Küsse unterm Polarlicht

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In der eisigen Kälte der Antarktis will die junge Ärztin Sophie Thompson ihren großen Verlust vergessen. Doch in der Forschungsstation ist sie nicht allein. Kann der attraktive Wissenschaftler Gabe ihr gefrorenes Herz mit heißen Küssen unterm Polarlicht zum Schmelzen bringen?


  • Erscheinungstag 30.12.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505017
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Hobart, Tasmanien, 26. Februar

„Willst du das wirklich durchziehen?“

Sophie sah den besorgten Ausdruck in Lukes grauen Augen, aber ihr Entschluss stand fest. Sie konnte jetzt nicht mehr zurück. Dazu war sie schon zu weit gekommen. Eigentlich sollte Luke das auch wissen. Schon seit ihrer Teenagerzeit waren sie befreundet, und es gab nur einen Menschen auf der Welt, der sie besser gekannt hatte als er. Aber Danny war nicht mehr da.

Beruhigend drückte sie Luke die Hand. In dem kühlen Krankenhaus fühlten sich seine Finger warm an. Normalerweise spürte Sophie die Kälte nicht. Sie war in Tasmanien aufgewachsen, dem südlichsten Ende von Australien, wild und schön, und an kaltes Wetter war sie gewöhnt. Doch heute fühlte sich die Luft frostig an. Vielleicht lag es an ihrer Nervosität. Nicht wegen der Operation. Sich den Blinddarm herausnehmen zu lassen war nur ein kleiner Eingriff. Doch ihre Zukunftspläne waren zugegebenermaßen ehrgeizig, und sie wollte im Moment keine Bedenken zulassen.

Sie zog den Bademantel enger um sich. „Ich muss hier weg.“

„Das verstehe ich“, antwortete Luke. „Aber warum machst du stattdessen nicht einfach Urlaub?“

Sophie sah ihn an. Sie war nicht in Urlaubsstimmung. „Was soll ich denn in einem Urlaub anfangen?“

„Ich weiß nicht. Dich entspannen?“

„Ich muss mich nicht entspannen, und ich will nicht alleine sein. Ich bin sowieso schon viel zu viel allein. Einen Urlaub sollte man mit jemandem teilen, und wir wissen beide, dass ich niemanden mehr habe. Ich möchte nicht in Urlaub fahren, aber ich muss irgendwohin, wo meine Erinnerungen mich nicht verfolgen. Hier erinnert mich alles an Danny, und ich erkenne es auch an den Gesichtern der Leute. Immer wenn sie mich sehen, erinnere ich sie daran, dass er nicht mehr da ist. Ich muss mein Leben weiterleben, aber hier geht das nicht. Es ist zu schwer. Ich brauche Abstand, um meinen Kopf freizukriegen.“

„Ich vermisse ihn auch, Sophie. Ich weiß allerdings nicht, ob ein Winter in der Antarktis unbedingt der richtige Ort ist, um den Kopf freizukriegen“, wandte Luke ein.

„Es ist kein ganzer Winter, es sind bloß sieben Wochen.“

Falls der andere Arzt zurückkommt. Ansonsten verbringst du den gesamten Winter dort. Das sind sieben Monate“, entgegnete er.

Sieben Monate. Sophie wusste, dass einem diese Zeit wie eine Ewigkeit vorkommen konnte. Danny war seit sieben Monaten tot. Sie wusste genau, wie lang jeder Tag, jede Stunde, jede Minute sein konnte.

Genauso gut wusste sie jedoch, dass es für sie unmöglich war, in Hobart zu bleiben. Sie musste weg, damit ihre Trauer und ihre Schuldgefühle langsam nachlassen konnten. Sie würde Danny nie vergessen. Das wollte sie gar nicht. Aber sie wollte in der Lage sein, ohne ihn weiterzuleben – ohne dass die Erinnerungen an ihn jede Stunde ihres Tages überschatteten. Er fehlte ihr, doch ihr altes Selbst fehlte ihr auch. Sie brauchte eine Chance, die alte Sophie wiederzufinden. Die fröhliche Sophie, die lachte und Spaß hatte. Sie setzte darauf, dass es leichter sein würde, sich daran zu erinnern, wie sie früher einmal gewesen war, wenn sie nicht immerzu mit ihrem Verlust konfrontiert wurde.

