Leidenschaft im Lichterglanz

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Ein Kind auf dem Arm ihres Exmannes? Marnie kann es nicht fassen. Mit ihr zusammen konnte Tom sich nie Kinder vorstellen! Und jetzt, im Lichterglanz des Weihnachtsbaums, entdeckt Marnie ungeahnte Zärtlichkeit in Toms Augen … Wirklich nur für seinen Sohn?


  • Erscheinungstag 04.12.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733728892
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Marnie Afton packte gerade für eine Kundin einen Liebesroman als Geschenk ein, als plötzlich das Telefon klingelte. Sie nahm den Hörer ab und warf einen Blick auf die Wanduhr. Noch eine Stunde bis Ladenschluss.

„Afton Bücher – Schreibwaren – Geschenke, was kann ich für Sie tun?“ Sie klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Wange, während sie das Päckchen mit einer Silberschleife und zwei kleinen Teddybären verzierte.

Ihre Großmutter am anderen Ende der Leitung kam ohne Umschweife zur Sache. „Er ist hier.“

Marnie stieß vor Schreck gegen den Lesezeichenständer neben der Kasse und richtete ihn hastig wieder auf. „Was? Jetzt schon?“

„Er hat sich am Flughafen in Nashville ein Auto gemietet und ist sofort losgefahren“, antwortete Jolene Afton.

„Aber er sollte doch noch auf Onkel Norbert und Tante Linda warten, um sie mitzunehmen!“ Nervös ließ Marnie den Blick durch ihre Buchhandlung schweifen. Ihre einzige Kundin war die Frau, die gerade vor ihr an der Kasse stand. Gott sei Dank. Dann konnte sie den Laden heute etwas früher schließen.

„Er hatte es offensichtlich eilig“, fuhr ihre Großmutter fort. „Du wirst dich ihm gegenüber doch hoffentlich zusammenreißen, oder?“

„Natürlich. Ich bin nur …“ Marnie schluckte. Bis zu diesem Augenblick hatte sie sich eingeredet, dass sie ihrem Exmann vier Jahre nach der Scheidung völlig gleichmütig gegenübertreten konnte, aber offensichtlich war das ein Irrtum.

Unwillkürlich sah sie ihn vor sich: die leuchtend blauen Augen, die gebräunte Haut und das unbändige dunkelblonde Haar. Für einen flüchtigen Moment glaubte sie sogar sein Aftershave riechen zu können, von dem sie immer weiche Knie bekam.

Allerdings war sie auch nicht mehr das naive junge Mädchen von früher, das bei seinem bloßen Anblick Herzklopfen bekommen hatte. Mit ihren zweiunddreißig Jahren hatte sie sich inzwischen gut im Griff.

„Ich glaube, Sie haben das Geschenk jetzt reichlich dekoriert“, sagte ihre Kundin, eine Lehrerin an der örtlichen Grundschule, mit einem nachsichtigen Lächeln.

„Oh!“ Marnie senkte den Blick und stellte fest, dass sie gerade eine zweite Schleife an dem Geschenk befestigen wollte. „Na ja, frohe Weihnachten. Ihrer Schwester wird das Buch bestimmt gefallen. Es ist eins meiner Lieblingsbücher.“

„Ich mag es auch sehr. Schöne Feiertage bei Ihrer Großmutter.“ Die Frau nahm das Geschenk und den Kassenbeleg an sich und verschwand durch die Milchglastür.

„Marnie?“, dröhnte Jolenes ungeduldige Stimme aus dem Hörer. „Du weißt doch genau, wie schlecht es für mein Herz ist, mich so lange warten zu lassen!“

„Nur die Ruhe, ich bin gerade dabei, den Laden zu schließen.“ Marnie trat einen Schritt zurück und stieß dabei aus Versehen gegen das Regal hinter sich. Irgendetwas Großes und Pelziges landete auf ihrem Kopf.

Als sie den Teddybären auffing, hätte sie aus Versehen fast das Telefon fallen lassen. „Granny? Entschuldige bitte!“

„Diese ganze Aufregung ist einfach zu viel für mich!“, jammerte Jolene.

„Ich muss nur noch die Kasse schließen und den Computer runterfahren“, versuchte Marnie sie zu beruhigen und legte den Bären ins Regal zurück.

