Küsse unter tausend Sternen

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Hemmungsloser Sex in der Wildnis? Ein abwegiger Gedanke für die stets vernünftige Gabby! Bis sie mit dem attraktiven Dell einen Survival-Trip antritt. Tagsüber warten auf Gabby aufregende Abenteuer - und nachts, in ihrem Zelt unter tausend Sternen, wartet Dell …


  • Erscheinungstag 18.04.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733767709
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Mit wem, glaubst du, hat sie geschlafen, um befördert zu werden?“

Gabrielle Flannery riss ihren Blick von der strahlenden Blondine los, zu deren Verabschiedung sich die ganze Abteilung versammelt hatte, und drehte sich stirnrunzelnd zu ihrer Kollegin und Freundin Tori um. „Ich weiß nicht, was du gegen Courtney hast. Sie war immer nett zu mir. Und zu dir auch.“

Tori stieß einen verächtlichen Laut aus. „Ja, weil wir sklavisch vor ihr gebuckelt haben.“

Gabrielle reckte sich, um aus dem hinteren Teil des Konferenzraums besser sehen zu können, wie der Kuchen feierlich angeschnitten wurde. „Also ich freue mich für Courtney. Es ist doch schön, dass sie weiterkommt.“

„Ja, ja“, murrte Tori. „Sie kriegt ein sechsstelliges Gehalt, einen gigantischen Werbe-Etat, einen nagelneuen Firmenwagen und ein Eckbüro. Die coolen Kids machen einen Punkt nach dem anderen, während wir alte Trottel noch immer bei null stehen.“

Es störte Gabrielle, als Trottel bezeichnet zu werden. „Aber wir haben doch auch einen eigenen Etat.“ Ihr Puls beschleunigte sich, als Dell Kingston vortrat, um anlässlich des Ereignisses einige Worte an die Anwesenden zu richten.

„Ja, und was für tolle Etats das sind“, sagte Tori hinter vorgehaltener Hand. „Findest du es nicht merkwürdig, dass all die aufregenden Produkte wie Designerkleidung und europäische Wagen an Leute wie Courtney Rodgers und Dell Kingston gehen, während unsereins sich mit Toilettenpapier und Hundefutter begnügen muss?“

Gabrielle bemühte sich um einen besseren Blick, obwohl Dell Kingstons markantes Profil weit interessanter war als der kunstvoll verzierte Baumkuchen. „Sie sind eben schon länger in der Firma“, antwortete sie abwesend.

„Zwei lausige Wochen länger, ja, und auf der Karriereleiter sind sie uns um Lichtjahre voraus.“ Frustriert schlug Tori an einen Zweig des Ficus, hinter dem sie standen. „Sieh uns an. Wir stehen als Zaungäste hinter einem Baum, um zuzuschauen, wie sie sich in ihrem Erfolg sonnen.“

Gabrielle biss sich auf die Lippe, als sie Courtney und Dell betrachtete. Die Barbie und der Ken von „Noble Marketing of Atlanta“ lächelten sich an, als ob sie ein intimes Geheimnis teilten.

„Jetzt, da Courtney geht, wird Dell ein freier Mann sein“, flüsterte Tori Gabrielle ins Ohr.

„Hör auf!“, zischte Gabrielle. Hätte sie Tori bloß nicht anvertraut, dass sie in Dell verknallt war. Zum Glück hatte sie nichts über das wahre Ausmaß ihrer Gefühle gesagt. Als ob Dell Kingston sich je für sie interessieren würde, außer vielleicht als Zielscheibe für blöde Witze. Er hänselte sie ständig wegen ihrer roten Haare und Sommersprossen und nahm dabei auch noch einen übertriebenen irischen Akzent an.

„Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?“, riss Dell sie aus ihren Gedanken und setzte sein atemberaubendes Lächeln auf.

