Leidenschaft wie am ersten Tag

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Als Jillian das Haus ihres Ex-Verlobten Dexter Piersall betritt, erkennt sie sofort, dass sie diesem atemberaubenden Mann noch immer nichts entgegenzusetzen hat. Dabei hätte sie allen Grund, ihn zu verachten! Und als er ihr dann einen Heiratsantrag macht, zerreißt es ihr fast das Herz: Liebt er sie wirklich oder geht es ihm nur um die Zukunft seiner Firma?


  • Erscheinungstag 09.08.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733742768
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Jillian kam es so vor, als wäre ihr leichtes Sommerkostüm aus schwerer Schurwolle, während sie in ihren Pumps über den unebenen Boden ging. Die Sonne brannte vom Himmel, und das dunkle Jackett ihres Begleiters fühlte sich heiß an.

Es hatte eine Woche lang geregnet, doch seit drei Tagen wurde Baltimore mit einem Bilderbuchwetter verwöhnt, dem wunderbaren Altweibersommer. Der Boden war getrocknet, das kräftige Gras stand in vollem Grün, und die Vögel sangen an diesem herrlichen Septembertag aus voller Kehle.

Jillian bemerkte das alles nicht.

Das Doppelgrab wirkte wie eine frische Wunde in der ausgedehnten Rasenfläche. Jillian ließ den Arm ihres Begleiters los, und er blieb hinter ihr stehen bei den anderen Trauergästen. Sie nahm allein Platz auf einem der Klappstühle, die für die Familie reserviert waren.

Doch es gab keine Familie. Jillian und Charles waren zusammen aufgewachsen, wie Bruder und Schwester, aber sie waren nicht verwandt. Und Alma, Charles’ Frau, war das einzige Kind ihrer verstorbenen Eltern gewesen, daher war auch von ihrer Seite niemand anwesend. So war Jillian die einzige Angehörige unter den Trauernden.

Nein, das stimmte nicht ganz. Es gab noch jemanden. Jillian hatte ein sehr korrektes und höfliches Fax verschickt, um die traurige Nachricht zu übermitteln. Doch sie war sicher, dass der Empfänger nicht an der Beerdigung teilnehmen würde.

Jillian verfolgte diesen Gedanken nicht weiter. Der Pfarrer begann mit der Zeremonie, und das Flüstern unter den Trauergästen verstummte. Jillian brannten die Augen, während sie auf die beiden weißen Särge unter den Bäumen starrte. Sie weinte nicht. Nie. In Gedanken wiederholte sie die Worte des Pfarrers, der Alma Bender Piersall und Charles Edward Piersall als Geschäftsleute, eifrige Mitarbeiter in der Gemeinde, aktive Kirchenmitglieder und großzügige Spender für wohltätige Zwecke pries.

Charles Edward Piersall trug jedoch Schuld an den Ereignissen, die Jillians große Liebe zerstört hatten. Trotzdem hatte sie Charles geliebt.

Sie hatten zusammen im Sandkasten gespielt und waren auf Bäume geklettert. Als Teenager hatten sie nackt im Fluss gebadet, bis Charles’ Vater es herausgefunden und ihnen den Po versohlt hatte. Sie hatten ihre Jugendlieben gegenseitig begutachtet und waren Arm in Arm zur Abschlussfeier der Highschool gegangen. In der schwierigsten Zeit ihres Lebens waren sie füreinander da gewesen. Und obgleich sie sich in den letzten Jahren nicht oft gesehen hatten, war der Gedanke, dass Charles am anderen Ende der Stadt lebte, für Jillian immer ein Halt gewesen.

Hinter ihr erhob sich ein Raunen, und sie schaute sich verärgert um. Die Leute hatten heutzutage einfach keine Manieren.

Sie nahm eine Bewegung wahr. Das war doch … Nein, unmöglich! Als sie erkannte, wer sich durch die Menge nach vorn schob, schien es ihr für einen Augenblick, als schwankte der Boden unter ihr. Sie holte tief Luft, warf den Kopf zurück und sah wieder nach vorn. Charles’ älterer Bruder Dexter – Travers Dexter Piersall der Vierte –, trat vor und setzte sich neben sie.