Sie hatte ihre Entscheidung getroffen.

Daher versuchte sie, Luke zu beschwichtigen. „Ich weiß deine Sorge zu schätzen, aber es ist ja schließlich nicht so, als wüsste ich nicht, worauf ich mich einlasse.“

„Theorie und Praxis sind zwei völlig verschiedene Dinge“, erklärte er. „Ich verstehe zwar nichts von den Abläufen in deinem Job, aber ich weiß, wie es ist, unter schwierigen Bedingungen zu arbeiten. Wenn man sich auf andere verlassen muss. Die Arbeit in der Antarktis ist garantiert nicht dasselbe wie die Arbeit in einer Stadt, wo du alles, was du brauchst, an der nächsten Ecke bekommst.“

„Ich weiß genau, mit welchen Situationen ich es möglicherweise zu tun haben werde“, sagte Sophie. „Zugegeben, ich war noch nie unter diesen Bedingungen tätig. Aber ich habe jetzt zwei Jahre lang für den Medizinischen Antarktis-Dienst gearbeitet. Ich muss darauf vertrauen, dass jeder seinen Job macht, und ich mache meinen.“

„Bist du denn wirklich bereit dafür?“, fragte Luke.

„Ich glaube schon.“ Seit sechs Monaten hatte sie dieses Ziel vor Augen. Sie hatte etwas gehabt, worauf sie sich nach Dannys Tod konzentrieren konnte. Und dieses Ziel hatte sie davor bewahrt, vor Trauer und Einsamkeit verrückt zu werden. Nun, da es so weit war, musste sie einfach darauf hoffen, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. „Die da oben scheinen es mir jedenfalls zuzutrauen. Sie brauchen mich.“

Die zuständigen Entscheider wussten sicher, was sie taten. Sophies medizinische Fähigkeiten reichten aus, und offenbar hatte sie auch alle psychologischen Tests gut bestanden. Sonst würde man sie nicht dorthin schicken.

Es war eine Art Prüfung für sie selbst. Eine Herausforderung. Danny hatte ihre besten Eigenschaften zum Vorschein gebracht. Er war ihre erste und einzige Liebe gewesen, und sie hatte sich niemals träumen lassen, ohne ihn leben zu müssen. Doch genau das musste sie nun schaffen. Sie musste herausfinden, ob sie auch alleine zurechtkam.

„Mir ist klar, dass ich es entweder lieben oder hassen werde“, gab sie zu. „Aber ich muss irgendwas tun. Ich kann nicht hierbleiben. Obwohl ich nervös bin, bin ich auch gespannt und aufgeregt. Bis jetzt habe ich von einem Tag zum nächsten gelebt. Dieses Ziel hat mir etwas gegeben, worauf ich mich freuen konnte.“

Sophie seufzte. „Wenn ich morgens aufstehe, ist das Haus still. Es liegt nichts von Danny herum. Keine Haufen verschiedener Schuhe zum Wandern, Laufen, Reiten, Paddeln, Klettern oder für die Gartenarbeit. Keine Seile, Zelte oder Rucksäcke, über die ich stolpere. Keine Landkarten, die auf dem Küchentisch ausgebreitet sind. Das werde ich nie zurückkriegen, und ich vermisse es. Er fehlt mir. Ich vermisse es, mir seine großen Pläne anzuhören, wie er unsere Zukunft und die Zukunft der Firma sieht. Ich hatte das Gefühl, als hätte er meine Zukunft mitgenommen. Und das hier ist meine Chance, sie mir wieder zurückzuholen. Es wird nicht dieselbe Zukunft sein, aber vielleicht lohnt sie sich auch.“

„Warum hast du mir das nicht früher erzählt?“, fragte Luke betroffen. „Ich dachte, du kommst klar.“