„Ich schwöre, der arme Kerl sieht von Minute zu Minute besser aus!“ Jolene kam immer mehr in Fahrt. „Wenn du dich nicht beeilst, schnappt ihn dir womöglich noch eine andere weg!“

Marnie warf einen Blick in den Spiegel hinter dem Regal. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, einen geblümten Rock und eine Bluse anzuziehen? Viel zu provinziell. Tom war schließlich ein Mann von Welt. Wenn er sie so sah, dachte er bestimmt, dass aus ihr eine Landpomeranze geworden war.

„Ich komme so schnell ich kann, aber ich muss noch mal kurz nach Hause.“

„Lass dir ruhig Zeit“, antwortete ihre Großmutter sarkastisch. „Wen interessiert schon mein hoher Blutdruck?“

Marnie war normalerweise sehr gutmütig, aber auch sie hatte ihre Grenzen. Außerdem wusste sie nach all den Jahren des Zusammenlebens mit ihrer Großmutter, wie gerne diese immer übertrieb.

„Ich komme, wenn ich so weit bin, Jolene“, sagte sie gereizt.

Ihre Großmutter schwieg einen Moment brüskiert. „Na ja, ich will mich nicht zwei Tage vor Weihnachten mit dir streiten“, sagte sie großmütig. „Du kommst doch zum Abendessen, oder?“

„Natürlich, schließlich habe ich es selbst vorbereitet! Nimm gefälligst deine Medizin oder ruf Dr. Spindler an, wenn es dir wirklich so schlecht geht. Und warum lässt du dich nicht endlich von mir zu einem Spezialisten nach Nashville fahren?“

„Dr. Spindler ist seit fünfzig Jahren mein Arzt“, antwortete Jolene mit bewundernswerter Willenskraft für jemanden, dessen Gesundheit angeblich so angegriffen war. „Er hat meine beiden Kinder zur Welt gebracht und wird eines Tages meinen Totenschein ausstellen. Alles andere ist überflüssig.“

Marnie stöhnte genervt auf. „Schon gut, schon gut!“, sagte sie. „Dann bis nachher.“

Nachdem sie aufgelegt hatte, ging sie noch einmal rasch durch den Laden, um ein paar verrutschte Buchumschläge und Preisschilder gerade zu rücken. Ansonsten sah alles so tadellos aus wie immer.

Nach ihrer Scheidung vor vier Jahren war Marnie in ihre Heimatstadt Ryder’s Crossing in Tennessee zurückgekehrt und hatte dort von der Erbschaft ihrer Eltern die einzige Buchhandlung des Ortes gekauft. Später erwarb sie auch noch den Laden nebenan und konnte dadurch die Verkaufsfläche und das Sortiment um Papierwaren und Geschenkartikel erweitern.

Trotz der Konkurrenz durch das Internet und das vierzig Meilen entfernte Nashville lief das Geschäft ausgezeichnet. Ihre Kunden wussten den persönlichen Service, das umfangreiche Angebot, das behagliche Ambiente und die unkonventionellen Artikel, die Marnie auf Messen erwarb, zu schätzen.

Was Tom wohl zu dem Laden sagen wird? fragte Marnie sich unwillkürlich. Aber er würde ihn sich bestimmt nicht ansehen. Er verbrachte nur deshalb die Weihnachtsfeiertage mit ihnen, weil er Marnies Großmutter sehen wollte und nicht seine Exfrau. Der Mann, den Marnie seit der Highschool geliebt hatte, war inzwischen ein Fremder.

Marnie verschloss die Kassenbelege im Safe und schaltete den Anrufbeantworter ein. In den nächsten beiden Tagen – es waren die letzten zwei vor Weihnachten – würde ausnahmsweise ihre Angestellte und Freundin Betty den Laden übernehmen, da Marnie sich auf ausdrücklichen Wunsch ihrer Großmutter freigenommen hatte.

Marnie streifte sich ihre Jacke über, schloss die Ladentür ab und ging durch den Hinterausgang nach draußen, wo der Geruch von Schnee in der Luft lag.

Vor einem Jahr hatte sie das große Glück gehabt, das charmante altmodische Haus gleich auf der anderen Straßenseite kaufen zu können. Früher hatte sie immer davon geträumt, einmal mit Tom in einem solchen Haus zu leben. Nie hätte sie gedacht, mit zweiunddreißig Single und kinderlos zu sein, während Tom in Rom lebte und arbeitete.

