Liebe mich bei Sonnenuntergang

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Sommer auf Elba: Am Strand, wo schon ihre Großeltern sich ineinander verliebten, begegnet Gina dem faszinierenden Sebastiano. Mit seinem Charme erobert der heißblütige Italiener schon bald ihr Herz. Doch dann erfährt Gina zufällig, wer ihre Urlaubsliebe wirklich ist …


  • Erscheinungstag 24.08.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749989
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Der hohe, angstvolle Schrei einer Frau gellte durch die Stille.

Sebastiano Adriani, der mit energischen Schritten durch die dunklen Straßen gegangen war, hielt inne und ließ den Blick umherschweifen. Dann wechselte er die Richtung, um der Sache auf den Grund zu gehen. Er wollte sich vergewissern, dass niemand in ernsthaften Schwierigkeiten war.

In den frühen Morgenstunden dieses Julitages herrschte Stille in Florenz. Nur ein paar Straßenkehrer waren zu sehen, außerdem gelegentlich ein Liebespaar, das nach einem romantischen Abend eng umschlungen nach Hause spazierte. Weil es sommerlich heiß und schwül war, hatte Seb die Krawatte abgelegt und den obersten Knopf seines Hemds geöffnet. Das Jackett seines Armani-Anzugs trug er lässig über einem Arm. Obwohl es schon so spät war, hatte er sich dazu entschieden, zu Fuß zu seinem exklusiven, aber unpersönlichen Apartment in der Nähe des Krankenhauses zu gehen. Die Aussicht, allein zu sein und sich etwas zu bewegen, hatte ihn gelockt.

Es war ein netter Abend gewesen. Seb hatte Lidia di Napoli erst zum Abendessen in ein Restaurant ausgeführt, das zu den exklusivsten der ganzen Stadt gehörte und mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet war. Danach hatten sie bei einem Open-Air-Konzert klassischer Musik gelauscht. Eigentlich hatte Seb einen anderen Musikgeschmack, aber Lidia, eine hübsche junge Schauspielerin, hatte einen entzückenden Schmollmund gezogen und ihn gebeten mitzukommen.

Ihr nochmaliges Schmollen am Abend, als Seb einen dringenden Anruf aus dem Krankenhaus erhalten hatte, war weniger entzückend gewesen. Es war um einen Patienten gegangen, der unentgeltlich behandelt wurde und bei dem nach einem schweren Verkehrsunfall eine komplizierte Gesichtsoperation notwendig gewesen war. Dem jungen Mann war es plötzlich sehr schlecht gegangen, sodass Sebastiano umgehend ins Krankenhaus hatte fahren müssen. Der Zustand des Patienten war inzwischen stabil, doch er befand sich immer noch auf der Intensivstation.

Lidia hatte ihrem Unmut über den plötzlichen Abschied wortreich Ausdruck verliehen, als Seb dem Taxifahrer Geld gegeben hatte, der sie nach Hause bringen würde. Wenn sie darauf hoffte, ihn wiederzusehen, würde sie begreifen müssen, dass bei ihm seine Arbeit an erster Stelle stand. Aber nach Hause begleitet hätte er Lidia trotz ihrer wenig subtilen Andeutungen ohnehin nicht: Seb verbrachte die Nacht nie im Bett einer Frau, und er ließ auch keine Frau bei sich übernachten.

Dank des jüngsten politischen Skandals waren zum Glück keine Paparazzi im Restaurant gewesen. Endlich einmal hatten weder Seb noch seine Begleitung im Mittelpunkt des Medieninteresses gestanden, sodass er ungestört hatte essen und ins Konzert gehen können. Dafür war er sehr dankbar, denn im Gegensatz zu den Frauen, die unbedingt mit ihm gesehen werden wollten, legte er keinen Wert darauf, seinen Namen in den Klatschspalten der Zeitungen zu lesen.

Wieder hörte Seb jetzt laute Stimmen, beschleunigte sein Tempo und gelangte über eine Piazza in ein Labyrinth kleiner schmaler Straßen, als ein weiterer panischer Schrei der Frau ertönte. Seb bog um eine Ecke und sah einen schwarz gekleideten Mann, der sein Opfer ins Gesicht schlug und sie dann zu einer Tür zerren wollte.