Panik stieg in ihr auf, und nur mühsam bezwang sie ihren Impuls, vom Stuhl aufzuspringen. Doch eine Flucht war nicht möglich. Außerdem, sagte sie sich grimmig, bist für gewöhnlich nicht du diejenige, die wegläuft. Zornig ballte sie die Fäuste und kämpfte gegen die Abneigung und den Schmerz an, aus denen in den vergangenen Jahren Hass geworden war. Nein, sie würde sich durch Dexters unerwartete, unerwünschte Teilnahme nicht vertreiben lassen.

Die Stimmen hinter ihr wurden lauter, und aus den Augenwinkeln sah sie, dass Dexter den Kopf wandte. Die Leute verstummten.

Warum hatte er nur keinen Bauchansatz oder eine dicke Brille? Oder eine Glatze? Schon ein kleiner Mangel hätte genügt.

Sie hatte ihn nur kurz angeblickt. Doch das hatte gereicht, um festzustellen, dass Dexter immer noch so gut aussah. Er wirkte beinahe noch männlicher als früher, und seine Schultern waren breit und stark wie zuvor. Unter seiner weichen Anzughose verbargen sich schlanke, muskulöse Schenkel, nur wenige Zentimeter entfernt. Der Gedanke an ihre Empfindungen, als diese Schenkel einmal zwischen ihren gelegen hatten, drohte sie zu überwältigen. Und es kostete sie alle Willenskraft, dagegen anzukämpfen.

Glücklicherweise hatte sie selbst auch immer auf ihre Figur geachtet. Sie sah verdammt gut aus, und sie wusste es. Ihr Körper war großartig in Form, da sie auf Kalorien achtete, ihre Fitnessübungen nicht vernachlässigte und Haut und Haar intensiv pflegte. Ihre Fingernägel waren makellos lackiert, ihre Frisur saß perfekt, und ihr schwarzes Sommerkostüm betonte ihre Figur.

Wenn er doch nur ein kleines bisschen weniger jugendlich und frisch ausgesehen hätte, dieser Mann, den sie einmal geliebt und mit dem sie eine Heirat geplant hatte! Zu gern hätte sie ihn angeschaut und sich dabei gefragt, was sie damals eigentlich an ihm gefunden hatte. Stattdessen raubte sein Anblick ihr den Atem, ihr Herz schlug heftig, und sie war völlig verwirrt.

Die Leute hinter ihr murmelten „Amen“, und Jillian wurde bewusst, dass der Trauergottesdienst für Alma und Charles zu Ende ging. Der Pfarrer trat zur Seite, und Jillian erhob sich, um ihrer Pflicht nachzukommen.

Dexter stand ebenfalls auf. Als sie nun nach vorn trat, mit zwei gelben Rosen in der Hand, dem letzten Zeichen ihrer Freundschaft, ergriff er Jillians Arm.

Sie warf Dexter einen wütenden Blick zu und wollte sich losmachen, doch er gab ihren Arm nicht frei. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft schauten sie sich an, und sie bemerkte den spöttischen Ausdruck in seinen Augen. Jillian biss die Zähne zusammen. Wenn er glaubte, sie würde hier eine Szene machen, hatte er sich getäuscht. Sie war hergekommen, um seinem jüngeren Bruder die letzte Ehre zu erweisen …

Charles. Oh Gott, Charles und Alma! Ihr Zorn wich einer plötzlichen Schwäche, als ihr schlagartig der Grund für Dexters Anwesenheit zu Bewusstsein kam. Es war doch nicht möglich, dass Charles tot war, dass er in diesem weißen Sarg lag. Er war der einzige Mensch auf der Welt gewesen, der alles über sie wusste, und sie brauchte ihn. Seine bedingungslose Freundschaft, seine Unterstützung und seine Schulter, an der sie sich ausweinen konnte.

Und Alma. Die liebe, sanfte Alma. Sie war das Beste gewesen, was Charles je begegnet war, und Alma hatte sie wie eine wirkliche Schwägerin akzeptiert. Auch Alma hatte sie damals in ihrem Kummer getröstet.