Dass es so weit gekommen war, lag Marnies Meinung nach an seiner schwierigen Kindheit: Sein Vater war Alkoholiker gewesen, und seine Mutter hatte die Familie schon früh verlassen.

Nachdem Tom und Marnie sich auf der Highschool angefreundet hatten, hatte Granny ihm angeboten, bei ihnen einzuziehen und auf der Farm auszuhelfen, bis er mit der Schule fertig war.

Nach ihrem Highschoolabschluss gingen er und Marnie dann gemeinsam an die University of Tennessee in Knoxville und verliebten sich dort ernsthaft ineinander. Oder zumindest Marnie.

Mit dem Sex warteten sie bis nach ihrer Hochzeit, so schwer es ihnen auch fiel. Es war für sie beide das erste Mal – eine sehr leidenschaftliche und wunderschöne Erfahrung.

Nach dem Studium begleitete Marnie Tom dann nach Washington, wo er vom Auswärtigen Amt zum Diplomaten ausgebildet wurde. Die ersten Stationen seiner Laufbahn waren Tokyo und Stockholm.

Sie hatten es genossen, gemeinsam die neuen Länder und Kulturen zu entdecken, und der Sex war einfach fantastisch. Für eine Weile hielt Marnie ihre Ehe für perfekt.

Doch dann, nach vier Jahren Ehe, sprach sie zum ersten Mal das Thema Kinder an. Tom reagierte so abweisend, dass er ihr damit einen echten Schock versetzte. Er lehnte es rigoros ab, Kinder zu bekommen, weder jetzt noch in Zukunft.

Zwei Jahre brauchte sie dafür, zu akzeptieren, dass er seine Meinung niemals ändern würde – dass er zwar eine Gefährtin wollte, aber keine Familie. Irgendwann waren die Fronten zwischen ihnen so verhärtet, dass Marnie beschloss, sich von ihm zu trennen, bevor sie einander irgendwann nur noch hassten.

Also kehrte sie nach Tennessee zurück und ließ sich von ihm scheiden. Leider fiel es ihr sehr schwer, über ihn hinwegzukommen, ganz zu schweigen davon, jemand Neues zu finden. In den vier Jahren seither war ihr niemand begegnet, der auch nur ansatzweise die Lücke füllen konnte, die Tom hinterlassen hatte.

Soweit sie wusste, war er ebenfalls noch Single, aber das hatte ihrer Meinung nach überhaupt nichts zu bedeuten. Schließlich war er schon immer ein Einzelgänger gewesen.

Marnie schloss ihre Haustür auf und ging an den antiken Möbeln vorbei, die sie von den Vorbesitzern übernommen hatte. Ihre persönlichen Gegenstände wie Fotos, Bücher und Teddybären verliehen dem Haus eine individuelle Note und machten es sehr behaglich. Im Grunde genommen fehlte nur noch der Klang heller Kinderstimmen und männlicher Schritte, um alles perfekt zu machen.

Marnie ging ins Schlafzimmer und probierte erst ein Kostüm und dann ein elegantes Kleid an, bevor sie sich doch wieder für den Rock und die Bluse entschied. Wozu sich die Mühe machen, Tom zu beeindrucken? Er wusste schließlich, dass sie vom Land kam. Außerdem war er vor nicht allzu langer Zeit selbst ein Landjunge gewesen.

Marnie holte die Tasche mit ihren Geschenken für ihre Großmutter, Tom, ihre Tante Linda, deren Mann Norbert und ihren Cousin Mike, der sich vor einigen Jahren mit seinen Eltern zerstritten hatte. Seitdem hatte ihn niemand aus der Familie zu Gesicht bekommen. Jolene hatte ihn dennoch ausdrücklich hergebeten, in der Hoffnung, dass die drei sich über die Feiertage wieder versöhnen würden.

Jetzt fehlte nur noch Marnies schon vorbereitete Zucchini-Lasagne. Mit Baguette und Salat würde sie bestimmt auch einem Kosmopoliten wie Tom schmecken.

Nachdem sie ihr Gepäck im Auto verstaut hatte, ging es endlich los.

Sie freute sich schon auf die nächsten vier Tage bei ihrer Großmutter. Schließlich gab es nichts Schöneres, als am Weihnachtsmorgen in seinem alten Kinderbett aufzuwachen und sich im Erdgeschoss zu seiner Familie zu gesellen.

