Liebe, Meer - und ausgerechnet er

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Gemma ist Umweltschützerin und steht mit Leib und Seele zu ihren Überzeugungen. Als der Bau einer Luxussiedlung ihren Heimatstrand bedroht, sieht sie rot - und nur eine Chance, das Paradies zu retten: Sie kettet sich auf einer Versammlung der Baufirma fest! Die Protest-Aktion hat durchschlagende Wirkung - so wie ihr Zusammenstoß mit Rory. Der Boss der Devlin AG scheint ein typischer Immobilien-Hai zu sein: reich, machtgierig … doch leider unglaublich attraktiv. Ist es nur ein PR-Schachzug, als er sie engagiert? Oder hat ihr gemeinsamer Tag am Meer auch ihn verzaubert?


  • Erscheinungstag 23.10.2012
  • Bandnummer 1968
  • ISBN / Artikelnummer 9783954464487
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Wir haben ein Problem.“

Vier Worte, die Rory Devlin nicht hören wollte – besonders auf dem ersten Aktionärsball seiner Firma Devlin Corporation. Er sah sich im Festsaal des Palladiums um und überzeugte sich davon, dass die Gäste sich amüsierten. Erst dann wandte er sich wieder dem Kellner an seiner Seite zu.

„Was für ein Problem?“

Der Auszubildende zuckte erschrocken zusammen, und Rory beschloss, sich zu mäßigen. Schließlich war es nicht die Schuld des jungen Mannes, dass er sich den ganzen Tag um die Probleme gekümmert hatte, die er mit dem Portsea-Projekt hatte.

Daher hatte er eigentlich auch gar keine Lust auf den ganzen Rummel gehabt. Aber er war erst seit sechs Monaten Vorstandsvorsitzender des Konzerns. Devlin Corp war vor nicht allzu langer Zeit eines der bekanntesten Bauunternehmen in Australien gewesen. Doch leider hatte sein Vater die Firma ziemlich heruntergewirtschaftet, und Rory hatte das letzte halbe Jahr damit verbracht, den Betrieb wieder in Schwung zu bringen.

Der Kellner zupfte nervös an seiner Fliege. „Am besten, Sie sehen es sich selbst an.“

Verärgert über die Störung, gab Devlin dem stellvertretenden Vorsitzenden Bescheid und folgte dem Kellner in den kleinen Raum neben dem Foyer, wo in fünfzehn Minuten die offizielle Präsentation beginnen sollte.

Der Kellner blieb vor der Tür stehen. „Sie ist da drinnen“, sagte er.

Sie?

Rory warf einen Blick in den Raum und schrak zurück.

„Gut, ich kümmere mich darum“, erklärte er grimmig. Noch bevor er den Satz beendet hatte, war der Auszubildende schon verschwunden.

Rory straffte sich, zog sein Jackett zurecht und betrat das Zimmer, wo das Problem ihn bereits erwartete.

Die junge Frau sah ihn herausfordernd an und warf das wellige blonde Haar zurück. Sie trug ein blaues Cocktailkleid, das zu ihrer Augenfarbe passte, und wirkte äußerst selbstzufrieden.

Er hoffte, dass die Kettenglieder um ihre Handgelenke und Knöchel Modeschmuck waren und nicht das, was er befürchtete: Ketten, die sie mit dem Modell verbanden, welches er in Kürze enthüllen würde.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Das hoffe ich doch.“

Mit zusammengepressten Lippen ließ sie den Blick langsam von seinen handgemachten italienischen Schuhen zu seinem Gesicht schweifen, was ihn irritierte.

„Sollen wir irgendwo anders reden?“

„Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.“

Sie rasselte mit den Ketten um ihr Handgelenk. Das Modell fing bedrohlich zu wackeln an.

„Wie Sie sehen, bin ich gerade nicht abkömmlich“, meinte sie lachend.

Rory fand das nicht komisch.

„Tut mir leid, aber ein Mädchen muss tun, was es tun muss, um etwas zu erreichen.“

Er wies auf die Stahlketten, die sie mit dem Modell verbanden.

„Und Sie glauben, etwas zu erreichen, indem Sie sich an unser aktuelles Projekt ketten?“

„Na ja, Sie sind hier, oder etwa nicht?“

Worum ging es hier? Um irgendeine Form von Rache?

