Lass mich deine Küsse spüren

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Der Unternehmensberater Bruce ist der Beste seines Fachs. Arbeit und Privates trennt er strikt. Bis er Tessa trifft und seine eiserne Regel bricht. Doch plötzlich muss Bruce befürchten, dass Tessa Firmengelder veruntreut.


  • Erscheinungstag 15.04.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783955766122
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Linda Howard

Lass mich deine Küsse spüren

Aus dem Amerikanischen von Inge Hummrich

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2016 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Cutting Edge

Copyright © 1985 by Linda Howington

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: büro pecher, Köln

Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN Ebook: 978-3-955-76612-2

www.mira-taschenbuch.de

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1. KAPITEL

So viel Schönheit und Eleganz sollten eigentlich verboten werden“, stellte Bruce Rutland anerkennend fest.

Sein Kollege Evan Brady hatte die junge Frau ebenfalls beobachtet, die gerade an ihnen vorübergegangen war, und er konnte Bruce nur zustimmen. Er hatte sie allerdings schon öfter gesehen, da er sich bereits seit einer Woche in dieser Filiale von Carter Engineering in Los Angeles aufhielt.

„Wenn du dich für sie interessierst, wirst du dich anstellen müssen“, meinte er trocken. „Die gesamte männliche Belegschaft würde sich nämlich gern mit ihr verabreden.“

Bruce lächelte überlegen. „Tut mir leid für euch, dann werde ich mich einfach vordrängeln und mich an die Spitze der Warteschlange setzen.“

Die Reaktion überraschte Evan. Er hatte bloß Spaß machen wollen, denn er hatte noch nie erlebt, dass sich Bruce mit einer Angestellten der Firma einließ, wenn er auch zugeben musste, dass Tessa Conways Anblick jeden Mann schwachmachen konnte. „Sie wirkt nicht gerade wie eine Buchhalterin, nicht wahr?“

„Ist sie das denn?“, fragte Bruce.

„Ja, eine ganz hervorragende sogar. Damit zählt sie automatisch zum Kreis der Verdächtigen.“

Bruce wandte sich um und sah Tessa nach, bis sie im Aufzug verschwand. Evan und er arbeiteten als Ermittler für den Carter-Marshall-Konzern, zu dem auch diese Niederlassung gehörte. Bei einer innerbetrieblichen Überprüfung dieser Zweigstellen hatten sich unerklärliche Unstimmigkeiten herausgestellt, die vermutlich auf eine Veruntreuung zurückzuführen waren. Als Joshua Carter das erfahren hatte, war er vor Zorn außer sich gewesen, und ein wütender Joshua Carter war immer noch ein beeindruckendes Erlebnis, obwohl er inzwischen fast siebzig war.

Ohne zu zögern, hatte er seinen besten Mann für solche Angelegenheiten beauftragt, um dieses Problem zu untersuchen: Bruce Rutland.

Veruntreuung im Zusammenhang mit Computern war zwar schwer nachzuweisen, doch in dieser Hinsicht vertraute Bruce voll und ganz auf Evans Fähigkeiten. Es gab nur wenige Menschen in den Vereinigten Staaten, die sich mit ihm messen konnten, wenn es um Computer ging. Evan würde sich daher um die technischen Fragen kümmern, während Bruce die Leute überprüfte. Dann wäre der Fall aufgeklärt, ehe der Dieb überhaupt bemerkte, dass sie ihm auf der Spur waren. Offiziell begründeten sie ihre Anwesenheit mit der Absicht, ein bestimmtes Computersystem für die Verwendung in der Niederlassung in Los Angeles zu prüfen.