Und diesmal ist auch Tom wieder dabei, dachte Marnie wehmütig. Sie nahm sich vor, freundschaftlich mit ihm zu verkehren, auch wenn er nicht mehr zur Familie gehörte.

Sie würde ihm gegenüber einfach neutral und sachlich bleiben. Auf keinen Fall würde sie wieder den Fehler machen, seine aufmerksame Art mit Liebe zu verwechseln.

Nachdem sie die Stadt hinter sich gelassen hatte, überquerte sie einen Fluss und fuhr einige Meilen durch Wälder, die schließlich in winterlich kahle hügelige Felder und Wiesen übergingen.

Als sie an dem einem Nistkasten ähnelnden Briefkasten ihrer Großmutter ankam, dämmerte es bereits. Vor Jahren hatte mal jemand die Briefklappe offen stehen lassen, und tatsächlich hatte daraufhin ein Vogel darin genistet. Bis die Jungvögel flügge wurden, hatte ihr Großvater provisorisch einen anderen Briefkasten aufgestellt.

Marnie bog in die Zufahrt des Hofes ein, auf dem sie den Großteil ihrer Kindheit verbracht hatte. Sie kannte hier alles in- und auswendig – vom Ententeich bis hin zum Bauerngarten, der gerade im Winterschlaf lag. Die Felder hinter dem Haus wurden inzwischen von einem Nachbarn bewirtschaftet, der zum Ausgleich die auf dem Hof anfallenden Reparaturen erledigte.

Das dreistöckige graue Farmhaus aus Holz und die wettergegerbte Scheune waren die beiden Hauptgebäude. Hier hatten mehrere Generationen von Aftons ein bescheidenes, aber friedliches Leben geführt.

Neben Grannys Kombi entdeckte Marnie ein unbekanntes hellblaues Mietauto. Sie parkte ihren Wagen und stieg aus. Als sie gerade den Kofferraum aufklappen wollte, spürte sie, dass sie beobachtet wurde. Instinktiv wusste sie, dass es sich um Tom handelte.

Unwillkürlich lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sich zu einem Lächeln zwingend, drehte sie sich um, um ihren Exmann zu begrüßen.

Er stand vor der Garage und sah in der Holzfällerjacke und mit dem ihm unordentlich in die Stirn fallenden Haar gerade alles andere als weltmännisch aus. Er trug enge Jeans, die seine muskulösen Beine betonten.

Wie oft hatte sie früher diese schmalen Hüften und harten Schenkel berührt …

Marnie spürte, dass ihre Brustwarzen bei seinem Anblick unwillkürlich hart wurden und ihr das Blut in den Unterleib schoss. Als habe ihr Körper in den letzten vier Jahren eine Art Winterschlaf gehalten und erwache erst jetzt wieder zu neuem Leben.

Sie konnte hören, dass er scharf einatmete. Offensichtlich ging es ihm ebenso wie ihr. Die Chemie zwischen ihnen stimmte also noch immer, aber Marnie wusste aus schmerzlicher Erfahrung, dass das nichts mit echter Liebe zu tun hatte.

„Du hast dir die Haare schneiden lassen“, stellte er fest.

„Stimmt, die langen Haare haben mich irgendwann genervt.“ Unwillkürlich fasste Marnie sich an den Kopf. Sie hatte ihr Haar früher hüftlang getragen, nach der Scheidung jedoch auf Schulterlänge kürzen lassen. „Hilfst du mir, die Sachen hier ins Haus zu tragen?“

„Eigentlich wollte ich mich erst unter vier Augen mit dir unterhalten“, antwortete Tom und legte den Kopf schief – eine alte Angewohnheit, wenn er unsicher war.

Plötzlich kam Marnie sich selbst wie ein schüchterner Teenager vor. Am liebsten wäre sie davongelaufen, aber sie zwang sich, stehen zu bleiben und seinem Blick standzuhalten. „Na schön, reden wir“, antwortete sie kurz angebunden. „Wie geht es dir?“

„Gut.“ Tom öffnete den Mund, als wolle er noch mehr sagen, zögerte dann jedoch. Was war bloß los mit ihm? Er beherrschte drei Sprachen und hatte während des Studiums einen ersten Preis im Debattierclub gewonnen. Normalerweise war er also nicht so auf den Mund gefallen.