Sebastiano forderte ihn auf, die Frau in Ruhe zu lassen. „Smetilla!“, rief er laut. „Lassen Sie die Frau los!“

Der Mann stieß die weinende Frau unsanft zur Seite und richtete seine Aufmerksamkeit nun auf Seb. Vorsichtig, aber ohne Angst trat Seb dem Mann gegenüber. Seine weltgewandte, elegante Ausstrahlung als einer der erfolgreichsten plastischen Chirurgen ganz Europas überdeckte die Wahrheit nicht: Er war ein Junge von der Straße, der sich mit Charme und Schläue durchs Leben geschlagen hatte. Und dieser Junge war nie ganz verschwunden.

Um einen taktischen Vorteil zu erlangen, stellte Seb sich zwischen den Angreifer und die Frau. In dem schwachen Licht betrachtete er sein Gegenüber und prägte sich jedes Detail ein, um ihn später identifizieren zu können: die Narbe, die sein Kinn in zwei Hälften teilte, die roten, auf die Finger tätowierten Buchstaben und die goldenen Ohrstecker.

Ohne seinen Gegner aus den Augen zu lassen, warf Seb der Frau sein Handy zu, damit sie die Polizei rufen konnte. Er hatte gehofft, dass der Mann nun einen Rückzieher machte, doch dieser zog plötzlich ein Messer hervor, dessen Schneide bedrohlich glänzte.

Geschickt wich Seb aus, als der Mann auf ihn zusprang, und wehrte das Messer mit dem Jackett ab, das er über dem Arm trug. Die Klinge drang durch den Stoff, verletzte Seb aber nicht. Sein Herz begann heftig zu schlagen. Undeutlich nahm er wahr, wie die Frau schluchzend Hilfe holte. Wieder kam der Mann auf ihn zu, und diesmal gelang es Seb nicht, den Angriff abzuwehren. Er spürte, wie das Messer ihm am Gelenk und am Ballen der rechten Hand in die Haut schnitt. Blut quoll aus der Wunde und rann ihm am Arm hinunter.

Als aus einiger Entfernung eine Sirene ertönte, versuchte der Mann, an Seb vorbei zu der Frau zu gelangen, die laut aufschrie und sich gegen die Wand presste. Um sie zu schützen, stellte Seb sich vor den Mann und forderte ihn mit ruhiger Stimme auf aufzugeben. Die wäre Polizei ohnehin gleich da.

Laut fluchend ging der Mann ein letztes Mal auf ihn los. Als Seb das Messer sah, hob er instinktiv die Arme, sodass die rasierklingenscharfe Schneide ihn am Ellenbogen traf, an seinem Unterarm entlangschrammte und dann seine Hand aufritzte. Seb trat nach dem Angreifer, der ordinär schimpfend versuchte, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Dann rannte er davon und verschwand in der Dunkelheit.

Ohne einen Gedanken an seine Verletzungen zu verschwenden, wandte Seb sich der Frau zu und erkundigte sich, wie es ihr ging. „Signora, come sta?“

Bene. Grazie, signor, mille grazie!“, dankte diese ihm schluchzend und wies dann erschrocken auf seine blutenden Wunden. „O Dio! Sie bluten ja!“

Nachdem Seb sich vergewissert hatte, dass die Frau unverletzt war, hob er die Hände – ein wertvolles und unersetzliches Werkzeug in seinem Beruf –, um die Blutung zu stoppen und die Schwellung auf ein Minimum zu reduzieren. Er konnte sie kaum bewegen. Der linke Arm fühlte sich schwer und ein wenig lahm an, das rechte Handgelenk war merkwürdig schlaff. Außerdem schienen ihm Daumen und Zeigefinger der rechten Hand nicht zu gehorchen.

Zum ersten Mal an diesem Abend verspürte Seb tiefe Angst.

