Legendary Lovers - Ihr Ruf eilt ihnen voraus (3in1)

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HEIßER SEX UND KALTE LÜGEN

Was für eine Frau! Jeder Blick aus Lucys Augen lässt Alex nur noch an das eine denken … Doch er darf ihr nicht verfallen! Sie begehrt etwas, das ihm gehört: Den Ring seiner Ahnen, der seinem Träger Glück verspricht. Um den zu bekommen, ist sie zu allem bereit …

MASKIERTE LEIDENSCHAFT

Verkleidet schleicht Claire sich in ein Herrenhaus, in dem die High Society ihre frivolsten Fantasien auslebt. Sie sucht eine Vermisste - und ahnt nicht, dass ein sexy FBI-Agent sie beschattet. Bis beide beweisen müssen, dass sie zum geheimen Club der Lust dazugehören …

VERRATEN UND VERFÜHRT

Die sexy Millionenerbin Abby ist dem Gentleman-Dieb Danny Burnett ein Rätsel. Soll er ihr nur helfen, ein gestohlenes Gemälde wiederzufinden? Zu spät erkennt er, dass Abby ihm mit den erotischen Waffen einer Frau nun heimzahlt, dass er sie einst verführt und verraten hat …


  • Erscheinungstag 03.10.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783745751581
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Julie Leto

Legendary Lovers - Ihr Ruf eilt ihnen voraus (3in1)

1. KAPITEL

„Lucienne, haben Sie einen Moment Zeit?“

Alejandro Aguilar, der von seinen Freunden auch Alex genannt wurde, stand an der Tür, die von seinem Büro zur Galerie führte, und verschränkte die Arme vor der Brust, als könnte er damit die für ihn ganz untypische Nervosität abwehren. Er war schließlich kein kleiner Junge mehr. Er war ein gestandener Mann, ein Titan in der Welt der Kunst. Er schätzte den Wert kostbarer Kunstgegenstände und enttarnte Fälschungen in Museen und privaten Kunstsammlungen weltweit. Sein Name stand für absolute Integrität. Er war ein Mann, der sich stets unter Kontrolle hatte.

Doch diese Frau, die da am Schreibtisch in der Galerie konzentriert an ihrem Computer arbeitete, machte ihn so sehr an, dass er um diese Selbstkontrolle fürchtete. Er war verloren. Ein einziger Blickkontakt könnte genügen, nur noch eine zufällige Berührung, und er würde in Flammen aufgehen.

Seit sechs Wochen arbeiteten er und Lucienne Bonet gemeinsam an der Inventur des Auktionshauses El Dorado, das aufgelöst werden sollte. Er war extra von Spanien nach San Francisco gekommen, um diese Auktion durchzuführen, denn der Verstorbene, der all diese wertvollen Stücke gesammelt hatte, war sein Vater.

Sein Tod hatte für Alejandro keine Bedeutung. Er hatte Ramon Murrieta nicht mehr gesehen, seit dieser seine Mutter verlassen hatte. Er selbst war damals drei Jahre alt gewesen. Allerdings verdankte er Ramons Tod etwas, das er bis dahin nie gehabt hatte – einen Bruder. Einen Bruder, der für das FBI arbeitete und keine Ahnung hatte, was er mit den Reichtümern seines verstorbenen Vaters anfangen sollte. Auf seine Einladung hin war Alejandro um die halbe Welt gereist. Er hatte damit gerechnet, dass er zwei Monate brauchen würde, um die Sammlung seines ehrlosen Vaters aufzulösen und seinen Bruder näher kennenzulernen.

Womit er nicht gerechnet hatte, das war die Begegnung mit dieser Frau. Er konnte ihren Reizen nicht länger widerstehen.

„Lucienne?“

Ihre Finger flogen über die Tastatur. Genauso flüchtig hatte sie ihn heute Morgen berührt, als sie beide gleichzeitig nach einem Diamantarmband griffen.

Die Berührung hatte nur einen Sekundenbruchteil gedauert, doch die Wirkung war mit der eines Stromschlags vergleichbar.

So etwas hatte Alejandro in seinen heißesten Affären nicht erlebt.

Allerdings hatte er mit Lucienne bis jetzt auch noch nicht geschlafen. Sie war, zumindest im Moment, seine Angestellte. Und er hielt Geschäftliches und Privates immer strikt getrennt. Er würde also weiter leiden müssen.

Es sei denn, er änderte etwas an den Umständen.

Alejandro öffnete den Mund, um Lucienne noch einmal zu rufen, überlegte es sich dann aber anders. Er hatte keine Ahnung, wie sie auf den unanständigen Vorschlag reagieren würde, den er ihr machen wollte – gut möglich, dass sie ihn ohrfeigen und den Raum verlassen würde. Da er dieses Risiko scheute, beschloss er, sie lieber noch ein wenig zu beobachten.

Lautlos formte sie mit den Lippen die Worte, die sie eintippte. Wie gebannt blickte Alejandro auf ihren Mund. Sie hatte einen roten Lippenstift aufgetragen, samtig und dunkel, wie ein Cabernet Sauvignon oder ein guter spanischer Rioja. Würde ihr Körper sich ebenso samtig anfühlen?

Zum ersten Mal in seinem Leben beschloss er, seine professionellen Grundsätze zu vergessen.

Wieder rief er Luciennes Namen, lauter diesmal. Sie blickte von ihrer Arbeit auf. Einen Moment lang schaute sie sich verwirrt um, bis sie ihn entdeckte.

„Entschuldigung, Señor Aguilar, brauchen Sie etwas?“

„Sí“, erwiderte er, selbst schockiert darüber, wie heiser seine Stimme klang.

Und ob er etwas brauchte …

Er räusperte sich. „Könnten Sie einen Moment in mein Büro kommen?“

„Natürlich“, erwiderte sie. „Tut mir leid, ich habe Sie nicht gehört. Ich war so darauf konzentriert, das letzte Interview für den Katalog zu übertragen. Es war eine brillante Idee von Ihnen, bei der Hollywoodsammlung Berichte aus erster Hand einzufügen. Diese Geschichten sind faszinierend. Die Leute werden aufgrund dieser Texte von Anfang an mehr, vielleicht sogar das Doppelte, bieten.“

Ihr strahlendes Lächeln bezauberte ihn. Sie reagierte auf die Aussicht eines besonders hohen Gebots für ein Auktionsstück wie andere Frauen auf Diamanten, Pralinen oder Rosen.

Ein anderer Mann würde vielleicht glauben, er sei verliebt. Er jedoch kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, dass es nur ein körperliches Verlangen war, das er empfand.

„Eigentlich war das doch Ihre Idee.“

Ihr strahlendes Lächeln haute ihn fast um.

Es hatte ihn wirklich erwischt.

„Das war Teamarbeit.“ Sie hatte einen sehr charmanten Akzent, den sie zweifellos ihren zahllosen Reisen nach Europa verdankte. Wenn sie aufstand und durch den Raum ging, dann bewegte sie sich mit fast tänzerischer Grazie. Kaum zu glauben, dass sie ihr Leben in den muffigen Räumen von Museen und privaten Kunstsammlern verbrachte. Leider wusste er bis jetzt so gut wie nichts über sie, obwohl sie zahllose Stunden gemeinsam verbracht hatten.

Aber das würde er ändern.

„Sie sind sehr großzügig“, sagte er.

Sie senkte die Lider mit übertriebener Bescheidenheit. „Wie auch immer, die Auktion wird bestimmt ein großer Erfolg.“

Sie war aufgestanden und zu ihm gekommen. Jetzt stand sie auf der Schwelle zu seinem Büro, nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. Sein Puls raste.

Verlangen. Dieses Wort war einfach nicht ausreichend.

Es wurde nicht annähernd dem gerecht, was er empfand.

Ein sehr langer Augenblick verstrich, bis er endlich merkte, dass er Lucienne den Weg versperrte. Sie befeuchtete sich die Lippen.

Eine ganz unschuldige Geste – nur das kurze Aufblitzen einer rosigen Zungenspitze.

Allerdings waren ihre Lippen überhaupt nicht trocken, sondern voll und glänzend und sehr verlockend.

Alejandro schluckte und machte einen Schritt zur Seite.

Bis auf das Geräusch von Luciennes Absätzen auf dem Holzparkett war es vollkommen still im Raum. In der Ferne summte die Klimaanlage, die all die wertvollen Antiquitäten und Kunstgegenstände des Auktionshauses schützte, indem sie für beständige Trockenheit und Kühle sorgte.

Aber warum war ihm dann so heiß wie im Dschungel?

„Bitte, setzen Sie sich“, forderte er sie auf.

Die Art, wie sie ihren wundervollen Po – heute umhüllt von einem karamellfarbenen Bleistiftrock – anmutig in dem Sessel platzierte, wirkte wie eine laszive Inszenierung. Ob sie sich ihrer erotischen Ausstrahlung im Entferntesten bewusst war? Oder folgte ihr Körper einfach nur einem von Instinkten vorgegebenen Muster?

Das werde ich bald herausfinden.

„Haben Sie Fragen zu meinen Bewertungen?“ Lucienne deutete auf einen Spiralhefter, den sie ihm einige Tage zuvor gegeben hatte.

„Nicht direkt“, erwiderte er und ging um den Schreibtisch herum zu seinem Drehsessel, wobei er wie immer das Porträt seines Vaters ignorierte, das an der Wand dahinter hing.

Ohne dieses Porträtgemälde hätte Alejandro nicht einmal gewusst, wie Ramon Murrieta ausgesehen hatte. Trotzdem würdigte er es im Allgemeinen keines Blickes. Leider sagte ihm jeder, der den Raum betrat, wie sehr er seinem Vater ähnelte: die durchdringenden braunen Augen, der dunkle Teint, das gewellte Haar …

Selbst Lucienne hatte ihn mit Ramon verglichen, allerdings nur einmal. Danach hatte sie den Namen seines Vaters nicht mehr erwähnt. Was nicht ganz einfach für sie gewesen sein konnte, wenn man bedachte, dass sein Tod der Grund für ihre Zusammenarbeit war. Vielleicht hatte sie gespürt, dass er diesem Mann keine positiven Gefühle entgegenbrachte?

Sechs Wochen lang hatten sie täglich viele Stunden allein miteinander verbracht, als der Kunstexperte und seine Assistentin. Sie hatten Gegenstände geschätzt und bewertet, von denen jeder einzelne eine bewegte Geschichte hatte. Zum Beispiel die vierzehn Pelzmäntel einer Hollywooddiva, die es dank ihrer diversen Liebhaber bis zu einer Oscar-Nominierung gebracht hatte. Oder das Bett eines berühmten Großindustriellen, der Männer und Frauen reihenweise verführt hatte und eines Tages bei einer ausgefallenen sexuellen Praktik erstickt war. Oder auch die Sammlung goldener und kristallener Phallusse, erschaffen von einer New Yorker Künstlerin. Man sagte ihr nach, sie habe sowohl ihre sämtlichen Werke als auch die Modelle persönlich getestet.