Rory runzelte die Stirn und versuchte, sich zu erinnern. Hatte er sich schon einmal mit dieser Frau getroffen? War sie eine Geschäftspartnerin? Hatte er sie irgendwie beleidigt?

Wenn sie sich solche Mühe gab, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, wollte sie bestimmt etwas von ihm. Etwas, das er ihr nicht freiwillig geben würde, denn sonst hätte sie wohl kaum solch radikale Maßnahmen ergriffen.

Aber wenn er etwas hasste, waren es Drohungen oder Erpressungsversuche.

Was wollte sie von ihm? Sie war eine langbeinige Blondine in einem engen Abendkleid, die keine Schuhe trug und deren silberfarben lackierte Zehennägel farblich zu ihren Ketten passten – nein, was auch immer ihr Wunsch sein mochte, er würde ihn ihr bestimmt nicht erfüllen.

Ob sie ihm Land verkaufen oder sich bei ihm um einen Job bewerben wollte? War sie vielleicht Innenarchitektin und interessierte sich für die Luxusvillen, die er in Portsea bauen wollte?

Wenn ja, hatte sie Pech gehabt. Wie jeder andere würde sie sich bei ihm um einen Termin bemühen müssen. Ihr ganzer Auftritt beeindruckte ihn nicht im Mindesten.

In diesem Moment verlagerte die junge Frau ihr Gewicht auf das andere Bein, und die Ketten um ihre Knöchel rasselten. Rorys Blick fiel auf ihre Beine, die lang und wohlgeformt waren …

Er reagierte darauf wie jeder andere Mann, und auch das ärgerte Rory. Eigentlich verschwendete er hier nur seine Zeit.

„Sie wollten mit mir persönlich sprechen?“

„Wenn Sie Rory Devlin sind, der Chef der Firma, die das Strandgebiet rund um Portsea zerstören will, sind Sie in der Tat der Mann, mit dem ich sprechen will.“

Ihre Worte machten ihn nervös. Seit er Devlin Corp vor einem halben Jahr übernommen hatte, war er für alle Umweltschützer in der Gegend zum Sündenbock geworden. Er musste zwar zugeben, dass keiner von ihnen so umwerfend aussah wie diese Frau, aber sie waren genauso fanatisch.

Grüne Spinner wie sie hätten es fast geschafft, die Firma zu ruinieren. Glücklicherweise war er aus einem anderen Holz geschnitzt als sein Vater, der im letzten Jahr außerstande gewesen war, klare Entscheidungen für das Projekt in Port Douglas zu treffen.

Dabei hatte Devlin Corp sich sehr dafür eingesetzt, dass der Regenwald in North Queensland nicht zu sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde. Das hatte die fanatischen Umweltschützer jedoch nicht davon abgehalten, Millionenprojekte zu torpedieren. Fast hätte die Firma darüber Bankrott gemacht.

Nur durch sein beherztes Eingreifen hatte er das Schlimmste verhindern können. Es schauderte ihn noch jetzt, wenn er daran dachte, wie alles auf der Kippe gestanden hatte.

„Ich glaube, Sie sind falsch informiert“, sagte er daher kühl zu der jungen Frau. „Meine Firma legt größten Wert darauf, dass unsere Bauvorhaben umweltverträglich sind. Wir wollen die Natur nicht zerstören.“

„Also bitte!“ Sie verdrehte die Augen und sah ihn dann eindringlich an. „Ich habe Ihre Projekte selbstverständlich recherchiert. Sie kaufen Land – irgendwo im Nirgendwo –, errichten dort irgendwelche Luxusimmobilien und verkaufen sie dann wieder zu Höchstpreisen.“

„Ich …“, begann Rory, aber sie ließ ihn nicht aussprechen.

„Dabei fällen Sie unzählige Bäume und zerstören unser Land. Von erneuerbaren Energien haben Sie anscheinend noch nie gehört …“

„Hören Sie sofort auf!“

Als er auf sie zuging, warf sie den Kopf zurück und sah ihn herausfordernd an. Plötzlich stieg ihm ihr Duft in die Nase – eine verführerische Mischung aus Sonnenschein, Frühling und frisch gemähtem Gras.

„Wie ich bereits sagte, sind Sie falsch informiert. Außerdem haben Sie hier nichts zu suchen. Legen Sie diese Ketten ab – sofort!“

Anstatt zu antworten, lächelte sie nur aufreizend.