Fieberhaft suchte Marnie nach einem neutralen Gesprächsthema. „Die Konferenz in Malta letzten Sommer muss ja ganz schön aufregend gewesen sein“, sagte sie. Tom hatte dort nämlich bei einer Wirtschaftskonferenz mitgearbeitet.

„Dann hat Granny dir also davon erzählt?“

„Nein, es stand in der Zeitung.“

„Wirklich?“ Tom schnaubte geringschätzig. „Ich hätte nicht gedacht, dass den hohen Tieren hier meine Existenz überhaupt bewusst ist.“

„Wieso? Du bist immerhin einer unserer erfolgreichsten Highschoolabsolventen“, wandte Marnie ein, doch Tom schüttelte nur den Kopf.

„Wie läuft eigentlich deine Buchhandlung?“, wechselte er das Thema.

„Ich kann gut davon leben.“ Nach Abzug ihres Gehalts blieb Marnie meistens noch genug Gewinn für Neuinvestitionen übrig. „Granny freut sich übrigens sehr, dass du wieder da bist. Sie redet schon seit Wochen über nichts anderes mehr.“

„Das war doch selbstverständlich“, antwortete Tom irritiert. „Nachdem sie mir gesagt hat, dass dieses Weihnachten ihr letztes sein könnte, habe ich sofort einen Flug reserviert.“

„Hat sie das wirklich gesagt?“, fragte Marnie betroffen.

„Ja. Wusstest du das etwa nicht?“

„Nein, sie klagt schon so lange über Herzbeschwerden, dass ich das gar nicht mehr richtig ernst nehme.“ Marnie hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen.

„Sie hat mir geschrieben, dass ihr Zustand sich verschlechtert hat“, antwortete Tom.

Unwillkürlich schossen Marnie die Tränen in die Augen. Doch sie wollte nicht in seiner Gegenwart weinen, nahm sich zusammen und schlang die Arme um sich.

„Also deshalb kommen Tante Linda und Onkel Norbert extra aus Chicago“, sagte sie. Normalerweise blieb ihr Onkel, ein Pastor, Weihnachten immer bei seiner Gemeinde.

„Hast du schon gehört?“ Als Tom auf sie zukam, um die Sachen aus dem Kofferraum zu holen, stieg Marnie unwillkürlich sein männlicher Duft in die Nase, halb Aftershave und halb sein eigener unverwechselbarer Geruch. „Der O’Hare-Flughafen ist wegen eines Schneesturms gesperrt. Wahrscheinlich geht der Flugverkehr erst morgen wieder los.“

„Na hoffentlich tut er das dann.“ Marnie hatte noch keine Wetternachrichten gesehen. „Und wie sieht es in Santa Fe aus? Mein Cousin Mike wollte nämlich auch kommen.“

„Weiß ich nicht.“

Tom griff an Marnie vorbei nach dem Koffer und der Tüte mit Geschenken, wobei er sie aus Versehen streifte. Sofort überlief es sie heiß, doch falls er etwas Ähnliches empfand, gelang es ihm gut, es zu verbergen. „Willst du etwa Weihnachtsmann spielen?“, fragte er. „Das ist ja ein Riesenberg Geschenke.“

„Ich habe einen Laden, schon vergessen?“, antwortete Marnie, wobei sie sich um einen lockeren Tonfall bemühte. „Du hast doch bestimmt auch eine Menge mitgebracht.“

„Nur ein paar Kleinigkeiten.“ Tom stand so dicht vor ihr, dass sie ihn geradezu schmecken konnte. Plötzlich beugte er sich gefährlich dicht über sie und senkte verführerisch die Lider.

Ob er sie jetzt küssen würde? Marnie spürte, dass sie nicht die Kraft dazu hatte, ihn daran zu hindern – und sie wollte es auch gar nicht.

Doch unvermittelt richtete er sich wieder auf und nahm das Gepäck aus dem Auto. „Ich muss dir noch etwas sagen, Marnie. Es hat sich einiges verändert.“

Marnie empfand seinen abrupten Rückzug wie einen Schlag ins Gesicht. „Ach, wirklich?“, sagte sie schroff und nahm die Tasche mit dem Abendessen aus dem Kofferraum. „Nach vier Jahren Unabhängigkeit bin ich auch nicht mehr dieselbe wie früher.“

„Das brauchst du mir nicht zu sagen“, murmelte er.