1. KAPITEL

„Ich glaube, wir haben es gefunden, Gina. Dies ist der ganz besondere Ort, an dem Matteo und ich zusammen waren.“

Gina hörte ihrer Großmutter deutlich an, wie aufgewühlt sie war. Sie sprach mit starkem Akzent und war sichtlich aufgeregt. Eine Mischung aus Wehmut, Beklommenheit und Sehnsucht glänzte in ihren blassblauen Augen, doch ansonsten strahlte die zunehmend zerbrechlich wirkende ältere Dame Entschlossenheit aus. Ihr früher langes, tiefschwarzes Haar war heute kurz und grau – und erinnerte Gina an das unaufhaltsame Fortschreiten der Zeit. Trotz der traurigen Erkenntnis, dass ihnen vielleicht nur noch wenige gemeinsame Jahre blieben, lächelte Gina und umfasste die vom vielen Arbeiten raue Hand ihrer Großmutter. Sie wusste, was diese Reise der alten Dame bedeutete – und wie wichtig es war, dass sie genau die Stelle fanden, die auf dem verblichenen Schwarzweißbild zu sehen war, das vor ihnen auf dem Tisch lag.

Das Foto und die dazugehörende Geschichte hatten Gina schon als kleines Kind fasziniert und verzaubert. Sie hatte nicht oft genug hören können, wie das Schicksal ihre italienische Großmutter und ihren schottischen Großvater zusammengeführt hatte – wie Maria Tesotto und Matthew McNaught sich an einem einsamen Strand begegnet waren … und sich ineinander verliebt hatten.

„Damals gab es dort keine Villa“, sagte ihre Großmutter, tief in Gedanken versunken. „Aber der Ort ist immer noch unberührt und abgelegen. Damals nannte man den Felsen im Meer ‚Lancia di Nettuno‘ – Neptuns Dreizack. Man sieht ihn auch auf dem Bild. Und der Name der Villa heißt übersetzt ‚Villa am Neptunsfelsen‘. Gina, es muss einfach dort sein!“

„Ich werde es herausfinden, nonna, versprochen.“

„Ach, du tust so viel für mich, ragazza mia. Ist es nicht zu viel?“, fragte die alte Dame mit einem traurigen Lächeln.

„Nein, natürlich nicht“, versicherte Gina. „Du weißt doch, wie lieb ich dich habe.“

Mit ihrer von Arthritis verkrümmten Hand strich die alte Dame Gina über die Wange. „Ich dich auch. Aber ich mache mir Sorgen darüber, dass du meinetwegen so viel aufgeben musstest – und wegen deines Großvaters. Seit wir zu dir nach Strathlochan in dein hübsches Cottage gezogen sind, hast du dich um uns gekümmert und versucht, uns das Leben so angenehm wie möglich zu machen, wann immer du nicht arbeiten musstest.“

Nonna …“

„Ich weiß“, kam ihre Großmutter ihr zuvor. „Du triffst dich mit deinen Freunden, du liebst deine Arbeit. Aber es gibt doch noch mehr im Leben, Gina. Wir wollten nicht, dass du unseretwegen die Beziehung mit Malcolm beendest.“

Gina senkte den Kopf, um dem Blick ihrer Großmutter auszuweichen. Um keinen Preis würde sie ihr von den verletzenden Dingen erzählen, die Malcolm zu ihr gesagt hatte. „So war es nicht, nonna. Es ist einfach zu Ende gegangen.“ Spätestens, als ihr klar geworden war, wie weit Malcolms und ihre Vorstellungen von Familie auseinanderklafften.

„Aber die Trennung liegt nun schon vier Jahre zurück, und du hattest seitdem keine einzige Verabredung! Ich möchte doch, dass du glücklich bist – so glücklich, wie ich es all die Jahre mit meinem Matteo war. Ich wünsche mir so sehr, dass du einen tollen Mann findest, der genau der Richtige für dich ist. Du solltest dich mit Männern treffen, Spaß haben und an deine Bedürfnisse denken.“

Vielleicht hatte die Rückkehr nach Elba, wo ihr Glück seinen Anfang genommen hatte, ihre Großmutter auf diese Gedanken gebracht.

„Ich bin wirklich zufrieden, nonna“, sagte Gina, die sich schon lange keine ‚eigenen Bedürfnisse‘ mehr zugestand, ebenso wenig wie Träumereien. Das Leben war für sie eben anders gelaufen. Und vielleicht, da sie mit diesem Märchen von der glücklichen Liebe aufgewachsen war, konnte sie sich einfach nicht mit weniger zufriedengeben. Sie hatte wichtige Entscheidungen getroffen, die sie nicht bereute – auch wenn sie sich kaum an das Gefühl erinnern konnte, als Frau begehrt zu werden.