Es wurde still im Raum, und Gabrielle spürte, wie sie sich unweigerlich zu Dell hingezogen fühlte. Der Mann hatte eine unglaubliche Ausstrahlung.

Er wandte sich an die schöne Courtney. „Wir sind heute in Gegenwart dieser Zeugen hier“, begann er und brach dann ab. „Nein, Moment … das passiert nur in meinen Träumen.“

Alle lachten, als Courtney scherzhaft seinen Arm knuffte.

Gabrielle lachte mit, aber innerlich beneidete sie Courtney Rodgers, eine hochgewachsene, goldblonde und äußerst attraktive Südstaatlerin von vornehmer Herkunft. All diese Attribute hatte sie eingesetzt, um zur Top-Etatdirektorin aufzusteigen und einen Posten im New Yorker Büro der Firma anzutreten.

Allerdings war es schwer, der Frau weibliche List vorzuwerfen. Courtney arbeitete hart und hatte bei Noble viele Überstunden gemacht.

Gabrielle seufzte innerlich – aber nicht so viele Überstunden, wie sie und Tori verzeichnen konnten.

„Aber Spaß beiseite“, fuhr Dell fort, „wir alle werden Courtney vermissen und wünschen ihr nur das Beste für ihr neues Abenteuer. Oh, und damit alle es wissen – ich beabsichtige, den EOS-Etat zu übernehmen.“

Das Unternehmen EOS – Equipment für Outdoor-Sport – hatte einen enormen Werbeetat und einen wirklich heißen Repräsentanten. Gabrielle hatte als Courtneys inoffizielle Assistentin für die EOS-Werbung gearbeitet und gehofft, den Filmschauspieler Nick Ocean irgendwann einmal persönlich kennenzulernen. Sie hatte auch davon geträumt, dass der Firmenchef Bruce Noble ihr nach Courtneys Weggang den Etat geben würde, und war nun einigermaßen enttäuscht.

Dell sagte noch einige abschließende Worte, und alle applaudierten und riefen Courtney Glückwünsche zu.

Sie tritt nicht einfach einen neuen Job an, dachte Gabrielle. Courtney brach in ein neues Abenteuer auf. Bei einigen Leuten wirkte alles, was sie machten, aufregender und exotischer als das, was ein Durchschnittsmensch tat.

Der durchschnittliche Trottel.

Dell umarmte Courtney und ließ seinen Arm auf ihren Schultern liegen. Gabrielle beugte sich vor und fragte sich, wie man es bloß anstellte, diesen magischen Ort zu erreichen, wo die Welt einem zu Füßen lag. Wie beneidenswert diese Frau war, in Dells Galaxie zu kreisen … von ihm berührt zu werden …

Plötzlich neigte der Baum vor Gabrielle sich nach vorn. Nein, sie fiel! Den Ficus umschlingend, segelte sie vorwärts und landete auf dem Boden, wobei Blumenerde auf ihrem langen Rock landete. Rings um sie ertönten Laute des Schrecks, die dann in Lachen übergingen. Gabrielle drehte sich auf den Rücken, schloss die Augen und betete, dass alle sie wie gewöhnlich ignorierten und dass die Feier weiterging.

„Gabrielle“, zischte Tori. „Mister Noble starrt dich an. Steh auf!“

Das Gelächter schwoll an, und Gabrielle lag wie gelähmt und mit geschlossenen Augen da.

„Willst du mir die Show stehlen?“, erklang da eine Stimme über ihr.

Sie öffnete die Augen und sah Dell Kingston über sich gebeugt. Er blickte sie amüsiert an.

„Nein“, brachte sie mühsam hervor.

„Bist du verletzt?“

„Nein.“

Er ergriff ihre Hand und zog sie hoch. „Hier gibt’s nichts zu gucken. Gehen Sie bitte weiter zum Kuchenbuffet“, sagte er im autoritären Ton eines Polizisten.

