Küsse sind die beste Medizin

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„Du musst mir helfen.“ Es fällt der jungen Witwe Rose nicht leicht, sich an ihren Ex Paul zu wenden. Aber nach einer schlimmen Diagnose weiß sie nicht weiter. Und vielleicht heilt Liebe ja wirklich alles – auch die Wunden in seinem Herzen, weil sie ihn damals verließ …


  • Erscheinungstag 23.01.2025
  • ISBN / Artikelnummer 9783751536318
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Wie zur Salzsäule erstarrt stand Rose Martin in der heißen Junisonne und schaute auf das Gebäude. Nachdem sie sich drei Tage lang den Kopf zerbrochen hatte, was sie Paul Stephens sagen sollte – ihrem Schwarm aus Schultagen und späteren Schwager –, schien sämtlicher Antrieb flöten gegangen zu sein. Es war ihr geradezu unmöglich, das Haus zu betreten. Sie versuchte sich zwar auszumalen, wie die Unterhaltung verlaufen würde, doch es glückte ihr beim besten Willen nicht, auf einen guten Ausgang zu hoffen. Nach allem, was vor Kurzem geschehen war, hatte sie keinerlei Grund, anzunehmen, alles würde sich zum Besten fügen. Und genau dasselbe traf traurigerweise darauf zu, was vor viel längerer Zeit passiert war.

Tränen des Zorns traten Rose in die Augen. Hatte sie sich nicht geschworen, niemals wieder in eine solche Situation zu geraten? Und schon war sie wieder auf jemanden angewiesen – auf einen Menschen, der nichts mit ihr zu tun haben wollte. Damals als Fünfjährige hatte sie eben keine Wahl gehabt. Ihre Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und ihre Großtante als ihre einzige Verwandte war zu ihrem Vormund ernannt worden. Dabei hatte Tante Rosemary niemals Kinder gewollt und Rose aus purem Pflichtgefühl zu sich genommen. Außer einem Dach über dem Kopf hatte sie dem kleinen Mädchen nichts geboten – von Zuneigung oder gar Liebe hatte nicht die Rede sein können.

Und jetzt musste Rose wieder um Hilfe bitten, und zwar Paul! Sie hasste es, sich so klein zu fühlen, aber wieder blieb ihr keine Wahl. Sie war auf ihn angewiesen. Wenn sie ihn um Unterstützung bitten musste, dann würde sie dies eben tun. Seitdem sie die schlechte Nachricht von ihrem Arzt erfahren hatte, musste sie das tun, was für ihre Kinder das Beste war. Es würde ihr sehr schwerfallen, ihren Stolz zu überwinden, doch sie war gewillt, diesen Schritt zu gehen.

Krebs. Sie hatte Krebs. Allein das Wort ängstigte sie, und das Herz hämmerte ihr so heftig in der Brust, dass es schmerzte. Am liebsten hätte sie laut zum Himmel geschrien, wie unfair sie die Diagnose empfand.

Sie hatte nie geraucht, keinen Alkohol getrunken. Sie trieb regelmäßig Sport und ernährte sich gesund, aß viel Obst und Gemüse. Dennoch war bei ihr Gebärmutterhalskrebs im zweiten Stadium diagnostiziert worden – und das mit dreißig Jahren! Rose riss sich zusammen und holte tief Luft. Jetzt war nicht die Zeit, sich selbst zu bemitleiden. Abgesehen davon hatte sie sich noch nie gestattet, in Selbstmitleid zu baden.

Sie erzog ihre drei wunderbaren Kinder allein und würde für sie alles tun. Und deshalb war sie mit ihnen von Sweet Briar in North Carolina nach Tampa in Florida gefahren, um mit Paul zu reden, obwohl sie längst ahnte, wie er reagieren würde. Mit ihm vorab zu telefonieren, war für sie nicht infrage gekommen, denn sie wollte dieses Gespräch besser von Angesicht zu Angesicht führen.