„Und jetzt opferst du deinen Urlaub, um diese Reise zu organisieren – alles wegen der Verrücktheiten einer alten Frau.“

Nonna Marias Worte rissen Gina aus ihren Gedanken. „Das ist doch Unsinn“, schimpfte sie sanft mit ihrer Großmutter. „Ich wollte auch schon lange mal nach Elba. Könnte es ein besseres Ziel für einen gemeinsamen Urlaub geben?“, fragte sie lächelnd. Doch der Grund, aus dem sie hierher gereist waren, versetzte der Freude einen Dämpfer – ebenso wie die Wehmut, die sich in den Augen ihrer Großmutter spiegelte.

„Du hättest auf jeden Fall eine Möglichkeit gefunden, mich hierherzubringen und das Versprechen einzulösen, das du mir und deinem Großvater gegeben hast. Das bedeutet mir wirklich viel.“

„Ich weiß, nonna.“ Gina versuchte, ihre Besorgnis nicht zu zeigen. Die Reise würde von einer alten, von Arthritis geplagten Dame vielleicht einen Tribut fordern – ganz zu schweigen von den Gefühlen, die die Rückkehr nach Elba in ihr auslösen würde. Zudem musste Nonna Maria auch noch den Schmerz um den Verlust ihres geliebten Mannes verkraften, der fünfzig Jahre lang ihr Ein und Alles gewesen war.

„Kann ich dich kurz hier allein lassen?“, fragte Gina. „Ich würde gern nachsehen, ob jetzt jemand in der Villa ist.“

Die alte Dame strich ihr über die Hand. „Mach dir bitte keine Sorgen um mich. Ich bin einfach nur ein bisschen müde von der langen Reise gestern.“

Sie waren von Schottland nach Pisa geflogen, dann mit Zug und Taxi nach Piombino gefahren und von dort aus mit der Fähre nach Portoferraio, dem Hauptort auf Elba. Die anstrengende Reise war erst zu Ende gewesen, als sie das unberührte Westende der bergigen Insel erreicht hatten. Dort hatte Gina ein preisgünstiges privates Zimmer gemietet. Ein Doppelbett stand in dem Raum, der klein und einfach eingerichtet, aber gemütlich war. Mehr konnte sich Gina ohnehin nicht leisten. Außerdem waren sie in der Nähe vom Capo Sant’Andrea. An diesen Namen erinnerte sich ihre Großmutter und glaubte, dass ihr Ziel in der Nähe lag.

Gina war nicht überrascht, als der Siebzigjährigen die Strapazen der Reise deutlich zu schaffen machten. Doch ihre Großmutter hatte darauf bestanden, gleich am Morgen nach ihrer Ankunft an der nordwestlichen Küste nach dem gesuchten Ort zu forschen. Da sich der Taxifahrer in der Umgebung gut auskannte, hatten sie einen Glückstreffer gelandet und die versteckte Bucht mit dem „Dreizack des Neptun“ gefunden. Gina hoffte nur, dass ihre Großmutter vom weiteren Verlauf der Suche nicht enttäuscht sein würde.

Sie stand auf und nahm ihre Tasche. „Ich habe dir hier meine Handynummer aufgeschrieben, und Signora Mancini hat sie auch. Wenn du irgendetwas brauchst, kannst du dich jederzeit an sie wenden.“ Sie war der Vermieterin sehr dankbar, denn diese hatte sich freundlicherweise bereiterklärt, diskret ein Auge auf Nonna Maria zu haben, wenn Gina nicht da war.

Nickend versuchte ihre Großmutter, einen Hustenanfall zu unterdrücken, was Gina leicht beunruhigte. Sie runzelte die Stirn und neigte den Kopf, um die alte Dame auf die runzlige Wange zu küssen. Gleichzeitig sandte sie im Stillen ein Stoßgebet zum Himmel, die Reise möge erfolgreich verlaufen. „Ich werde mein Bestes für dich tun, nonna.“

„Das tust du doch immer, ragazza mia.“

Als ihre Großmutter sie mit feucht glänzenden Augen ansah, traten auch Gina Tränen in die Augen. Sie rang sich ein Lächeln ab. „Ich bin bald wieder da.“