Gabrielles Gesicht glühte vor Verlegenheit, als die Leute an ihnen vorbeidefilierten. Mr. Noble betrachtete sie blinzelnd, als ob er sich zu erinnern versuchte, wie sie hieß. Nervös wischte sie Blumenerde von ihrer hellbraunen Kostümjacke. Ihren Rock hatte es schlimmer erwischt, er war mit dunklen, feuchten Schmierflecken bedeckt. Ihr ramponiertes Outfit bildete einen kläglichen Kontrast zu Courtneys leuchtend blauem Seidenkostüm und war überdies total unpassend für die gerade herrschenden heißen Temperaturen.

„Ist wirklich alles okay mit dir?“, fragte Dell.

Sie nickte, noch immer wie versteinert vor Scham. „Sorry. Es tut mir leid.“

„Du musst dich nicht entschuldigen“, sagte er lachend und fügte leise hinzu: „Ich hab gar nicht gewusst, was für hübsche Beine du hast, Gabby.“

Gabby. Sie hasste diesen Spitznamen. Andererseits freute sie sich über Dells Kompliment.

„Dell“, rief Courtney. „Ich brauche hier Hilfe.“

„Komme sofort!“, rief er zurück. Dann beugte er sich vor, berührte Gabrielles Nasenspitze und nahm seinen mit Erde verschmierten Finger fort. „Nimm dich vor diesen aggressiven Bäumen in Acht.“

Bei seiner Nähe schnürte sich ihr die Kehle zusammen. Seine Gesichtszüge waren kräftig und maskulin, sein kurzes dunkles Haar auf eine sexy Art verwuschelt. Seine Zähne hoben sich perlweiß gegen seine gebräunte Haut ab. Sein würziges Aftershave erregte ihre Sinne. Selbst wenn sie es versucht hätte, hätte sie kein Wort herausgebracht.

Deshalb drehte sie sich um und floh Richtung Ausgang.

Dell Kingston grinste, als er den schlanken Rotschopf aus dem Konferenzraum flüchten sah. Die Frau war zweifellos gut, wenn es darum ging, sich aus dem Staub zu machen. Und sie ist auch etwas tollpatschig, dachte Dell amüsiert. Wie oft hatte er sie vor der überlaufenden Kaffeekanne gerettet, vor einem unaufhörlich ratternden Fotokopiergerät, vor Lawinen von Schnellheftern im Materialraum. Dell stellte den unseligen Baum wieder auf, wobei er kleine Haufen von Blumenerde auf dem Teppich hinterließ.

Er foppte Gabby Flannery zu gern, weil sie so leicht rot wurde und nicht zurückschlug wie die anderen Frauen in der Abteilung. Es war offensichtlich, dass sie in ihn verknallt war, und bei der Vorstellung, wie Gabby nachts wach lag und von ihm träumte, musste er lächeln.

Es war zu niedlich, wirklich.

Allerdings war nichts Niedliches an den unglaublich langen Beinen, die ihr Sturz enthüllt hatte. Dell fragte sich, was für Geheimnisse das rothaarige Mauerblümchen wohl sonst noch unter ihren züchtigen Kostümen verbarg und wie aufregend die Frau möglicherweise sein könnte … wenn sie mit dem richtigen Mann zusammen war …

„De-ell“, rief Courtney ungeduldig.

„Komme sofort“, antwortete er und musste wieder an den glücklichen Umstand denken, dass Courtney die Firma verließ und nach New York ging.

Sie hatten schöne Zeiten im Bett miteinander verbracht, aber ansonsten passten sie überhaupt nicht zusammen. Courtneys Beförderung war ein Gewinn für Dell. Er würde den kostbaren EOS-Etat bekommen, und keiner stand ihm mehr im Weg. Gabby stellte keine Bedrohung dar, ganz im Gegenteil. Sie würde alles, was sie bei ihrer Arbeit über den Kunden erfahren hatte, bereitwillig an Dell weitergeben, und vielleicht würde sie ja sogar seine inoffizielle Assistentin werden.