Für ein paar Sekunden sprach niemand von ihnen ein Wort.

„Es wird allmählich kalt“, sagte Marnie schließlich. Der Wind hatte aufgefrischt, doch die innere Kälte, die sie empfand, hatte nichts mit dem Wetter zu tun. „Lass uns reingehen.“

„Ich wollte dir nur noch kurz sagen, dass …“

„Das kann warten“, unterbrach Marnie ihn und floh Richtung Haus.

2. KAPITEL

Tom hatte eigentlich vorgehabt, Marnie bei der Garage sofort auf das anzusprechen, was sie im Haus erwartete, anstatt sie nur stumm anzustarren. Aber irgendwie war er in ihrer Gegenwart total befangen gewesen. Er hatte einfach Angst gehabt, das Falsche zu sagen – falls es überhaupt möglich war, die richtigen Worte zu finden.

Außerdem hatte er zu seinem Entsetzen feststellen müssen, dass er auf ihren Anblick sofort körperlich reagierte und ihre Nähe fast so intensiv spürte wie eine Berührung.

Anscheinend hatte er sie doch noch nicht überwunden.

Dass er sie – wenn auch unbeabsichtigt – hintergangen hatte, machte die Situation nicht leichter.

Unwillkürlich musste er daran denken, wie sie sich zum ersten Mal an der Highschool begegnet waren. Sie hatte gerade vor ihrem Spind gestanden, als er bei ihrem Anblick ins Stolpern gekommen war und seine Bücher fallen gelassen hatte.

Marnie hatte ihm nur einen überraschten Blick zugeworfen und war in ihr Klassenzimmer gegangen. Tom hatte mehrere Monate gebraucht, bis er den Mut aufgebracht hatte, sie anzusprechen.

Um sie mit seiner Sportlichkeit zu beeindrucken, war er in den Turnverein der Schule eingetreten, und selbst nachdem er bei ihr und ihrer Großmutter eingezogen war, hatte er in ihrer Gegenwart nie das Gefühl der Ehrfurcht ablegen können – er hatte sie immer als etwas sehr Seltenes und Kostbares empfunden, das wie durch Zauberhand in sein Leben getreten war.

Dass sie ihn verlassen hatte – seiner Meinung nach der Beweis, dass sie ihn nicht so liebte, wie er war –, hatte ihn daher noch stärker getroffen als der Auszug seiner Mutter. Es war das Schlimmste, was ihm je zugestoßen war.

Ob er deshalb gerade ein so starkes Verlangen empfunden hatte, sie in die Arme zu nehmen und sich mit ihr zu versöhnen? Aber vermutlich hatte er ohnehin keine Chance bei ihr. Die hatte er sich gründlich vermasselt, wenn auch unbeabsichtigt.

Als er sah, wie Marnie die Stufen zur Veranda hochstieg und die Haustür öffnete, lief er unwillkürlich los. „Warte!“, rief er und rannte kurz nach ihr durch die Tür – seitlich, damit ihr Koffer und die Tasche mit den Geschenken hindurchpassten. „Es gibt da etwas, dass ich dir unbedingt noch …“

In der Diele blieb Marnie so abrupt stehen, dass er fast in sie hineingerannt wäre. Über ihren Kopf hinweg sah er Cody aus Jolenes Zimmer kommen.

Der blonde Junge sah Marnie interessiert an. „Hi!“

Nervös hielt Tom die Luft an.

„Hallo! Wer bist du denn?“, fragte Marnie gleichzeitig belustigt und verwirrt.

„Cody“, antwortete der Kleine.

„Also, ich heiße Marnie. Lässt du mich mal vorbei, damit ich diese Sachen hier in der Küche abstellen kann? Dann schüttle ich dir gern die Hand.“ Vorsichtig ging sie um das Kind herum, blieb dann jedoch stehen. „Wo ist denn deine Mutter?“, fragte sie. „Seid ihr neu in der Gegend?“

„Habe keine Mutter“, antwortete der kleine Junge und rannte auf Tom zu. „Das ist mein Daddy!“

Marnie glaubte zunächst, sich verhört zu haben. „Was hast du gesagt?“

Tom hielt es für klug, sich jetzt einzuschalten. „Ich wollte es dir eigentlich schon eher sagen, aber ich wusste nicht, wie“, gestand er. „Ich habe Granny vor einem halben Jahr geschrieben, dass ich einen Sohn habe, aber offensichtlich fehlten ihr ebenfalls die richtigen Worte, um es dir zu sagen.“

Ein Kind? Tom hatte ein Kind?