„Das geht nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil Sie noch nicht auf meine Bedingungen eingegangen sind.“

Rory schüttelte den Kopf und schlug die Hände vors Gesicht. Doch als er sie wegnahm, war die Frau leider immer noch da.

„Hören Sie, Lady, es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder Sie legen sofort diese Ketten ab und verschwinden von hier. Oder Sie zwingen mich dazu, den Sicherheitsdienst zu rufen. Die werden Ihre Ketten aufschweißen. Diese Demütigung wollen Sie sich doch bestimmt ersparen.“

Sie kniff die Augen zusammen, aber ihr Blick verlor nichts von seiner Strahlkraft.

„Na los. Rufen Sie ihn!“

Verdammt, offensichtlich wusste sie, dass er nur geblufft hatte! Auf gar keinen Fall durfte er riskieren, dass die Aktionäre etwas von dieser Geschichte mitbekamen.

„Geben Sie mir den Schlüssel!“

Rory trat noch einen Schritt näher an sie heran und merkte zu spät, dass es ein Fehler war.

„Dazu müssen Sie mich schon zwingen!“

Unwillkürlich fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. Wie gebannt sah er sie an und verspürte den verrückten Wunsch, sie zu küssen.

Zum Teufel!

Noch nie hatte er sich seinem Gegenüber gebeugt. Im Gegenteil, er hatte immer jede Herausforderung angenommen. Als Teenager hatte er sich bereits darauf vorbereitet, einst den Vorsitz des Konzerns übernehmen zu können. Er hatte es geschafft, seinen Vater zum Rücktritt zu überreden und Devlin Corp in nur sechs Monaten in die schwarzen Zahlen zu bringen.

Und jetzt wollte diese junge Frau ihn erpressen?

Da konnte er ja nur lachen.

„Ich weigere mich, auf dieses alberne Spiel einzugehen.“

Sein Tonfall war kalt und abweisend. So sprach er mit aufsässigen Subunternehmern, die ihm zum hundertsten Mal erklären wollten, warum sie ihren Verpflichtungen nicht nachkommen konnten. Normalerweise erzielte er damit auch die gewünschte Wirkung. Aber die junge Frau konnte er anscheinend nicht damit beeindrucken.

Im Gegenteil, sie lächelte noch breiter.

„Warum? Das kann doch sehr viel Spaß machen.“

Plötzlich verspürte Rory noch einen anderen Wunsch – nämlich sie zu erwürgen. Er atmete tief ein, um sich zu beruhigen, und blickte das Modell von Portsea Port starr an. Es war das größte Projekt, das die Firma unter seinem Vorsitz bisher angegangen war.

Nur wenn sie damit Erfolg hatten, würde Devlin Corp wieder den Platz einnehmen, der der Firma gebührte – die Nummer eins der australischen Bauunternehmen für Luxusimmobilien.

Und sie würden erfolgreich sein, dafür würde er schon sorgen. Ein Scheitern kam nicht infrage.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und zog ein Gesicht. In weniger als zehn Minuten sollte die Präsentation beginnen. Das bedeutete, dass er diese Frau so schnell wie möglich loswerden musste.

„Was genau wollen Sie von mir?“

„Ich dachte schon, Sie würden mich das nie fragen.“

Erneut wurde sein Blick von ihren schimmernden Lippen angezogen, was Rory ziemlich ärgerte.

„Ich möchte einen Termin bei Ihnen – ein Gespräch unter vier Augen.“

„Es gibt einfachere Wege, um sich mit mir zu verabreden.“

Einen Moment lang sah sie ihn verständnislos an, dann weiteten sich ihre Augen.

„Glauben Sie etwa, ich wollte ein Rendezvous mit Ihnen?“

Es klang, als hätte er sie eingeladen, mit ihm in eine Schlangengrube zu springen.

„Warum nicht? Die meisten Frauen wären entzückt.“

„Ja, das kann ich mir gut vorstellen“, gab sie verächtlich zurück.

„Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen die Telefonnummern meiner Freundinnen in Melbourne. Sie können Ihnen bestätigen, wie viel Spaß es macht, mit mir auszugehen und …“

„An Selbstbewusstsein mangelt es Ihnen jedenfalls nicht“, konterte sie.