Bruce rieb sich nachdenklich übers Kinn. „Weißt du, wie die Frau heißt?“

„Ja, Tessa Conway. Den Namen kennt hier jeder“, antwortete Evan lachend. „Sie ist ledig. Ich habe mir ihre Personalakte angesehen.“

„Hast du irgendetwas Interessantes herausgefunden?“

„Kommt darauf an, was du darunter verstehst. Ich konnte auf jeden Fall nichts Verdächtiges entdecken.“

„Na, dann werde ich mal das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden und Miss Conway zum Essen einladen. Dabei kann ich sie dann gleich über ihre Abteilung ausfragen. Vielleicht weiß sie irgendjemanden, der Geldsorgen hat oder plötzlich reich geworden ist.“

„Es tut mir in der Seele weh, wenn du dich dermaßen überarbeitest“, spottete Evan. „Ich mache dir einen Vorschlag. Das Dinner übernehme ich, und du schläfst dich mal richtig aus.“

Bruce’ Antwort fiel knapp, aber sehr deutlich aus. Evan grinste. Er war schlank, dunkelhaarig und lebhaft, und die Frauen mochten ihn. Doch gegen Bruce Rutland hatte er keine Chance, es sei denn, der zog sich freiwillig zurück. Kaum eine Frau konnte sich dessen maskuliner Ausstrahlung entziehen. Dennoch besaß er mehr Selbstbeherrschung als alle Männer, die Evan bisher kennengelernt hatte. Bruce schien seine Gefühle immer unter Kontrolle zu haben und sich nur von seinen nüchternen Überlegungen leiten zu lassen – in jeder Situation.

„Nach dem Lunch möchte ich Miss Conways Personalakte sehen“, ordnete Bruce jetzt an, und sein durchdringender Blick löste in Evan eine Welle des Mitleids mit Tessa Conway aus. Die arme Frau hatte nicht die geringste Chance.

Als Tessa nach dem Lunch in die Firma zurückkam, lächelte sie dem Sicherheitsposten am Eingang strahlend zu, der das Lächeln mit einem breiten Grinsen erwiderte.

„Du lässt aber auch keine Gelegenheit zum Flirten aus“, stellte ihre Begleiterin Martha Billingsley fest. Martha arbeitete in der Personalabteilung und war Tessas beste Freundin.

„Das stimmt nicht“, erwiderte Tessa unbekümmert. „Du machst eben keinen Unterschied zwischen Flirt und Freundlichkeit.“

„Da ist auch keiner, wenn es um dich geht. Dein bloßer Anblick genügt, damit die Männer über ihre eigenen Füße stolpern.“

Tessa lachte, denn sie nahm Marthas Bemerkung nicht allzu ernst. Sie strahlte Offenheit und Freundlichkeit aus, gepaart mit Humor, Verstand und Einfühlungsvermögen, und das machte sie bei Männern wie Frauen beliebt. Auf jeder Party – und sie wurde häufig eingeladen – war sie der charmante Mittelpunkt, und man verübelte ihr nicht einmal den Südstaaten-Akzent, der durch den singenden Tonfall ihrer Stimme einen eigenen Reiz erhielt.

Sie stammte aus Mobile an der Golfküste Alabamas, und ihre Gelassenheit half ihr, selbst in Krisensituationen die Ruhe zu bewahren. Ihren Beruf beherrschte sie perfekt, verfolgte ihre Ziele ohne jede Nervosität oder Eile und erreichte sie scheinbar mühelos. Martha konnte sich das einfach nicht erklären.

Als die beiden den Aufzug betraten, gesellte sich Sammy Wallace zu ihnen, das Computergenie des Unternehmens. Er war groß, hager, blond und trug eine dicke Hornbrille, hinter der seine blauen Augen immer ein wenig zerstreut dreinzublicken schienen.

Im Umgang mit Computern machte ihm so leicht niemand etwas vor, doch Menschen gegenüber war er sehr gehemmt. Obwohl er älter war als Tessa, hatte diese oft das Gefühl, ihn beschützen zu müssen. Sie begrüßte ihn herzlich, und da er inzwischen wusste, dass das ehrlich gemeint war, lächelte er erfreut zurück. Auch wenn er die meiste Zeit an seinen Computern hockte, war ihm nicht entgangen, wie Tessa von anderen Männern bewundert wurde. Umso stolzer machte es ihn, wenn sie sich mit ihm unterhielt.

„Hast du vielleicht noch einmal einen Abend frei für eine Schachstunde?“, erkundigte sie sich. Sie wusste, dass er fast immer allein zu Hause saß, und natürlich schmeichelte ihm die Andeutung, er sei zu beschäftigt.