Dann sah er wieder das Bild von der auf dem Boden liegenden Gabby vor sich, ihre langen Beine verführerisch gespreizt. Wenn Courtney weg wäre, müsste er sich auch einen neuen … Zeitvertreib suchen.

Und plötzlich war die Vorstellung von einer scheuen, schweigsamen, nützlichen Rothaarigen in seinem Bett äußerst reizvoll.

Gabrielle lief zu ihrem Schreibtisch, wütend auf sich selbst, weil sie sich wieder mal zum Gespött der ganzen Belegschaft gemacht hatte.

Tori hatte recht. Sie war ein Trottel.

„Hey, Gabrielle, warte!“, rief ihre Freundin hinter ihr her.

Aber Gabrielle stürmte in ihr Minibüro und ergriff ihren Aktenkoffer sowie ihre Handtasche. Wenn sie jetzt ging, würde sie nicht gemeinsam mit ihren Kollegen im Fahrstuhl stehen müssen.

„So schlimm war das gar nicht“, beschwichtigte Tori sie, aber dann musste sie doch lachen. „Okay, es war zum Brüllen komisch, wie du Courtney ihren glanzvollen Auftritt verdorben hast.“

Gabrielle seufzte frustriert. „Ich hab das doch nicht mit Absicht gemacht.“

„Ich werde meine Version erzählen“, sagte Tori grinsend.

Entnervt hängte sich Gabrielle ihre Tasche über die Schulter. „Ich geh jetzt nach Hause.“

„Aber heute ist Freitag. Wir haben uns als Platzanweiserinnen im Fox Theater zur Verfügung gestellt.“

Sie beide und sämtliche Senioren aus Midtown oh Gott, was für ein wundervolles gesellschaftliches Leben. „Heute kann ich nicht. Ich ruf dich irgendwann am Wochenende an.“

Tori fasste ihren Arm. „Was ist los mit dir? Es war doch nicht das erste Mal, dass du dich lächerlich gemacht hast und …“ Sie brach mitten im Satz ab und machte ein betretenes Gesicht. „Sorry. Ich hab’s nicht so gemeint, wie es sich angehört hat.“

Gabrielle schluckte. Dann blickte sie an ihrem verschmutzten und unmodernen Kostüm hinab und ließ den ganzen peinlichen Vorfall noch einmal Revue passieren. Am schlimmsten war ihr idiotisches Benehmen gegenüber Dell gewesen, der ihr immer das Gefühl gab, unattraktiv und unfähig zu sein. In ein paar Monaten würde sie dreißig werden, aber in Stresssituationen benahm sie sich häufig wie ein unreifer Teenager. Sie würde nie das Format von Dell Kingston oder Courtney Rodgers haben. Einmal ein Trottel, immer ein Trottel.

„Viel Spaß im Theater, Tori.“ Mit hängenden Schultern ging sie zum Fahrstuhl.

„Gabrielle!“, rief Tori ihr nach. „Sei doch nicht so verbohrt.“

Sie blickte starr geradeaus, als sie nach unten fuhr und dann in die Sommerhitze der City hinaustrat. Aber Toris Worte kreisten unentwegt in ihrem Kopf, während sie auf ihren Bus wartete. Sei doch nicht so verbohrt … vergiss deine großen Ziele … sei nicht gekränkt, wenn man dich übersieht … dich unterschätzt … dich ignoriert …

Gabrielle verfluchte ihr wollenes Kostüm, das sie in der feuchten Julihitze zu ersticken drohte. Endlich kam der Bus, und sie stieg zusammen mit anderen abgearbeiteten Leuten ein. Natürlich blieb der Bus nach wenigen Minuten in dem mörderischen Feierabendverkehr stecken.