Den Kids hatte sie noch gar nichts von der Diagnose erzählt, weil sie nur beunruhigt würden, und mit noch mehr Ängsten konnte sie im Moment nicht umgehen. Die drei glaubten, hergekommen zu sein, um ihren Großeltern eine gute Reise zu wünschen, ehe die zu ihrer achtmonatigen Kreuzfahrt aufbrachen. Doch in Wahrheit wollte Rose ihre Schwiegermutter Andrea um Rat fragen.

Ihr hatte sie als der Allerersten von ihrer Krankheit erzählt und sie um Stillschweigen gebeten. Daraufhin hatte Andrea sofort angeboten, die Kreuzfahrt erneut zu verschieben, aber Rose wusste dies vehement abzulehnen. Mehr als ein Jahr war vergangen, seitdem ihr Mann Terrence plötzlich verstorben war, und ihr Schwiegervater Edward war noch immer nicht über den Tod seines Sohns hinweg. Edward verbrachte seine Tage wie in Trance und schien vor Kummer wie gelähmt. Nur langsam hatte er begonnen, sich für die geplante Urlaubsreise zu interessieren, die sie nach Terrence’ Tod kurzerhand abgesagt hatten. Vielleicht vermochte die Kreuzfahrt zu einer Art Wendepunkt in seinem Leben zu werden. Rose konnte unmöglich von ihren Schwiegerleuten erwarten, sie erneut zu verschieben. Das Risiko war viel zu hoch, dass Edward erneut in seine Depression zurückfiel – vor allem, wenn er sich dann auch noch um seine Schwiegertochter sorgte. Bisher hatte er sich nämlich trotz seiner Trauer stets liebevoll um sie und die Kinder gekümmert. Deshalb hatte sie beschlossen, jetzt Paul um Hilfe zu bitten − falls sie sich je ein Herz fassen sollte, um den ihm gehörenden Fitnessclub zu betreten. Ihre Schwiegermutter hatte ihr angeboten, mit Paul vorab zu reden, aber Rose hatte dies abgelehnt. Diese Angelegenheit musste sie schon selbst regeln.

Die Tür ging auf, und zwei Frauen in quietschbunter Sportkleidung verließen das Gebäude. Sie hielten die Tür für sie geöffnet. Rose nahm das als Zeichen, aktiv zu werden, lächelte ihnen zu und legte die letzten Meter zum Eingang zurück.

„Viel Spaß beim Training“, wünschte ihr eine der Frauen, ehe sie davongingen.

Rose bedankte sich murmelnd und trat ein. Obwohl die Sorgen sie schier zu erdrücken schienen, nahm sie sich die Zeit, um sich umzuschauen. Der Empfangsbereich war von beeindruckender Größe und summte vor positiver Energie.

Rechts von ihr, hinter einer riesigen Glasscheibe, übte ein Zumba-Kurs. Etwa zwanzig Frauen tanzten zu einem Latin-Beat. Zu ihrer Linken befanden sich die Umkleidekabinen und Duschen. Ein durchtrainierter Mann stand an einem geschwungenen Tisch in der Mitte des Empfangsbereichs und begrüßte die Besucherinnen und Besucher, die ihre Mitgliedsausweise scannten, ehe sie im Umkleidebereich verschwanden. Etwa ein halbes Dutzend Besucher stand an der Bar und schlürfte Obstsmoothies. Mit so vielen Leuten hatte Rose an einem Mittwochmittag überhaupt nicht gerechnet.

Andrea hatte ihr erzählt, dass der Fitnessclub in Tampa Pauls allererstes Studio gewesen war und sozusagen sein Hauptquartier darstellte, von wo aus er weitere Studios führte. Mittlerweile sollten ihm in drei Bundesstaaten rund zehn erstklassige Fitnessstudios gehören. Rose hielt sich zum ersten Mal in einem seiner Clubs auf, denn obwohl Paul während der Schulzeit nicht nur ihr Schatz, sondern später dann auch ihr Schwager gewesen war, schien es zwischen ihnen keinerlei familiäre Gefühle gegeben zu haben. So hatte sie gar nicht richtig mitbekommen, welchen großen beruflichen Erfolg Paul auszeichnete.