Im Gegensatz zum Auktionshaus Aguilar in Madrid hatte man sich im El Dorado auf die Welt der Schönen und Berühmten und deren Skandale spezialisiert. Anfangs war Alejandro schockiert gewesen, doch während der Arbeit mit Lucienne hatte er von Tag zu Tag weniger daran gedacht, ob das unter seiner Würde war oder nicht. Das Verlangen nach dieser Frau war so stark geworden, dass er kaum noch an etwas anderes denken konnte.

„Ihr Bericht ist nicht zu beanstanden“, sagte er.

„Danke“, erwiderte sie, „aber dafür bezahlen Sie mich ja auch.“

„Wie auch immer, ich kann mich nicht über Ihre Arbeit unter diesen erschwerten Umständen beklagen.“

„Ich muss gestehen …“, sie senkte die Stimme, obwohl sich doch außer ihnen niemand im Haus befand, „… es hat mich überrascht, dass Sie das gesamte Personal von Ramon Murrieta entlassen haben. Deren Kenntnisse hätten uns von Nutzen sein können.“

„Oder sie hätten uns nach Strich und Faden betrogen und bestohlen. Ihre Loyalität galt nur Ramon. Außerdem arbeitet man besser zu zweit, ich meine, wenn nur wir beide …“

Sie hob eine Braue und öffnete die Lippen ein klein wenig, doch er stellte sich unwillkürlich vor, wie es wäre, ihren Mund auf seinem zu spüren …

Plötzlich hatte er vergessen, was er sagen wollte.

Zum Glück sprang sie für ihn ein. „Es war eine einzigartige Erfahrung“, sagte sie. Ihre Stimme klang ein wenig heiser. „Ich habe noch nie in einer so … intimen Umgebung gearbeitet.“

Sie verlagerte das Gewicht und beugte sich vor, sodass sein Blick auf ihre Brüste gelenkt wurde. Allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde.

Noch war sie seine Angestellte, er würde also seine Blicke – und seine Hände – unter Kontrolle halten.

Er schlug mit der flachen Hand auf das Deckblatt des Spiralhefters. „Dank der Ruhe, die wir hatten, sind wir in Rekordzeit fertig geworden. Wir haben alle Zahlen, die wir für die Auktion nächste Woche brauchen. Ich denke, jetzt sollten wir …“

Als er gerade die Hand in die Tasche seines Jacketts schob, um die vorbereiteten Papiere herauszuholen, schrillte die Türglocke.

Sie zuckten beide zusammen. Lucienne streckte die Hand aus, um auf den Knopf der Gegensprechanlage zu drücken, doch Alejandro war schneller.

Es verschlug ihm fast die Sprache, als ihre Hände sich berührten. Verwirrt meldete er sich zuerst auf Spanisch.

Está cerrado … äh … Das Auktionshaus ist zurzeit geschlossen.“

„Was du nicht sagst.“ Alejandro erkannte die Stimme am anderen Ende der Leitung sofort, es war Michael. „Lass mich rein.“

Lucienne hatte ihre Hand immer noch nicht weggezogen. Die Berührung war wie ein Hauch. Für einen Sekundenbruchteil trafen sich ihre Blicke, und endlich glaubte er in ihren Augen etwas zu entdecken, worauf er seit Wochen hoffte: sexuelles Begehren.

„Ich bin gerade sehr beschäftigt“, sagte er. Hoffentlich zog Lucienne jetzt nicht ihre Hand weg!

„Es ist wichtig“, beharrte Michael.

Bevor Alejandro etwas erwidern konnte, eilte Lucienne hinaus.

Er fluchte. Dann gab er den Code ein, der die Haustür entriegelte.

„Er kennt den Weg“, rief er Lucienne nach, doch sie war bereits verschwunden. Offenbar wollte sie seinen Bruder nicht begrüßen.

Vielleicht hatte er ihren Blick ja auch falsch gedeutet?

Er war immer noch wütend über die Unterbrechung, als Michael hereinstürmte.

„Vielleicht herrschen hier andere Sitten als in Madrid, aber es wäre nett gewesen, vorher anzurufen“, sagte Alejandro eisig.

Wie immer reagierte sein Halbbruder mit cooler Gelassenheit auf seinen Zorn.

„War das ein Rock, der da gerade um die Ecke verschwunden ist, als wir reinkamen?“

„Wir?“

Michael trat einen Schritt zur Seite. Seine Kollegin, Special Agent Ruby Dawson, ging hinter ihm in der Galerie auf und ab.

Lucienne war nirgends zu sehen.

„Das war meine Assistentin“, erklärte Alejandro.

„Ah, die mysteriöse Lucienne Bonet.“

„Was soll das heißen, mysteriös?“

Michael zuckte mit den Schultern. „Du hast sie schon mehrmals erwähnt, aber ich habe sie noch nie richtig gesehen.“

Alejandro blickte noch einmal durch die Tür. Warum hatte es Lucienne so eilig gehabt, wenn sie seinem Bruder gar nicht den Weg zum Büro zeigen wollte? Außerdem war Michael quasi im Auktionshaus aufgewachsen und kannte sich aus.

„Sie hat viel zu tun“, gab er zurück. „Wir sind sehr beschäftigt.“

Michael grinste. „Tut mir leid, dass ich eure wichtige Arbeit unterbreche, aber es gibt eine Wende in dem Fall, an dem ich arbeite. Es kann sein, dass ich noch vor der Auktion die Stadt verlasse, und wenn ich wiederkomme, musst du zurück nach Madrid. Es wird also Zeit, dass wir beide etwas sehr Wichtiges erledigen.“

Alejandro straffte die Schultern. Ihm war plötzlich flau im Magen. Er hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass sein eigener Bruder um die Welt jettete, um gefährliche Kriminelle einzufangen.

„Um was für einen Fall geht es?“

Michael lächelte geheimnisvoll. „Du weißt, dass ich darüber nicht reden kann. Und ich möchte auch gar nicht. Hier geht es um etwas viel Wichtigeres.“

Michael schloss die Tür. Doch anstatt sich hinzusetzen, ging er um den Schreibtisch herum und kniete nieder.

Alejandro musste lachen. „Willst du mir einen Antrag machen?“

Sein Bruder gab Alejandros Stuhl einen Stoß, sodass er gegen das Bücherregal hinter ihm prallte. Dann strich Michael mit der Hand über eine Einkerbung, die sich im Boden befand. Er drückte in die Vertiefung, woraufhin sich die Diele am anderen Ende anhob.

„Was ist das?“

Michael wurde ernst. Jetzt sah er seinem Vater plötzlich ziemlich ähnlich. Im Gegensatz zu Alejandro, der den dunklen Teint und die braunen Augen von Ramon geerbt hatte, ähnelte Michael mit den stahlblauen Augen und dem hellbraunen Haar auf den ersten Blick eher seiner Mutter.

Unter der Diele kam ein Safe zum Vorschein. Er war alt und staubig, doch der Deckel ließ sich fast geräuschlos öffnen, nachdem Michael die Kombination eingegeben hatte. Er holte eine verkratzte Holzschatulle und eine Dokumentenmappe aus Leder heraus. Der modrige Geruch sehr alter Gegenstände erfüllte den Raum.

Michael legte die Dokumente auf den Tisch und reichte Alejandro die Schatulle, der sie sofort einschätzte: achtzehntes Jahrhundert, eindeutig spanisches Muster, aber wahrscheinlich in der Neuen Welt hergestellt. Das war unschwer an der Art der Hölzer zu erkennen, die verwendet worden waren. Möglicherweise war sie für die Juwelen einer Adligen angefertigt worden.

Das Schloss war aus gehärtetem Stahl und mit achtzehn Karat vergoldet.

Alejandro schaute seinen Bruder fragend an. Er und Lucienne hatten das gesamte Gebäude sorgfältig durchsucht, aber den Safe nicht entdeckt.

„Ich frage dich noch einmal. Was ist das?“

„Mach es auf“, befahl Michael.

Alejandro beugte sich vor und schaltete die schwenkbare, elektrisch beleuchtete Lupe an der Seite des Schreibtischs ein. Als er die Schatulle öffnete, stellte er erstaunt fest, dass das Innere in schlechterem Zustand war als das Äußere.

Das Seidenfutter, das wohl mal leuchtend rot gewesen sein musste, war ausgebleicht, und der Ring, der auf dem Sockel in der Mitte steckte, hatte auch ganz offensichtlich schon bessere Zeiten gesehen. Die Opale, die den großen Stein in der Mitte umgaben, schimmerten zwar, aber das Gold war matt, und der große funkelnde Stein in der Mitte hatte einen deutlich sichtbaren Kratzer in der Form einer 2.

Oder war es ein Z?

„Das hier entspricht ja wohl kaum dem Standard unseres Vaters“, stellte er fest. Selbst er musste zugeben, dass Ramons Sammlung, trotz ihrer fragwürdigen Herkunft, hervorragend war.

„Es gehört auch nicht zum Auktionsbestand.“

Michael blickte über Alejandros Schulter. Beide betrachteten das Porträt an der Wand. Ramon trug darauf einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd. Die rote Krawatte und der funkelnde grüne Stein an seinem Fingerring bildeten die einzigen Farbakzente.

Diesen Ring hielt Alejandro jetzt in der Hand. „Er hat ihn nicht mit ins Grab genommen?“Sein Bruder schüttelte den Kopf. „Dieses Schmuckstück ist seit vier Jahrhunderten im Besitz der Familie. Es wird immer vom Vater an den ältesten Sohn weitergegeben. Jetzt bist du dran.“

Alejandro ließ die Schatulle fallen. Der Ring löste sich aus der Halterung. Jetzt konnte man sehen, dass er auf der Rückseite sehr dünn und mehrmals repariert worden war.

Der schlechte Zustand überraschte Alejandro nicht, schließlich war das Erbstück unglaublich alt und offenbar ständig getragen worden. Was ihn jedoch wirklich schockierte, war Michaels Forderung, er solle diesen Ring tragen.

„Ich kann doch nicht den Ring deines Vaters nehmen!“

„Er war auch dein Vater.“

„Nur genetisch.“

„Er wollte, dass du ihn bekommst.“

„Das ist absurd!“

Weshalb sollte Ramon dem Sohn, den er vor über dreißig Jahren verlassen hatte, ein Familienerbstück vermachen?

„Es ist die Wahrheit.“ Michael ging mit ernster Miene vor dem Schreibtisch auf und ab. „Er hat zu mir gesagt, dass du ihn bekommen sollst. Gleich, nachdem er mir zum ersten Mal von dir erzählt hat.“

Alejandro schüttelte den Kopf. Auch wenn es ihnen nicht leichtgefallen war, hatten er und Michael es bis jetzt vermieden, über Ramon zu reden. Er konnte seinem Bruder dessen glückliche Kindheit nicht verübeln, aber er legte keinen Wert darauf, alle Details darüber zu erfahren.

„Wir müssen das nicht diskutieren.“ Er schob Michael die Schatulle zu.