„Tue ich ja.“ Meistens jedenfalls. „Aber das ist auch alles. Ich lebe nicht richtig, und ich möchte wieder leben. Ich habe nicht nur Danny, sondern auch mich selbst verloren. Ich will nicht mehr traurig und einsam sein. Ich muss irgendwas tun. Für mich kann dies hier ein Erfolg werden, oder ich scheitere. Aber ich muss es ausprobieren.“ Sophie lächelte. „Gib zu, du bist auch ein bisschen neidisch. Ein solches Abenteuer wäre doch genau dein Ding.“

Luke lachte. „Das stimmt. So was würde ich wirklich gerne mal machen. Und Danny wäre auch scharf darauf gewesen.“ Eindringlich sah er sie an. „Bist du sicher, dass du es für dich selbst tust und nicht wegen Danny?“

Natürlich war Danny mit ein Grund dafür. Obwohl Sophie seit zwei Jahren für den Medizinischen Antarktis-Dienst arbeitete, hatte sie ursprünglich nie vorgehabt, Tasmanien zu verlassen und dreitausend Kilometer weiter südlich in die Antarktis zu gehen. Seit der Highschool waren sie, Danny und Luke unzertrennlich gewesen. Aber die Jungs waren immer die Adrenalin-Junkies gewesen, während Sophie die Vorsichtige war.

Ja, Danny wäre stolz auf sie gewesen, doch das war für sie nicht das wichtigste Motiv. Vielmehr hoffte sie, dieses Abenteuer würde ihr helfen, wieder neu anzufangen. Ein Leben ohne Danny.

„Ich denke, es hätte ihm gefallen“, erwiderte sie. „Aber ich würde es nicht tun, wenn ich nicht wüsste, dass ich es schaffen kann.“

„Du weißt, dass ich Danny versprochen habe, auf dich aufzupassen, wenn ihm irgendetwas zustößt?“

Sophie war verblüfft. „Tatsächlich?“

„Natürlich. Wir mussten immer die Möglichkeit mit einkalkulieren, dass bei einer unserer Touren etwas schiefgehen könnte“, sagte Luke. „Für jede Expedition war eine Risiko-Einschätzung nötig, und wir haben besprochen, was wir im schlimmsten Fall tun würden. Wir mussten immer auf das Beste hoffen, aber auf das Schlimmste vorbereitet sein. Keiner von uns hätte damit gerechnet, dass etwas außerhalb der Arbeit passieren würde. Aber ein Versprechen ist ein Versprechen.“

Danny und Luke hatten zusammen eine Firma für Erlebnistouren geführt, die von all denjenigen Abenteuerlustigen gebucht wurde, die nach Tasmanien kamen, um die Wildnis hier zu erkunden. Die Firma gehörte jetzt Luke, da er Sophie Dannys Anteil abgekauft hatte.

Jedes Mal, wenn Danny auf eine Tour ging, hatte sie befürchtet, einen Anruf zu bekommen, dass ihm etwas zugestoßen war. Doch nie hätte sie einen solchen Anruf erwartet, als er am Wochenende bloß zu einem kleinen Fahrradausflug im Randgebiet von Hobart unterwegs gewesen war. Danny hatte die meiste Zeit in der Wildnis verbracht und immer riskant gelebt. Dass er in der Stadt tödlich verunglücken würde, damit hatte Sophie nicht gerechnet.

Auf dem Fahrrad überfahren zu werden schien ein unpassender Tod für jemanden, der seinen Lebensunterhalt mit Trekking, Wildwasserfahren und Felsklettern verdiente. Er hatte Sophie zum Abschied einen Kuss gegeben, bevor sie zur Arbeit ging. Danach hatte sie ihn nicht mehr lebend gesehen. Der Autofahrer, der ihn erfasste, hatte in einer unübersichtlichen Kurve einen Lastwagen überholt und war frontal mit Danny zusammengestoßen. Es war ein so heftiger Aufprall gewesen, dass Danny seine schweren Kopf- und Lungenverletzungen nicht überlebte.

Wie Sophie erfahren hatte, war der Autofahrer in der vergangenen Woche aus dem Gefängnis entlassen worden. Für Dannys Tod hatte er nur sechs Monate bekommen. Was für eine Ungerechtigkeit.