Rose hatte Paul vor langer Zeit einmal aus ganzem Herzen geliebt. Als sie während der Highschool zwei Jahre lang zusammen gewesen waren, hatte er ihr eine Menge versprochen. Doch sobald er aufs College gekommen war, hatte er seine Versprechungen sofort wieder vergessen. Auch sie persönlich hatte er ziemlich schnell vergessen. Seine Anrufe waren immer seltener geworden, ehe er sie ganz einstellte – ersetzt durch das Leben auf dem College und vor allem durch die Mädels, die er dort kennenlernte.

Als Rose achtzehn war, starb ihre Tante Rosemary. Danach war Rose vollkommen allein auf der Welt gewesen. Paul war zwar zum Begräbnis gekommen, aber sofort am nächsten Tag wieder abgereist. Sein älterer Halbbruder Terrence unterstützte Rose in dieser schweren Zeit, war immer für sie da und hörte ihr zu. Als er um ihre Hand angehalten hatte, sagte sie sofort Ja. Sie war dankbar und erleichtert gewesen, nicht länger allein sein zu müssen, und hatte Terrence sehr gemocht – die große Liebe war es nur eben nicht gewesen. Zwei Wochen nach seinem Antrag hatten sie im Rathaus geheiratet.

Paul hatte ihr das nie verziehen.

Rose trat an die Rezeption und räusperte sich. Der Mann hinter dem Tresen schaute auf. „Willkommen im Body-Fit-Studio. Wie kann ich dir helfen?“

„Ich möchte Paul Stephens sprechen.“

„Und dein Name?“

„Rosalyn Martin.“ Rose hatte auch nach der Hochzeit ihren Mädchennamen behalten. Er war das Einzige, das sie mit ihren Eltern verband, an die sie sich nur undeutlich erinnern konnte.

Der junge Mann griff zum Telefon. Nach einem kurzen Zwiegespräch schaute er sie lächelnd an und zeigte zum hinteren Teil des Gebäudes. „Pauls Büro ist auf der ersten Etage – gleich die erste Tür im Gang. Du kannst es nicht verfehlen.“

„Danke.“ Rose durchquerte den weiträumigen Bereich und wandte sich zur Treppe. Ehe sie die erste Stufe betrat, holte sie tief Luft. Die nächsten Minuten würden vielleicht über die nächsten Monate ihres Lebens entscheiden. Die laute Musik, die aus einem der Gymnastikräume bis hierhin dröhnte, vermochte ihr laut schlagendes Herz nicht zu übertönen, als sie die mit Teppich belegten Stufen hinaufschritt. Am Ende der Treppe erstreckte sich ein langer Gang, der an einer Flügeltür endete. An der Wand daneben befand sich ein Schild mit Pauls Namen.

Sie klopfte und wartete, bis Paul sie zum Eintreten aufforderte. Er saß hinter einem massiven Schreibtisch, der vor einer Fensterfront stand, durch die man in die Gymnastikräume schauen konnte. Er hatte sich umgedreht, sodass er mit dem Rücken zu ihr saß. Obwohl er sie eintreten gehört hatte, machte er keine Anstalten, sich zu ihr zu wenden. Reglos blieb sie stehen. Sie würde erst mit ihm reden, wenn er sie ansah. Als er sich auf seinem Stuhl zu drehen begann, wappnete sie sich für das bevorstehende Gespräch.

„Rose.“ Pauls Stimme klang so kühl, dass sie erschauerte. Sie hatte mit seiner Distanziertheit gerechnet. Während der vergangenen zwölf Jahre hatte er sie schließlich über seine Gefühle nicht im Ungewissen gelassen. Zwischen ihnen herrschte nicht die geringste Zuneigung. Dennoch verließ sie der Mut, als sie seine gerunzelte Stirn bemerkte. Sie ahnte, dass er es ihr nicht leicht machen würde.