„Doch, müssen wir. Vor ein paar Jahren, als ich neu beim FBI war, gab es einen Fall, in den Dad verwickelt war. Es ging um Kunstraub. Der Dieb schnitt sich an einem Metallrahmen und hinterließ DNA-Spuren. Das Labor gab die Daten im Computer ein und fand … mich.“

Alex hob eine Braue. „Du hast ein Gemälde gestohlen?“

Sein Bruder verdrehte die Augen. „Natürlich nicht, aber als FBI-Agent hatte ich bei der Einstellung eine DNA-Probe abgeben müssen. Es war keine hundertprozentige Übereinstimmung, aber zumindest ein starkes Indiz dafür, dass ich mit dem Einbrecher irgendwie verwandt sein musste. Das führte uns zu Dad.“

Alejandro fühlte sich immer unbehaglicher. Er blickte sich um. Seine Mutter hatte seinen Vater immer wegen seines unmoralischen Verhaltens kritisiert, aber dass er seine Sammlung sogar mithilfe von Kunstraub aufgebaut haben sollte …

„Ich weiß nicht, was ich …“

„Aber auch er hatte das Gemälde nicht gestohlen“, beeilte Michael sich zu sagen.

„Wie kannst du da so sicher sein?“

„Er hat auch eine DNA-Probe abgegeben, und wieder war die Übereinstimmung nicht hundertprozentig, die Wahrscheinlichkeit jedoch noch höher, dass er mit dem Dieb verwandt sein musste. Es hieß, es müsste ein Sohn von ihm sein. Da hat er mir von dir erzählt.“

Wütend sprang Alejandro auf. „Ich wurde verdächtigt? In einem Fall von Kunstraub?“

„Nein, nicht wirklich. Dein Ruf ist zu makellos. Außerdem haben wir Ermittlungen angestellt.“

Alejandro starrte Michael erbost an. Sein ganzes Leben arbeitete er daran, dass der schlechte Ruf seines Vaters nicht auf ihn abfärbte. Jetzt musste er erfahren, dass man ihn in den Vereinigten Staaten eines Verbrechens verdächtigt hatte?

Michael hob abwehrend die Hände und bedeutete ihm, sich wieder zu setzen. „Dank Dad sind wir sehr schnell von dem Verdacht abgekommen. Er legte zum Beweis ein Foto aus einer spanischen Illustrierten vor. Darauf warst du abgebildet, als Gast einer Benefizveranstaltung in Barcelona, die in der Nacht des Diebstahls stattgefunden hatte.“

Alejandro wusste nicht, was ihn mehr erstaunte – die Tatsache, dass er, wenn auch nur kurz, für einen Kunsträuber gehalten worden war, oder dass sein Vater, der sich nie gemeldet oder auch nur einen Geburtstagsgruß geschickt hatte, so um den Beweis seiner Unschuld bemüht gewesen war.

Als er sich entschieden hatte, der Einladung seines Bruders in die USA zu folgen, war ihm klar, dass er damit alte Wunden aufreißen würde. Aber er hatte geglaubt, damit zurechtzukommen, nun, wo Ramon tot war. Immerhin hatte er ja bis jetzt ein sehr gutes Leben gehabt. Eine Mutter, die ihn über alles liebte. Einen Großvater, der ihm trotz Krankheit und Altersschwäche ein guter Ersatzvater gewesen war. Er hatte seine Kindheit im Kreis einer großen Familie und in den besten Schulen verbracht.

Das Einzige, was sein Vater ihm gegeben hatte, war seine DNA, die ihn fast vor Gericht gebracht hätte – und diesen alten, unansehnlichen Ring.

„Er war nicht stolz darauf, dich so verlassen zu haben, Alejandro“, sagte Michael. „Ich meine, er hat mir nicht viel erzählt, aber er sagte, er sei damals ein anderer Mensch gewesen. Ich glaube ihm. Diesen Ring hatte er erst, nachdem er zurück in die Staaten gekommen war.“

„Was hat dieser lächerliche Ring denn damit zu tun?“, fragte Alejandro verblüfft.

Seit seiner Ankunft in San Francisco erfuhr er von Tag zu Tag mehr über seinen Vater: Nachdem er Michael als aufrichtigen und sympathischen Menschen kennengelernt hatte, hatte er begonnen, sich zu fragen, wie dieser wohl aufgewachsen war. Wie konnte ein Mann, der seinen ersten Sohn aufgegeben hatte, seinen anderen Sohn zu so einem starken, moralischen und selbstbewussten Menschen erziehen?

„Probier ihn an.“ Michael schob ihm die Schatulle zu.

„Was? Nein.“

Sein Bruder öffnete die Schatulle, nahm den Ring heraus und drückte ihn Alejandro in die Hand.

„Steck ihn dir an, Alejandro. Wenn du ihn trägst, wirst du verstehen.“

2. KAPITEL

„Die Leute zahlen also viel Geld für dieses Zeug?“

Lucy fühlte sich ertappt. Sie fluchte lautlos und verließ den Lagerraum, in dem sie sich versteckt hatte. Michael hatte sie offenbar nicht erkannt, sonst würde er nicht zulassen, dass sie mit seiner Kollegin vom FBI plauderte.

„Manche schon“, erwiderte sie.

Vorsichtig nahm die Agentin einen mit Diamanten verzierten Dolch, der wahrscheinlich in der Renaissancezeit als Mordwerkzeug gedient hatte.

„Wie viel würde zum Beispiel der hier kosten?“

Lucy wandte Alejandros offener Bürotür den Rücken zu. Trotzdem spürte sie seine Blicke und bekam eine Gänsehaut. Dieses Gefühl war ihr mittlerweile sehr vertraut, denn immer wieder verweilte sein Blick auf ihrem Po. Warum auch nicht? Was für einen Sinn hatte ein knackiger Hintern, wenn er nicht von einem heißblütigen Mann bewundert wurde?

Und dass Alejandro sich für ihre körperlichen Vorzüge interessierte, hatte seine Vorteile: Er ließ sich dadurch so sehr ablenken, dass er selbst nach sechs Wochen noch nicht gemerkt hatte, dass sie nicht die Frau war, für die sie sich ausgab. Außerdem tat es ihrem Ego sehr gut. Dieser Mann hatte eine unglaublich erotische Ausstrahlung, und sie hätte nichts dagegen, sich an ihm ein wenig die Finger zu verbrennen …

Im Hinblick auf Michael Murrieta und dessen Partnerin war Lucy allerdings nicht halb so entspannt. Ein falsches Wort und sie würde im Gefängnis landen. Doch wenn Michael ihre Tarnung nicht durchschaut hatte – und weshalb sollte er, er war ihr ja nur ein einziges Mal ganz kurz begegnet –, dann hielt auch er, genau wie Alejandro, sie für eine seriöse Kunstexpertin und hatte keine Ahnung, wie viel Angst sie davor hatte, entlarvt zu werden.

Lucy zog sich Baumwollhandschuhe über und wandte sich Michaels Partnerin zu. „Wir gehen davon aus, dass dieser Dolch fünfzigtausend einbringen wird.“

„Fünfzigtausend Dollar? Für einen Brieföffner?“, rief die Frau ungläubig.

Lucy lachte. „Es heißt, dass ein besonders blutrünstiger Herrscher sich mithilfe dieser Waffe die Feinde vom Leib hielt.“

Lucy war so nervös, dass ihr europäischer Akzent, der ihre Tarnung glaubwürdiger machen sollte, fast verschwand. In Wahrheit hatte sie San Francisco in den letzten sechs Jahren nur drei Mal verlassen – jedes Mal mit einem gefälschten Pass.

Sie musste sich jetzt unbedingt zusammenreißen. Sie hatte viel zu hart gearbeitet und zu viel riskiert, um sich durch den überraschenden Besuch eines FBI-Agenten aus dem Konzept bringen zu lassen.

Schließlich spielte sie nicht zum ersten Mal die kultivierte Expertin Lucienne Bonet. Es war ihre Lieblingsrolle, in die sie immer dann schlüpfte, wenn es zu heiß wurde für Lucy Burnett, eine in der Szene bekannte Hehlerin, die sich auf exklusive Kunstobjekte spezialisiert hatte. Als Lucienne Bonet wurde sie von arroganten Museumskuratoren und aufgeblasenen Kunstsammlern beauftragt, ihre Heiligtümer zu untersuchen und zu beurteilen. Dabei hatte sie genauso viel über die Welt der Kunst erfahren, wie sie bereits über die Welt des Schwarzhandels und des Kunstraubs wusste.

Die Agentin legte Lucy vorsichtig den Dolch in die Hand. Lucy drehte ihn herum und gab vor, ihn interessiert zu betrachten, dabei hatte sie seinen Wert bereits vor zwei Wochen geschätzt.

Die Frau nahm ein Papiertuch aus der Schachtel auf dem Schreibtisch und hob den Dolch erneut hoch. Diesmal hielt sie ihn unter eine Lampe und begutachtete ihn fachmännisch. „Das hier sieht aus wie getrocknetes Blut.“

„Tatsächlich?“, tat Lucy überrascht. „Damit steigt der Preis auf fünfundsiebzigtausend.“

Die Frau riss die Augen auf, dann grinste sie. „Sie machen sich über mich lustig.“

Lucy verzog die Lippen. „Vielleicht ein klein wenig.“

Das Gespräch der Männer schien intensiver zu werden. Leider hatten sie inzwischen die Bürotür geschlossen. Offenbar waren es keine guten Neuigkeiten, die Michael zu überbringen hatte. Wäre seine Partnerin nicht hier, um mich abzulenken, hätte ich einen Weg gefunden, um die Männer zu belauschen, dachte Lucy. Sie hatte bei ihrem Vorstellungsgespräch eine Wanze in dem Blumentopf neben Alejandros Schreibtisch angebracht und eine in seinem Telefon eingebaut, als er sie beim Ausfüllen ihrer Einstellungspapiere allein gelassen hatte. Ob Michael sie doch erkannt hatte? Und Alejandro jetzt über sie aufklärte? Sie hatte immer darauf geachtet, nicht in der Nähe zu sein, wenn der FBI-Agent zu Besuch kam. Aber dieses Mal war er ohne Vorankündigung aufgetaucht.

Trotzdem, wenn er sie erkannt hätte, dann hätte sie doch sicher längst Handschellen um.

Wahrscheinlich befände sie sich schon in einem dieser düsteren Verhörräume und müsste Fragen über Daniel beantworten. Daniel war der dritte der Murrieta-Brüder, von dessen Existenz Alejandro bis jetzt wohl keine Ahnung hatte.

„Ich bin übrigens Ruby“, sagte die Agentin. „Special Agent Ruby Dawson.“

Lucy streckte die Hand aus. „Lucienne Bonet.“

Der Händedruck der Agentin war kurz, aber kraftvoll. Falls sie Lucy insgeheim einzuschätzen versuchte, ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken.

Agent Dawson legte den Dolch zurück in die Vitrine und schaute sich erneut im Raum um. Lucy kehrte an ihren Schreibtisch zurück.

„Arbeiten Sie schon lange hier?“, erkundigte sich Ruby. Sie fächelte sich mit dem Revers ihres Jacketts Luft zu.

Lucy hatte kurz vorher die Temperatur der Klimaanlage etwas wärmer eingestellt. Sie brauchte einen Vorwand, um ihren Nacken zu entblößen, wenn sie mit Alejandro allein war. Er sollte möglichst oft an Sex denken und sich nicht etwa fragen, ob die Frau, der er seine Auktion anvertraute, ihm womöglich seinen kostbarsten Besitz stehlen wollte.