Um Kosten zu sparen, nahm Gina kein Taxi, sondern lieh sich ein Fahrrad und fuhr die schmalen, gewundenen Straßen entlang zu der Villa, die sie zuvor entdeckt hatten. Ihr ganzes Leben lang, also seit achtundzwanzig Jahren, hatte sie wenig Geld gehabt. Doch was den McNaughts an materiellen Dingen fehlte, machten unendliche Liebe, Zuneigung und Rückhalt in der Familie mehr als wett. Gina war sehr glücklich darüber gewesen, einen Teil dieser Liebe zurückgeben zu können, als ihre Großeltern während der vergangenen vier Jahre bei ihr gelebt hatten. Oft hatte sie froh geseufzt, weil die klare Luft, die behagliche Umgebung und der in Strathlochan herrschende Gemeinschaftssinn dem alten Paar so gutgetan hatten.

Jeglichen Gedanken daran, dass ihr eigenes Leben praktisch auf Eis lag, hatte sie energisch verdrängt. Nein, Gina bereute ihre Entscheidungen nicht. Doch jetzt war ihr Großvater gestorben, und sie vermisste ihn schmerzlich. Und leider hatten ihre Großeltern nie gemeinsam nach Italien zurückkehren können. Deshalb hatte Gina sich geschworen, Nonna Maria dabei zu helfen, ihren Plan in die Tat umzusetzen.

Es war nicht einfach, von ihrem Gehalt als Krankenschwester die laufenden Kosten zu bestreiten, die Hypothek für das Cottage abzuzahlen und den Lebenstraum ihrer Großmutter zu erfüllen. Die Rente der alten Dame war eher ein Almosen, und Ginas Großvater hatte ihr nur sehr wenig hinterlassen können, obwohl er sein ganzes Leben lang hart gearbeitet hatte. Für den Notfall hatte Gina noch etwas Geld zurückgelegt, hoffte jedoch sehr, dass sie ihre Reserven nicht ganz aufbrauchen musste. Auf keinen Fall durfte Nonna Maria herausfinden, dass sie ihre Ersparnisse für die Reise nach Elba verwendet hatte.

Am Tor der Villa hielt Gina einen Moment lang inne, atmete die klare Luft ein und ließ den Blick über die wunderschöne Landschaft schweifen, über die mit Walnussbäumen bewachsenen Hänge, die sich bis zur Küste hinunterzogen. Es war vollkommen still. Wenn sie durch das Tor schritt, würde sie über eine Auffahrt zu dem hinter Bäumen versteckten Gebäude gelangen. Auf dem Schild stand in geschwungener Schrift: Villa beim Neptun-Felsen. Ihrer Großmutter zuliebe hoffte Gina, dass dies der richtige Ort war – und dass der Besitzer Verständnis für die ungewöhnliche Bitte hatte, die sie an ihn richten wollte.

Mit klopfendem Herzen ging Gina durch das Tor, zog die Pforte hinter sich zu und schob ihr Rad über die Auffahrt entlang. Der Weg war uneben, und sie war froh darüber, Turnschuhe zu ihren Jeansshorts und dem abgeschnittenen T-Shirt angezogen zu haben. Sobald das Gebäude in Sicht kam, befürchtete sie jedoch, dass sie zu leger gekleidet war. Denn wer auch immer hier wohnte, Geldsorgen hatte er sicher nicht.

Beeindruckt betrachtete Gina die lang gestreckte, fast palastartige Villa mit dem für Elba so typischen roten Ziegeldach und den zartgelb gestrichenen Wänden. Der üppige Garten bot einen perfekten Rückzugsort, das gesamte hügelige, bewaldete Grundstück schuf eine sehr private Atmosphäre. Bis auf Vogelgezwitscher und das leise Rascheln der Blätter im Wind war in der Stille des Nachmittags kein Geräusch zu hören.

Sofort verspürte Gina eine Art tiefen Frieden – und war von dem merkwürdigen Gefühl erfüllt, hier zu Hause zu sein. Befand sie sich wirklich in der Nähe des Ortes, der ihren Großeltern so viel bedeutet hatte? Dann war die Liebe, die sie hier gefunden hatten, hier sicher schon seit all den Jahren zu spüren.