Genau genommen war sie an ihrer gemeinsamen schrecklichen Vergangenheit nicht schuldlos, und auch er hatte seinen Teil dazu beigetragen. Seiner Ansicht nach trug sie allein die Schuld dafür, dass ihre Beziehung in die Brüche gegangen war und glaubte, derjenige zu sein, der hintergangen worden war. Nicht ein einziges Mal war es ihm in den Sinn gekommen, dass auch er sie fallen gelassen hatte – nicht, dass es jetzt noch eine Rolle spielte. Es ging ihr nur noch darum, ihre Kinder gut versorgt zu wissen. Dafür würde sie in diesem Moment alles machen. Natürlich hatte sie Freunde in Sweet Briar, beispielsweise ihre beste Freundin Charlotte Shields. Dennoch fühlte sie sich nicht wohl bei dem Gedanken, sie mit dieser großen Verantwortung zu belasten. Charlotte würde bald Rich Tyler heiraten, den Arzt der Stadt. Abgesehen davon war Paul der Onkel ihrer Kinder, ob es ihm passte oder nicht. Sie waren eine Familie. Und Familienmitglieder sollten nun einmal zusammenhalten.

„Danke, dass du mich empfängst.“

Er grummelte unfreundlich. „Du hast mir ja keine Wahl gelassen, sondern bist einfach hier aufgekreuzt.“

Das stimmte schon, aber er hätte sich auch weigern können, sie zu sehen, und das wäre es dann gewesen. Jetzt, da sie sich gegenüberstanden, wusste sie nicht, wie sie das Gespräch beginnen sollte. Sie schaute sich in seinem nur sparsam möblierten Büro um. Die Ledersessel wirkten elegant. Ein Foto von Paul mit einer sehr schönen Frau stand auf einer Ecke seines Schreibtischs. Obwohl Rose und Paul nichts mehr miteinander zu tun hatten, erzählte Andrea manchmal von den Frauen, mit denen er ausging und verlieh ihrer Hoffnung Ausdruck, dass er sich endlich für eine entscheiden würde. Andrea glaubte, dass Kristin, mit der er seit sieben Monaten zusammen war, die Richtige sei.

Vielleicht war das doch keine so gute Idee gewesen. Auf dem Foto zu sehen, dass Paul glücklich liiert war, ließ sie an ihrem Plan zweifeln. Gut möglich, dass er nicht bereit war, Kristin zu verlassen und nach North Carolina zu kommen, um Rose zu unterstützen, während die sich einer Chemotherapie unterziehen musste. Ihre Behandlung und Genesung würde schließlich Monate dauern – zu dumm, dass ihr keine andere Lösung einfiel.

Paul trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. „Komm zum Anlass deines heutigen Besuches. Ich bin mir sicher, dass du mich nicht nur einfach so sehen wolltest.“

Rose wurde ganz heiß im Gesicht und sie bemühte sich, ihn nicht anzustarren. Als Teenager hatte er sehr gesund gelebt und entsprechend in Form war sein Körper gewesen. Die Zeit hatte es gut mit ihm gemeint. Seine gebräunte Haut strahlte Gesundheit aus, er war knapp ein Meter neunzig groß und sehr muskulös. Er hatte ein angenehmes Gesicht, selbst wenn er – wie jetzt – die Augen gereizt zusammenkniff.

Sie holte tief Luft, aber das Wort Krebs verstopfte ihr die Kehle, und sie brachte kein Wort hervor. Zu ihrem Entsetzen traten ihr jetzt auch noch Tränen in die Augen und sie sah alles nur noch verschwommen. Sie blinzelte gegen den Schleier an und zwang sich zum Reden. „Ich brauche deine Hilfe.“

„Wofür? Nicht, dass es eine Rolle spielen würde. Die Antwort lautet Nein. So eng ist unser Verhältnis nun auch wieder nicht. Du hättest dir den Weg also sparen können und mir die Zeit und die Unannehmlichkeiten.“

„Wirfst du mir immer noch vor, was damals zwischen uns geschehen ist? Wir waren doch noch Kinder.“

„Nein. Aber ich will auch nicht so tun, als seien wir Freunde. Und seit Terrence’ Tod verbindet uns auch nichts Familiäres mehr.“ Er unterstrich den Satz mit einer energischen Handbewegung.