„Sie sind doch diejenige, die ein Tête-à-Tête mit mir haben will.“

„Um mich bei Ihnen zu bewerben, Sie arroganter Kerl.“

Aha … jetzt kamen sie der Sache schon näher. Anscheinend handelte es sich bei der jungen Dame um eine arbeitslose Umweltschützerin.

Darauf gab es nur eine Antwort: Vergessen Sie’s! Doch trotz allem imponierte ihm ihr Mut. Die meisten Jobsuchenden würden versuchen, durch eine Agentur an ihn heranzukommen, oder seine Assistentin bedrängen, um einen Termin zu bekommen. Nur die wenigsten würden zu solch radikalen Mitteln greifen.

„Aha. Sie wollen also einen Termin für ein Bewerbungsgespräch? Lassen Sie mich Ihnen einen Tipp geben: Es bringt nichts, Ihren zukünftigen Arbeitgeber zu beschimpfen.“

„Ich habe Sie doch gar nicht beschimpft! ‚Arroganter Kerl‘ ist noch harmlos. Wenn ich es wirklich ernst gemeint hätte, hätte ich Sie Mistkerl genannt!“

„Unglaublich!“

Rory hätte beinah laut gelacht. Schade, dass seine Angestellten nicht so mutig waren wie diese Unbekannte. Denn dann würden sie in null Komma nichts wieder an der Spitze sein.

„Na, wie sieht’s aus? Geben Sie mir nur fünfzehn Minuten. Ich verspreche Ihnen, dass Sie es nicht bereuen werden!“

Wieder warf sie ihr blondes Haar zurück, und wieder stieg ihm ihr frischer Frühlingsduft in die Nase.

Er wollte eigentlich ablehnen und ihr sagen, was er von solchen billigen Tricks hielt. Doch sie kam ihm zuvor.

„Bitte glauben Sie mir. Ich will Ihr Projekt in Portsea nicht torpedieren. Ich möchte Ihnen nur helfen.“ Sie holte tief Luft. „Ich bin Spezialistin für Umweltfragen, besonders im Bereich Meeresbiologie. Um genau zu sein, gehöre ich zu den Besten meines Fachs.“

Rory zögerte kurz, dann gab er sich geschlagen. Gegen eine solche Hartnäckigkeit konnte er nichts ausrichten.

„Also gut, fünfzehn Minuten.“

„Abgemacht.“ Die Frau lächelte strahlend. „So, jetzt müssen Sie nur noch den Schlüssel aus dem Versteck holen, dann sind Sie mich gleich los.“

„Versteck?“

Sein Blick fiel auf ihren tiefen Ausschnitt.

Verdammt, wurde dieser Abend denn immer verrückter?

„Also gut, ich … Okay.“

Rory streckte zögernd die Hand aus. Doch dann lachte sie plötzlich so laut, dass er erschrocken zurücksprang.

„Keine Sorge, ich hab ihn schon.“

In wenigen Sekunden hatte sie ihre Fesseln gelöst und stand strahlend vor ihm.

„Sie haben mich hereingelegt.“

Eigentlich hätte er ihr böse sein und den Termin absagen müssen. Stattdessen sah Rory der jungen Frau fasziniert dabei zu, wie sie die Ketten zusammenrollte und in eine große Tasche stopfte, die sie unter dem Tisch versteckt hatte. Insgeheim fragte er sich, womit sie ihn wohl als Nächstes überraschen würde.

„Nein, das habe ich nicht. Ich habe mir nur auf Ihre Kosten einen kleinen Spaß erlaubt.“

Sie klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken. „Vorhin habe ich Sie eine Zeit lang beobachtet. Sie wirkten ziemlich niedergeschlagen. Ich wollte Sie nur aufmuntern.“

Verblüfft dachte Rory darüber nach, warum er sich all das von ihr bieten ließ. Das war doch sonst nicht seine Art!

Sie drückte ihm eine Visitenkarte in die Hand. Die kurze Berührung ließ ihn zusammenzucken.

„Hier sind meine Kontaktdaten. Ich werde Sie anrufen und Ihnen einen Terminvorschlag machen.“ Dann hängte die Fremde sich die Tasche über die Schulter, wobei die Ketten erneut rasselten. „Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Rory Devlin.“

Fassungslos beobachtete er, wie sie langsam den Raum verließ.