Sophie war froh, all das hinter sich zu lassen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie reagieren würde, falls sie jemals dem Mann begegnen sollte, der für den Tod ihres Ehemannes verantwortlich war. Dass er Reue gezeigt hatte, interessierte sie nicht. Seine Fahrlässigkeit hatte Danny das Leben gekostet. Eigentlich sollte sie versuchen, dem Kerl zu verzeihen, aber dazu war sie noch nicht imstande. Vielleicht würde sie es niemals können.

Ihr Zorn auf den Autofahrer wurde verstärkt durch ihr eigenes schlechtes Gewissen. Wenn sie an dem Tag keine zusätzliche Schicht übernommen hätte, wäre Danny nicht mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, sondern zu Hause bei ihr geblieben.

Dann wäre er jetzt nicht tot. Aber Schuldgefühle machten ihn nicht wieder lebendig. Sie musste darüber hinwegkommen. Was jedoch schwer war, wenn sie überall, wo sie hinschaute, Danny vor sich sah. Fast ihr ganzes Leben lang waren sie miteinander verbunden gewesen, und so vieles erinnerte sie daran. Nur wenn sie wegging, würde sie sich jemals erholen und ihre Schuldgefühle überwinden.

„Ich hätte kein gutes Gefühl dabei, mich von dir zu verabschieden, ohne mich wenigstens nach deiner psychischen Verfassung zu erkundigen“, setzte Luke hinzu.

„Genau deshalb tue ich es ja“, erklärte Sophie. „Ich habe es satt, ständig von Leuten gefragt zu werden, wie es mir geht. Oder noch schlimmer, wenn sie schweigen, weil sie nicht wissen, was sie sagen sollen. Als Danny starb, sind meine Träume mit ihm gestorben. Es wird Zeit, mir neue Träume zu erschaffen.“

Solange sie denken konnte, hatte sie immer Dreijahrespläne gemacht, auch mit Danny. Doch jetzt war sie eine einunddreißigjährige Witwe und brauchte einen neuen Plan.

„Irgendwie denke ich, ich sollte dich von der Sache abhalten“, meinte Luke. „Aber ich fürchte, du wirst nicht auf mich hören.“

Sophie lächelte. „Da hast du recht. Trotzdem weiß ich deine Fürsorge zu schätzen.“

„Wenn du mir versprichst, dass du weißt, was du tust, habe ich das Gefühl, ich hätte meine Abmachung mit Danny eingehalten“, erwiderte er.

„Es wird alles gut gehen, und ich glaube, Danny wäre wirklich stolz auf mich“, gab sie zurück.

Luke gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Ja, das stimmt. Und ich bin auch stolz auf dich.“

„Dr. Thompson?“ Ein Pfleger unterbrach ihr Gespräch. „Wir sind dann so weit.“

Sophie stand auf und umarmte Luke. „Es ist alles in Ordnung. Ich werde klarkommen, versprochen.“ Damit folgte sie dem Pfleger hinaus zum OP.

2. KAPITEL

Datum: 7. März
Temperatur: –7°C
Tageslicht: 13,9 Stunden

Der Sicherheitsgurt drückte Sophie in ihrem noch immer schmerzempfindlichen Unterleib. Sich nur wenige Tage vor ihrem großen Abenteuer den Blinddarm entfernen zu lassen war nicht gerade ideal, aber sie hatte keine andere Wahl gehabt.

Jeder australische Arzt, der auf einer der Antarktis-Stationen arbeiten wollte, musste diese Operation vornehmen lassen, ehe er in den Süden geschickt wurde. Die anderen Mitarbeiter betraf diese Regelung nicht, da der Arzt ihren Blinddarm ja jederzeit operieren konnte. Aber das australische Antarktis-Programm wollte den Stationsarzt keinem Risiko aussetzen. Die Operation war verpflichtend, und Sophie hatte sie gerne in Kauf genommen. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass ihr Unterleib noch so lange empfindlich bleiben würde.