Gabrielle blickte aus dem Fenster und sah nichts als stehende Autos. Das hat Symbolcharakter, dachte sie grimmig. Totaler Stillstand – wie in meiner Karriere.

Sie liebte ihren Beruf und hielt Noble für eine der besten Werbefirmen, aber sie hatte sich mehr erhofft. Jetzt sah sie sich mit sechzig noch immer als unbedeutende Marketing-Managerin, die bei Belegschaftsversammlungen noch immer hinter Kübelpflanzen stand.

Um ihre Gedanken von ihrer betrüblichen Lage abzulenken, griff Gabrielle nach der Zeitschrift, die auf dem Platz neben ihr lag. Sie blätterte durch die zerknickten Seiten, bis sie bei einem Artikel mit dem Titel „Der Adrenalinschub – verändern Sie Ihr Leben“ innehielt. Das interessierte sie, und sie begann zu lesen. In der Einleitung des Artikels stand, dass viele Menschen in ihrem Leben ein Stadium des Stillstands erreichten und dass man die Dinge nur durch Stärkung der geistigen Energie wieder in Bewegung bringen könnte.

Stellen Sie sich bildlich vor, was Sie erreichen wollen. Wenn Sie Ihr Ziel klar vor Augen haben, fragen Sie sich, was im Fall des Scheiterns schlimmstenfalls passieren könnte. Wahrscheinlich werden Sie nicht schlimmer dran sein als vorher. Aber wenn Sie Ihre Talente und inneren Kräfte mobilisieren, werden Sie nicht scheitern. Möglicherweise werden Sie sogar erfolgreicher sein, als Sie es sich in Ihren kühnsten Träumen ausgemalt haben.

Gabrielle setzte sich gerader hin. Sie hatte das Gefühl, dass dieser Artikel eigens für sie geschrieben worden war. Ändern Sie Ihr Denken. Ändern Sie Ihr Leben. Haben Sie Mut zum Risiko. Ein aufregendes heißes Prickeln rieselte durch sie hindurch.

Wann hatte sie das letzte Mal einen Adrenalinschub erlebt? Ihre Arbeit bei Noble war schon seit Jahren nicht mehr aufregend, und das Highlight ihrer Wochenenden war der ehrenamtliche Job im Fox Theater. Sie hatte kein Date gehabt, seit … seit Langem. Die einzigen besonderen Leute in ihrem Leben waren Tori, die deprimierend sein konnte, und Mc Gee, der nicht mal ein Mensch, sondern ihre Bulldogge war.

Sie seufzte. Adrenalinschübe hatte sie in letzter Zeit nur verspürt, wenn sie Dell Kingston im Flur begegnet war oder wenn er sie aus einem von ihr selbst angerichteten Schlamassel gerettet hatte.

Wie armselig, dass das Aufregendste in ihrem Leben eine Reaktion auf jemanden war, der ihre Existenz kaum wahrnahm. Andere Frauen in Gabrielles Alter, wie etwa Courtney, machten ihr Leben aufregend, indem sie die ausgetretenen Pfade verließen und etwas Neues anpackten.

Es ist Zeit, dass ich mein Leben in die Hand nehme, entschied Gabrielle. Aber wie? Nochmals überflog sie den Artikel.

Stellen Sie sich bildlich vor, was Sie erreichen wollen …

Was will ich? fragte sie sich. Was würde sie glücklich machen? Beachtet werden, anerkannt werden, ihre Intelligenz und ihre Begabungen entfalten …

Sie wollte den EOS-Etat.

Endlich hielt der Bus an der Haltestelle in Gabrielles Viertel. Sie steckte die Zeitschrift in ihre Tasche und stieg aus. „Ich will den EOS-Etat“, sagte sie vor sich hin, um zu testen, wie die Worte sich aus ihrem Mund anhörten.