Gina schüttelte den Kopf, um sich zu konzentrieren. Nachdem sie ihr Rad abgestellt hatte, hängte sie sich ihre Tasche um die Schulter und ging zur vorderen Haustür.

Als zu ihrer Enttäuschung niemand auf ihr Klingeln reagierte, zögerte Gina. Immerhin hatten sie und ihre Großmutter eine lange Reise hinter sich, und der alten Dame war das alles sehr wichtig. Vielleicht sollte sie warten, bis die Menschen nach Hause kamen, die in dieser Villa wohnten? Gina überlegte, ob sie eine Nachricht hinterlassen und darum bitten sollte, sie anzurufen. Doch eigentlich wollte sie den Grund ihres Besuchs lieber persönlich erklären.

Mit schlechtem Gewissen, weil sie sich auf einem Privatgrundstück befand, ging sie um das Gebäude herum. Es war u-förmig und so groß, dass ihr Cottage mehrfach hineingepasst hätte. Auf der breiten Terrasse standen ein Tisch, bequem wirkende Stühle und Liegesessel; es gab sogar eine Kochstelle. In einer Ecke entdeckte Gina eine Staffelei und Malutensilien. Unschlüssig drehte sie sich um.

Der Anblick der felsigen Klippen ließ ihr den Atem stocken. Noch nie hatte Gina etwas so Beeindruckendes gesehen.

Sie vergaß ihre Zurückhaltung und folgte einem Pfad, der sich durch die Büsche schlängelte. Er führte zu einer steilen Steintreppe, über die man zu einem tief unten gelegenen Strand gelangte. Hier mussten Maria und Matthew sich begegnet sein – vor fünfzig Jahren, bevor die Villa erbaut worden war. Gina musste einfach hinuntergehen und es mit eigenen Augen sehen, die kleine Bucht und die wie Neptuns Dreizack geformten Felsen – der Ort, an dem die Liebe ihrer Großeltern ihren Anfang genommen hatte.

Der Abstieg auf den in den Fels gehauenen Stufen war schwierig und nicht ungefährlich. Wenn dies wirklich der gesuchte Ort war, dann wäre Nonna Maria niemals in der Lage, auf diesem Weg an den Strand zu gelangen. Als Gina den halbmondförmigen kleinen Strand erreicht hatte, der von Felswänden begrenzt war, betrachtete sie die Felsformation, die sich in einiger Entfernung aus dem Wasser erhob. Tatsächlich, es sah wie ein riesiger Dreizack aus – genau wie ihre Großeltern es immer wieder so anschaulich beschrieben hatten.

Die Einsamkeit, die Schönheit der sie umgebenden Natur und das klare, in tiefblauen und smaragdgrünen Tönen schimmernde Wasser, der Anblick überwältigte Gina. Sie setzte sich hin und schlang die Arme um die Knie. Als sie die warmen Strahlen der Septembersonne auf der Haut spürte, schloss sie die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Dabei stellte sie sich vor, wie ihre Großeltern sich hier begegnet waren, sich heimlich zu romantischen Rendezvous getroffen und dann beschlossen hatten zu heiraten, obwohl Marias Eltern damit nicht einverstanden gewesen waren.

Doch Maria und Matthew hatten es geschafft, sie hatten die Schwierigkeiten überwunden und waren ihr Leben lang glücklich gewesen. Und all das dank eines zufälligen Aufeinandertreffens an diesem kleinen Strand auf Elba.

Elba. Allein der Klang dieses Namens verströmte einen Zauber, der Gina dank der Erzählungen ihrer Großmutter durch ihre Kindheit begleitet hatte. Nie würde sie den Augenblick vergessen, in dem sie Elba am Vortag zum ersten Mal erblickt hatte: die bergige Silhouette der Insel, die in das tiefe Blau des Meers hinausragte. Ihr ganzes Leben lang war Gina schon von der romantischen, märchenhaften Liebesgeschichte fasziniert, die ihre Großeltern auf Elba erlebt hatten. Sie war fest entschlossen gewesen, eines Tages herzukommen. Und jetzt war sie tatsächlich hier.

Schweren Herzens dachte Gina daran, warum sie mit ihrer Großmutter nach Elba gereist war. Sie machte sich Sorgen, dass die damit verbundenen Emotionen zu viel für Nonna Maria sein würden, doch andererseits hielt Gina immer, was sie versprochen hatte.