Wenn sie das verdammte Ding nur finden würde!

„Knapp zwei Monate“, erwiderte sie.

„Und Sie bleiben, bis alles verkauft ist?“

„Ich denke ja. Señor Aguilar hat das meiste Personal entlassen, als wir das Auktionshaus übernommen haben. Er hat nur ein paar Lagerarbeiter für die schwereren Transporte behalten. Ansonsten sind wir beide allein hier.“

„Wie gemütlich.“

Lucy lächelte dünn. Leider war es nicht annähernd so „gemütlich“, wie sie es sich sowohl aus professionellen als auch aus persönlichen Gründen gewünscht hätte.

Sie hatte nur ein Ziel gehabt, als sie hierhergekommen war: den Ring zu finden, den Ramon Murrieta täglich getragen hatte. Den Ring, der Daniel Burnett, ihren Adoptivbruder, am Leben erhalten würde.

Sie wusste nicht, wie oder warum ein Schmuckstück so viel Macht besitzen konnte, aber es war nicht ihre Aufgabe, Fragen zu stellen. Daniel saß im Gefängnis wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hatte. Er war der führende Kopf. Er plante die Diebstähle und führte sie aus; sie verkaufte die Ware jeweils zum Höchstpreis. Diese enge Beziehung funktionierte seit vielen Jahren, denn Lucy vertraute Daniel genug, um seine Motive nicht zu hinterfragen.

Dieses Mal allerdings hatte er gefordert, dass sie das Stehlen übernehmen sollte, und bis jetzt war ihr das nicht gelungen. Sie hatte die gesamte Sammlung akribisch durchsucht. Sie hatte sich sogar mit einigen von Ramons wichtigsten Kunden getroffen, angeblich um mit ihnen über die bevorstehende Auktion zu sprechen. Immerhin hatte sie in Erfahrung bringen können, dass Ramon ohne den Ring beerdigt worden war.

Letzte Woche hatte sie es sogar unter dem Vorwand, wichtige Dokumente zu suchen, bis ins Wohnhaus der Familie Murrieta geschafft und sich dort unauffällig umgeschaut. Falls Michaels Mutter den Ring besaß, hatte sie ihn gut versteckt. Lucy hatte keinerlei Dokumente gefunden, denen zu entnehmen wäre, dass Murrieta oder seine Frau über ein Bankschließfach verfügten. Viel wahrscheinlicher war, dass sie ihre Besitztümer in den Tresoren des Auktionshauses aufbewahrten. Natürlich hatte Lucy bereits alle Tresore gründlich durchsucht.

Und falls Michael den Ring hatte – dann jedenfalls nicht am Finger. Das hatte sie überprüft. Allerdings hatte sie nicht vor, in seine Wohnung einzubrechen, immerhin war er beim FBI.

Diebstahl war eigentlich nicht ihr Fachgebiet, doch als Hehlerin eines Kunsträubers hatte sie sich gewisse Kenntnisse angeeignet. Und Daniel brauchte ihre Hilfe. Wenn sie den Ring nicht bald fand, dann würde er dafür zahlen müssen, und zwar einen sehr viel höheren Preis als den Wert sämtlicher Kunstgegenstände des Auktionshauses zusammen.

Special Agent Dawson setzte ihren Erkundungsgang durch die Galerie fort. Sie betrachtete eingehend die auf langen, mit Samt bezogenen Tischen ausgestellten Gegenstände, berührte sie jedoch nicht. Lucy fragte sich, ob die Agentin von Daniel wusste. Sie war jedenfalls nicht dabei gewesen, als Michael ins Gefängnis gekommen war. Lucy bezweifelte, dass Michael Alejandro überhaupt gesagt hatte, dass er einen weiteren Halbbruder besaß. Daniels Mutter hatte ihre Schwangerschaft vor Ramon geheim gehalten und ihren Sohn Pflegeeltern überlassen.

Damals hatten ihre Eltern ihn als Pflegekind aufgenommen, und mit den Jahren war zwischen ihr und Daniel eine tiefe Verbundenheit entstanden – größer als seine Blutsverwandtschaft mit den ehrbaren Murrieta-Brüdern. Daniel ähnelte ihnen kein bisschen und hielt sich höchstens an seine Ganovenehre.

Es sei denn, es ging um mich, dachte Lucy. Wann immer er der Polizei ins Netz gegangen war, hatte Danny ihren Namen nie erwähnt. Deshalb hatte sie bis jetzt keine Sekunde in einem Verhörraum oder einer Gefängniszelle verbracht.

Sie war ihm also in vielerlei Hinsicht zu Dankbarkeit verpflichtet. Ihre Eltern hatten Dutzende Pflegekinder aufgenommen, aber nur er war ihr ein wirklicher Bruder geworden.

Sie schaute auf die Uhr. Sie wusste immer noch nicht, warum Alejandro sie vorhin in sein Büro gebeten hatte. Doch in fünf Minuten sollten sie sich ohnehin zu einem Gespräch treffen, den Termin hatten sie beide schon vor einer Woche ausgemacht. Der Mann war ein Sklave seines Terminkalenders, also würde er Michael wohl bald hinauskomplimentieren.

Bis dahin könnte sie vielleicht seine Partnerin noch ein wenig aushorchen. Wenn er den Ring besaß, dann hatte Miss Dawson ihn möglicherweise gesehen.

„Vielleicht gibt es ja etwas hier, das wir vor der Auktion für Sie zur Seite legen könnten“, sagte Lucy und zeigte auf eine Schmucksammlung, die einmal einer berühmten Gangsterbraut gehört hatte. „Wie wäre es zum Beispiel damit?“

Sie nahm ein Smaragdcollier und hielt es der Agentin hin. „Das würde toll an Ihnen aussehen.“

Ruby Dawson blickte in den Spiegel und begutachtete die Wirkung der funkelnden Steine im Kontrast zu ihrer bronzefarbenen Haut. „Tja, das würde im Verhörraum bestimmt gut ankommen.“

Lucy lächelte amüsiert. „Dann vielleicht etwas Dezenteres.“

Sie wählte ein Paar Ohrringe mit Smaragden und Opalen. „Probieren Sie doch mal die an.“

Special Agent Dawson hielt sich den Schmuck jedoch nur kurz an die Ohrläppchen. „Die kosten wahrscheinlich mehr, als ich im Jahr verdiene“, sagte sie trocken.

„Möglich, aber die Kombination dieser Edelsteine gibt es nicht sehr oft, und sie passt hervorragend zu Ihrem Teint.“

„Michaels Vater besaß einen Ring mit Smaragden und Opalen“, bemerkte die Agentin.

Bingo.

„Etwa den Ring auf dem Gemälde?“ Lucy deutete auf die geschlossene Bürotür. „Den gab es wirklich? Manchmal lassen sich die Leute auf Porträts … nun ja, etwas übertrieben darstellen.“

Agent Dawson legte die Ohrringe zurück. „Nicht Ramon. Er war wirklich so beeindruckend wie auf diesem Gemälde. Ich bin ihm allerdings nur einmal begegnet. Er schien sich in Gegenwart von Michaels Kollegen nicht sehr wohlzufühlen.“

Wieder gab Lucy sich unwissend. „Wieso das?“

Einen Moment lang runzelte die Agentin die Stirn. „Ach so, richtig, Sie sind ja neu hier.“

Lucy war neu im Auktionshaus, doch genau wie Special Agent Dawson hatte auch sie Ramon einmal getroffen und würde diese Begegnung nie wieder vergessen. Sie hatte ihn als beeindruckende Persönlichkeit in Erinnerung, außerdem war er selbst im hohen Alter noch sehr attraktiv gewesen.

„Von seinen Kunden habe ich bis jetzt nur Gutes über ihn gehört“, bemerkte sie.

Die Agentin verzog die Lippen. „Nun ja, die meisten seiner Kunden hatten selbst eine zweifelhafte Vergangenheit. Im Vergleich zu ihnen war er wohl fast ein Heiliger.“

Lucy hob eine Braue, um zu zeigen, dass sie mehr über Ramon erfahren wollte. In Wirklichkeit war nichts von dem, was Special Agent Dawson sagte, neu für sie. Daniel hatte intensive Nachforschungen über seinen Vater angestellt, genau wie über all die Menschen, die er beraubt hatte.

„Wollen Sie damit andeuten, dass diese Dinge hier gestohlen sind?“

„Nein, nein.“ Die Agentin winkte ab. „Ramon hatte sehr wohl eine dunkle Vergangenheit. Aber als er Michaels Mutter heiratete, hatte er schon damit abgeschlossen. Michael wäre außer sich gewesen, wenn sein Vater etwas Illegales getan hätte. Er ist fast schon übertrieben korrekt.“

Lucy blickte zu der immer noch geschlossenen Bürotür. „Wie Alejandro.“

„Pech für die Frauen von San Francisco, die sowieso schon unter dem Männermangel leiden.“ Agent Dawson hatte vertraulich die Stimme gesenkt. „Wirklich eine Schande! Wenn dieser Spanier ein bisschen lockerer drauf wäre, dann könnte ich ihn mir schon als Matador in meiner Arena vorstellen, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Oh ja, Lucy verstand nur zu gut. Im Lauf der letzten beiden Monate hatte sie immer wieder von Alejandro Aguilar geträumt – und diese Träume hatten auch von der Zähmung einer wilden Kreatur gehandelt. Natürlich war sie selbst die Unzähmbare gewesen, und Alejandro hatte keine Banderilla, sondern eine andere Waffe benutzt – heiß, und hart wie Stahl …

Das waren jedoch nur Fantasien. Lucy hatte keine Ahnung, ob Alejandro wirklich so gut im Bett war – zumindest wirkte er wie der Prototyp eines Latin Lovers.

„Woher wissen Sie, dass er nicht im Herzen ein Abenteurer ist?“, fragte Lucy. „Vielleicht hat er ja verborgene Talente?“

Ruby befeuchtete sich die Lippen. „Man kann nur hoffen und beten.“

Lucy verstaute die Schmuckstücke in einer Vitrine. Ursprünglich hatte sie nicht vorgehabt, Alejandro mit ihrer Aufmachung den Verstand zu rauben. Die dunkel gefärbten Haare und die braunen Kontaktlinsen dienten der Tarnung ihrer wahren Identität. In Wirklichkeit hatte sie grüne Augen und rotes Haar. Mit ihrer eleganten, aber aufreizenden Kleidung hatte sie sicherstellen wollen, dass er sie allen anderen Bewerberinnen vorzog.

Dass sie nun, wenn er in ihrer Nähe war, jede kleinste Regung von ihm überdeutlich wahrnahm, gehörte zu den unerwarteten Nebenwirkungen. Sie merkte, wie sich seine Schultern verspannten, wenn sie ihn scheinbar unabsichtlich mit dem Arm streifte, und sie spürte seine Blicke, wenn sie ihm den Rücken zukehrte oder sein Büro verließ.

Es gab sehr viele Spiegel im Aktionshaus, deshalb boten sich Lucy zahlreiche Gelegenheiten, Alejandros Anblick ausführlich zu genießen: seinen muskulösen Körper, sein pechschwarzes Haar und seine dunklen Augen mit dem intensiven Blick …

Plötzlich stand Agent Dawson direkt vor ihr. „Sie sind scharf auf ihn“, stellte sie fest.

