Licht der Hoffnung

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Gerettet! In letzter Minute erreicht Lady Joy im Schneesturm eine Burg. Galant lädt der Earl of Campion sie ein, über die Festtage bei ihm zu bleiben, und fasziniert von ihm, willigt Joy ein. Dabei müsste sie weiter fliehen vor den Häschern, die ihr auf der Spur sind …


  • Erscheinungstag 12.12.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783751504881
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Seine Söhne würden ihn zu Weihnachten nicht besuchen.

Fawke de Burgh, der Earl of Campion, stand da, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Allein in seinem privaten Gemach, hatte er einen der schmalen hohen Fensterläden geöffnet, woraufhin er von einem eisigen Wind und umherwirbelnden Schneeflocken getroffen wurde. Er konnte sich nicht daran erinnern, je ein so schlechtes Wetter erlebt zu haben, und mit einem Kopfschütteln nahm er von der Heftigkeit des Schneesturms Kenntnis, der Grund dafür, warum seine Söhne fernblieben. Im Winter zu reisen, war noch nie ein Vergnügen gewesen, doch niemand würde so dumm sein und sich auf die gefrorenen Wege begeben, wenn dazu noch ein solcher Sturm tobte. Und Campion wollte auf keinen Fall seine Familie in Gefahr bringen, nur weil er als Vater gern seine Kinder gesehen hätte.

Dennoch konnte er seine Enttäuschung nicht leugnen, da er sich daran gewöhnt hatte, zur Weihnachtszeit von seinem Nachwuchs umgeben zu sein. Es war seit einer Weile die einzige Gelegenheit im Jahr, zu der sie alle zusammenkamen, und Campion hatte bislang noch nicht die Frau eines seiner Söhne und seinen jüngsten Enkel zu sehen bekommen.

Vielleicht wäre die Weihnachtszeit erträglicher gewesen, hätten nicht so viele von ihnen in diesem Jahr gefehlt, aber von seinen sieben Söhnen waren nur zwei auf Campion Castle, so wenige wie nie zuvor. Auch wenn er jeden von ihnen im gleichen Maße liebte, wusste der Earl, dass Stephen und Reynold die beiden waren, von denen am wenigsten Frohsinn zu erwarten war. Der kluge Stephen hatte zu viel von seinem Talent im Wein ertränkt, und Reynold begegnete wegen seines verkrüppelten Beins dem Leben mit einer finsteren Miene, die alles Lügen strafte, was er erreicht hatte.

Seufzend trat der Earl von einem Bein aufs andere und hieß den bitterkalten Wind willkommen, der zu seiner düsteren Stimmung passte. Er war zu keiner Zeit davon ausgegangen, dass alle seine Söhne auf Campion bleiben würden, doch er hatte auch nicht erwartet, so viele von ihnen könnten sich anderswo niederlassen. Wer würde Campion übernehmen, wenn er einmal nicht mehr war? Sein unmittelbarer Erbe war Dunstan, doch der Älteste de Burgh hatte mit seinem eigenen Gut und dem Vermögen seiner Frau genug zu tun. Geoffrey und Simon hatten erst vor Kurzem geheiratet und waren zufrieden damit, in den Häusern zu leben, die ihnen bei der Heirat zugefallen waren. Robin kümmerte sich um Dunstans Anwesen im Süden, und der stets nach neuen Abenteuern Ausschau haltende Nicholas hatte sich ihm dort angeschlossen.

Campion war stolz auf das, was sie geleistet hatten und wie eigenständig sie geworden waren, dennoch erfüllte ihre Abwesenheit ihn mit einer gewissen Melancholie. Nicht nur, dass sie ihm fehlten, ohne sie würden die Feiertage nicht dieselben sein. Derartige Feiern waren die Wirkungsstätte der Frauen, wie Campion nur zu gut wusste, der selbst zwei Ehefrauen zu Grabe getragen hatte. In den letzten Jahren war es Dunstans Gemahlin gewesen, die sich um den Schmuck im Saal gekümmert und darauf geachtet hatte, dass keine Tradition vergessen wurde. Wer würde sich um diese Dinge sorgen, wenn sie nicht hier war?

Es war ihnen gelungen, das Weihnachtsscheit hereinzuschleppen, als das Unwetter für einen kurzen Moment nachließ. Natürlich würde es auch ein Festmahl geben. Aber wer sollte sich die Zeit nehmen, um den Weihnachtsstrauch zu schmücken und auf allen Spielen, Geschenken und Liedern zu bestehen?