2. KAPITEL

Gemma Shultz verließ den Raum mit erhobenem Kopf. Als sie sicher sein konnte, dass Rory Devlin sie nicht mehr beobachtete, machte sie vor Freude sogar einen kleinen Luftsprung.

Sie hatte es geschafft! Es war ihr gelungen, ein Bewerbungsgespräch mit dem mächtigen Vorsitzenden des Konzerns zu arrangieren, der das Land, welches einmal ihrer Familie gehört hatte, zu zerstören drohte.

Und sie würde ihn dazu zwingen, ihr einen Job zu geben, dazu war sie fest entschlossen.

Gemma machte sich keine Illusionen – sie würde das Bauprojekt, in Portsea Luxusvillen zu errichten, nicht stoppen können. Aber kaum hatte sie davon gehört, war sie, ohne zu zögern, sofort nach Melbourne gefahren, um für eins zu sorgen: dass Devlin Corp nicht auch noch den Strand zerstörte, den sie schon als Kind so sehr geliebt hatte.

Eigentlich war das ungewöhnlich, denn für Sentimentalitäten gab es in ihrem Leben keinen Raum. Aber dieser Strand war für sie etwas ganz Besonderes. Es war der einzige Ort, an dem sie sich als Teenager immer zu Hause gefühlt hatte.

Außerdem ging es um mehr – um das Erbe ihres Vaters. Ein Erbe, das ihre Mutter einfach verkauft hatte, ohne vorher mit ihr darüber zu sprechen.

Der Gedanke an ihre Mutter war alles andere als angenehm. Coral, die immer perfekt frisiert war, die sich nur für schöne Kleider und soziales Prestige interessierte und die Gemmas Existenz nach dem Tod ihres Vaters kaum noch zur Kenntnis genommen hatte.

Obwohl Gemma nie an der Liebe ihrer Mutter zu ihrem Vater gezweifelt hatte, hatte sie sich oft gefragt, warum die Prinzessin aus der High Society einen Tischler geheiratet hatte. Das Leben der beiden war grundverschieden gewesen. Ihr Vater hatte die Tage in seiner Werkstatt verbracht, während ihre Mutter ständig irgendwelche Gartenpartys oder Wohltätigkeitsveranstaltungen besuchte.

Daher hatte es Gemma auch nicht überrascht, dass Coral von ihrer Begeisterung für Matsch, Würmer und Ratten wenig angetan gewesen war. Trotzdem hatte sie ihr keine Steine in den Weg gelegt und nie versucht, sie davon abzuhalten, ihrem Vater überallhin zu folgen und sich wie ein Junge zu benehmen. Trotz der wenigen Gemeinsamkeiten waren sie sich als Familie jedoch sehr nahe gewesen. Erst später, nach dem Tod von Gemmas Vater, hatte sich eine Kluft zwischen Mutter und Tochter aufgetan. Eine Kluft, die sie noch immer nicht überbrückt hatten.

In diesem Moment verließen die ersten Gäste den Ballsaal und schlugen den Weg zu dem Nebenraum ein, in dem die Präsentation stattfinden würde. Gemma musste lächeln, als sie an Rory Devlin dachte. Bestimmt überzeugte er sich gerade davon, dass sein wertvolles Modell bei ihrer Aktion keinen Kratzer abbekommen hatte. Sie lachte laut auf, als sie an sein verblüfftes Gesicht bei ihrem Anblick dachte. Zu schade, dass sie ihre Kamera nicht dabeihatte!

Ihr Plan, ihn mit dieser Aktion zu überrumpeln und so Zugang zu ihm zu bekommen, war aufgegangen. Bestimmt war Rory Devlin es nicht gewohnt, dass Leute sich seinen Wünschen widersetzten. Wahrscheinlich musste er nur mit dem Finger schnipsen, damit alle sprangen. Nun, mit ihr würde ihm das nicht gelingen. Sie würde ihm zeigen, mit wem er es zu tun hatte.

Plötzlich merkte Gemma, wie sehr ihre Füße schmerzten. Schnell zog sie die hochhackigen Schuhe aus, die sie seit zwei Jahren nicht mehr getragen hatte. Erstaunlich, dass sie es überhaupt so lange ausgehalten hatte. Trotzdem war sie froh, dass sie die Schuhe und das Chiffonkleid, das ihre Mutter ihr damals geschenkt hatte, behalten hatte. In Jeans hätte man sie sonst wohl kaum hier hereingelassen.