Lucy machte eine wegwerfende Geste, sagte jedoch nichts. Alejandro Aguilar war unwiderstehlich. Ein heißer Typ. Selbst sie hätte in diesem Fall nicht glaubwürdig lügen können. „Er ist unglaublich attraktiv, aber Geschäftliches und Privates sollte man trennen.“

Die Agentin nickte. „Nur zu wahr. Affären am Arbeitsplatz bringen nur Ärger.“

„Sie sprechen wohl aus Erfahrung?“

Sie lachte. „Hören Sie auf, wenn ich nicht gerade mit einem Mann verheiratet bin, dann mit meinem Job. Ich habe gelernt, diese beiden Welten auseinanderzuhalten.“

Lucy nickte. Normalerweise ließ sie sich nicht mit den Männern ein, denen sie bei der Arbeit begegnete. Nicht etwa wegen moralischer Vorbehalte, sondern weil sie die Erfahrung gemacht hatte, dass ihre leidenschaftlichen Verehrer ihr Bankkonto leer räumten, sobald sie ihnen den Rücken zuwandte. Der einzige Mann, dem sie in finanzieller Hinsicht vertrauen konnte, war Daniel.

„Wie oft waren Sie denn verheiratet?“, erkundigte sie sich und warf rasch noch einen Blick auf die Bürotür. Alejandro war normalerweise sehr pünktlich. Bestimmt würde er dafür sorgen, dass ihr Gespräch wie verabredet stattfand.

„Drei Mal“, antwortete Ruby, „aber ich ziehe ein viertes Mal in Betracht, wenn meine jüngste Eroberung sich im Bett genauso gut auskennt wie in der Finanzwelt.“

„Sie sind also in einen Börsenmakler verliebt?“

Special Agent Dawson zwinkerte belustigt. „Die meiste Zeit meines erwachsenen Lebens habe ich mit Kriminellen oder FBI-Kollegen verbracht. Man muss die Gelegenheit beim Schopf ergreifen, wenn sie sich bietet.“

Plötzlich musste Lucy an ihren Lieblingstagtraum denken: sie und Alejandro bei sündigen Spielen in dem Bett, das einmal Rudolph Valentino gehört hatte …

Rein rational betrachtet war Alejandro ihr Opfer. Nichts sprach dagegen, mit ihm Sex zu haben, bevor sie ihm den Ring stahl. Aber im Augenblick war er immer noch ihr Chef. Es war ihr zuwider, sich ihm auf intime Weise hinzugeben, solange er sich ihr gegenüber in dieser Machtposition befand.

Natürlich wäre es auch möglich, dass er ihr helfen würde, den Ring zu finden, wenn sie ihn verführt hatte.

Sollte sie es wagen?

Die Klinke der Bürotür senkte sich. Schnell ging Lucy zur Damentoilette. Dort wartete sie, bis sie hörte, wie Michael und Special Agent Dawson sich von Alejandro verabschiedeten.

Sekunden später hörte sie Alejandro rufen. „Lucienne?“

Sie lehnte sich gegen die Tür, schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Klang seiner tiefen, melodiösen Stimme. Sie sah nackte Körper im Halbdunkel vor sich und war so erregt, dass ihre Brustspitzen hart wurden. Zu dumm, dass sie die Klimaanlage verstellt hatte. Sie hatte das Gefühl, vor Hitze zu zerfließen.

Dabei hatte er doch nur ihren Namen gerufen.

„Lucienne?“

Sie ging zum Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser auf Gesicht und Hals. Ihr Job war nicht, Alejandro zu verführen oder heiße Fantasien auszuleben. Bis zur Auktion blieb ihr nur noch eine Woche. Bald war ihre Arbeit hier also zu Ende. Sie musste sich darauf konzentrieren, den Ring zu finden und zu stehlen. Sie musste Daniel retten!

Danach würde Alejandro aber ganz sicher kein Interesse mehr an ihr haben.

„Einen Moment“, rief sie.

Sie blickte in den Spiegel und seufzte. Als Brünette sah sie wirklich sexy aus. Lucienne Bonet war smart, kultiviert, verführerisch und verfügte über mehrere Universitätsabschlüsse. Damit hatte sie einen Mann beeindruckt, der unerhört viel Geld damit verdiente, dass er Fälschungen von Originalen zu unterscheiden wusste, und kostbare Kunstgegenstände zu noch höheren Preisen weiterverkaufte. Lucienne Bonet war die Art von Frau, die Alejandro Aguilar in ihr Bett locken und ihm sein kostbares Familienerbstück entwenden könnte, während er an ihren Zehen lutschte.

Lucy Burnett dagegen verfügte über keinen dieser Vorzüge. Alles, was sie vorzuweisen hatte, war eine traurige Kindheit, eine zweifelhafte Vergangenheit und den brennenden Wunsch, endlich ihre Mission zu beenden und von hier zu verschwinden. Bevor sie noch einen schrecklichen Fehler machte und sich in den Mann verliebte, der sie zutiefst hassen würde, sobald er wüsste, wer sie wirklich war.

3. KAPITEL

Alejandro stützte das Kinn auf die Faust und blickte nachdenklich auf den Ring, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Trotz der Überredungsversuche seines Bruders hatte er ihn sich noch immer nicht an den Finger gesteckt. Er war nicht sicher, ob er nach sechsunddreißig langen Jahren seinem Vater einfach verzeihen konnte.

Noch einmal betrachtete er den Ring unter dem beleuchteten Vergrößerungsglas, diesmal nicht als Kunstexperte, sondern als Sohn und Erbe.

Alt, abgetragen und zerkratzt war dieser Ring, doch die Steine hatten nichts von ihrer Strahlkraft eingebüßt. Der Smaragd in der Mitte mit dem Kratzer – es schien wirklich der Buchstabe Z eingeritzt zu sein – funkelte, wie nur ein echter Stein funkeln konnte, den man der Erde abgerungen hatte, lange bevor es künstliche Edelsteine gab. Der Ring selbst war zwar an der Rückseite recht dünn geworden, doch alles in allem war er gut erhalten, das Gold nur ein wenig stumpf.

Wenn dieser Ring jahrhundertelang täglich getragen worden war, dann war sein Zustand ein kleines Wunder.

Alejandro las noch einmal die Papiere, die Ramon zusammen mit dem Ring in dem Tresor versteckt gehalten hatte. Zunächst hatte er sie nicht lesen wollen, doch Michael hatte ihm keine Wahl gelassen.

„Was ist das?“, hatte er seinen Bruder gefragt.

„Das sind Briefe“, hatte dieser geantwortet. „Zeitungsartikel. Testamente. Ich glaube, da ist sogar ein Schreiben von einem Geistlichen dabei. Dad hat die Herkunft dieses Rings bis zu seinem Ursprung zurückverfolgt. Bis zu dem Murrieta, der ihn zuallererst besaß.“

Dann hatte Michael zwischen den Blättern ein Blatt herausgezogen, das aussah wie ein Steckbrief.

Joaquin Murrieta.

„Woher kenne ich diesen Namen?“, hatte Alejandro sich gefragt.

Michaels Augen hatten gefunkelt. „Gehst du manchmal ins Kino? Liest du Bücher? Joaquin Murrieta war zu seinen Lebzeiten eine Berühmtheit, und später, im frühen zwanzigsten Jahrhundert, wurde sein Leben verfilmt. Danach gab es auch Fernsehserien, Radiohörspiele, zahllose Kurzgeschichten und Romane. Vor nicht allzu langer Zeit gab es eine Neuverfilmung mit einem Landsmann von dir in der Hauptrolle.“

Alejandro hatte sofort gewusst, wen Michael meinte, es gab schließlich nicht allzu viele spanische Schauspieler, die es bis auf die Leinwände amerikanischer Kinos geschafft hatten.

Ungläubig hatte er seinen Bruder angeschaut.

Michael hatte seine unausgesprochene Frage beantwortet, indem er mit dem Finger ein Z auf die Holzschatulle malte.

Alejandro hatte sich zurückgelehnt und verblüfft Michaels Blick erwidert. „Das kann nicht dein Ernst sein.“

„Ramon glaubte, dass Joaquin den Rest seines Lebens ein Bandit geblieben wäre, wenn er nicht den Ring von einem absolut ehrenwerten spanischen Adligen beim Kartenspiel gewonnen hätte. Unser Vater war sicher, dass Joaquin durch den Ring etwas bekommen hat – einen Teil von sich selbst, den er bis dahin nicht kannte: seinen Sinn für Gerechtigkeit. Leider hatte Dad von alldem keine Ahnung, als er den Ring nach dem Tod seines Vaters, der bei einem Streit erstochen worden war, fand. Er war damals sechzehn und versetzte ihn. Erst viel später wurde ihm bewusst, was er getan hatte, als er in Spanien lebte und mehr Informationen über das Schmuckstück bekam. Ich glaube, das war vielleicht der Grund dafür, dass er in die USA zurückgekehrt ist. Weil er auf der Suche nach dem Vermächtnis seiner Familie war. Weil er das Leben führen wollte, das ihm zustand. Und er hat all das gefunden. Es hat ihn verändert.“

Alejandro hatte die Tischkante umklammert, als könnte er dort Halt finden. War sein Bruder doch nicht so nüchtern und rational, wie er geglaubt hatte?

„Ich soll glauben, dass Ramon sein Leben total geändert hat – wegen eines Rings?“, hatte er ungläubig gefragt.

Zum Glück hatte Michael den Kopf geschüttelt und die Augen verdreht, er glaubte an diese Legende also genauso wenig wie er selbst.

„Nein, natürlich nicht. Dad war ja nicht dumm, Alex. Aber er wollte daran glauben und sein Leben grundlegend verändern. Schließlich hat er es geschafft, die Herkunft des Rings zurückzuverfolgen. Laut diesem Tagebucheintrag …“, er zeigte Alejandro ein in Plastik gehülltes Papierbündel, „war Don Diego, der ursprüngliche Besitzer des Rings, vielleicht schlecht beim Kartenspiel, hatte jedoch einen sehr stark ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, unstillbare Abenteuerlust und …“, er wedelte mit den Blättern, „… einen unwiderstehlichen Charme. Sobald Joaquin den Ring trug, besaß auch er diese Eigenschaften. Er setzte eine schwarze Maske auf und schwang den Degen, um für die Armen und Unterdrückten zu kämpfen. Er hatte unzählige Geliebte und wurde zur Legende.“

Aus diesem Gespräch hatte Alejandro drei Schlüsse gezogen.

Erstens: Aus den Papieren ging tatsächlich hervor, dass er ein Nachkomme von Joaquin Murrieta war, dem berüchtigten Banditen aus Kalifornien, um den sich zahllose Legenden rankten.

Zweitens: Sein leiblicher Vater hatte seine erste Familie tatsächlich wegen nichts weiter als einer Legende verlassen.

Drittens: Der Glaube an diese Legende hatte aus Ramon einen anderen Menschen gemacht.