Campion stellte sich vor, wie er in diese Rolle schlüpfte, aber er konnte sich nicht sonderlich dafür begeistern, zumal Stephen und Reynold seine Bemühungen ohnehin kaum zu würdigen wussten.

Plötzlich hörte er Schritte und legte seine Hände an den Fensterladen. Es stand dem Earl of Campion nicht zu Gesicht, wenn jemand ihn dabei beobachtete, wie er entmutigt aus dem Fenster starrte. Schlimmer noch: Es würde ihm ganz und gar nicht gefallen, wenn ein Diener herbeieilte, um für ihn die Kälte auszusperren, als sei er entkräftet. Ihm war aufgefallen, dass er in der letzten Zeit mehr als üblich umsorgt wurde, was ihm gar nicht recht war. Zugegeben, er war nicht mehr der Jüngste, doch er war hier immer noch der Herr im Haus, und wenn er sich gegen seine Ritter behaupten konnte, dann erst recht gegen seine kräftigen Jungs.

Campion hielt inne, als er im wirbelnden Schnee etwas Dunkles ausmachte, das sich bewegte. Er beugte sich vor, doch der Schnee nahm ihm die Sicht auf das Land unter ihm. Vermutlich war es nichts gewesen, dennoch würde er einen Mann nach draußen schicken, damit der sich auf dem Anwesen umsah. In diesem Augenblick hörte er hinter sich seinen Verwalter rufen: „Mylord! Mylord! Da seid Ihr ja! Habt Ihr sie gesehen? Vor dem Tor ist eine kleine Gruppe eingetroffen, die mit den Elementen ringt.“

Dann war es also keine Täuschung: Es war bei diesem Wetter und so spät am Tag tatsächlich noch jemand unterwegs. Dabei würde bald die Nacht anbrechen.

„Gewährt ihnen Einlass“, sagte Campion, schloss den Fensterladen und wandte sich um, während er sich fragte, wer so gedankenlos auf Reisen gegangen sein mochte. Wäre es einer seiner Söhne, dann wäre die Begeisterung des Earls über ein Wiedersehen von einer solchen Fehleinschätzung des Wetters deutlich getrübt. Aber wer sonst sollte noch unterwegs sein? Sicherlich würde kein Feind es wagen, die Elemente herauszufordern, nicht einmal einer von denen, die dumm genug waren, um einen Angriff auf die berühmte Feste zu wagen. Pilger und alle anderen mit einem Funken Verstand würden ebenfalls längst irgendwo Zuflucht gesucht haben.

Vielleicht ein Bote vom Hof, überlegte er. Aber derartige Nachrichten waren nur selten von erfreulicher Natur, sodass er mit großem Unbehagen sein Gemach verließ. Er kannte seine Pflichten, also würde er jeden Reisenden willkommen heißen, der diesem Wetter trotzte, um jenen Unterschlupf zu erreichen, der Campions Zuhause war. Über die gewundene Treppe erreichte er den großen Saal, wo er einem Diener zu verstehen gab, er solle weitere Fackeln anzünden, und veranlasste, dass für die unbekannten Gäste Essen und Unterkunft bereitgestellt wurden.

Der Verwalter, der seine Nachricht einem wartenden Ritter überbracht hatte, kehrte zu ihm zurück. „Mylord Reynold ist auf dem Weg zum Tor, um die Gruppe zu begrüßen“, erklärte er.

Campion wusste, sein Sohn würde dafür sorgen, dass die Fremden in den Saal gelangten, ganz gleich, wie schlecht das Wetter auch sein mochte. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – sein Bein ihm Schmerzen bereitete, war Reynold willensstärker als jeder andere.

„Soll ich den heißen gewürzten Wein bringen lassen?“, fragte der Verwalter.

Campion nickte und unterdrückte seine Verärgerung darüber, dass er eine solche Selbstverständlichkeit erst noch veranlassen musste.

Als Dunstans Ehefrau noch in der Burg wohnte, hatte sie die Funktion der Burgherrin übernommen und sich so gut um alles gekümmert, was die Speisen und den Haushalt insgesamt anging, dass Campion diese weibliche Note zutiefst vermisste.