Sie löste ihren Gurt und stand auf. So konnte sie die Beine strecken, und ihr Bauch konnte sich vom Druckgefühl erholen. Um ein bisschen Gesellschaft zu haben, ging sie nach vorne ins Cockpit. Sie war der einzige Passagier auf dem Flug von Hobart zum antarktischen Flugplatz. Bei seiner Rückkehr sollte das Flugzeug mehrere Teilnehmer der Sommer-Expedition mitnehmen, die über den Winter nach Hause fuhren.

Den größten Teil des viereinhalbstündigen Fluges hatte Sophie damit verbracht, ihre zahlreichen Unterlagen durchzulesen. Da ihre Reise vorgezogen worden war, hatte sie weniger Vorbereitungszeit gehabt als üblich. Doch jetzt hatte sie keine Lust mehr zum Lesen. Beim Abflug in Hobart war es noch dunkel gewesen. Aber der Sonnenaufgang war ihnen Richtung Westen gefolgt, bis er sie schließlich eingeholt hatte. Sophie hatte gesehen, wie sich der Himmel rosa verfärbte und erhellte, während sie über den Ozean flogen.

Sie klopfte an die Cockpit-Tür, um sich zu erkundigen, wann sie voraussichtlich landen würden. Sie wollte den dreitausendvierhundert Kilometer langen Flug hinter sich bringen und endlich aufs Eis kommen.

Der Pilot rief sie herein. „Perfektes Timing. Setzen Sie sich. Wir haben gerade die ersten Eisberge gesehen.“

Sophie nahm hinter den beiden Piloten Platz und schaute durch die Cockpit-Fenster. Das Meer war glatt und ruhig, eine dunkelblaue Fläche mit weißen Punkten. Die Eisberge waren unglaublich. Frisch, rein und leuchtend zeigten sie sich in allen möglichen Formen und Größen. Das Eis war jedoch nicht reinweiß, wie Sophie vermutet hatte, sondern kam in den unterschiedlichsten Blauschattierungen vor, von Türkis über Aqua und einem zarten Himmelblau bis hin zu pastelligem Hellblau.

Von dem großartigen Anblick war Sophie wie gebannt. Sie konnte kaum glauben, dass sie es geschafft hatte. Sie hatte die Antarktis fast erreicht.

„In ungefähr einer halben Stunde werden wir landen“, unterbrach der Pilot ihre Gedanken. „Die Wetterbedingungen sehen gut aus. Es dürfte also keine Probleme geben. Aber Sie sollten sich allmählich Ihre Survival-Kleidung anziehen. Das wird eine Weile dauern.“

Direkt vor dem Abflug in Hobart hatte Sophie ihre rote Ausrüstungstasche abgeholt. Diese enthielt die Kleidung, die sie in mehreren Schichten übereinander tragen musste, um sich unter den Polarbedingungen warm zu halten. Am Tag zuvor hatte sie eine kurze Anleitung bekommen und hoffte nun, dass sie sich an die korrekte Reihenfolge erinnern würde.

In der Kabine holte sie ihre Tasche aus dem Schließfach und kippte den Inhalt auf den Sitz. Sie spürte, wie das Flugzeug mit dem Sinkflug begann, als sie Schuhe, Jogginghose und Pullover abstreifte und in die Thermounterwäsche schlüpfte, ehe sie die äußeren Schichten wieder darüberzog. Danach stieg sie in die rote, wasserdichte Daunenhose, die ziemlich unförmig war. Ihre Schuhe stopfte Sophie in die Tasche und setzte sich dann hin, um die klobigen Schneestiefel mit den dicken Gummisohlen anzuziehen.

Sie hatte Schwierigkeiten, ihre Füße in die Stiefel hineinzuzwängen. Die dicke Hose behinderte das Bücken, doch irgendwann gelang es ihr, die weißen Stiefel zuzuschnüren, die den seltsamen Namen „Bunny Boots“ trugen. Danach kamen die wattierte Jacke und der Nackenwärmer dran, ein Schlauchschal, den sie über den Kopf zog. Die Wollmütze und die Handschuhe konnten noch warten. Das Haar fasste sie zusammen, um es unter die Jacke zu schieben.