Alejandro strich mit dem Finger über den Ring, den er in die Schatulle zurückgelegt hatte. War mehr als ein Mann aus der Familie der Murrieta durch dieses Schmuckstück auf den rechten Weg gebracht worden?

Wie Michael richtig vermutet hat, brauche ich keine solche Hilfe, um zu wissen, was richtig und was falsch ist, dachte Alejandro. Er war ein Mann mit strengen moralischen Prinzipien und hatte nie Probleme gehabt, Frauen für sich zu gewinnen. Aber nun wusste er nicht, wie er Lucienne verführen sollte, ohne ihre gute berufliche Beziehung aufs Spiel zu setzen.

Allerdings musste er zugeben, dass seine Abenteuerlust nicht sehr ausgeprägt war. Im Gegensatz zu Michael, der oft sein Leben riskierte, um Kriminelle hinter Schloss und Riegel zu bringen, konzentrierte er sich lieber auf das Geschäft und seine Familie. Er fand seine Erfüllung darin, einen besonders guten Preis für ein Kunstwerk zu erzielen oder einen Wettbewerber aus dem Feld zu schlagen.

Jetzt war er allerdings um die halbe Welt gereist, in eine Stadt, die berühmt war für ihre Schönheit, ihre Geschichte und ihre Kultur. Und was hatte er hier unternommen? Hatte er Restaurants ausprobiert oder sich ins Nachtleben gestürzt? Nein, er hatte sich tagsüber im Auktionshaus verschanzt und nachts in seinem Hotelzimmer.

Was, wenn dieser Ring das ändern würde? Was wäre, wenn er auch ihn verändern würde? Würde er vielleicht verwegener werden?

Eigentlich war er von Natur aus skeptisch und schätzte niemals einen Kunstgegenstand, ohne ihn selbst in der Hand gehabt zu haben. Selbst wenn er Handschuhe trug, konnte er feststellen, wie die Oberfläche eines Porzellans beschaffen und wo es hergestellt worden war. Er konnte das Alter bestimmter Ledersorten am Geruch erkennen und den Bleigehalt von Kristallgläsern feststellen, indem er mit dem Daumennagel an ihren Rand schnippte und dem Klang lauschte.

Warum streifte er sich nicht einfach Ramons Ring über, dann würde er ja sehen, was an dieser Legende stimmte.

„Alejandro?“

Der Klang von Luciennes Stimme ließ ihn wohlig erschauern. Er schob den Ring in die Hosentasche, schloss den Deckel des Kästchens und drehte sich um. „Ja?“

Ihr Blick glitt von ihrer Armbanduhr zu seinem Schreibtisch und blieb an der Schatulle hängen. „Wollten wir uns nicht treffen?“

„Natürlich“, erwiderte er und stand auf.

Sie bewegte sich so anmutig wie immer, als sie eintrat und näher kam. Ihr Duft – etwas Blumiges mit einer frischen Note – stieg ihm in die Nase.

„Darf ich?“ Sie deutete auf das Schmuckkästchen.

Er zögerte, nickte jedoch schließlich. Es gehörte ihm noch nicht einmal, er hatte nichts zu verbergen.

Bis auf den Ring in seiner Hosentasche.

Lucienne streifte ein Paar Baumwollhandschuhe über. Fast hätte er ihr gesagt, dass es sich nicht lohne, doch er hatte keine Lust auf neugierige Fragen.

„Sehr hübsch gemacht“, bemerkte sie, und jede einzelne Silbe klang für ihn wie Musik. „Mahagoni. Elfenbein- und Perlmuttintarsien, hier an der Ecke ist ein Stück ausgebrochen und … oh!“, sie drehte ihm die Seite der Schatulle zu, in der sich ein tiefer Kratzer befand. „Das Stück ist wohl doch zu unansehnlich.“

Wie der Mann, der es zuletzt besessen hatte, war das Schmuckkästchen alles andere als makellos. Alejandro sagte jedoch nichts, denn er wollte Luciennes Meinung hören. Nicht weil er das Stück verkaufen wollte, sondern weil er mittlerweile ihre Kenntnisse zu schätzen wusste. Außerdem hörte er ihr gerne zu, weil ihr Akzent ihn an zu Hause erinnerte.

„Dieses Muster lässt auf das späte achtzehnte oder frühe neunzehnte Jahrhundert schließen“, stellte sie fest. Sie drehte das Kästchen um und untersuchte die Unterseite. Nachdenklich runzelte sie die Stirn, als sie die glatte Holzfläche betrachtete. „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich es öffne?“

„Aber nein.“

Sie ließ den Verschluss aufschnappen. Als sie feststellte, dass die Schatulle leer war, roch sie daran.

Sie strich mit den Fingern über das Futter. „Seide.“

Sie beugte sich vor, sodass das Licht der Lampe auf die Schatulle fiel. Allerdings nahm er das nur am Rande wahr, denn auch Luciennes tiefer Ausschnitt wurde beleuchtet.

Wie es sich für ein kostbares Kunstwerk gehörte.

Er stellte sich vor, ihre vollen Brüste zu berühren, doch sie riss ihn gleich wieder aus seinem Tagtraum.

„Hier!“, rief sie aufgeregt.

Sie klappte ein Stück des Seidenfutters zurück, sodass man einen winzigen in das Holz eingebrannten Siegelabdruck sehen konnte. „Ich kenne diesen Namen nicht, aber das Siegel ist wohl von Hand gemacht worden. Auch wenn die Schatulle in keinem sehr guten Zustand ist, sollten wir in Anbetracht des Alters und der Qualität der Intarsien zweihundertfünfzig bis fünfhundert Dollar dafür bekommen. Falls das Schloss funktioniert, vielleicht sogar noch mehr.“

Vorsichtig schloss Lucienne den Deckel, blickte dann abrupt auf und sah Alejandro direkt in die Augen. „War etwas darin?“

Der Ring in seiner Tasche schien zu pulsieren. Alejandro kämpfte gegen den Impuls, die Hand in die Hosentasche zu schieben. Stattdessen rückte er näher an seinen Schreibtisch heran.

„Zweihundertfünfzig bis fünfhundert Dollar, fragwürdiger Zustand … das lohnt sich nicht“, beschloss er.

Lucienne stellte das Schmuckkästchen zurück auf den Schreibtisch. „Alle anderen Stücke sind wesentlich beeindruckender als diese Schatulle“, sagte sie. „Im Großen und Ganzen hatte Ihr Vater einen exquisiten, wenn auch exzentrischen Geschmack.“

Alex warf dem Porträt seines Vaters einen erbosten Blick zu. „Tja, dann ist dieses Stück wahrscheinlich auch zu exzentrisch, ich gebe es bei der nächsten Gelegenheit Michael zurück. Im Moment würde ich lieber das Gespräch fortsetzen, das wir vorhin begonnen haben.“

„Über meine Bewertungen?“ Sie ließ sich in dem Sessel ihm gegenüber nieder. Wenn sie sich doch nur stattdessen auf seinen Schoß setzen würde! „Ich hoffe, sie sind höher, als Sie annahmen.“

Alex legte Luciennes Bericht auf den Papierstapel, den Michael ihm gegeben hatte. „Ihre Schätzungen sind fundiert, Ihre Arbeit war immer hervorragend, und ich kann Ihnen gar nicht genug für Ihren unermüdlichen Einsatz bei der Vorbereitung dieser Auktion danken.“

Lucienne setzte sich auf. Er sah Zorn in ihren Augen aufblitzen – genau darauf hatte er gehofft.

„Das hört sich an, als wollten Sie mich entlassen.“

Er wusste es zu schätzen, wenn eine Frau gleich auf den Punkt kam.

„Sie haben es erraten.“

Lucy hätte sich fast verschluckt. Das konnte doch nicht sein. Sie öffnete den Mund, um Alejandro Aguilar gründlich die Meinung zu sagen. Doch dann fiel ihr ein, dass das zwar eine angemessene Reaktion für Lucy Burnett sein mochte, aber nicht für Lucienne Bonet.

Also hob sie nur die Augenbrauen und zwang sich, ruhig zu bleiben. Langsam streifte sie die Baumwollhandschuhe ab, einen Finger nach dem anderen.

„Sind Sie sicher, dass das die beste Entscheidung ist?“, fragte sie kühl.

Er beugte sich vor. „Es scheint Sie nicht besonders aufzuregen“, stellte er fest.

Sie lächelte sarkastisch. „Würden Sie es sich anders überlegt haben, wenn ich hysterisch reagiert hätte?“

Er grinste. „Sind Sie zu so etwas überhaupt fähig?“

Sie warf die Handschuhe auf die Tischplatte, entschlossen, weiter ruhig zu bleiben, obwohl ihr Herz so heftig pochte, dass sie schwören könnte, es müsste im ganzen Raum zu hören sein. Bis jetzt hatte sie geglaubt, noch mindestens eine Woche Zeit zu haben, um Ramons Ring zu finden. Alejandro hatte sie schließlich nicht nur für die Vorbereitung der Auktion engagiert, sondern auch für den reibungslosen Ablauf des Versands der Objekte. Da alle anderen entlassen worden waren, war sie davon ausgegangen, dass er ihre Dienste bis zum Schluss benötigen würde.

Offenbar doch nicht.

„Das Dramatisieren überlasse ich lieber Frauen, die ein Talent dafür haben“, erwiderte sie, „aber in unser beider Interesse sollten Sie mir genauer erklären, warum Sie unsere Zusammenarbeit so frühzeitig beenden.“

Ja, das war gut. Wenn sie ihn reden ließ, könnte sie ihm widersprechen. Sie war nicht sicher, ob sie ihn dazu bewegen könnte, seine Entscheidung zurückzunehmen, aber sie musste es wenigstens versuchen.

Es sei denn, Michael hatte sie erkannt und Alejandro gegenüber geoutet?

Das würde natürlich alles erklären.

Aber wenn das der Fall wäre, hätte Alejandro sie dann nicht gemeinsam mit Michael direkt auf ihre Beziehung zu Danny angesprochen?

So, wie er sie jetzt anschaute, könnte man meinen, sie sei ein saftiges Steak.

Lucy vertraute ihrem weiblichen Instinkt und schlug die Beine übereinander, wohl wissend, dass ihr Rocksaum dabei ein beträchtliches Stück höher rutschte. Da sich der Schreibtisch zwischen ihnen befand, wusste sie zwar nicht, ob Alejandro es überhaupt bemerken würde … Seine Schultern spannten sich an.

Er hatte es bemerkt.

„Es ist keineswegs so, dass Sie etwas falsch gemacht hätten.“ Seine Stimme klang ein bisschen gepresst. Plötzlich stand er auf und griff nach der Dokumentenhülle aus Leder, die auf dem Schreibtisch lag.

Lucy ließ langsam die Hand an ihrem Bein tiefer gleiten und tat so, als würde sie einen Fussel entfernen.

Als Alejandro den Blick endlich wieder auf ihr Gesicht richtete, glühten seine Augen.

Wenn sie doch nur nicht die Klimaanlage verstellt hätte, es war viel zu heiß hier drin.