„Na klar. Passt es dir morgen?“

„Das geht gut.“ Ihre grünen Augen funkelten. „Gegen sieben?“

„Einverstanden. Möchtest du wieder pokern?“

„Du weißt doch, dass ich dazu nicht Nein sagen kann.“ Sie zwinkerte ihm zu.

Sammy zwinkerte zurück, was ihn selbst ziemlich überraschte. Er unterrichtete Tessa im Schachspiel, und als Gegenleistung brachte sie ihm Pokern bei. Sein Talent im Umgang mit Zahlen ließ ihn die Grundbegriffe des Kartenspiels sehr schnell begreifen, während sie nur langsam Fortschritte in dem „Königlichen Spiel“ machte.

Im nächsten Stockwerk betraten einige Männer den Aufzug. Tessa wich etwas zurück und fasste mit einer Hand nach dem Haltegriff neben sich an der Wand. Das war ihr Glück, denn in der folgenden Etage ruckte der Lift plötzlich heftig, bevor er schwankend anhielt. Ted Baker, der direkt vor Tessa stand, streckte die Arme aus, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, was ihm auch gelang. Doch dabei stieß er mit dem Ellbogen gegen Tessas Wangenknochen, die unter der Wucht des Schlags taumelte. Sofort legte ihr ein anderer Mann den Arm um die Taille und stützte sie.

Ted Baker entschuldigte sich zerknirscht, aber Tessa winkte ab und meinte: „Das war nicht Ihre Schuld.“

„Mit dem Aufzug stimmt was nicht. Kümmern Sie sich darum, dass der Sache nachgegangen wird, Baker“, ordnete ihr unbekannter Retter an, und Ted Baker pflichtete sofort bei.

Tessa hatte sich von dem kurzen Schwindelgefühl erholt und versuchte vergeblich, sich von dem Mann loszumachen.

Martha musterte sie besorgt. „Tessa, ist alles in Ordnung?“

„Ja, mir fehlt nichts.“ Sie tastete vorsichtig über ihr Gesicht, das sich etwas taub anfühlte.

„Ich nehme Sie mit in mein Büro und kühle die Prellung mit Eis“, erklärte der Mann. Seine Stimme strahlte eine unwiderstehliche Autorität aus. Es schien ihr unvorstellbar, sich diesem Mann zu widersetzen.

In der Chefetage griff der Mann nach Tessas Arm und geleitete sie zu einer Tür, auf der kein Name stand. Als sie den Vorraum betraten, schaute eine Sekretärin dienstbeflissen auf.

„Helen, haben wir hier irgendwo Eis? Es hat einen kleinen Unfall gegeben.“

„Gewiss, Sir, einen Moment.“ Helen sprang auf, öffnete die Tür zum angrenzenden Zimmer und lief an ihnen vorbei zu einer eingebauten Bar. „Ja“, vergewisserte sie sich mit einem raschen Blick in den Schrank. „Hier ist Eis. Kann ich Ihnen helfen?“

„Nein, danke. Das Handtuch hole ich mir selbst aus dem Bad“, erwiderte er leichthin.

Die Sekretärin wandte sich ab und ließ Tessa mit ihm allein.

„Setzen Sie sich hierhin“, wies er sie an und führte sie zu dem Ledersessel hinter dem Schreibtisch.

Kaum war er verschwunden, stand Tessa auf und trat an das Panoramafenster an der anderen Seite des Raums. Der Anblick der sich bis zum Horizont erstreckenden Stadt war atemberaubend.

„Ich hatte gesagt, Sie sollen sich setzen“, meinte der Mann barsch, als er mit einem Handtuch zurückkehrte.

Tessa drehte sich nicht um. „Stimmt“, gab sie mit sanfter Stimme zu. Eine Weile schwiegen beide, dann hörte sie das Klappern von Eiswürfeln.

„Es ist nicht gut, wenn Sie stehen bleiben. Sie haben nämlich ganz schön was abbekommen.“

„Keine Bange, ich werde schon nicht ohnmächtig“, versicherte Tessa. Sie musterte ihren Retter interessiert.