Marnie starrte den Jungen wie betäubt an. Sein Haar war heller als das von Tom, aber die Ähnlichkeit zwischen den beiden war unverkennbar.

Wie war das nur möglich? Sie und Tom waren doch erst seit vier Jahren geschieden. Der Junge sah aus, als sei er etwa zweieinhalb. Tom musste also schon kurz nach der Trennung eine andere Frau gefunden haben.

Marnie hätte sich gern eingeredet, dass diese Frau nur eine Art Trostpflaster für ihn gewesen sein konnte, aber sie wollte sich nichts vormachen. Sie hatte immer gewusst, dass er seine Meinung zu Kindern ändern würde, sobald er die Richtige fand.

Kein Wunder, dass Granny ihr nichts von dem Kind erzählt hatte. Es tat verdammt weh, dass der Mann, den sie so sehr geliebt hatte, so schnell neues Glück gefunden hatte.

Und es auf diesem Wege zu erfahren, war einfach grausam. „Warum hast du mir nicht geschrieben, dass du verheiratet bist?“, fragte sie mit zitternder Stimme. „Ist das denn zu viel verlangt?“

„Ich bin nicht verheiratet“, murmelte Tom, während sein Sohn in die Küche marschierte.

„Hält deine … deine Freundin etwa nichts von der Ehe?“

„Es gibt keine Freundin.“

Als Tom die Hände in die Hosentaschen schob, sah er plötzlich wieder so aus wie früher als Jugendlicher. „Cody war sozusagen ein Unfall.“

Marnie unterdrückte das in ihr aufsteigende Gefühl der Erleichterung. Andererseits geschahen Unfälle nicht einfach so, schon gar nicht erwachsenen Männern, denen es in ganzen sechs Jahren Ehe perfekt gelungen war, kein Kind zu zeugen. „Was meinst du damit?“

„Ich war etwas leichtsinnig geworden“, gestand Tom. „Glaub mir, es war nie meine Absicht, ein Kind zu bekommen.“

Trotz seines schuldbewussten Gesichtsausdrucks glaubte Marnie ihm kein Wort. „Er ist ein total süßer kleiner Junge!“, sagte sie wütend. „Sprich bitte nicht über ihn, als sei er eine streunende Katze!“ Sie folgte Cody in die Küche.

Der vor einigen Jahren modernisierte Raum erstreckte sich über die gesamte Rückseite des Hauses. Vom Fenster aus konnte man den Rosengarten sehen, hinter dem sich winterkahle Felder erstreckten.

Von Jolene fehlte jede Spur. „Wo ist Granny?“, fragte Marnie Tom, der ihr in die Küche gefolgt war.

„Sie ruht sich gerade etwas aus.“

„Als sie mich vor einer halben Stunde anrief, klang sie noch ganz munter!“

„Okay, sie versteckt sich vor dir“, gab Tom zu. „In ihrem Schlafzimmer. Das ist doch kein Verbrechen, oder?“

Wütend knallte Marnie die Auflaufform mit der Lasagne auf den Tisch und stellte den Backofen an. Die Küche war wirklich verdammt eng. Zumindest zu eng für sie und einen Mann, den sie am liebsten gerade auf den Mond geschossen hätte.

„Ich will vino“, sagte Cody.

„Was?“ Fassungslos wirbelte Marnie zu Tom herum. „Du gibst dem Kind Wein zu trinken?“

„Warum nicht? Wir leben doch in Italien.“ Toms Augen funkelten belustigt auf.

„Unfassbar! Absolut unglaublich!“, stammelte Marnie wutentbrannt.

„Beruhige dich.“ Tom ging an ihr vorbei zum Kühlschrank und holte eine Flasche mit einer roten Flüssigkeit heraus. „Er meint nur Traubensaft.“

Vino ist italienisch für Wein! Damit bringst du ihn doch nur auf dumme Gedanken! Warte nur, bis mein Onkel hier eintrifft!“ Als Pastor hatte Norbert Galloway ziemlich rigide Moralvorstellungen.

Autor

Jacqueline Diamond
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