Jetzt drehte er sich zum Bücherregal um, und sie atmete erleichtert auf. Sie war eigentlich nicht hier, um Alejandro zu verführen, aber wenn Daniel nicht so tief in der Klemme säße, dann würde sie es vielleicht versuchen. Hochgewachsen, schlank, aber muskulös und in jeder Hinsicht beeindruckend, das war Alejandro Aguilar – ein Mann, von dem Frauen träumten. Er trug sein schwarzes Haar glatt am Kopf anliegend, doch sie wusste, ein Mal mit der Hand hindurchfahren hätte genügt, um einen sexy Wuschelkopf daraus zu machen. Er hielt sich so stolz und gerade wie ein Matador, und trotz des lässigen Schnitts seiner Hose konnte man erahnen, dass sich darunter ein Prachtexemplar von Körper befand.

Alejandro verstaute die Dokumente und ging dann um seinen Schreibtisch herum auf Lucy zu. Sie bewegte die Beine ein Stück nach links, um einer Berührung auszuweichen, obwohl eine Berührung in Anbetracht seiner heißen Blicke vielleicht taktisch das Klügste gewesen wäre. Vom ersten Augenblick an, als sie mit zitternden Händen Alejandro ihren gefälschten Lebenslauf präsentiert hatte, hatte sie sein Verlangen gespürt – und ihr eigenes verleugnet. Bis jetzt hatten ihre Flirtversuche nur dazu gedient, ihn abzulenken und zu manipulieren. Daniel hasste seinen Bruder schon aus Prinzip. Auch Michael tolerierte er nur, weil es nicht schaden konnte, einen Agenten in der Familie zu haben, für den unwahrscheinlichen Fall, dass er einmal vom FBI verhaftet werden sollte.

Doch je mehr Zeit Lucy mit Alejandro verbrachte, desto schwerer fiel es ihr, ihre Gefühle zu unterdrücken. Er schätzte sie wegen ihrer Arbeit. Und auch wenn er, sobald er sich unbeobachtet fühlte, ständig auf ihren Po starrte, so schaute er ihr doch immer in die Augen, wenn er mit ihr redete. Er lachte nicht oft, aber wenn er es tat, dann klang es absolut echt und herzlich. Er hatte perfekte Manieren und einen ausgezeichneten Geschmack.

Abgesehen davon bekam er ungefähr vierzehn Punkte auf der von eins bis zehn reichenden Skala für Sex-Appeal.

Wegen Daniel musste Lucy jedoch ihre eigenen Bedürfnisse unterdrücken und sich auf ihre Aufgabe konzentrieren. Alejandro wusste nicht, wer sie war. Er wusste nicht, dass sie bei einer Mutter aufgewachsen war, die ihre Tochter Jahr für Jahr durch neue, jüngere, niedlichere Pflegekinder ersetzte. Und bei einem Vater, der so mit seiner Aufgabe als Museumskurator beschäftigt war, dass er gar nicht merkte, dass sein Kind alles auswendig lernte, was er schrieb, sei es über die Kunst im alten Mesopotamien oder über den Schwarzhandel mit mittelalterlichen Waffen im neunzehnten Jahrhundert. Alejandro mochte ihre umfangreichen Kenntnisse schätzen, aber er hatte keine Ahnung, wie sie sich diese angeeignet hatte – oder warum.

Für Danny hatte sie Lucienne Bonet erfunden – eine Frau, mit der sie bis auf ihre kunstgeschichtlichen Kenntnisse nichts gemeinsam hatte. Wegen Alejandro hatte sie Lucienne mit einem besonders kultivierten Stil und hervorragenden Referenzen ausgestattet. Wegen ihm hatte sie ihr Haar künstlich verlängern und dunkel färben lassen und sich Kontaktlinsen besorgt, die ihre grünen Augen dunkelbraun erscheinen ließen. Sie hatte gründliche Nachforschungen angestellt über Alejandros Geschmack, bevor sie ihre Garderobe zusammengestellt hatte, von der Designerbluse bis zu den extrem hochhackigen Schuhen.

Die Verwandlung war ihr nicht leichtgefallen, aber es ging um Danny. Hatte sie eine andere Wahl?

Um sie zu schützen, hatte Danny ihr nie erklärt, was genau sein Problem war. Sie wusste nicht, wer ihm das Leben schwer machte und weshalb. Aber da er normalerweise niemals zugab, wenn er Hilfe brauchte, musste er wirklich ernsthaft in Gefahr sein, wenn er sie um Unterstützung bat.

Daniel hatte irgendeinen Deal ausgehandelt: seine körperliche Unversehrtheit im Austausch gegen Ramons Ring. Sobald ich den Ring gefunden habe, kann ich endlich wieder mein eigenes Leben führen.

Wenn Alejandro sie jetzt entließ, dann hatte sie keine Chance mehr. Sie überlegte, ob sie ihm im Vertrauen auf seinen ausgeprägten Familiensinn einfach reinen Wein einschenken sollte, doch sie verwarf den Gedanken gleich wieder. Daniel hatte es ihr verboten, und sie kannte Alejandro auch gut genug, um zu wissen, dass er für das Problem seines Bruders, der das schwarze Schaf der Familie war, wenig Verständnis aufbringen würde. Der Mann war schließlich unfehlbar.

Was Lucy von sich selbst nicht gerade behaupten konnte. Umso mehr faszinierte es sie an Alejandro.

„Nun …“, sie sah ihn herausfordernd an, „… warum sagen Sie mir nicht, womit ich mir diese Kündigung verdient habe? Ich habe unglaublich hart gearbeitet, um diese Sammlung für die Auktion vorzubereiten. Ich denke, ich hätte es verdient, den Verkauf bis zum Ende zu begleiten.“

„Oh, das haben Sie“, versicherte er und lehnte sich scheinbar lässig mit der Hüfte gegen den Schreibtisch. „Und noch viel mehr.“

Er ließ den Blick über ihren Körper wandern, von ihren Brüsten bis zu ihren Beinen. Die hauchdünnen Strümpfe hatten sie ein Vermögen gekostet, doch allein für diesen Augenblick hatte es sich gelohnt.

„Zum Beispiel?“

Alejandro räusperte sich. Er sah ihr tief in die Augen, während er in die Brusttasche seines Jacketts griff und einen schneeweißen Umschlag hervorzog. „Wie wäre es für den Anfang damit?“

Teils neugierig, teils ängstlich, streckte sie die Hand aus. Vielleicht hatte er Informationen über ihre Verbindung zu Daniel?

Sie löste keine Sekunde den Blick von Alejandros Gesicht, während sie den Umschlag aufklappte und zwei Blätter entnahm.

Das erste war ein erstklassiges Empfehlungsschreiben, das zweite ein Verrechnungsscheck.

Über eine Summe mit sehr vielen Nullen.

Nicht genug, um Daniels Problem zu lösen, aber vielleicht genug, um für seine Sicherheit zu garantieren, bis sie doch noch Ramons Ring finden würde.

„Was ist das?“, fragte sie.

„Ihre Provision. Oder zumindest das, was Ihnen voraussichtlich zustehen wird. Sollten die Einnahmen höher sein, werde ich dafür sorgen, dass Sie die noch ausstehende Summe bekommen.“

„Und wenn sie geringer ausfallen?“

Alejandro zuckte lässig mit den Schultern, dann beugte er sich vor und stützte sich mit beiden Händen auf den Armlehnen ihres Stuhls ab. Ein würziger Duft, ein Hauch von Tabak und Leder entströmte seinem makellos weißen Hemd. „Unser Geschäft beinhaltet immer gewisse Risiken. Das sollte es mir wert sein, solange ich dafür mehr Zeit mit Ihnen verbringen kann.“

Lucy schob Scheck und Empfehlungsschreiben zurück in den Umschlag und versuchte zu verbergen, wie sehr ihre Hände zitterten. „Ich dachte, Sie wollen mir kündigen.“

Seine Augen glühten. „Allerdings. Aber nur weil ich sehr strikte Prinzipien habe und niemals meine eigenen Angestellten verführe.“

Ihr Herz pochte wild, das Atmen fiel ihr schwer.

Er lächelte breit. „Überrascht Sie das?“

Sie öffnete den Mund, doch erst als Alejandro sich noch ein Stück weiter vorbeugte, brachte sie ein sehr leises „Nein“ heraus.

So leise, dass es kaum zu hören war, doch er hatte sofort verstanden.

Er hob eine Braue, bewegte sich jedoch nur wenige Zentimeter von ihr weg. „Ich glaube, jetzt überraschen Sie mich.“

Nur ein Atemzug trennte sie von Alejandros Lippen. Bis zu dem Augenblick, da er die unsichtbare Grenze ihres Territoriums überschritten hatte, war ihr gar nicht bewusst gewesen, wie lange sie schon keinen Mann mehr geküsst hatte – geschweige denn einen Mann, der Skrupel hatte, die Situation einer Angestellten auszunutzen.

Die es eigentlich nur darauf abgesehen hatte, ihn zu bestehlen.

Lucy musste sich sehr anstrengen, um so zu reagieren, wie es zu Lucienne Bonet passen würde. „Sie haben doch wohl nicht erwartet, dass ich mich einfach so in Ihre Arme werfen würde, oder?“

Er sah sie überrascht an. „Ich dachte, die Anziehung beruhe auf Gegenseitigkeit.“Sie lächelte erleichtert, als er sich noch ein Stück weiter zurückzog und sie wieder Luft holen konnte. „Wer sagt, dass das nicht der Fall ist?“

„Sie reagieren nicht gerade enthusiastisch auf das Angebot …“

„In Ihr Bett zu hüpfen?“

Sein Lächeln wirkte leicht sarkastisch. „So anmaßend bin selbst ich nicht.“

Sie hob eine Braue. „An was dachten Sie dann?“

„Wir sind hier in San Francisco“, erwiderte er. „Eine Stadt, die für ihr interessantes Nachtleben bekannt ist. Vielleicht fangen wir mit einem Abendessen an, oder mit einem Konzert. Oder mit einem Spaziergang im alten Hafenviertel. Ich habe außer diesem Auktionshaus und der Lobby meines Hotels kaum etwas von der Stadt gesehen. Das würde ich gern ändern. Mit Ihnen.“

Wieder glitt sein Blick begehrlich über ihren Körper. Es war klar, dass er vor allem mehr von ihr sehen wollte, möglichst in unbekleidetem Zustand. Sofort wurden ihre Brustwarzen hart und drückten gegen die hauchdünne Spitze ihres BHs. Heißes Verlangen durchzuckte sie. Er war scharf auf sie – sie war scharf auf ihn.

Und das hatte nichts mit Daniel zu tun.

Und nichts mit dem Ring.

Aber sie musste ihre Rolle weiterspielen.

„Und Sie finden, Sie sollten mich für den Zeitaufwand entschädigen?“ Sie wedelte mit dem Umschlag.

Das strahlende Weiß seiner Zähne bildete einen starken Kontrast zu seinem dunklen Teint. Sein Lächeln warf sie fast um. Sie hatte das Gefühl zu zerschmelzen.

„Sie wissen, dass das nicht meine Absicht ist“, sagte er.