„Sind meine Kinder nicht deine Nichten und dein Neffe? Gehören sie nicht zu deiner Familie? Liebst du sie noch?“

„Natürlich liebe ich sie. Haben sie irgendwas mit deiner Bitte zu tun?“

„Ja, allerdings. Wäre es nicht ihretwegen, hätte ich dich niemals bei der Arbeit gestört.“ Sein verärgerter Gesichtsausdruck verriet ihr, dass seine Geduld bald ausgereizt war. Noch immer fiel es ihr schwer, das Wort auszusprechen, das ihn vermutlich weit weniger schockieren würde als sie. Doch jetzt brachte sie es schnell hinter sich. „Ich habe Gebärmutterhalskrebs“, stieß sie hervor.

Er zuckte zusammen, als hätte sie ihm einen Stromstoß versetzt. „Wie bitte?“

„Du hast schon richtig verstanden.“ Sie konnte es nicht wiederholen. Ihre Stimme zitterte, und eine Träne lief ihr die Wange hinunter. Hastig wischte sie sie fort und hoffte, dass er sie nicht bemerkt hatte. Sie wollte nicht, dass Paul sie weinen sah, weil er ihr dann womöglich noch vorwarf, Tränen als Waffen einzusetzen. Und auf eine solche Diskussion wollte sie sich auf keinen Fall einlassen.

Er bewegte die Lippen, doch brachte er keinen Ton hervor, und das konnte sie nur allzu gut verstehen. Sie selbst war am Boden zerstört, als ihr Arzt ihr die Nachricht überbracht hatte. Obwohl sie bereits auf einem Stuhl gesessen hatte, waren ihre Beine wie Pudding gewesen. Auch jetzt fiel es ihr schwer, aufrecht stehen zu bleiben. Doch auf seine Befindlichkeiten konnte sie keine Rücksicht nehmen und musste zum Grund ihres Besuches kommen. „Ich bekomme eine Chemotherapie und werde bald operiert.“

Als er sie nur ausdruckslos anstarrte, fuhr sie fort: „Ich werde mich nicht um meine Kinder kümmern können. Ich habe zwar Freunde, die mich unterstützen, aber das reicht einfach nicht aus. Ich brauche eine Hilfe im Haus. Jemanden anzustellen, kommt nicht infrage. Ich möchte nicht, dass sich meine Kinder an einen fremden Menschen gewöhnen müssen, wenn sie bereits mit meiner Krankheit klarkommen müssen. Wenn es jemand anderen gäbe, den ich um Hilfe bitten könnte, würde ich das tun, glaube mir. Aber da ist niemand. Deine Mutter hat angeboten, die Kreuzfahrt noch einmal zu verschieben, doch das kann ich nicht verlangen. Dein Vater braucht die Ablenkung, um aus seiner Trauer herauszukommen und endlich nach vorne schauen zu können. Deshalb brauche ich jemanden, der nach Sweet Briar kommt … dich.“

Paul schwirrte der Kopf und er kämpfte gegen einen plötzlichen Schwindel. Krebs. Rose hat Krebs. Das Wort hallte in seinen Ohren wider, kreiste unaufhörlich durch seinen Schädel. Das ergab doch keinen Sinn. Wie konnte sie so krank sein?

Sie sah doch gut aus. Sie war immer zierlich gewesen, hatte kleine Brüste, eine schmale Taille und schlanke Hüften. Doch wenn er sie genauer betrachtete, fiel ihm auf, dass sie seit Terrence’ Begräbnis im vergangenen Jahr ein wenig dünner geworden war. Ihr weißes Top schien ein bisschen zu groß zu sein, und sie nestelte unentwegt am Träger, damit es ihr nicht über die Schulter rutschte. Obwohl ihr Gesicht so schön war wie immer, fehlte das Funkeln in ihren Augen – sie schaute ihn regelrecht verängstigt an. Ihre gebräunte Haut wirkte stumpf. Ihre Lippen zitterten, als sie zu lächeln versuchte. Offenbar verweigerte ihr Mund seine Mitarbeit, und nach einer Weile gab sie den Versuch auf.