Er vermisste diese Note sogar in mehr als einer Hinsicht, wurde ihm wieder einmal bewusst, und dachte dabei an die bevorstehenden Feiertage. Jemand musste den Saal mit Stechpalmen, Efeu und Lorbeer schmücken, und obwohl es in der Burg sauberer zuging als vor Marions Zeit, konnte Campion doch sehen, dass die Wände dringend geschrubbt werden mussten.

Nach dem Dreikönigstag würde er die Dienerschaft anweisen, genau das zu tun. Unterdessen jedoch brannte das Weihnachtsscheit im Saal, der geräumig und gut eingerichtet war. Seine Gäste würden in dieser Nacht froh sein, überhaupt irgendwo untergekommen zu sein.

Von draußen hörte er Pferde, während im Saal erwartungsvolle Stimmen lauter wurden. Eine von ihnen gehörte Wilda, einer seiner Dienerinnen, die beunruhigt zur Tür schaute. Die zutiefst abergläubische Frau maß jeder Einzelheit eine wichtige Bedeutung zu, was Campion lächeln ließ. So hielt sie an dem alten Glauben fest, dass die erste Person, die am Neujahrstag nach Mitternacht die Türschwelle überschritt, ein Vorbote für das vor einem liegende Jahr war. Und sie glaubte, dass ein Besucher an Heiligabend einen Hinweis darstellte, wie glücklich die Feiertage verlaufen würden.

Die Ankunft eines dunkelhaarigen Mannes wurde als gutes Zeichen angesehen, und da Campions sieben Söhne allesamt dunkelhaarig waren, sorgte allein die Ankunft seiner Angehörigen in den vergangenen Jahren regelmäßig für gute Omen. Natürlich glaubte er selbst nicht an solchen Unsinn, doch in seinem Haushalt ging es friedlicher zu, wenn die Abergläubischen besänftigt waren.

Daher rechnete er jeden Moment mit Reynold, dem die Erwartungen der Dienerschaft bestens bekannt waren, doch als dann die Tür aufging, war es nicht sein Sohn, der über die Schwelle trat. Es waren gleich mehrere, von der Kälte geplagte Personen, die hereingeplatzt kamen, allen voran eine zierliche Gestalt in einem weiten Cape, das nach hinten rutschte und so wallende Röcke zum Vorschein brachte. Es war kein Mann, sondern eine Frau, wie Campion erkannte, während seinen Dienern vor Schreck die Luft wegblieb. Sie alle standen da und sahen die Gruppe ungläubig an, als die Frau die Kapuze nach hinten schob und den Blick auf einen schwarzen Lockenkopf freigab. Die wallende volle Mähne fiel bis weit über ihren grünen Wollmantel.

„Hm! Na ja, wenigstens hat sie dunkles Haar“, murmelte Wilda.

Campion musste zunächst sein Erstaunen überwinden, bevor er einen Schritt nach vorn machte. Auch wenn er nichts darauf gab, die Stimmung der Festtage auf der Grundlage der Haarfarbe eines Gastes vorherzusagen, war er doch überrascht, dass eine Frau bei so schlechtem Wetter und zudem an Heiligabend noch unterwegs war.

„Vater, darf ich dir Lady Warwick vorstellen, die eine Zuflucht vor dem Sturm sucht“, sagte Reynold und trat vor.

„Mylady“, erwiderte der Earl mit einem Kopfnicken. „Ich bin Campion und heiße Euch in meinem Haus willkommen. Nehmt doch bitte Platz und erholt Euch von Eurer Reise.“ Die Frau mit dem blassen ovalen Gesicht nickte, woraufhin Campion seinen eigenen, schweren Stuhl vor den Kamin schob. Wortlos ließ sie sich darauf nieder, während er neben ihr stehen blieb und die übrigen Mitglieder ihrer Gruppe musterte.

Er erkannte noch eine Frau, nicht so vornehm gekleidet wie die erste und vermutlich eine Dienstmagd, ferner einige bewaffnete Krieger und eine Handvoll Diener, aber kein Mann war dabei, der ihr Begleiter hätte sein können. Campion überlegte, ob es wohl einen Zwischenfall gegeben hatte, der das Fehlen eines solchen Mannes und die Anwesenheit der Gruppe in seinem Heim erklärt hätte. Seine eigenen Bediensteten nahmen nasse Mäntel entgegen und brachten der Gruppe, die sich nahe dem Kamin zusammengekauert hatte, warme Decken. Campion selbst schaute wieder zu der dunkelhaarigen Frau.