Aber du hast doch Dell gehört. Er ist scharf auf den Etat, und natürlich wird Bruce Noble ihn ihm geben, meldete sich ihre innere Stimme zu Wort. Es war verrückt, zu denken, dass der Boss ihr einen der lukrativsten Etats der Firma anvertrauen würde – vor allem nachdem er heute Zeuge ihres Spektakels geworden war.

Andererseits kannte Gabrielle das Unternehmen EOS und seine Produkte am besten von allen in der Firma. Sie hatte mit den Produktingenieuren von EOS gearbeitet, um sich über die Besonderheiten der Erzeugnisse zu informieren. Die von ihr entworfenen Broschüren waren bei dem Kunden gut angekommen, weil darin alles erwähnt wurde, was der Verbraucher über die Qualität der EOS-Produkte wissen musste.

Gabrielle erklomm die Treppen zu ihrer Wohnung im vierten Stock. War sie diese Treppen nicht stundenlang auf und ab gelaufen, um die Wanderstiefel von EOS zu erproben und zu begreifen, wie die Schuhe funktionierten?

Und hatte sie nicht einen Großteil ihres und Mc Gees Lebensraums den EOS-Produkten gewidmet – Zelten, Rucksäcken, Seilausrüstungen und Camping-Zubehör?

Mit Mc Gee an den Fersen ergriff Gabrielle die T-Stange über sich, hob die Füße und schwebte an dem von EOS entwickelten Seil zu ihrem Schlafzimmer. Dort angekommen, legte sie ihre Handtasche und den Aktenkoffer auf das Fußende des voll gepackten Betts, das sie die letzten drei Monate nicht benutzt hatte, weil sie ein im Wohnzimmer errichtetes Zelt testete.

Sie seufzte bei dem Anblick all der Kleidungsstücke, die sich auf dem Bett türmten. Und hatte sie nicht auch den größten Teil des Schrankraums zugunsten der Sportoutfits von EOS geopfert?

Zwar verbrachte Gabrielle ihre Wochenenden nicht mit lebensgefährlichen Unternehmungen, was Dell Kingston angeblich mit seinem Seilklettern und seinen Triathlons tat, aber sie analysierte die Produkte und kannte deren Schwachpunkte. Sie hätte gewettet, dass sie über die Erzeugnisse von EOS mindestens ebenso viel wusste wie Dell.

„Ich will den EOS-Etat“, wiederholte sie resolut.

Mc Gee bellte zustimmend.

Langsam zog Gabrielle ihr Kostüm und ihre verschwitzte Bluse aus, betrachtete das Zeug einen Moment lang und versenkte es dann im Abfalleimer. Sie zog Shorts und ein T-Shirt an und strich glättend über die widerspenstigen Haarenden, die aus ihrem Bauernzopf herausstanden. Liebe Güte, das Ding fühlte sich an wie ein Topfschrubber.

Was kann schlimmstenfalls passieren, wenn nichts draus wird?

Sie würde gedemütigt sein und sich weiterhin mit ihren Etats für Damenhygiene und Hämorrhoidensalbe begnügen müssen. Aber würde eine Zurückweisung von Bruce Noble wirklich erniedrigender sein, als vor der ganzen Belegschaft den Ringkampf mit einem Baum zu verlieren?

Nein, entschied Gabrielle. Blieb nur die Frage, ob sie mit Bruce reden könnte, ohne wie ein Trottel vor sich hin zu stammeln. Sie blickte zu ihrem entsorgten Kostüm, an dem Mc Gee misstrauisch schnupperte. Und wenn sie in Courtneys Fußstapfen treten wollte, dann müsste sie ihre Garderobe ändern.

Sie langte in ihren Kleiderschrank und zog von ganz hinten das hellgrüne Kostüm hervor, das ihre Mutter ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Fiona Flannery war eine extravagante Rothaarige, die Gabrielle ständig dazu drängte, ihre Haarfarbe und ihren ungewöhnlichen Teint besser zur Geltung zu bringen. Oft schickte ihre Mutter ihr Kosmetika und Kleidung, die sie aber nicht benutzte oder trug. Ihr fehlte ganz einfach der Mut dazu.