„Ich weiß, dass es unangenehm für dich ist, aber du bist meine einzige Hoffnung. Ich will so schnell wie möglich wieder gesund werden. Du wirst also nicht besonders lange bleiben müssen. Und Nathaniel ist alt genug, um dir zu helfen, was Megan und Suzanne angeht.“

Er brauchte eine Weile, bis die Bedeutung ihrer hastig ausgesprochenen Worte bei ihm ankam. Versuchte sie immer noch, ihn zu überreden? War sie sich wirklich so unsicher, ob sie sich auf ihn verlassen konnte? „Unter diesen Umständen komme ich natürlich.“

Vor Erleichterung sah sie ganz schwach aus. „Danke.“

„Hast du etwa geglaubt, ich würde Nein sagen?“

„Ehrlich gesagt war ich mir nicht so sicher. Natürlich habe ich gehofft, dass du Ja sagst, aber ich hatte mich auch auf eine Ablehnung gefasst gemacht.“

Da er tatsächlich Nein gesagt hatte, noch ehe er wusste, worum es ging, konnte er nun nichts zu seiner Verteidigung vorbringen. „Seit wann hast du die Diagnose?“

„Seit einer Woche.“

Seit einer Woche? Und sie hatte es ihm nicht sofort mitgeteilt? „Warum hast du es mir nicht früher erzählt?“

Ihre Augen wurden groß. „Willst du mich auf den Arm nehmen? Wir haben seit Jahren kein Wort miteinander gewechselt. Du hast doch selbst gesagt, dass es zwischen uns keine familiäre oder freundschaftliche Verbindung mehr gibt.“

Aus ihrem Mund klangen die Worte sehr viel grausamer. Er hatte sich unnötig brüsk verhalten und fühlte Scham in sich aufsteigen. Er wusste nicht, was er daraufhin erwidern sollte.

„Mein Onkologe arbeitet einen Behandlungsplan aus. Bis Freitag wird er sämtliche Daten und Termine zusammengetragen haben. Ich werde dich vorher anrufen, ehe ich etwas festmache, um sicherzugehen, dass du in dem fraglichen Zeitraum frei bist.“

„Das brauchst du nicht. Ich komme, wann immer du mich brauchst.“

„Einfach so?“

„Einfach so.“ Es stimmte, dass sie keine Freunde waren, denn zu viel war zwischen ihnen vorgefallen, als dass sie jemals wieder befreundet sein konnten. Doch für herzlos hielt er sich nicht. Sie und die Kinder brauchten seine Unterstützung, und er würde sie ihnen nicht verweigern.

„Danke. Das weiß ich zu schätzen. Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, hätte ich dich nicht belästigt.“

„Ich liebe meine Nichten und meinen Neffen. Ich muss hier noch einige Dinge klären und Vorbereitungen treffen, um von North Carolina aus arbeiten zu können – ein paar Tage werde ich also noch brauchen. Ist das okay für dich?“ Im Geiste verschob er bereits Termine und machte neue Pläne für den kommenden Monat. Und er musste Kristin informieren. Die Neurochirurgin hatte einen ebenso vollen Terminkalender wie er selbst, sodass ihnen nur wenig gemeinsame Freizeit blieb. Er hätte gern ihr Einverständnis gehabt, aber auch ohne ihre Einwilligung würde er auf jeden Fall nach North Carolina fahren.

„Komm, wann immer es dir passt. Ich muss die Kinder auch noch auf die nächsten Wochen vorbereiten.“

„Hast du es ihnen schon erzählt?“

„Noch nicht. Wir bleiben heute Nacht bei deinen Eltern und fliegen morgen Nachmittag zurück. Ich werde es ihnen morgen Abend oder übermorgen erzählen.“

„Wenn du willst, kann ich dabei sein, um ihnen zu versichern, dass alles gut gehen wird.“

„Oh … das wäre fantastisch.“ Wieder traten ihr Tränen in die Augen, und er spürte, wie sehr ihr die Situation zu schaffen machte. Wie sie da so mitten im Zimmer stand, die Arme vor der Brust verschränkt, kam sie ihm plötzlich sehr allein vor. Und so allein musste sie sich schon seit Terrence’ Tod vorkommen.