„Sie wollen also nur, dass unser Verhältnis nicht durch irgendwelche geschäftlichen Beziehungen beeinflusst wird?“

„Wären Sie nicht so perfekt für diese Aufgabe qualifiziert gewesen, dann hätte ich Sie vielleicht gar nicht erst eingestellt, sondern Sie gleich verführt. Es war also eine Frage der Selbstkontrolle. Jetzt ist die Sammlung vollständig katalogisiert, und Sie haben eine großzügige Provision. Auf professioneller Ebene haben wir beide profitiert. Ab jetzt gibt es zwischen uns nur noch eine persönliche Ebene.“

Lucy stützte sich mit beiden Händen auf den Armlehnen ab und stand langsam auf. Alejandro wich keinen Zentimeter zurück, sodass sie sich fast berührten, als sie auf ihren hohen Absätzen balancierte. Ein Candle-Light-Dinner? Ein Spaziergang im japanischen Teegarten des Golden Gate Parks? Um ehrlich zu sein, sie wollte mehr. Viel mehr!

Sie blickte an sich herab. Jetzt war es an ihr, den ersten Schritt zu tun. Alejandro hatte die Hände in die Taschen geschoben, aber sie wusste, sie müsste nur das richtige Signal geben, dann würde er mit beiden Händen zupacken, sie an sich reißen und an seine muskulöse Brust drücken. Sie würde sich an ihn pressen und ihn wild und gierig küssen …

„Wie persönlich?“

Seine Antwort ließ ihr Herz schneller schlagen. „Das überlassen Sie einfach mir.“

4. KAPITEL

„Und hast du ihm von Danny erzählt?“

Michael stöhnte. Er hatte noch nicht einmal den Sicherheitsgurt seines Dienstwagens angelegt. Es war typisch für Ruby, so schnell und direkt auf den Punkt zu kommen. Er war froh, bei den Verhören auf ihrer Seite zu stehen.

„Er hat mir beim Abschied auf die Schulter geklopft, erinnerst du dich?“

„Stimmt.“ Sie nickte. „Wenn er gerade von seinem zweiten Bruder erfahren hätte, wärst du wahrscheinlich mit einem Fußtritt verabschiedet worden.“

„Nur weil besagter Bruder inhaftiert ist, angeklagt wegen schweren Diebstahls und, falls dieser Sicherheitsmann stirbt, auch wegen Mordes. Mit mir konfrontiert zu sein ist schwierig genug für Alejandro. Ich schätze, er ist noch nicht dazu bereit, sich auch noch mit Daniel auseinanderzusetzen. Das bin ich ja eigentlich selbst nicht, nur dass ich wohl keine Wahl habe.“

Ruby klappte die Sonnenblende herab und blickte in den Spiegel. Sie schien sich ungewöhnlich stark für ihre Ohrläppchen zu interessieren. „So ist Danny-Boy eben. Er sorgt dafür, dass es in deinem Leben niemals langweilig wird.“

„Haha.“

Michael ließ den Motor an. Er hatte Alejandro nur die halbe Wahrheit über den DNA-Fund am Tatort erzählt. Die Geschichte von dem Ring hatte ihn offenbar so abgelenkt, dass er nicht auf die Idee kam, sich zu fragen, von wem das Blut auf dem Bilderrahmen sein mochte, wenn es weder von ihm selbst noch seinem Vater stammte.

Dabei war es ganz einfach, es stammte von einem weiteren Sohn – Daniel. Dem Sohn, zu dem Ramon sofort hatte Kontakt aufnehmen wollen, nachdem er von dessen Existenz erfahren hatte. Dem Sohn, der sich allen Versöhnungsversuchen seines Vaters widersetzt hatte. Das FBI hatte Danny damals verhört, doch der hatte mit einer absolut überzeugenden Geschichte aufgewartet, die sowohl sein Blut am Tatort erklärte als auch ein wasserdichtes Alibi für ihn darstellte. Und als das gestohlene Bild dann auch noch auf unerklärliche Weise wieder beim ursprünglichen Besitzer landete, wurde der Fall zu den Akten gelegt. Michaels Karriere hatte das zum Glück nicht geschadet.

Es würde bestimmt nicht einfach sein, Alejandro damit vertraut zu machen, dass dieser Daniel sein Bruder war. Für Alex war es selbstverständlich, anständig und ehrlich sein Geld zu verdienen. Außerdem war es schwierig genug, damit leben zu müssen, dass sein Vater ihn verlassen hatte. Dass es einen weiteren – kriminellen – Bruder gab, würde ihn sicher belasten. Das wollte Michael ihm nicht auch noch zumuten.

„Früher oder später wird er von Danny erfahren“, sagte Ruby.

„Später ist doch auch okay.“ Langsam fuhr er die Straße hinab. Warum war er nur so nervös?

„Meinst du nicht, er wird es dir verübeln, dass du es ihm nicht früher gesagt hast?“

„Wenn ich ihm, nach allem, was er gerade über Ramon erfahren hat, erzähle, dass wir noch einen Bruder haben, dann reist Alex ab, bevor er auch nur einen einzigen Ohrring verkauft hat.“

„Das Geld ist dir doch egal“, widersprach Ruby.

„Mir schon, aber meine Mutter braucht es dringend. Und wenn sich diese Kidnapping-Fälle so entwickeln, wie ich es befürchte, dann werde ich keine Zeit haben, mich um den Verkauf der Sammlung zu kümmern. Außerdem möchte ich, dass wir uns im Guten trennen, wenn er nach Madrid zurückgeht.“

„Da wir gerade von Ringen sprechen …“, Ruby betrachtete sich erneut im Spiegel, „… seine Assistentin schien sich auffallend für den Ring zu interessieren, den dein Vater trug.“

Michael hielt ein wenig zu abrupt an einem Stoppschild an.

„Die Kunstexpertin?“

„Ja, genau die.“

„Wie hieß sie noch gleich?“

„Ich habe ihren Ausweis nicht überprüft“, sagte Ruby und klappte den Spiegel hoch.

„Aber du hast nach ihrem Namen gefragt.“

„Lucienne“, antwortete Ruby mit übertriebenem französischem Akzent. „Lucienne Bonet.“

„Ist sie aus Paris?“

„Aus New Orleans, behauptet sie jedenfalls.“

„Du glaubst ihr nicht?“

Ruby hob die Schultern. Das war kein gutes Zeichen. Von allen Leuten, mit denen Michael bist jetzt hier in San Francisco zusammengearbeitet hatte, besaß Ruby die beste Menschenkenntnis. Sie konnte aus einer Ansammlung von Menschen auf Anhieb die Lügner und Diebe herauspicken. Warum sie nicht längst einer Spezialeinheit angehörte, war ihm ein Rätsel. Allerdings wusste er, dass Ruby lieber in Kalifornien als in Virginia lebte, außerdem legte sie Wert auf ein Privatleben.

„Sie war vielleicht schon mal in New Orleans“, sagte sie, „aber ich weiß nicht, ob sie dort aufgewachsen ist. Irgendetwas an ihrem Akzent ist seltsam.“

„Ich habe sie kaum gesehen.“ Michael versuchte sich an das Gesicht der Frau zu erinnern. Er war heute zu dem Auktionshaus gefahren, weil er Alejandro überreden wollte, den Letzten Willen ihres Vaters zu respektieren und den legendären Ring zu tragen. An die Assistentin hatte er keinen Gedanken verschwendet.

Bis jetzt.

„Du meinst, ich sollte sie überprüfen?“, fragte er.

„Ich sagte nur, dass sie Interesse am Ring deines Vaters gezeigt hat.“

„Und du meinst, das hat weiter nichts zu bedeuten?“

Er hatte Ruby nicht alles über die Legende des Schmuckstücks erzählt, aber sie wusste, dass sein Vater auf dem Sterbebett den Wunsch geäußert hatte, es solle in Alejandros Besitz übergehen.

„Sie hat nur gefragt, ob es den Ring auf dem Wandgemälde tatsächlich gibt.“

„Und du findest nicht, dass das eine merkwürdige Frage ist?“

Wieder hob Ruby die Schultern. „Ich glaube, sie wollte einfach mehr über Alejandro wissen. Sie ist offensichtlich scharf auf ihn. Kein Wunder.“

Michael entspannte sich. Diese Lucienne hatte wochenlang mit seinem Bruder zusammengearbeitet. Alex hätte sie nicht mit so vielen wertvollen Stücken allein gelassen, wenn er ihre persönlichen Angaben nicht vorher gründlich überprüft hätte. Sollte sie ein romantisches Interesse an Alejandro haben, dann konnte er ihn wohl nur beglückwünschen. Er hatte sie zwar kaum von vorne gesehen – aber von hinten war sie jedenfalls ein echter Hingucker.

„Wir Murrietas haben nun mal so eine Wirkung auf Frauen“, bemerkte er stolz.

Ruby schnaubte verächtlich.

„Was denn? Das stimmt.“ Michael dachte an die Legende von Joaquin Murrieta. Ein geheimnisvoller Mann hinter einer Maske wirkte unglaublich anziehend auf Frauen.

„Wie kannst du dir da so sicher sein?“, wollte Ruby wissen. „Wann hattest du denn dein letztes Date?“

„Geht dich gar nichts an“, brummte er.

„Dachte ich’s mir doch“, erwiderte Ruby. „Nun, wenigstens hat einer von euch Murrietas in der Hinsicht Glück. Du und Daniel, ihr macht dem Namen eurer Familie jedenfalls nicht besonders viel Ehre.“

Als Lucienne den Kopf hob und Alejandro in die Augen blickte, war es vorbei mit seiner Selbstkontrolle. Er zog eine Hand aus der Hosentasche und hob Luciennes Kinn. Dann beugte er sich vor und strich mit seinen Lippen über ihre. Wie weich und warm sie sich anfühlten. Lucienne seufzte leise, was ihn dazu ermutigte, mit der Zungenspitze ihre Mundwinkel zu berühren. Als sie ihren Mund öffnete, um seinen Kuss leidenschaftlich zu erwidern, vergaß Alejandro alles um sich herum.

Er wollte über sie herfallen, doch er widerstand dem Impuls und ballte die andere Hand in der Hosentasche zur Faust. Dabei spürte er etwas Hartes.

Der Ring!

Unwillkürlich richtete er sich auf.

Sie keuchte überrascht und riss die Augen auf.

„Lucienne, ich …“

Er wurde von einem lauten Geräusch im hinteren Teil des Auktionshauses unterbrochen. Fast im selben Moment ertönte ein durchdringendes Heulen.

Die Alarmanlage.

Alejandro schob Lucy hinter sich. „Rufen Sie die Polizei.“

Er stürzte zur Tür, doch ein heftiger Schlag und das Geräusch von splitterndem Holz hielten ihn zurück.

„Sie haben Schusswaffen!“, schrie Lucienne, und bevor er reagieren konnte, stieß sie ihn zur Seite, warf die Tür zu und verriegelte sie.

Alejandro überlegte fieberhaft. Zu Hause, im Auktionshaus Aguilar in Madrid, waren Galerie, Keller und Büroräume durch spezielle Stahldoppeltüren und mehrere elektronische Schlösser gesichert. Außerdem patrouillierten Tag und Nacht Wachleute an allen Ein- und Ausgängen und im gesamten Gebäude.

Autor

Julie Leto
Auch als Julie Elizabeth Leto bekannt.
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