Ihr üppiges Haar erstaunte ihn, trugen doch nur wenige unverheiratete Damen es so offen wie sie. Obwohl es noch feucht war, hatte Campion solch schwarze Locken noch nie gesehen, die so voll und fest wirkten, dass er sich versucht fühlte, nach einer von ihnen zu greifen, um sie fühlen zu können. Er unterdrückte diesen sonderbaren Wunsch und sah zu, wie die schwere Mähne über eine schlanke Schulter glitt. Seine Aufmerksamkeit wanderte derweil weiter nach unten, da die Dame begonnen hatte, ihre Stiefel auszuziehen.

Ganz offensichtlich war ihr Schuhwerk durchnässt und bereitete ihr kalte Füße, dennoch war Campion einen Moment lang verblüfft. Bestimmt wollte sie sich lieber ungestört ihrer Kleidung entledigen, weshalb er sich vorbeugte, um ihr ein Gemach anzubieten, in dem sie ungestört war. Doch aus unerfindlichen Gründen wollte sein Mund kein einziges Wort bilden, während sie mit ihren schmalen Händen an dem Strumpf unter ihrem Saum zog. Er erhaschte einen Blick auf blasse Haut, auf den Schwung eines wohlgeformten Knöchels und den Rist eines zierlichen Fußes. Sofort bekam er sich aber wieder in den Griff und straffte seine Schultern.

Er schaute kurz zu Wilda, die mit dem Rücken zu ihm stand, und stellte erleichtert fest, dass die abergläubische Frau Lady Warwicks Zehen nicht zu sehen bekommen hatte, da eine barfüßige Frau am Weihnachtsfeuer nicht willkommen gewesen wäre, wenn es nach ihrem albernen Glauben ging. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass der Anblick ihn so aufwühlte, redete Campion sich ein, der selbst Mühe hatte, seine Fassung wiederzuerlangen.

Es war schon lange her, seit er sich das letzte Mal in der Gesellschaft einer Frau befunden hatte, die nicht zu seiner Familie gehörte, weshalb er womöglich den Anschluss an veränderte Verhaltensweisen verpasst hatte. So oder so war schnelles Handeln erforderlich, da jeder in der Gruppe vielleicht Erfrierungen davongetragen hatte. Es war seine eigene Reaktion, die getadelt werden musste, überlegte Campion betrübt. Für seinen unverhohlenen Blick und für die durchdringende Hitze, die sich beim Anblick von ein wenig nackter Haut in seinem ganzen Körper auszubreiten begann, gab es keine Entschuldigung. Er war längst viel zu alt für solchen Unfug!

„Wir haben ein Gemach für Euch vorbereitet, Mylady“, sagte er mit so belegter Stimme, dass er sich räuspern musste. Widerstrebend sah er wieder zu der Frau, doch sie hatte bereits ihre Füße unter ihren Röcken verschwinden lassen und nahm von einem Diener einen Kelch mit gewürztem Wein entgegen.

„Vielen Dank, Mylord. Ich muss zugeben, ein warmes Bett wäre jetzt sehr willkommen.“ Diese Aussage kam in einem ernsten Tonfall ohne jede hintergründige Anspielung über ihre Lippen, und doch weckte sie bei ihm Bilder von Bettlaken, die von seinem eigenen Körper gewärmt wurden. Campion wandte seinen Blick ab. Vielleicht hatte er zu viel Zeit in der Gesellschaft seines liederlichen Sohnes Stephen verbracht. Und wo war Stephen eigentlich? Vermutlich wärmte er gerade wieder ein Bett, und ganz bestimmt nicht sein eigenes, überlegte Campion, der seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpresste. Er hatte seine Söhne nicht so erzogen, dass sie wie Mönche leben sollten, dennoch konnte er Stephens gedankenlose Liebeleien nicht gutheißen.

„Danke, dass Ihr uns Einlass gewährt habt, Mylord“, erklärte Lady Warwick, die sofort wieder seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Eine Wolldecke lag um ihre Schultern, den Weinkelch hielt sie mit beiden Händen, um ihre Finger zu wärmen, die ohne den Schutz ihrer durchnässten Handschuhe rosig schienen. Doch sie machte den Eindruck, dass sie sich schon besser fühlte, da sie den Kopf hob und ihn anlächelte, woraufhin Campion vor Schreck die Luft wegblieb.