Dieser Kummer überfiel Jillian jetzt erneut mit aller Macht. Sie presste die zitternden Lippen zusammen und stand einen Augenblick unbeweglich da, ehe sie eine Rose auf jeden Sarg legte und danach zur Seite trat, damit die anderen ebenfalls Abschied nehmen konnten.

Dexters Finger schienen sich durch den Stoff ihres Kostüms zu brennen, und Jillian riss ihren Arm los. „Nimm deine Finger weg, Dexter!“

Er lachte leise bei ihren Worten, doch es klang nicht froh. „Freut mich zu hören, dass du so charmant wie eh und je bist. Ich bin gerade erst hier in der Stadt angekommen. Willst du mich nicht in die Arme schließen und willkommen heißen?“

„Du kommst acht Jahre zu spät.“ Sobald sie es ausgesprochen hatte, hätte sie sich am liebsten die Zunge abgebissen – er sollte nicht denken, es habe ihr so viel bedeutet, dass sie sich noch genau daran erinnerte.

Seine Augen verdunkelten sich, und ein seltsamer Ausdruck zeigte sich auf seinem Gesicht. Beinahe wäre sie erschrocken zurückgewichen. Doch diese Genugtuung gönnte sie Dexter nicht.

Sein Blick streifte die beiden Särge. „Ich habe Charles’ Frau nie getroffen, aber sie muss ja ganz toll gewesen sein, wenn er dich für sie fallen gelassen hat wie eine heiße Kartoffel.“

Wie konnte er nur so herzlos über seinen eigenen Bruder sprechen? „Alma war etwas ganz Besonderes. Charles hat sie verehrt.“

Dexter zog die Augenbrauen hoch. „Und damit warst du aus dem Rennen. Oder hat er die Sache mit dir wieder aufleben lassen, als ihm das Eheleben zu langweilig wurde?“

Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, was er damit meinte. „Was redest du für einen Quatsch! Du hast ja keine Ahnung, was Charles und mich verband. Oh, tut mir leid …“ Sie nickte, als wäre ihr gerade etwas eingefallen. „Ich habe gar nicht mehr daran gedacht, dass es ja schon immer deine Art war, Vermutungen anzustellen.“

Sie stand nun dicht vor ihm. In seinen dunklen Augen erkannte sie Verachtung und ebenso großen Zorn, wie er sie selbst erfüllte.

„Jill?“ Die heisere Frauenstimme klang besorgt. „Was ist los?“

Sie drehte sich um. Ihre Schwester Marina kam auf sie zu und zog Ben, ihren Mann, hinter sich her.

Jillian ging ihr entgegen und nahm ihre Hände. „Nichts ist los.“ Sie versuchte, sich zu beruhigen. „Außer dass wir an der Beerdigung von zwei Menschen teilnehmen, die viel zu früh gestorben sind.“ Sie seufzte. Dexter stand immer noch hinter ihr, doch sie war bemüht, ihn zu ignorieren.

„Marina! Kennst du mich nicht mehr?“

Ich hätte es wissen müssen, dachte Jillian, dass Dexter sich nicht einfach still davonschleichen würde. Er trat neben sie und ergriff nun Marinas Hände. Ein warmes Lächeln lag auf seinem Gesicht, ganz anders als der hasserfüllte Ausdruck, mit dem er sie vorhin begrüßt hatte.

Hilfe suchend wandte ihre Schwester sich an sie. An ihrem Blick war deutlich zu erkennen, dass sie Dexter nicht einordnen konnte.