Er konnte nicht anders – er ging zu ihr und ergriff ihre Hand. „Das kriegen wir schon hin“, beteuerte er. „Das verspreche ich dir.“

„Ich versuche, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Andrea und Edward sind ganz liebevolle Großeltern, und ich weiß, dass sie einspringen würden, wenn ich …“

„Denk nicht einmal daran. Du wirst wieder vollkommen gesund. Du wirst den Kampf gewinnen. Konzentriere all deine Energie darauf, wieder gesund zu werden. Ich kümmere mich um den Rest.“ Rose musste einfach wieder gesund werden. Obwohl er ihr zwölf Jahre lang aus dem Weg gegangen war und sich aus ihrem Leben herausgehalten hatte, konnte er sich eine Welt ohne sie gar nicht vorstellen.

Der unerwartete Gedanke verblüffte ihn. Natürlich wünschte er Rose eine baldige Genesung, aber in seiner Welt gab es nach wie vor keinen Platz für sie. Und den hatte er ihr schon seit Jahren ganz bewusst nicht mehr eingeräumt.

2. KAPITEL

Beim Klang der Türglocke setzte Rose’ Herz einen Schlag lang aus. Sie hatte Paul durchs Fenster beobachtet, wie er sein Gepäck aus dem Kofferraum seines SUV holte. Aber erst, als er klingelte, rührte sie sich vom Fleck. Auf dem Weg zur Tür holte sie tief Luft. Die Zeit der Heimlichtuerei war vorbei. Jetzt musste sie nicht nur Paul gegenübertreten, sondern auch ihren Kindern von ihrer Krankheit berichten.

Rose öffnete die Tür und trat beiseite, um Paul ins Haus zu lassen.

„Wie geht es dir?“, fragte er und stellte die Koffer ab. Als er einen Schritt auf sie zukam, erstarrte sie. Eine Sekunde lang hatte sie gedacht, er wollte sie umarmen, aber das tat er nicht. Nach all den Jahren der Entfremdung zwischen ihnen wäre eine solch liebevolle Begrüßung auch total unangebracht gewesen. Selbst ein ganz normales Gespräch unter vier Augen fühlte sich seltsam an.

„Mir geht es gut. Sehr gut.“ Deshalb fiel es ihr auch so schwer, mit der Diagnose ihres Arztes fertigzuwerden. Sie hatte noch keine Symptome entwickelt. Und sie war auch gerade erst dreißig geworden. Die meisten Frauen, die Gebärmutterhalskrebs hatten, waren viel älter. Glücklicherweise war die Krankheit recht früh entdeckt worden, sodass die Chance auf Heilung durchaus sehr groß war.

„Prima. Und wo sind die Kinder?“

„Megan und Suzanne helfen mir beim Abendessen, und Nathaniel spielt mit einem Freund Basketball.“

„Soll ich ihn abholen?“

„Nein. Der Vater seines Freundes bringt ihn nach Hause. Er müsste gleich hier sein.“

„Hast du den Kindern gesagt, dass ich komme?“

„Nein.“ Sie hatte es versucht, aber sie konnte sich keinen plausiblen Grund für seinen Besuch ausdenken, da er seit Terrence’ Tod noch nie spontan bei ihnen vorbeigekommen war. Und weil sie ihre Kinder nicht anlügen wollte, hatte sie beschlossen, ihnen die ganze Wahrheit auf einmal aufzutischen.

„Okay.“

„Hätte ich es tun sollen?“

„Das ist in Ordnung, Rose. Mach dir über so etwas keinen Kopf. Sie werden es ja gleich erfahren.“

Sie nickte. Paul hatte recht. Sie musste einen kühlen Kopf behalten und durfte sich nicht über unwichtige Sachen den Kopf zerbrechen, wenn sie den Kindern keine Angst einjagen wollte.

Sie führte ihn ins Haus. Dabei kam er ihr so nahe, dass sie die Wärme seines Körpers spürte, und die Furcht in ihrem Herzen begann nachzulassen. In Anbetracht ihres angespannten Verhältnisses ergab das eigentlich gar keinen Sinn. Doch wenn ihr etwas von ihrer Furcht genommen werden konnte, war es ihr mehr als recht.

„Hallo, Onkel Paul!“ Mit ausgebreiteten Armen kam Megan aus dem Esszimmer gelaufen.

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