Nun, jedenfalls konnte sie jetzt mit der Maskerade aufhören. Erleichtert verließ sie das Gebäude und ging zum Parkplatz, wo ihr Auto auf sie wartete.

Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie in der Stadt bleiben würde. Es hing davon ab, ob ihre Mission, das Land ihres Vaters vor dem Untergang zu retten, erfolgreich war.

Glücklicherweise hatte sie ihren alten VW-Bus behalten. Und was ihre Unterkunft betraf, so kam dafür nur ein einziger Ort infrage.

Gleich am nächsten Morgen würde sie ihre Mutter anrufen und ihr einige unangenehme Fragen stellen. Was, zum Teufel, konnte Coral dazu bewogen haben, den Ort zu verkaufen, der Gemma mehr als alles andere am Herzen lag?

Am nächsten Morgen wachte Gemma in aller Frühe auf. Sie gähnte laut und streckte sich, denn nach der Nacht auf dem schmalen Bett in der Tischlerwerkstatt ihres Vaters war sie doch ein wenig steif.

Neugierig sah sie sich um. Es schien sich nicht viel verändert zu haben. Jede Kleinigkeit erinnerte sie an ihren Vater. Ihr Dad war ihr Idol gewesen, und sie vermisste ihn immer noch. Er war viel zu jung gestorben – an einem Herzinfarkt. Es war vor ihrem Abschluss an der Highschool gewesen, bevor sie ihr Diplom als Ökologin gemacht hatte und bevor es ihr gelungen war, ihren ersten Job bei einem großen Fischfangunternehmen im Westen Australiens an Land zu ziehen.

Ihr Dad hatte sie in all ihren Unternehmungen unterstützt. Er hatte ihr beigebracht, wie man Fische und Insekten fing und wie man einen selbst gezimmerten Tisch fachgerecht lackierte.

Alles, was sie über ihre große Liebe, das Meer, wusste, hatte sie von ihm gelernt. Er war mit ihr an jedem freien Wochenende tauchen gegangen und hatte ihr die bezaubernde Vielfalt der Unterwasserwelt gezeigt.

Sie waren gemeinsam zum Fußball und zum Kricket gegangen, hatten lange Fahrradtouren unternommen und nachts im Freien unter dem Sternenzelt kampiert.

Meistens am Strand von Portsea, der ihrem Vater gehört hatte. Das große Stück Land, das ihre Mutter jetzt an Rory Devlins Firma verkauft hatte.

Erneut stiegen Tränen der Wut in Gemma auf, aber sie unterdrückte sie mit Macht. Weinen würde ihr jetzt nicht helfen. Tränen waren nutzlos, wenn man ihr den einzigen Ort, an dem sie sich jemals sicher gefühlt hatte, genommen hatte. Den einzigen Ort, an dem sie ganz sie selbst sein konnte. Wo niemand sich über ihr Aussehen lustig machte oder höhnisch bemerkte, dass sie ja so ganz anders war als andere Mädchen.

Zuerst hatte sie den Verlust ihres Vaters verkraften müssen, und nun sollte sie sich auch noch mit dem Verlust ihrer Heimat abfinden. Nein, das war einfach nicht fair!

Gemma sah sich noch einmal in der Werkstatt um, und ihre Entschlossenheit wuchs von Minute zu Minute. Sie schuldete es ihrem Vater, um dieses Land zu kämpfen!

Nachdem sie den Reißverschluss ihres Schlafsacks aufgezogen hatte, sah sie auf ihre Armbanduhr – sechs Uhr morgens. Höchste Zeit, ihrer Mutter einen Besuch abzustatten. Das würde für Coral ein böses Erwachen geben – in vieler Hinsicht.

Zu Gemmas Verblüffung öffnete ihre Mutter ihr die Tür bereits nach dem ersten Klingeln.

„Gemma? Das ist ja eine tolle Überraschung!“

Coral machte die Tür weit auf und winkte sie herein. Mit einem Blick erfasste sie ihre alten Jeans, in denen Gemma auch geschlafen hatte, die Cowboystiefel und ihr zerzaustes Haar, das sie zum Pferdeschwanz gebunden hatte.