Gina gab sich der friedlichen Stimmung hin, sodass die Anspannung aufgrund der großen Verantwortung, die sie trug, ein wenig von ihr abfiel. Das Wasser reflektierte die Sonnenstrahlen, die Felsformation glitzerte in unzähligen Farbnuancen. Plötzlich meinte sie, den Meeresgott persönlich hinter den Felsen hervorkommen zu sehen. Mit kraftvollen Zügen schwamm er zum Strand und stieg aus dem Wasser.

Sie schrak aus ihrer Träumerei auf und war sich einen Moment lang nicht sicher, ob die Erscheinung vor ihr Fantasie oder Wirklichkeit war. Als der Mann Taucherbrille und Schnorchel abnahm, wirkte er allerdings sehr real. Sein perfektes Aussehen und seine sinnliche Ausstrahlung verschlugen Gina den Atem. Fasziniert beobachtete sie, wie er sich das tiefschwarze Haar zurückstrich. Seine Züge waren markant, unglaublich attraktiv und wirkten wie das Werk eines Bildhauers. Doch er war eindeutig ein Mensch aus Fleisch und Blut … und ausgesprochen männlich.

Sie konnte den Blick nicht von seinem durchtrainierten Körper abwenden, von den breiten Schultern, der sonnengebräunten Haut, auf der Wassertropfen glänzten. Wie gebannt betrachtete sie die muskulöse Brust mit den feinen dunklen Härchen, die sich über den flachen Bauch bis zu seinem Nabel hinzogen. Der nasse Stoff der tief auf seinen Hüften sitzenden schwarzen Schwimmshorts betonte seine schlanken, muskulösen Oberschenkel. Gina wurde so heiß, dass sie damit rechnete, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Plötzlich blickte der Mann in ihre Richtung und blieb stehen. Als ihre Blicke sich begegneten, rang Gina nach Atem.

Der Meeresgott ging zielstrebig auf sie zu. Er sah sie noch immer an, und bei seinem Blick zog sich ihr der Magen zusammen. Hastig stand Gina auf.

Buongiorno, signorina“, sagte der Mann, als er vor ihr stand. Seine angenehm tiefe, leicht raue Stimme ließ sie erschauern.

Buongiorno“, erwiderte Gina unsicher. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Es war kaum zu glauben, doch aus der Nähe war er sogar noch atemberaubender, als der erste Eindruck hatte vermuten lassen: Gut einen Meter achtzig groß, etwa Anfang dreißig, dunkle Bartstoppeln auf dem markanten Kinn. Seine sinnlichen, wohlgeformten Lippen schienen geradezu zum Küssen einzuladen. Und seine Augen hatten die Farbe von flüssigem Karamell, sie waren umgeben von langen tiefschwarzen Wimpern und feinen Lachfältchen.

Gina konnte der Versuchung nicht widerstehen und ließ den Blick über den Körper des Mannes gleiten: über die breiten Schultern, die muskulöse Brust und den flachen Bauch. Beim Anblick der Wassertropfen, die langsam über seine sonnengebräunte Haut rannen, wurde ihr schwindelig.

Er war ihr so nah, dass ihr beim Einatmen sein Duft in die Nase stieg, vermischt mit dem Geruch des Meeres. Gina verspürte den unbändigen Wunsch, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren. Diese Sehnsucht war so stark, dass sie energisch dagegen ankämpfen musste.

Erschrocken über diesen starken Impuls, wich Gina einen Schritt zurück und blickte dem Mann wieder ins Gesicht. Dabei stellte sie fest, dass er sie ebenso aufmerksam musterte wie sie ihn. Ihr Atem ging unregelmäßig, ihr Puls schien zu rasen, und sie verspürte ein sinnliches Prickeln, als hätte er sie tatsächlich berührt. Beunruhigt wich sie noch einen Schritt zurück. Wie lange mochte es her sein, dass sie einen gut aussehenden Mann bewusst angesehen hatte – und wie lange, dass jemand ihr das Gefühl gegeben hatte, eine begehrenswerte, attraktive Frau zu sein?

„Das hier ist ein Privatstrand, signorina.“ In seiner sanft klingenden Stimme schwang ein scharfer, vorwurfsvoller Unterton mit.