„Marina, das ist Dexter Piersall, Charles’ Bruder.“

Dexter wollte gerade eine Frage stellen, als Jillian erklärte: „Marina hatte vor einigen Jahren einen Unfall, der einen Gedächtnisverlust auslöste. Sie erinnert sich kaum noch an ihre Kindheit.“

„Charles’ Bruder?“ Marinas große blaue Augen füllten sich mit Tränen. „Ich wusste nicht, dass Charles Verwandte hatte. Es tut mir leid …“

„Schon gut“, unterbrach Dexter ihren Redefluss. „Wir hatten uns jahrelang nicht gesehen und standen uns nicht sehr nah.“ Er warf Jillian einen Blick zu und verzog höhnisch die Mundwinkel. „Nicht so nah wie Charles und Jillian.“

„Hör auf, Dexter!“, sagte Jillian kühl. „Mir sind deine Bosheiten egal, aber du solltest andere Leute nicht damit langweilen.“

Einen Moment herrschte angespannte Stille. Dexter atmete tief durch und wandte sich dann wieder Marina zu. Erneut fiel Jillian auf, wie weich sein Gesichtsausdruck wurde. „Es tut mir leid, dass du dich nicht an mich erinnerst. Wir haben als Kinder viel Schönes zusammen erlebt.“

„Ich bedaure es auch“, antwortete Marina. „Darf ich dir meinen Mann vorstellen, Ben Bradford. Ben, das ist Dexter Piersall, mit dem ich anscheinend als Kind befreundet war.“

Ben reichte Dexter die Hand, doch Jillian merkte, dass ihr Schwager dabei nicht lächelte. Dexter ebenfalls nicht. Und plötzlich dachte sie, wie sehr sich die zwei Männer ähnelten. Beide waren groß und kraftvoll, hatten dunkle Augen und schwarze Haare – doch hatte Bens Haar einen wärmeren Ton und an den Schläfen schon einen Silberschimmer. Bei Dexter war noch kein graues Haar zu entdecken. Vielleicht färbt er sie ja, dachte Jillian boshaft.

„Entschuldige uns bitte“, sagte Ben zu Jillian, „aber ich möchte Marina nach Hause bringen. Es ist sehr heiß hier, und sie braucht Ruhe.“

Marina verdrehte die Augen. „Was heißt hier Ruhe? Wenn ich nach Hause komme, schreit das Baby schon wieder, weil es gefüttert werden will. Das nennst du Ruhe?“

Ben nahm ihren Arm. „Bis später, Jillian.“

Jillian wollte die Gelegenheit nutzen, um Dexter loszuwerden. „Wartet, ich komme mit.“

Aber Dexter griff nach ihrer Hand und hielt sie so fest, dass es schmerzte. „Du kannst noch nicht gehen. Wir müssen noch ein paar Erinnerungen auffrischen.“

„Lass sie los!“ Ben trat auf Dexter zu. Sein Gesicht zeigte Entschlossenheit.

„Ist schon in Ordnung, Ben“, versicherte Jillian hastig. „Dexter und ich müssen tatsächlich noch über einiges reden.“ Als Dexters warme, feste Hand sich um ihre Finger gelegt hatte, hatte ihr Herzschlag für einen Moment ausgesetzt. Obwohl sie Dexter hasste, reagierte ihr Körper immer noch heftig auf seine Nähe.

Aber sie versuchte, sich ihre Erregung nicht anmerken zu lassen und sich aus seinem Griff zu befreien. Dexter ließ sie jedoch nicht los, obgleich ihm klar sein musste, dass sie seine Berührung verabscheute. Sie wollte sich aber nicht einschüchtern lassen, sondern ihm zeigen, dass sie genauso gut austeilen konnte wie er.

Deshalb trat sie dicht zu ihm, ließ die Hand an seiner Brust hinaufgleiten und zog spielerisch seine Krawatte durch die Finger. Zwar hatte sie sich gegen seine Nähe zu wappnen versucht, musste nun aber dennoch die Augen schließen, um nicht zu verraten, welche Gefühle er in ihr wachrief.

Erstaunt ließ er sie los – um in einer vertraulichen Geste den Arm um sie zu legen, die Hand auf ihrer Hüfte ruhen zu lassen und sie dicht an sich zu drücken. Es durchfuhr sie wie ein Stromstoß.

Angestrengt bemühte sie sich, ihre Erregung zu unterdrücken und die Sprache wiederzufinden. „Unter anderem müssen wir uns über Piersall Industries unterhalten, nachdem wir beide nun die Hauptaktionäre sind. Lasst euch nicht aufhalten.“

Dexter war sichtlich überrascht, als sie über die Firma sprach. Anscheinend wusste er noch nicht, dass Charles ihr seine gesamten Piersall-Aktien vermacht hatte. Sie selbst hatte es auch erst heute Morgen erfahren.