Sie hielt sich das Kostüm an und betrachtete sich in dem Türspiegel des Kleiderschranks. Der Stoff war weich und schmiegsam, die Farbe hob ihre grünen Augen hervor. Die Jacke war figurbetont, der Rock endete ein gutes Stück über den Knien.

Dells Bemerkung über ihre langen Albino-Beine fiel ihr ein, und prompt wurden ihre Wangen heiß. Natürlich hatte er sie nur gehänselt, um zu sehen, wie sie errötete.

Sie fragte sich, wie Dell wohl reagieren würde, wenn er Wind von ihrer Absicht bekam. Würde er sich bedroht fühlen oder … lachen?

Was kann schlimmstenfalls passieren?

Sie würde wieder unsichtbar werden und sich damit abfinden müssen.

Gabrielle holte Mc Gees Leine und nahm für den Spaziergang die Zeitschrift mit. Mc Gee war der liebste Hund der Welt, aber er bewegte seinen gedrungenen kleinen Körper vorwärts wie eine schläfrige Schnecke. Eine Runde um den Block gab Gabrielle reichlich Zeit, um den Artikel nochmals zu lesen und dabei auf Tipps für ihr Vorgehen zu achten.

Um sich auf eine schwierige Situation vorzubereiten, sollten Sie die Szene visualisieren. Wie wünschen Sie sich die Handlung? Schreiben Sie ein Drehbuch. Üben Sie, was Sie sagen werden, bis Sie Ihren Part energisch sprechen können.

Visualisieren … üben …

In Gedanken malte Gabrielle sich die Szene aus, wie sie mit wackligen Knien und knallrotem Kopf in Bruce Nobles Büro stelzte. Dann visualisierte sie, wie sie am Montagmorgen selbstsicher das Büro ihres Bosses betrat, ihn „Bruce“ nannte und ihm mitteilte, dass sie den EOS-Etat haben wollte – nein, dass sie den Etat verdiente.

Doch jedes Mal, wenn sie Bruce Nobles Gesicht visualisierte, sah er bei ihrer Forderung ungläubig aus, skeptisch, perplex.

Als Gabrielle in ihre Wohnung zurückkehrte – nun mit Mc-Gee im Arm, weil er die Treppen nicht bewältigten konnte –, kam ihr plötzlich eine Idee. Sie nahm den Jahresbericht der Firma aus ihrem Aktenkoffer. In dem Heft befand sich ein ganzseitiges Farbfoto von Bruce Noble, sein Gesicht fast lebensgroß und … lächelnd. Gabrielle riss die Seite heraus, klebte sie auf ein Stück Pappe und schnitt dann das Gesicht ihres Bosses aus. Sie bohrte Löcher in die Augen und befestigte das Pappgesicht an der Vorderseite einer Baseballmütze.

„Mc Gee, komm her, Schätzchen.“

Mc Gee kam angewackelt und stand geduldig still, während sie ihm die Mütze auf den Kopf setzte.

„Perfekt!“ Gabrielle trat zurück und starrte Bruce Nobles lächelndes Antlitz an. „Bruce, ich möchte den EOS-Etat.“

Mc Gee bellte, wobei seine Hängebacken hüpften, ganz wie bei ihrem Boss.

„Warum?“ Sie griff nach dem grünen Kostüm und hielt es vor sich. „Weil ich zwei Jahre lang als Assistentin von Courtney gearbeitet habe. Ich kenne die Produkte, ich habe fast alle Texte geschrieben, und …“

Mc Gee kläffte, als ob er sie anfeuerte.

