvollen Skulpturen. Am Haupteingang standen zwei Männer in Livree, die man auf den ersten Blick für Lakaien hätte halten können. Bei genauerem Hinsehen jedoch merkte man, dass sie die Statur von Berufsboxern hatten; ihre Mienen waren entsprechend misstrauisch. Der ältere der beiden war Sallys Geschäftsführer, Dan O’Neill, der früher tatsächlich irischer Meister im Boxen gewesen war und nun das Blue Parrot leitete. Zu seinen Aufgaben gehörte auch die Überwachung des Spielbetriebes, wenn der Club geöffnet war. Seine boxerischen Fähigkeiten waren dabei äußerst nützlich, denn es kam durchaus vor, dass ein paar der Gäste etwas zu tief ins Champagnerglas geschaut oder sich beim Baccara ein wenig übernommen hatten, sodass sie sanft ermuntert werden mussten, das Haus unauffällig zu verlassen.

Als sie Sally erblickten, strafften sich beide Männer unwillkürlich.

„Guten Abend, Miss Bowes“, grüßte Dan respektvoll.

„Guten Abend, Dan“, gab Sally lächelnd zurück. „Guten Abend, Alfred.“

„Miss Sally.“ Alfred trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und errötete wie ein verliebter Schuljunge.

„Weiß einer von Ihnen vielleicht, ob Miss Connie heute Abend arbeitet?“, erkundigte Sally sich.

Die beiden Männer tauschten einen Blick. „Sie ist vor einiger Zeit ausgegangen“, berichtete Alfred. „Ich habe eine Droschke für sie gerufen.“

„Sie meinte, es wäre ihr freier Abend“, ergänzte Dan.

„Wissen Sie, wohin sie wollte?“, fragte Jack Kestrel.

Wieder war Sally sich seiner Präsenz deutlich bewusst; sie konnte seine Anspannung spüren, während er die beiden Männer genau im Auge behielt.

Dan sah Sally hilfesuchend an und räusperte sich, als sie nickte. „Ich glaube, sie wollte mit Mr. Basset zu Abend essen“, gab er Auskunft.

Sally hörte, wie Jack geräuschvoll den Atem einsog. „Soso“, sagte er erfreut, „wie interessant. Vielleicht will sie sich ja nach allen Seiten absichern, für den Fall, dass es mit der Erpressung nicht klappt?“

Sally biss auf ihre Unterlippe und versuchte, die Andeutung zu überhören. „Es tut mir leid, Mr. Kestrel, aber es hat den Anschein, als müssten Sie sich noch etwas gedulden, bis Sie mit meiner Schwester sprechen können – es sei denn, Sie wissen, wohin Ihr Cousin eine Dame zum Essen ausführen würde.“

„Ich bin gern bereit zu warten“, erwiderte Jack gedehnt und sah sie an. „Solange Sie sicher sind, dass Ihre Schwester heute Nacht wieder nach Hause kommt, Miss Bowes.“

Bei dieser kaum verschleierten Anspielung auf Connies Tugendhaftigkeit errötete Sally. Sie sah, wie Dan mit vor Zorn verzerrtem Gesicht einen Schritt nach vorn tat und Jack die Schultern straffte, als bereitete er sich auf einen Kampf vor. Eilig winkte sie ihren Geschäftsführer zurück. Sie wollte kein Handgemenge, schon gar nicht eins, das Dan möglicherweise nicht für sich entscheiden würde. Jack Kestrel sah aus, als wäre er ein guter Kämpfer. Außerdem konnte sie tatsächlich nicht sicher davon ausgehen, dass Connie nach Hause kam. Schon öfter war ihre Schwester die ganze Nacht fortgeblieben, aber nach der ersten schrecklichen Szene, als Connie sie angebrüllt hatte, sie wäre schließlich nicht ihre Mutter, hatte Sally sich nicht mehr eingemischt. Es tat ihr in der Seele weh, dass sie Connie nicht mehr zu erreichen schien und diese ihre eigenen, unberechenbaren Wege ging.

„Dann möchten Sie vielleicht gern bei uns zu Abend essen, während Sie warten, Mr. Kestrel?“, bot Sally ihm an. „Auf Kosten des Hauses natürlich.“

Autor

Nicola Cornick
<p>Nicola Cornick liebt viele Dinge: Ihr Cottage und ihren Garten, ihre zwei kleinen Katzen, ihren Ehemann und das Schreiben. Schon während ihres Studiums hat Geschichte sie interessiert, weshalb sie sich auch in ihren Romanen historischen Themen widmet. Wenn Nicola gerade nicht an einer neuen Buchidee arbeitet, genießt sie es, durch...
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