Ihre Schwester zögerte, und auch ihr Schwager wollte sie offenbar nicht gern mit Dexter allein lassen. Ben hatte einen ausgeprägten Beschützerinstinkt und war leicht reizbar. Also setzte sie ein Lächeln auf und wartete, bis die beiden sich wieder zum Gehen wandten.

Sobald sie verschwunden waren, trat Jillian zurück, und zu ihrer Überraschung versuchte Dexter nicht, sie festzuhalten. Das war gut so, denn sie zitterte vor Erregung und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.

„Lass meine Schwester aus dem Spiel!“, fuhr sie Dexter an.

„Erinnert sie sich tatsächlich nicht an mich?“

„Sie kann sich an überhaupt nichts erinnern, was vor ihrem Unfall war. Die Glückliche! Ich würde sofort mit ihr tauschen.“ Ehe er etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: „Dexter, du hättest mir wirklich mitteilen können, dass du kommst. Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich eine kleine Feier vorbereitet und alle anderen Versager dieser Stadt eingeladen.“

„Du hast dich verändert. Die Jillian von früher war ein liebenswertes Mädchen, kein Drachen.“

Um keinen Preis hätte sie zugegeben, dass sein Urteil ihr wehtat. „Natürlich habe ich mich verändert“, entgegnete sie schroff. „Ich bin eine erwachsene Frau, habe ein Geschäft und muss sehen, wie ich mit meinem Leben zurechtkomme.“

„Kid’s Place heißt dein Laden, nicht wahr?“

Sie war total überrascht, und ihr Gefühl, dass Unannehmlichkeiten bevorstanden, verstärkte sich. „Woher weißt du das? Du hast doch gesagt, du seist eben erst in der Stadt angekommen.“

Der böse Ausdruck in seinen Augen erschreckte sie so sehr, dass sie zurückwich. „Ich weiß alles über dich, Süße.“

„Nicht alles. Offensichtlich wusstest du nichts von den Aktien.“

„Jill!“, rief eine Männerstimme.

Jillian wandte sich um und zwang sich zu einem freundlichen Lächeln.

„Wie geht es dir, meine Liebe?“ Roger Wingerd kam auf sie zu und umarmte sie kurz. „Ich werde Charles vermissen. Er hat sich so tatkräftig für den Wohltätigkeitsfonds des Lions Club eingesetzt. Bestimmt finden wir keinen Nachfolger, der ihn ersetzen könnte.“

Sie nickte und spürte einen Kloß in der Kehle. „Ich weiß.“

Dexter reichte Roger die Hand. „Dexter Piersall.“

Roger sah ihn groß an, während er ihm die Hand schüttelte und seinen Namen nannte.

„Roger ist der Finanzmanager bei Piersall“, erklärte Jillian. „Er und Charles arbeiteten seit mehreren Jahren zusammen. Roger kannte ihn wahrscheinlich besser als irgendjemand sonst, außer Alma.“ Auf jeden Fall besser als du, signalisierte sie Dexter damit.

Roger beachtete die gespannte Atmosphäre zwischen den beiden nicht. „Mein Beileid. Charles war ein außergewöhnlicher Mensch.“

„Ganz sicher“, murmelte Dexter.

Jillian richtete den Blick auf Roger. „Bleibt es bei unserer Verabredung für Donnerstagabend?“

Roger nickte. „Ich hoffe, dir ist auch noch danach zumute, auszugehen.“

„Bis dahin geht es mir wieder gut“, versicherte sie und genoss es, dass Dexter alles mit anhörte. „Hol mich ab um …“

Dexters tiefe Stimme schnitt ihr das Wort ab. „Sie hat am Donnerstagabend keine Zeit. Und auch an keinem anderen Abend.“

Wütend fuhr sie herum. „Du hast absolut kein Recht, dich in mein Leben einzumischen!“

Aber er sah Roger über ihren Kopf hinweg an, und sein kämpferischer Blick ließ keinen Zweifel offen. „Sie können es auch gleich allen anderen sagen, solange ich in der Stadt bin, hat Jillian für niemanden Zeit.“