Dass er groß und stark war, hatte sie im Lift bereits feststellen können. Sein muskulöser Körper strahlte eine überwältigende Wärme und Kraft aus.

Tessa fühlte sich plötzlich merkwürdig benommen und überlegte, ob sie vielleicht doch eine leichte Gehirnerschütterung hatte. Doch dann merkte sie, dass sie unwillkürlich die Luft angehalten hatte, und konzentrierte sich darauf, gleichmäßig durchzuatmen. Sie musterte das Gesicht des Mannes. Es war nicht unbedingt attraktiv, aber ausgesprochen sinnlich und unglaublich faszinierend.

Seine dunkelbraunen, von langen dunklen Wimpern gesäumten Augen waren die schönsten, die sie je gesehen hatte. Ein paar widerspenstige Strähnen des golden schimmernden Haars fielen ihm in die Stirn. Tessas Blick wurde wie magisch von seinem Mund angezogen. Die Lippen waren leicht geschwungen, die Mundwinkel amüsiert nach oben gezogen. Er wirkte äußerst erotisch, der Mund eines Mannes mit Erfahrung, der genau wusste, wie man küsst und die Küsse einer Frau genießt.

Der Mann legte den Finger unter Tessas Kinn und drehte ihr Gesicht ins Licht. „Sie werden einen blauen Fleck bekommen“, stellte er sachlich fest. „Ich denke, Ihr Auge hat nichts abgekriegt.“

„Das will ich hoffen.“

Behutsam hielt er ihr das Handtuch mit den Eiswürfeln an die Wange. Tessa griff danach und berührte seine Hand. Sie war warm und kräftig und anscheinend auch an körperliche Arbeit gewöhnt. Er betrachtete Tessa selbstbewusst, und plötzlich wurde ihr klar, dass er ihr sehr gefährlich werden konnte. Sie brauchte Abstand.

„Vielen Dank“, sagte Tessa leise und trat einen Schritt zur Seite. „Ich muss an meinen Arbeitsplatz zurück.“

„Bleiben Sie“, befahl er mit sanftem Nachdruck. „Ich rufe Ihre Abteilung an und erkläre Ihr Fernbleiben.“

„Danke, das ist nicht nötig. Es geht mir wirklich wieder besser.“

„Wie Sie wollen.“ Er musterte Tessa eindringlich. „Ich möchte mich trotzdem noch ein bisschen mit Ihnen unterhalten. Ich hole Sie heute Abend um halb acht zum Dinner ab. Einverstanden?“

„Nein!“, wehrte sie verblüfft ab. „Ich kenne Sie doch gar nicht.“

„Nun, das lässt sich ändern.“ Er streckte die Hand aus. „Ich heiße Bruce Rutland und arbeite für Carter-Marshall.“

Tessa hatte Bruce Rutlands Namen in den letzten Wochen oft gehört, und das Gerücht, Bruce könne herkommen, hatte viele Kollegen nervös gemacht. Wahrscheinlich war er erst heute Morgen eingetroffen. Zögernd ergriff sie seine Hand.

„Tessa Conway“, stellte sie sich vor. „Ich arbeite in der Buchhaltung.“

Er ließ ihre Hand nicht los. „Fein. Da wir uns nun offiziell vorgestellt haben, können wir heute auch zusammen zu Abend essen.“

Tessa fand nicht, dass er das kaltblütige Ungeheuer war, als das er dargestellt wurde, und gewann langsam ihre Selbstsicherheit zurück. Ihre Augen begannen spöttisch zu funkeln. „Ich weiß nicht so recht“, meinte sie lächelnd. „Vielleicht ist es ja gefährlich, mit einem Mann auszugehen, der von den anderen hier als ‚Mr Erbarmungslos‘ bezeichnet wird.“

Bruce lachte belustigt auf. „Nennt man mich tatsächlich so? Ich hätte Schlimmeres erwartet. Glauben Sie auch, dass ich Ihnen gefährlich werden könnte, Tessa?“

Sie sind bereits dabei, dachte sie, hütete sich aber, es laut zu sagen. Ihre Verwirrung wuchs. Einerseits hatte sie große Lust, seine Einladung anzunehmen, andererseits schien es ihr besser, sich von diesem Mann fernzuhalten.