Sie löste die Spange von ihrem Zopf und fuhr mit den Fingern durch ihr langes lockiges Haar. „Und ich verdiene eine Chance, mich zu beweisen, Bruce. Ich habe dieser Firma sechs Jahre meines Lebens geschenkt, und ich bin gut in meinem Job. Genauso gut wie Dell Kingston. Und ich bin es leid, von allen übersehen zu werden.“

Die Erinnerung an die Szene im Konferenzraum ließ sie innehalten. Sie sah Dells spöttisches Lächeln vor sich, als er sie vom Boden hochzog. Er hatte sich über sie lustig gemacht, er sah nichts als den linkischen Tollpatsch in ihr. So wie alle anderen.

Ihr werdet schon sehen, dachte sie und lächelte. Am Montagmorgen würde sie beachtet werden, und zwar aus den richtigen Gründen.

2. KAPITEL

Dell drückte den Fahrstuhlknopf und trank aus seinem Kaffeebecher, um wach zu werden.

Er war am Sonntagmorgen mit seinem Mountainbike unterwegs gewesen und hatte den Nachmittag mit Klettern verbracht. Es hatte Spaß gemacht, aber nach der körperlichen Anstrengung hätte er an diesem Morgen gut noch etwas mehr Schlaf gebrauchen können.

Dell nickte dem Wachmann zu, der um diese Zeit der einzige andere Mensch in der Lobby war. Aber Bruce Noble saß immer schon in seinem Büro, bevor die meisten Menschen aufstanden, und das wollte Dell nutzen, um den EOS-Etat formell zu beantragen. Formell, weil es so gut wie sicher war, dass er den Etat bekommen würde. Er war ein erfahrener Etatdirektor, und EOS passte perfekt zu ihm, weil er den größten Teil seiner Freizeit draußen verbrachte und seinen Körper an immer neue Grenzen trieb.

Außerdem war ein Lebenslauf mit super Etats der kürzeste Weg zur Spitze.

Eine Spitzenposition ermöglichte eine frühe Beendigung des Arbeitslebens.

Ein früher Eintritt in den Ruhestand bedeutete Zeit für die Hobbys.

Daher war EOS eine wichtige Sprosse in Dells Karriereleiter.

Natürlich wollte er nicht anmaßend erscheinen. Deshalb würde er sich ans Protokoll halten und Noble sein Anliegen sachlich darlegen.

Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und Dell trat in die Kabine. Hinter sich hörte er das Klicken von High Heels – ein Geräusch, das seinen Puls stets auf Touren brachte.

„Stoppen Sie den Lift“, rief eine weibliche Stimme.

Er drückte den Knopf, blickte dann zur Lobby und sah eine hochgewachsene, langbeinige Frau durch die Halle schreiten. Sie trug ein modisches grünes Kostüm, und ihre Beine wurden durch diese hochhackigen Schuhe, die ihn immer so antörnten, noch verlängert.

Sie trat in den Lift. „Danke.“

Dell nahm einen tiefen Schluck aus seinem Kaffeebecher, während er die Schönheit neben sich einer eingehenden Musterung unterzog. Ihr Haar hatte die Farbe eines Ahornbaums im Herbst – atemberaubend.

Verdammt, was war nur an den Rothaarigen, das ihn in letzter Zeit so fesselte?

Abgesehen von ihrer rasanten Aufmachung, ihrem glamourösen Make-up und ihrer selbstsicheren Haltung erinnerte sie ihn ein wenig an …

Er verschluckte sich an seinem Kaffee und musste husten. „G-gab-by?“

Autor

Stephanie Bond
Kurz bevor Stephanie Bond ihr Studium der Informatik abschloss, schlug einer ihrer Dozenten vor, es mit dem Schreiben zu versuchen. Natürlich hatte dieser eher akademisches Schreiben im Sinn, doch Stephanie Bond nahm ihn wörtlich und veröffentlichte ihre ersten Liebesromane. Nach dem großen Erfolg ihrer Bücher widmete sie sich ganz dem...
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