Auf Rogers fragenden Blick hin schüttelte sie wild den Kopf. „Er leidet unter Halluzinationen. Wieder einmal. Ich rufe dich an, wenn ich mit diesem unverschämten Kerl einige Dinge geklärt habe.“

Während Roger eilig den Rückzug antrat, wandte sie sich Dexter zu. „Tu das nie wieder! Ich wünsche nicht, dass du meine Freunde einschüchterst und meine Familie vergraulst.“

Dexter zuckte mit den Schultern. „War doch nur Spaß.“

„Verschwinde aus meinem Leben! Das hast du ja schon einmal getan. Es wird dir sicher nicht schwerfallen, genau wie damals heimlich die Stadt zu verlassen.“

Er schaute auf die Uhr, als hätte er sie gar nicht gehört. Sie hätte am liebsten mit den Fäusten auf ihn eingeschlagen. Achselzuckend meinte er: „Für einige Zeit werde ich wieder zu deinem Leben gehören, Süße. Du solltest dich mit dem Gedanken vertraut machen.“

Ehe sie antworten konnte, ging er davon.

Stunden später hatten die letzten Freunde, die zu Charles’ und Almas Beerdigung gekommen waren, den Empfang verlassen. Jillian hatte viele weinende Trauergäste getröstet und etliche Päckchen Papiertaschentücher verbraucht.

Nun fuhr sie heim und parkte auf dem Parkplatz des Hauses, in dem sie eine Eigentumswohnung besaß. Jillian war unglaublich müde, und ihre Glieder schmerzten, als sie ausstieg und zum Haus ging. Doch anders als ihr Körper war ihr Geist wie betäubt. Als könnte er noch gar nicht richtig begreifen, was geschehen war.

Seit dem wirren Anruf der Haushälterin der Piersalls, die von der Polizei über den Unfall benachrichtigt worden war, erschien Jillian alles so unwirklich. Jemand hatte Charles und Alma identifizieren müssen, und da sich sonst niemand fand, hatte sie das übernommen.

Ihre Freunde waren sofort tot gewesen, als ein betrunkener Autofahrer mit seinem Wagen frontal gegen ihr Fahrzeug geprallt war. Kaum etwas in ihrem Leben war für Jillian so schrecklich gewesen wie der Anblick der Überreste der beiden Menschen, die sie geliebt hatte.

Im Dunkeln suchte sie nach ihrem Schlüssel und stieß sich den Fuß an der Stufe zu ihrer Veranda. Sie wollte nur noch ins Bett fallen und schlafen.

„Was …?“ Erschrocken hielt sie den Atem an, als eine Gestalt aus dem Schaukelstuhl aufstand und auf sie zukam. Ihr Herz klopfte heftig, und als sie den Mann erkannte, schlug es sogar noch schneller. „Verflixt, Dexter, du hast mich fast zu Tode erschreckt!“

„Tut mir leid.“ Aber es klang eher amüsiert.

„Verschwinde!“ Sie ging um ihn herum, sehr darauf bedacht, ihm nicht zu nah zu kommen, und steckte den Schlüssel ins Schloss. „Ich bin müde. Ich habe dich nicht hergebeten.“

„Ich habe mich selbst eingeladen. Wir haben eine Menge zu besprechen.“ Er trat näher. Seine Augen glitzerten. „Wir können zusammen essen gehen. Morgen Abend. Ich hole dich um sieben ab.“

„Du träumst wohl!“ Sie schüttelte den Kopf und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Wenn er doch nicht so dicht bei ihr stehen würde! „Morgen Abend habe ich schon etwas vor. Tut mir leid, ich habe keine Zeit für dich.“

Jillian schloss die Tür auf und wandte Dexter den Rücken zu.

„Dein Mietvertrag für Kids’ Place läuft nächsten Monat aus.“

Sie hielt mitten in der Bewegung inne. „Du hast dich gut informiert.“

„Der von Sugar’s ist im November fällig, von Cotton Gin ebenfalls.“

Das hatte sie nun von ihrer Überheblichkeit. „Und was bedeutet das für mich?“ Sugar’s und The Cotton Gin waren zwei andere Läden in dem Einkaufszentrum, in dem sich auch Kids’ Place befand.