Sie war eine reizende Person. Das Feuer erfüllte ihre Gesichtszüge mit Leben, und jetzt konnte er deutlich sehen, wie glatt und sanft ihre Haut war, wie voll und lang ihre schwarzen Wimpern waren. Und erst ihre Augen. Sie waren von einem höchst ungewöhnlichen Blau, das an die Farbe von Frühlingsveilchen erinnerte. Campion ertappte sich dabei, dass er sie abermals anstarrte. Kein Wunder, dass seine ganze Familie um ihn besorgt war, denn nur ein Narr oder ein Schwachsinniger konnte von einem hübschen Gesicht so betört sein. Von einem jungen hübschen Gesicht.

Er erwiderte ihr strahlendes Lächeln mit einem würdevollen Nicken. „Ihr seid in meinem Heim willkommen. Aber darf ich fragen, aus welchem Grund Ihr bei diesem üblen Wetter überhaupt unterwegs seid?“

Na bitte, jetzt hatte er sich wieder so im Griff, wie es sein sollte.

Sie setzte sich aufrechter hin, und Campion erkannte eine Kraft, die nicht zu ihrem Alter passen wollte. In ihren violetten Augen leuchtete eine aus Leidenschaft geborene Entschlossenheit und eine Reife, die ihn ihr Alter neu einschätzen ließ. Sie war kein Mädchen mehr, sondern eine Frau, wenngleich sie nicht älter sein konnte als seine Söhne. Doch wo war ihr Ehemann?

„Ich war unterwegs, um Weihnachten bei meinem Cousin zu verbringen, als uns das Unwetter überraschte“, antwortete sie. Sie sah ihm tief in die Augen, als wolle sie ihn herausfordern, über die Dummheit eines solchen Unterfangens zu urteilen, doch Campion entgegnete nichts. Oftmals hielt er es für klüger, zu schweigen, wenn andere redeten, und in diesem Fall lag er mit seinem Urteil genau richtig, denn sie fuhr fort, ohne eine Erwiderung von seiner Seite zu erwarten.

„Dazu muss ich aber auch sagen, dass es nicht so schlimm aussah, als wir uns auf den Weg machten“, räumte Lady Warwick ein. Zwar war sie sich bewusst, fahrlässig gehandelt zu haben, aber ihr entschlossen vorgeschobenes Kinn verriet ihm, dass sie sich dafür von ihm nicht zurechtweisen lassen würde. Campion merkte, wie seine Lippen zuckten. „Gestern Abend waren wir gezwungen, Zuflucht in einem Gasthaus zu suchen, doch da wurden wir von verschiedenen Plagegeistern heimgesucht. Unsere Hoffnung war, noch vor Heiligabend unser Ziel zu erreichen, aber wie Ihr nun selbst seht, Mylord, sind wir jetzt Eurer Gnade ausgeliefert.“

Es gefiel Lady Warwick nicht, andere um Hilfe zu bitten, das war offensichtlich. Campion bewunderte diese Haltung, dennoch hatte er Bedenken, was ihre weitere Reise betraf. „Ich biete Euch und Euren Begleitern gern ein Dach über dem Kopf an, aber was ist mit Eurem Ehemann? Wartet er bei Eurem Cousin auf Euch?“

Bei dieser Frage nahm Lady Warwicks Miene einen eindeutig rebellischen Ausdruck an. „Ich bin verwitwet, Mylord, und ich führe seit vielen Jahren meinen Haushalt selbst“, sagte sie in einem herablassenden Ton, mit dem sie ihn wohl zurechtweisen wollte. Er verkniff sich ein Lächeln, denn wenn schon die arrogantesten und aufgebrachtesten Männer ihn nicht hatten beeindrucken können, dann stellte diese sture junge Frau ganz sicher keine Bedrohung für ihn dar.

„Ich verstehe“, antwortete Campion, der seine Überlegungen für sich behielt. Die Männer aus ihrer Gruppe gingen zur Tafel, um sich etwas zu essen zu holen, woraufhin Campion einem Diener ein Zeichen gab, ihr eine Portion auf einem der Hocker zu servieren.