Als sie schließlich fertig war und wieder auf ihrem Sitz Platz nahm, konnte sie durch das Fenster erkennen, dass der weite Ozean in der Ferne in eine ebenso weite Fläche aus Eis und Schnee überging. Meilenweit war nichts zu sehen außer Eis, Schnee und Wasser, bis endlich einige kleine Gebäude in Sichtweite kamen, die wirkten wie ein paar zusammengeschweißte Schiffscontainer. Dort würden sie vermutlich landen.

Sophie wurde nervös. Da war nichts, was einer Landebahn auch nur im Geringsten ähnlich sah. Aus ihren Informationsblättern und der gestrigen Einführung wusste sie, dass das Flugzeug auf einer speziell erbauten, drei Kilometer langen Packeis-Bahn landen würde. Ihre Nerven beruhigte das allerdings keineswegs. Unwillkürlich drängte sich ihr die Vorstellung auf, wie das Flugzeug auf der glatten Landebahn außer Kontrolle geriet und über den Rand hinausrutschte.

Entschlossen wandte sie sich daher vom Fenster ab, um nicht beim Landeanflug zuzuschauen. Stattdessen zog sie den Reißverschluss ihrer Schutzjacke hoch und holte eine Sonnenbrille aus der Tasche.

Als Sophie nach der sicheren Landung oben auf der Gangway stand, überraschte sie die Kälte des antarktischen Herbsttages. Es waren nur minus sieben Grad, und die Sonne schien, aber der scharfe Wind auf ihrem Gesicht traf sie nach der relativen Wärme im Flugzeug unerwartet. Sie schob den Nackenwärmer höher, um damit die untere Hälfte ihres Gesichts zu schützen, und zog die Kapuze über den Kopf, ehe sie ihre Sonnenbrille aufsetzte und die Stufen hinunterging.

Im Gegensatz zu der Ruhe im Flugzeug herrschte auf dem Landeplatz geschäftiges Treiben. Sophie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wen sie suchen sollte. Und selbst wenn, hätte sie nicht gewusst, wie sie denjenigen finden sollte. Denn alle Leute sahen gleich aus. Alle waren warm eingepackt in die typischen, von der Regierung gestellten roten Jacken und trugen dazu Sturmmützen oder Gesichtsmasken sowie Sonnenbrillen, während sie ihren Aufgaben nachgingen. Es war unmöglich, irgendjemanden zu erkennen.

Plötzlich überfiel Sophie heftige Nervosität. Werde ich das hier schaffen? Auf einmal erschien ihr die Aussicht, in dieser außergewöhnlichen Umgebung mit einer Gruppe von Fremden zu leben und zu arbeiten, gar nicht mehr so exotisch und aufregend.

Doch dann erinnerte sie sich an das Versprechen, das sie Luke gegeben hatte, und straffte die Schultern. Natürlich würde sie es schaffen. Und danach würde sie stärker und selbstsicherer wieder nach Hause zurückkehren, um dort ihr Leben weiterzuführen.

„Doc?“ Ein stämmig gebauter Mann löste sich aus der Menschenmenge und nahm Sophie am Ende der Treppe in Empfang. Sie schüttelten einander die Hand, was wegen der dicken Handschuhe etwas unbeholfen ausfiel.

Der Mann war etwas größer als Sophie und trug keine Mütze oder Kapuze, sondern lediglich eine Sonnenbrille. Er war breitschultrig und stämmig, wirkte aber eher muskulös als dick. Dichte blonde Locken reichten ihm bis auf die Schultern; er hatte eine leichte Hakennase und einen blonden Dreitagebart. Seine Augen waren zwar durch die Brille verborgen, aber er lächelte freundlich.

„Ich bin Alex, der FTO“, stellte er sich vor.

Verständnislos sah Sophie ihn an.

„Der Field Training Officer, der Anleiter“, erklärte er.

„Ach ja. Freut mich, Sie kennenzulernen“, erwiderte sie.

„Ich werde Sie zur Station Carey fahren, aber das dauert noch ein bisschen. Ich muss erst die Ladung verstauen, die wir dorthin mitnehmen.“ Alex sprach mit einem ausgeprägten Queensland-Akzent.