Natürlich hatte sie gestern Abend keinen Gedanken ans Abschminken verschwendet. Bestimmt sah sie mit der zerlaufenen Mascara wie ein Pandabär aus.

Aber sie wunderte sich ein wenig, denn weder kommentierte ihre Mutter ihr Äußeres, noch beschwerte sie sich, weil es noch früh war. Sie folgte ihr in die Küche – der einzige Raum in dem blitzblanken Haus, in dem Gemma sich immer wohlgefühlt hatte.

„Du bist ja schon früh auf“, sagte sie zu ihrer Mutter, nachdem sie am Küchentisch Platz genommen hatte.

Coral nickte und stellte die Espressomaschine an. „Ja, ich schlafe im Moment nicht besonders gut.“

„Warum? Leidest du an Schlaflosigkeit?“

„So ungefähr, ja.“

Gemma betrachtete sie schuldbewusst. Plötzlich musste sie daran denken, wie sehr der Tod ihres Mannes Coral mitgenommen hatte. Aber sie selbst war auch so voller Trauer gewesen, dass sie ihr nicht hatte beistehen können. Außerdem hatte Coral sich bald wieder gefangen und sich mit ihrer gewohnten Tüchtigkeit um alles gekümmert, was getan werden musste. Gemma hatte sich in den ersten Monaten nach dem tragischen Ereignis jede Nacht in den Schlaf geweint. Ihre Mutter hingegen war von morgens bis abends auf den Beinen gewesen und hatte das ganze Haus auf Hochglanz poliert.

Das war natürlich eine Übersprunghandlung gewesen. Irgendwann hatte Gemma dann den Eindruck gewonnen, dass Corals hektische Aktivität sich gelegt hatte. Aber auch jetzt, zu dieser frühen Stunde, war ihre Mutter bereits angezogen. Vielleicht hatte sie sich ja doch nicht daran gewöhnen können, allein in dem großen Ehebett zu schlafen.

„Kaffee?“

Gemma nickte. „Ja, gern.“

„Kommst du direkt von einer Baustelle?“

Da war es wieder – sie bewegten sich auf gefährlichem Terrain. Wie gut kannte Gemma die versteckte Kritik ihrer Mutter. Früher hatte es immer so geklungen:

Hast du dir die Haare gewaschen?

Kannst du nicht ausnahmsweise einmal ein Kleid anziehen?

Kein Junge wird dich in diesem Aufzug zum Abschlussball einladen.

Auch wenn sie sich nach außen hin eine harte Schale zugelegt hatte, hatte sie sich doch stets danach gesehnt, die Tochter sein zu können, die Coral sich wünschte.

Gemma schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin schon seit gestern Abend da.“

Ihre Mutter sah sie erstaunt an. „Warum hast du denn nicht hier übernachtet?“

„Habe ich doch. Ich habe die Nacht in Vaters Werkstatt geschlafen.“

Coral blickte sie ablehnend und entsetzt zugleich an, bevor sie die übliche stoische Miene aufsetzte, die Gemma so gut kannte.

„Dort hast du dich früher schon immer am wohlsten gefühlt.“

„Ja, das stimmt.“

„Wie lange willst du bleiben?“

Bis ich Rory Devlin den Marsch geblasen habe!

Plötzlich musste Gemma wieder an ihn denken – an seine blauen Augen, seinen muskulösen Körper, den der Maßanzug noch unterstrichen hatte, die hohen Wangenknochen und das modisch kurz geschnittene Haar. Überrascht stellte sie fest, dass ihr jede Einzelheit im Gedächtnis geblieben war. Eigenartig!

„Ich bin hier wegen eines Jobs“, erwiderte Gemma und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Draußen in Portsea.“

Ihre Mutter zuckte zusammen und sah sie schuldbewusst an. „Dann weißt du also Bescheid?“

Autor

Nicola Marsh
Als Mädchen hat Nicola Marsh davon geträumt Journalistin zu werden und um die Welt zu reisen, immer auf der Suche nach der nächsten großen Story. Stattdessen hat sie sich für eine Karriere in der Gesundheitsindustrie entschieden und arbeitete dreizehn Jahre als Physiotherapeutin

Doch der Wunsch zu schreiben ließ sie nicht los...
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