„Ein gemeinsames Essen würde bestimmt Gerüchte auslösen“, wandte sie zögernd ein.

„Klatsch und Tratsch sind mir gleichgültig und Ihnen sicher auch.“ Er verstärkte den Druck seiner Finger. „Halb acht also?“

Tessa sah ihm in die Augen, und das war ein Fehler. Plötzlich waren sämtliche Vorbehalte verschwunden. „Eine Stunde früher wäre mir lieber. Ich, äh, ich gehe normalerweise sehr früh zu Bett, sonst bin ich am nächsten Morgen nicht zu gebrauchen.“

Ich werde schon dafür sorgen, dass du rechtzeitig ins Bett kommst, dachte Bruce triumphierend. Und ich garantiere dir, dass du dort nicht schlafen wirst. Laut sagte er nur: „Ich hole Sie ab. Schreiben Sie mir bitte Ihre Adresse auf.“ Die konnte er zwar auch in ihrer Personalakte nachlesen, sie sollte jedoch nicht erfahren, dass er sich die Akte besorgen wollte.

Mit der linken Hand hielt Tessa das Handtuch an ihr Gesicht und notierte mit der anderen ihre Adresse auf ein Blatt Papier. Als sie fertig war, richtete sie sich auf und sah Bruce kopfschüttelnd an. „Ich muss verrückt sein“, sagte sie und lief fast aus dem Büro, um ihm keine Gelegenheit zu einer Antwort zu geben.

Dummkopf, tadelte Tessa sich auf dem Weg in ihr Büro. Wie konnte ich die Einladung eines Mannes annehmen, der in der Rangfolge der Firma erstens weit über mir steht und zweitens auch noch über einen derart schlechten Ruf verfügt? „Der Erbarmungslose“ war ein passender Spitzname, denn Bruce Rutland kannte kein Mitleid mit den Leuten, die er feuerte.

Dennoch, sie war noch nie einem Mann begegnet, der sie dermaßen fasziniert hatte. Und das lag weniger an seinem Äußeren als an der Art, mit der er sie gemustert hatte. Sein Blick war der eines erfahrenen Liebhabers, obwohl ihm eine kühle Beherrschtheit zugrunde lag. Bruce verbarg offensichtlich einen Teil von sich, der mit der Intensität seiner Leidenschaft nichts zu tun hatte.

Wie sollte sie sich verhalten, wenn er mehr von ihr verlangte, als sie geben konnte, ohne darunter zu leiden? Dieser Mann würde ihr keine Ruhe lassen, bis er wusste, was sich hinter ihrem Schutzschild aus Lachen und oberflächlichen Flirts verbarg, und sie bezweifelte, dass sie ihre Rolle ihm gegenüber lange aufrechterhalten konnte.

Nach zwei gescheiterten Verlobungen war Tessa trotz allem Optimismus vorsichtig geworden. Sie erkannte eine Gefahr, wenn sie eine sah, und bei Bruce Rutland schrillten sämtliche Alarmglocken auf einmal. Warum hatte sie also zugesagt, obwohl sie es hätte besser wissen müssen?

Weil ich ein Dummkopf bin, schimpfte sie stumm in sich hinein, während sie an ihrem Schreibtisch Platz nahm.

Perry Smitherman, ihr Vorgesetzter, kam aus seinem Büro. „Martha hat mir von Ihrem Unfall berichtet. Ist denn wirklich alles wieder in Ordnung?“

„Ja, danke, ich fühle mich schon besser.“ Tessa nahm das Handtuch mit dem Eis herunter und strich sich über die geschwollene Wange. „Bin ich sehr entstellt?“

„Eine schöne Frau entstellt nichts“, scherzte Perry. Besorgt fuhr er fort: „Wenn Sie Schmerzen haben, können Sie nach Hause gehen.“

Überrascht winkte Tessa ab. „Auf keinen Fall.“

„Waren Sie wenigstens beim Betriebsarzt?“

„Nein. Mr Rutland nahm mich mit in sein Büro und …“

„Bruce Rutland?“, erkundigte sich Perry scharf.