„Was soll ich mit meinem Gepäck machen?“ Sophies Koffer wurden gerade aus dem Frachtraum ausgeladen. Man hatte ihr fünfundfünfzig Kilo Gepäck gestattet, und sie hatte jedes Gramm davon ausgenutzt. Zusätzlich zu ihrem eigenen Gepäck war auch noch die Survival-Ausrüstung mit dabei, die sie zusammen mit dem Handgepäck die Gangway heruntergeschleppt hatte. Obwohl sie mittlerweile einen großen Teil des Inhalts am Körper trug, war die Tasche trotzdem noch unhandlich. Sie wusste nicht, wie sie das ganze Zeug über das Eis bugsieren sollte.

„Ist es das?“ Alex zeigte auf ihre Koffer. Sophie nickte. „Ich kümmere mich darum“, sagte er. „Geben Sie mir auch Ihre Survival-Tasche. Ich packe alles in den Hägglund und hole Sie dann aus dem Terminal ab, sobald ich fertig bin.“

Sophie war froh, ihm ihr Gepäck überlassen zu können. Sie hatte schon genug damit zu tun, sich an das Gehen auf dem eisigen Untergrund zu gewöhnen.

Ein paar Meter vom Flugzeug entfernt parkte ein Schneefahrzeug. Der Hägglund war ein seltsam aussehendes Gefährt, das sie an eine Kreuzung aus Auto und Panzer erinnerte – eben ein großer Metallkasten mit Fenstern auf Raupenketten, mit denen er das Eis überqueren konnte. Sowohl die Kabine als auch der Anhänger waren viereckige Kästen, knallrot lackiert. Alex hievte das Gepäck in den Anhänger, während Sophie auf das von ihm bezeichnete Gebäude zuging. Es fiel ihr schwer, in der unförmigen Kleidung zu laufen, vor allem mit den dicken Bunny Boots. Daher kam sie nur langsam und unbeholfen vorwärts.

Als sie schließlich das Terminal erreichte, stellte sich dieses als ein behelfsmäßiges Gebäude heraus, das aus mehreren Schiffscontainern zusammengebaut worden war, genau so, wie es aus der Luft ausgesehen hatte. Nur dass es außerdem noch ein paar Fenster und Türen besaß. Das Ganze erinnerte Sophie an eine Kinderzeichnung, was den seltsam unwirklichen Eindruck, den die Umgebung auf sie machte, noch verstärkte.

Im Gebäude erwartete sie eine Menschenmenge, die Sommer-Expeditionsteilnehmer, wie Sophie vermutete. Sie standen in Grüppchen zusammen und warteten darauf, das Flugzeug besteigen zu können, das sie nach Hause bringen sollte. Trotz der vielen Menschen war es drinnen jedoch nicht wärmer als draußen. Der einzige Unterschied bestand darin, dass mehr Leute keine Kopfbedeckung trugen.

„Dr. Thompson?“

Sophie drehte sich um. Sie erkannte den schottischen Akzent des Mannes. Lächelnd begrüßte sie ihn. „Sie müssen John sein.“

John war der Arzt, den sie ablösen sollte. Obwohl Sophie schon über den Medizinischen Antarktis-Dienst mit ihm zu tun gehabt hatte, kannten sie sich bisher nur über das Telefon. Es war schön, ihn jetzt persönlich zu treffen.

Er machte eine kurze Übergabe mit ihr, doch wie Sophie zu ihrer Erleichterung erfuhr, hatte er ihr auf der Station detaillierte Anweisungen hinterlassen. Da John im Augenblick jedoch eher die bevorstehende Operation seiner Tochter beschäftigte, versicherte ihm Sophie, dass sie zurechtkommen würde.

„Sagen Sie uns nur Bescheid, wie es Marianna geht“, meinte sie. Dann verabschiedete sie sich von ihm, bevor er zu dem aufgetankten Flugzeug ging.

Während das Terminal sich allmählich leerte, kam Alex zu ihr. „Wir können los“, erklärte er.