„Danke“, murmelte sie förmlich. Da er nichts sagte, entspannte sie sich ein wenig, stellte den Kelch ab und nahm sich eine Portion Käse. „Euer Saal ist der schönste, den ich je zu sehen bekam.“

„Ja, aber leider nicht für die Feiertage vorbereitet“, gab er zurück. „Ich fürchte, uns fehlt hier die weibliche Note, zumal meine Söhne wegen des schlechten Wetters nicht mit ihren Ehefrauen herkommen werden. Ehrlich gesagt, ich war mir noch nicht sicher, wie wir das Fest begehen würden, daher kamt Ihr genau rechtzeitig.“

Fragend schaute sie ihn an, während sie an dem Käse knabberte.

„Gäste werden das beleben, was nach sehr ruhigen zwölf Tagen Weihnacht ausgesehen hatte“, fügte er hinzu. Auch wenn sie offensichtlich nur ungern um Hilfe bat, musste sie einsehen, dass sie sich nicht zu schämen brauchte, wenn sie seine Gastfreundschaft annahm. Reisende waren ihm das ganze Jahr hindurch willkommen, erst recht in der Weihnachtszeit.

Ihre violetten Augen wurden größer, während sie schwer schluckte. Schnell beugte sich Campion zu ihr vor, da er besorgt war, sie könne sich verschluckt haben. Doch sie drückte den Rücken durch und hob eine Hand, als wolle sie ihn abwehren. „Nein, ich … oh, aber wir können nicht bleiben. Ich will sagen, wir möchten Euch nicht so lange Zeit zur Last fallen.“

„Ihr wollt doch sicher nicht bei diesem Wetter weiterziehen, nicht wahr?“, fragte Campion überrascht. Ihre Dummheit, zu dieser Reise aufzubrechen, hatte sie ja bereits zugegeben. Wenn sie jetzt versuchte, einen weiteren Anlauf zu unternehmen, dann konnte man ihr mit Fug und Recht jeden gesunden Menschenverstand absprechen.

„Oh, es wird morgen wahrscheinlich schon wieder aufklaren.“

Campion warf ihr einen abschätzigen Blick zu, woraufhin sie zur Seite schaute. Das brachte ihn auf die Frage, ob es noch einen anderen Grund für ihre Reise gab, den sie ihm verschwiegen hatte. Selbst wenn es aufhören sollte zu schneien, waren alle Wege und Straßen tief verschneit, und das wusste sie ganz genau. Ihre Sprechweise und ihr Verhalten ließen keinen Zweifel daran, dass sie eine intelligente Frau war. Warum sollte sie ihr Leben aufs Spiel setzen, nur um einen Cousin zu besuchen?

Eigentlich war Campion niemand, der sich in die Angelegenheiten anderer Leute einmischte, solange diese nicht ihn betrafen. Doch wenn Lady Warwick glaubte, morgen schon wieder aufbrechen zu können, dann befand sie sich im Irrtum. Die starrsinnige Frau würde noch erfroren in einer Schneewehe enden, sollte er ihren Wünschen nachkommen. Und ganz gleich, wie sehr sie es auch gewohnt sein mochte, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen – hier auf Campion hatte er das Sagen.

Doch er wäre nicht der Herrscher über sein eigenes Reich gewesen, hätte er sich zu unklugen Handlungen hinreißen lassen. Darum behielt er seine Meinung vorläufig für sich und hoffte darauf, dass Lady Warwick nach einer ausgedehnten Nachtruhe zur Vernunft kommen würde. Bis dahin würde er es ihr so bequem wie möglich machen, indem er ihr mehr Speisen, mehr Wein anbot, außerdem eine weitere Decke …

„Seid gegrüßt!“ Der Klang von Stephens Stimme veranlasste Campion, in dessen Richtung zu schauen. Am anderen Ende des Saals stand der Sohn, der von allen am besten aussah, abgesehen von seinem leicht zerzausten Haar. Beim Anblick der Gäste reagierte er mit einem Lächeln, bei dem sogar das kälteste Herz dahinschmelzen musste. Campion fühlte sich hin und her gerissen zwischen Stolz auf den Charme des Jungen und Erschrecken über die klägliche Art, wie er diesen Charme einsetzte.

Autor

Deborah Simmons
Die ehemalige Journalistin Deborah wurde durch ihre Vorliebe für historische Romane angespornt, selbst Historicals zu schreiben. Ihr erster Roman "Heart's Masquerade" erschien 1989, und seitdem hat sie mehr als 25 Romane und Kurzgeschichten verfasst. Zwei schafften es bis ins Finale der alljährlichen RITA Awards, einer Auszeichnung für besondere Leistungen im...
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