„Ja, er war zufällig mit uns im Aufzug.“

Perry wischte sich über die Stirn. „Hat er nach irgendjemandem aus unserer Abteilung oder nach der Buchhaltung gefragt?“

„Nein, überhaupt nicht“, erwiderte Tessa besänftigend. „Er hat mir nur diese Kompresse hier gegeben.“

„Merkwürdig. Normalerweise tut Bruce Rutland nichts ohne Grund, auch wenn er dabei sehr charmant sein kann. Ich bin sicher, dass er unsere Abteilung überprüfen will, und vorher wird er mit den einzelnen Leuten sprechen. So findet er am schnellsten heraus, ob wir in irgendeiner Hinsicht zu nachlässig oder sorglos sind.“

„Zum Glück haben Sie nichts zu befürchten, Perry. Die Buchhaltung ist in Ordnung, und Sie sind ein vorbildlicher Abteilungsleiter.“

„Man kann nie wissen“, zweifelte er düster.

Tessa gab es auf. Anscheinend wollte er sich nicht von ihr aufmuntern lassen. Manche Menschen fühlten sich einfach wohler, wenn sie ständig das Schlimmste annahmen. Bis zur Pause arbeitete sie ungestört, dann kam Martha zu ihr, deren Stimme sich vor Neugier fast überschlug.

„Was hat Bruce Rutland erzählt? Hattest du Angst? Was für ein Zufall, dass er ausgerechnet in dem Moment im Aufzug war! Hat er dir gesagt, warum er hier ist?“

Tessa überhörte alle Fragen bis auf eine. „Wovor hätte ich mich fürchten sollen? Ich hatte doch gar keine Ahnung, wer er ist.“

„Das wusstest du nicht?“

„Nein, woher auch? Ich habe zwar schon mal von ihm gehört, ihn jedoch noch nie gesehen.“

Das reichte Martha nicht, und sie versuchte, weitere Neuigkeiten zu erfahren. „Worüber habt ihr euch denn unterhalten?“

„Unter anderem über Eiswürfel und Handtücher“, wich Tessa aus. Sie hatte nicht vor, über die Verabredung zum Dinner zu sprechen. Schon der Gedanke daran machte sie nervös.

„Tessa Conway, du wirst doch wohl keinen Flirt mit Bruce Rutland anfangen? Ich kenne diesen Blick bei dir. Hast du ihm etwa schöne Augen gemacht?“

„So verheerend, wie ich mit der angeschwollenen Wange aussehe, wäre das sicher nicht sehr wirkungsvoll gewesen“, erwiderte Tessa.

„Solche Kleinigkeiten haben dich noch nie gebremst.“

„Ich schwöre dir, dass ich nicht mit Mr Rutland geflirtet habe.“ Im Stillen fügte sie hinzu: Eher umgekehrt.

„Das ist gut. Der Mann ist nämlich bekannt dafür, dass er Leute in der Luft zerreißt, wenn sie ihn einmal falsch angucken.“

Diese Behauptung beunruhigte Tessa weniger als die Tatsache, dass seine sinnliche Ausstrahlung sie ziemlich durcheinanderbrachte. Und sie wollte nicht noch einmal von einem Mann enttäuscht werden. Man hatte ihr zweimal sehr wehgetan, und in ihrem tiefsten Innern war sie darüber noch nicht hinweg.

2. KAPITEL

Tessa beugte sich vor und musterte intensiv ihre geschwollene Gesichtshälfte. Das leichte Make-up verdeckte die Verfärbung nur unzulänglich. Sie verteilte noch etwas Abdeckcreme darüber, bis sie mit dem Ergebnis einigermaßen zufrieden war.