Kaum war sie in den Hägglund eingestiegen, fing Alex eine Unterhaltung mit ihr an. Dabei übernahm er selbst den größten Teil des Gesprächs und erwartete offenbar keine allzu ausführlichen Antworten, wofür Sophie dankbar war.

Er unterhielt sie mit Geschichten aus dem Eis und erzählte davon, was sie erwarten würde. Sophie fand es interessant, wie sich Alex als ehemaliger Rugbyspieler aus dem warmen Queensland an das eingesperrte Leben in einer Antarktis-Station angepasst hatte.

„Wir sind häufiger draußen, als man vielleicht denkt“, sagte er. „Es ist zwar kalt, aber das Wetter ist oft schön und klar. Sie werden auch Gelegenheit haben, rauszukommen und sich die Gegend anzuschauen. Können Sie Quad fahren?“

„Nein.“

„Kein Problem. Ich werde es Ihnen beibringen. Das gehört zu meinen Aufgaben als FTO“, erwiderte Alex. „Es ist mein Job, die Expeditionsteilnehmer im Hinblick auf Sicherheitsverfahren und Survival-Techniken zu trainieren, ihnen zu zeigen, wie man mit einem Schneemobil, Quad und solchen Fahrzeugen umgeht. Außerdem gehöre ich zu Ihrem medizinischen Team.“

Einige Expeditionsteilnehmer besaßen medizinische Grundkenntnisse und konnten dem Stationsarzt im Notfall assistieren, ihm etwa bei Nähten oder der Anästhesie-Überwachung helfen, und als Pflegekräfte eingesetzt werden. Erneut erfasste Sophie eine ungeheure Nervosität, als ihr bewusst wurde, dass sie als einzige Ärztin im Umkreis von Hunderten von Kilometern für die gesamte Mannschaft in der Station verantwortlich war.

Auf einmal fühlte sie sich vollkommen überfordert. Alles war noch viel fremder und ungewohnter, als sie es sich vorgestellt hatte. Sogar die Landschaft. Weder Bilder noch Videos hatten sie auf diese fremdartige Szenerie vorbereitet, die sich ihr durch die Fenster darbot. Weite Eisflächen erstreckten sich in die Ferne. Sie sah Berge aus Eis, und das Einzige, was das endlose Weiß unterbrach, waren gelegentliche Felsvorsprünge.

Die weiße Fläche, die sie überquerten, wirkte flach und glatt, aber Sophie spürte die Unebenheiten unter den Raupenketten des Hägglunds. Es machte den Eindruck, als würden sie über Wellen auf und ab fahren. Von Alex erfuhr sie, dass es auch so war. Durch den Wind bildete der Schnee Verwehungen, die dann gefroren, woraufhin diese Wellen auf der Oberfläche entstanden. An manchen Stellen türmte sich das Eis in größeren Verwehungen höher auf. Dort absorbierte es das rote Licht, sodass es mehr blau als weiß aussah. Aber die meiste Zeit war es einfach nur ein blendendes Gleißen, sodass sie trotz Sonnenbrille das Bedürfnis hatte, die Augen dagegen zu schließen.

„Doc? Wir sind fast da.“ Alex weckte sie.

Sophie hatte nicht einschlafen wollen, doch im Innern des Fahrzeugs war es warm und gemütlich. Und trotz ihrer Aufregung war sie auch müde.

In der letzten Nacht hatte sie nicht geschlafen. Da sie um halb vier Uhr morgens schon am Flughafen sein musste, hatte es sich nicht gelohnt, vorher schlafen zu gehen. Deshalb war sie wach geblieben, hatte ihr Gepäck noch einmal gründlich überprüft und zum Schluss noch einige nicht unbedingt notwendige, aber angenehme Luxusartikel eingepackt: ein hübsches Kleid und ihr Lieblingsshampoo. Obwohl sie eigentlich auf der siebzig Kilometer langen Strecke vom Flugplatz zur Station nichts verpassen wollte, war sie dennoch von dem monotonen Motorengeräusch und der Wärme in der Kabine eingedöst.

Autor

Emily Forbes
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