„Es bedeutet, dass du gerade mit dem neuen Eigentümer des Downington Plaza sprichst. Dem Eigentümer, der Mietverträge verlängern kann oder auch nicht.“

Das war zu viel am Ende dieses schrecklichen Tages. Erschöpft sank Jillian in den Schaukelstuhl. Allmählich wurde ihr die Bedeutung von Dexters Worten klar. Ihm gehörte das Gebäude! Und er würde ihren Mietvertrag nicht verlängern! „Warum?“, fragte sie matt. „Warum tust du mir das an? Du hast mir schon so viel Kummer bereitet …“

„Ich habe dir Kummer bereitet?“ Sein heftiger Ausbruch erschreckte sie. „Was hast du mir denn angetan? Was glaubst du, wie ich mich gefühlt habe, als ich entdeckte, dass meine Verlobte und mein einziger Bruder ein Verhältnis haben? Was glaubst du, wie mir zumute war, als ich euch Liebesworte austauschen hörte in dem Bett, in dem wenige Stunden zuvor wir gelegen hatten?“

Er stützte sich auf die Armlehnen des Schaukelstuhls, sodass sie darin wie gefangen war. „Pech für euch, dass ich an jenem Abend so früh nach Hause kam, und verdammtes Glück für mich! Zumindest habe ich rechtzeitig gemerkt, was du für eine kleine Schlampe bist, sonst hätte ich dich noch geheiratet.“

Knisternde Spannung herrschte in dem Schweigen, das nun folgte. Sein Gesicht war nur Zentimeter von ihrem entfernt, und sie hoffte, dass ihr Ausdruck genauso feindselig war wie seiner. Nur mit aller Willenskraft gelang es ihr, ihr Zittern unter Kontrolle zu bekommen.

Angespannt wandte Dexter sich ab. Er lehnte einen Arm an die Wand und legte den Kopf dagegen.

Trotz ihrer Furcht und ihrer Wut wäre sie gern zu ihm gegangen und hätte seine Schultern gestreichelt und ihn in die Arme genommen, bis er seinen Kummer vergaß.

War sie eigentlich noch zu retten?

Betont verächtlich erklärte sie: „Habe ich dich richtig verstanden? Wenn ich morgen Abend nicht mit dir essen gehe, wirfst du mich und mehrere Unbeteiligte aus unseren Läden hinaus?“

Dexter richtete sich auf. „Wenn es sein muss.“ Er wandte sich zu ihr um, doch sie konnte seinen Blick nur undeutlich erkennen. „Ich habe nach der Beerdigung den Familienanwalt aufgesucht. Er hat mir bestätigt, dass Charles dir seine Aktien vermacht hat.“ Seine Stimme klang bitter. „Als Bezahlung für geleistete Dienste?“

Sie atmete tief durch und zählte bis zehn. „Ich habe keine Ahnung, weshalb Charles mir sein Aktienpaket hinterlassen hat. Es wäre an Alma gefallen, wenn sie ihn überlebt hätte.“

Angespannte Stille. Sie konnte es förmlich spüren, wie ärgerlich Dexter war. Doch er sagte nur: „Da du nun einen Anteil an Piersall Industries besitzt, musst du erfahren, dass die Firma in Schwierigkeiten steckt.“

„Was meinst du mit ‚in Schwierigkeiten‘?“

Er trat aus dem Schatten. Sein Gesicht war sehr ernst. „Wenn wir nichts unternehmen, dann sind deine Aktien nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind.“

„Und was wäre zu tun?“ Ihr lag nicht viel an den Aktien und den Gewinnen, die sie daraus erzielen konnte. Sie hatte ihr Leben auch ohne dieses Vermögen sehr gut gemeistert. Aber für sie als Geschäftsfrau war die Vorstellung, die Firma schließen und eine Menge Leute entlassen zu müssen, ein Gräuel. Und die Firma war die einzige Verbindung, die sie noch zu Charles hatte. Sie wollte sie nicht leichtfertig aufgeben, nicht einmal, um Dexter zu ärgern.