Das Verkehrschaos auf dem Heimweg hatte sie aufgehalten, sodass ihr nur eine halbe Stunde Zeit blieb, sich umzuziehen. Aber dank ihres hervorragenden Organisationstalents hatte sie es dennoch gut geschafft. Sie hatte sich schnell ausgezogen und geduscht, danach das Haar gewaschen und geföhnt, bis es in weichen Wellen auf die Schultern fiel. Für das Make-up brauchte sie nie länger als zehn Minuten. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie sich noch in Ruhe um ihre Garderobe kümmern konnte.

Sie sprühte sich einen Hauch ihres Lieblingsparfüms auf Haare, Hals und Schultern, zog BH, Slip und eine hauchfeine Strumpfhose an und streifte sich ein Kleid aus cremefarbener Seide über. Es hatte einen schmalen, knielangen Rock und ein eng anliegendes Oberteil.

Zum Schluss legte Tessa eine einreihige Perlenkette um und befestigte die passenden Clips an den Ohrläppchen. Dann schlüpfte sie in beigefarbene Pumps. Sie griff gerade nach ihrer Abendtasche, da läutete es. „Pünktlich auf die Sekunde“, stellte sie zufrieden fest.

Sie öffnete Bruce die Tür, und als sie in seine braunen Augen sah, erschauerte sie innerlich. Dieser Mann brauchte wirklich nur zu lächeln, und jede Frau schmolz förmlich dahin. Sie ließ sich ihre Verwirrung jedoch nicht anmerken, sondern winkte ihn freundlich lächelnd an sich vorbei in die Wohnung. „Möchten Sie einen Drink, bevor wir gehen?“

„Nein, danke. Kommen Sie, gehen wir.“

Bruce hielt Tessa die Tür seines luxuriösen Mietwagens auf. Er half ihr beim Einsteigen, bevor er sich hinter das Steuer setzte.

„Ich habe für sieben Uhr einen Tisch reservieren lassen“, kündigte er schmunzelnd an. „Dann sind Sie um halb elf sicher wieder zu Hause. Meinen Sie, dass Sie so lange wach bleiben können?“

„Das hängt von Ihnen ab“, meinte sie gedehnt und lächelte ebenfalls.

Seine dunkle, sinnliche Stimme vibrierte, als er versprach: „Ich werde mein Bestes tun, um Sie munter zu halten.“

Davon war sie überzeugt. Wahrscheinlich schliefen Frauen in seiner Gegenwart allenfalls nach einem ekstatischen Liebesspiel ein.

„Aus welchem Teil des Südens kommen Sie eigentlich?“, fragte Bruce so interessiert, als hätte er nie ihre Personalakte gelesen.

„Geboren bin ich in Mobile, Alabama, aber als ich dreizehn war, zogen meine Mutter und ich zu ihrer Schwester nach Tennessee.“ Hinter diesen Tatsachen verbargen sich traurige Hintergründe, über die Tessa nicht gern redete.

Zum Beispiel die anfällige Gesundheit ihrer Mutter, die Armut, in der sie gelebt hatten, die Tage, an denen es nichts zu essen gab, weil sie nicht hatte arbeiten können. Nur Tessa zuliebe hatte die Mutter ihren Stolz schließlich aufgegeben und bei ihrer Schwester um Aufnahme gebeten.

Die Familienangehörigen ihrer Mutter waren gegen deren Heirat gewesen, und sie hatten recht behalten. Tessas Vater hatte seine Frau und seine Tochter verlassen, als Tessa noch ein Baby gewesen war. Ein Jahr nach dem Umzug war ihre Mutter gestorben, und Tessa war bei ihrer Tante Sylvia in dem alten Bauernhaus am Ortsrand von Sevierville geblieben.

„Und warum sind Sie später hierhergezogen?“, forschte Bruce weiter.

„Weil ich ein bisschen herumkommen wollte“, erwiderte Tessa leichthin. Sie hatte nicht vor, ihm etwas über Andrew zu erzählen. Tante Sylvia hatte sie überredet, Sevierville zu verlassen.

„Gefällt es Ihnen denn hier?“

„Ja. Und wo kommen Sie her? Ich kann Ihren Akzent einfach nicht zuordnen.“

Bruce schien überrascht, dass sie nun ihrerseits Fragen stellte. „Aus Wyoming. Mein Vater und ich haben dort eine Ranch.“

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