„Entschuldigung“, sagte Gina leise auf Italienisch, vom unerwarteten Auftauchen des Mannes und ihrer Reaktion auf ihn immer noch völlig durcheinander.

„Wie haben Sie hierher gefunden? Und was wollen Sie hier?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich …“ Gina zögerte, abgelenkt vom beeindruckenden Spiel seiner Muskeln. Dann gab sie sich einen Ruck und rief sich in Erinnerung, warum sie hier war. „Gehört der Strand den Leuten, denen auch die Villa gehört?“

Der Blick des Mannes wurde misstrauisch. „Warum wollen Sie das wissen?“

„Weil ich mit dem Besitzer sprechen muss.“

Mit undurchdringlicher Miene sah ihr Gegenüber sie an. „Die Villa steht nicht zum Verkauf“, erwiderte er dann.

„Darum geht es mir auch nicht. Ich …“

„Das Anwesen gehört einer Familie aus Florenz“, erklärte er abrupt. „Sie werden aber noch eine ganze Weile weg sein.“

„Und Sie kümmern sich in ihrer Abwesenheit um die Villa …?“ Gina überlegte, wie viel sie dem Fremden anvertrauen konnte. Mit einem Mal verspürte sie einen Anflug von tiefer Enttäuschung. Es schien immer unwahrscheinlicher zu werden, dass sich der Traum ihrer Großmutter erfüllte.

Durchdringend sah er sie an. „Warum wollen Sie mit den Besitzern sprechen?“

„Es geht um eine private Angelegenheit.“

„Vielleicht kann ich Ihnen helfen.“

Vorsichtig blickte Gina ihn an. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart unsicher und so seltsam atemlos. „Wenn Sie mir sagen, wie ich die Besitzer erreichen kann, würde mir das tatsächlich helfen.“

„Kommen Sie mit in die Villa“,forderte der Mann sie auf. „Dann können Sie mir erzählen, warum Sie mit ihnen reden wollen. Und ich werde entscheiden, ob ich Ihnen die entsprechenden Informationen gebe.“

Zögernd biss Gina sich auf die Lippe. Sie dachte an ihr Versprechen und an die lange Reise, die sie und ihre Großmutter hinter sich hatten. Sie durfte Nonna Maria nicht enttäuschen. Und da sie in nur wenigen Tagen wieder zurück nach Schottland fahren würden, blieb ihnen nicht viel Zeit. Vielleicht konnte der Mann, der offenbar als eine Art Hausmeister hier arbeitete, tatsächlich helfen und Nonna Marias Bitte erfüllen? Gina spürte zwar instinktiv, dass es nicht klug war, sich länger in seiner Gegenwart aufzuhalten. Aber es sah so aus, als müsste sie mit ihm zusammenarbeiten. Eine andere Wahl hatte sie nicht.

Also traf sie eine Entscheidung. „Einverstanden“, sagte sie fest und nickte. „Allerdings habe ich wenig Zeit, es wartet nämlich jemand auf mich.“

Ein Mann?

Stirnrunzelnd fragte Seb sich, warum ihm diese Vorstellung so missfiel. Ja, die unbekannte Frau faszinierte ihn. Sie hatte eine geheimnisvolle Ausstrahlung, subtile Sinnlichkeit lag in ihren Bewegungen. Er hatte nicht damit gerechnet, nach dem Schwimmen diese Fremde am Strand anzutreffen, und diese Tatsache allein machte ihn ein wenig misstrauisch. Noch hatte sie ihm nicht erklärt, wie sie die versteckt gelegene Villa gefunden hatte – und was sie von seiner Familie wollte. Womöglich glaubte sie tatsächlich, dass er das Anwesen lediglich verwaltete. Forschend sah Seb in ihre seelenvollen braunen Augen. Oder war sie eine clevere Reporterin, die ihn mit einem Trick in Sicherheit wiegen wollte, um dann einen Artikel über ihn zu veröffentlichen? Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand ihn so hereinlegte. Doch diesmal würde Seb aufpassen. Er würde die Frau nicht aus den Augen lassen, bis er mehr über sie und ihre Motive in Erfahrung gebracht hatte.

Autor

Margaret Mc Donagh
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