Er beantwortete ihre Frage nicht, sondern sagte nur: „Also morgen Abend um sieben.“ Danach öffnete er die Tür und warf ihr den Schlüssel in den Schoß. „Geh ins Bett. Du siehst schlecht aus.“

Sie konnte nicht einfach dasitzen und seine Beleidigungen hinnehmen. „Wenn ich schlecht aussehe, dann deshalb, weil du wieder in der Stadt bist.“

Jillian saß noch immer im Schaukelstuhl, als Dexter um die Ecke bog und zum Parkplatz ging.

2. KAPITEL

Sie fasziniert mich noch immer, dachte Dexter. Er saß im Auto und lehnte den Kopf zurück, schob den Moment hinaus, in dem er an Jillians Tür klingeln und wieder dieser eisige Ausdruck in ihren Augen stehen würde.

Er hatte geglaubt, er wäre gestern gut auf ihr erstes Zusammentreffen vorbereitet gewesen. Bis sie ihm die Neuigkeit mitgeteilt hatte. Er konnte es immer noch nicht glauben, dass sie nun dreiundzwanzig Prozent der Firmenaktien besaß.

Seit er das kurze, förmliche Fax mit der Todesnachricht erhalten hatte, hatte er sich vorgestellt, wie das Wiedersehen mit ihr ausfallen würde.

Jillian.

Wie sehr hatte er sie gehasst! Es hatte Jahre gedauert, bis seine Gedanken nicht mehr ständig um sie kreisten. Doch mit diesem einen Fax war die Erinnerung sofort wieder lebendig geworden. Bei der Ankunft am Flughafen hatte der Detektiv, den er mit Nachforschungen über Jillian beauftragt hatte, ihm seine Erkenntnisse mitgeteilt. Als er Jillians Weg in den vergangenen Jahren dann vor sich sah, war ihm klar gewesen, dass sie ihm nun einige Fragen beantworten musste. Wenn er erst einmal wusste, weshalb sie einer Heirat mit ihm zugestimmt hatte, obwohl sie offensichtlich Charles geliebt hatte, würde er über die Sache vielleicht hinwegkommen.

Mit einigen Telefongesprächen hatte er sich eine vorteilhafte Position verschafft, sodass er gestern mit einem Gefühl der Befriedigung zur Beerdigung gegangen war. Er hatte sich für einen Kampf gut gewappnet gefühlt und war entschlossen gewesen, Jillian ebenso zu zerstören, wie sie es damals mit ihm getan hatte.

Doch hatte er nicht mit den Gefühlen gerechnet, die ihn durchströmten, als er neben ihr Platz nahm. Der Anblick ihres Gesichts, ihrer schlanken Schenkel unter dem kurzen schwarzen Rock, ihrer langen Beine hatte ihm die Sprache geraubt. Erinnerungen hatten ihn überflutet … An ihren Körper an seinem, an ihre Hingabe, an die kleinen lustvollen Laute, die sie ausstieß, wenn er sie berührt hatte.

Während der gesamten Trauerfeier hatte er sein Verlangen heftig bekämpft. Als Jillian dann aufgestanden war und er das erste Mal wieder ihre ganze Gestalt gesehen hatte, war er von ihrem Anblick überwältigt gewesen. Sie war jetzt zweiunddreißig Jahre alt – und schöner als je zuvor.

Sie hatte ihn kaum beachtet. Er hatte gefühlt, wie sehr sie sich bemühte, ihren Schmerz unter Kontrolle zu halten. Das hatte ihn erneut wütend gemacht. Offensichtlich hatte sie all die Jahre über eine enge Beziehung zu Charles gehabt.

Autor

Anne Marie Winston
<p>Anne Marie Winston lebt im ländlichen Pennsylvania und war früher Lehrerin. Doch als sie wegen ihrer Kinder zu Hause blieb, wusste sie eines Tages, dass es an der Zeit war, etwas Neues zu probieren. 1989 fing sie an, ihre erste Romance zu schreiben, und 1991 verkaufte sie ihr erstes Manuskript...
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