Liebesheirat nur zum Schein?

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Heiraten? Nichts für Playboy Gianni Renzetti! Bis er nach einem kompromittierenden Foto aus einem Nachtclub einen Skandal vom Familienunternehmen abwenden muss. Jetzt hat der CEO keine Wahl mehr! Nur wo soll er so schnell eine seriöse Ehefrau hernehmen? Da passt es gut, dass seine Kindheitsfreundin Josephine ihm keinen Wunsch abschlagen kann. Giannis Scheinehe mit ihr ist ein rein platonischer Deal. Bis es jäh immer sinnlicher zwischen ihnen prickelt. Aber darf er für eine Nacht der Leidenschaft ihre langjährige Freundschaft aufs Spiel setzen?


  • Erscheinungstag 30.05.2023
  • Bandnummer 2599
  • ISBN / Artikelnummer 9783751518567
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Gianni Renzetti, jüngster und phänomenal erfolgreicher CEO von Renzetti Inc., unterdrückte einen Fluch, als seine Assistentin ihm mitteilte, dass sein Vater im Büro auf ihn wartete. Sicher ging es um den schmierigen Artikel, der an diesem Morgen erschienen war. Auch Giannis Assistentin hatte die Fotos in der Zeitung gesehen, denn sie konnte ihm kaum in die Augen schauen. Was ihm peinlich war. Er war ein äußerst gutaussehender Mann mit einem markanten Gesicht und schwarzen glänzenden Haaren, was ihm in der Regel bewundernde Blicke der Damenwelt einbrachte.

Wütend presste er die sinnlichen Lippen zusammen. Sein Privatleben – und somit auch sein Sexleben – ging niemanden etwas an. Dummerweise aber hatte er sich in einem privaten Zimmer eines Nachtklubs der Versuchung ergeben und war dabei fotografiert worden. Als man daraufhin versuchte, ihn zu erpressen, hatte er die Polizei eingeschaltet. Folgerichtig waren schon kurz darauf die schlüpfrigen Fotos seines nächtlichen Abenteuers in einem billigen Boulevardblatt erschienen. Aber Gianni würde nicht zulassen, dass dieser eine Moment der sexuellen Schwäche sein Leben überschattete!

Mit einem resignierten Ausdruck in den sonst so strahlenden dunklen Augen betrat er das Büro. Die Beziehung zu seinem Vater war schon immer schwierig gewesen. Seine verstorbene Mutter hatte ihren Mann enterbt und das riesige Vermögen in einem Treuhandfonds ihrem einzigen Sohn überlassen. Deswegen hegte sein Vater einen gewissen Groll gegen ihn. Und die Beziehung zwischen den beiden Männern hatte sich weiter verschlechtert, als Gianni bei Renzetti Inc. den Posten seines Vaters übernommen hatte. Federico Renzetti hatte leider einige falsche Geschäftsentscheidungen getroffen, woraufhin der Vorstand, dem auch die beiden älteren Brüder des Vaters angehörten, ihn abgewählt und durch Gianni ersetzt hatte, der bereits sein eigenes, höchst profitables Unternehmen leitete. Zwar hatte Federico damals beteuert, sich ohnehin zur Ruhe setzen zu wollen, doch seine Bitterkeit war ins Unermessliche gewachsen, als das Familienunternehmen unter der Leitung seines Sohnes immer erfolgreicher wurde.

„Federico“, begrüßte Gianni seinen Vater mit der Anrede, die dieser bevorzugte, und reichte ihm die Hand.

Der großgewachsene, aufgrund seines Lebensstils inzwischen etwas rundliche Federico Renzetti musterte seinen Sohn missbilligend.

„Ich bin nur hier, um dir mitzuteilen, dass weder ich noch deine Onkel dich verteidigen werden, wenn der Vorstand dich Ende des Monats abwählt.“

Gianni erstarrte. Er war nicht davon ausgegangen, dass man ihn wegen dieses Artikels abwählen könnte. Seiner Erfahrung nach stand für die Vorstandsmitglieder immer der Profit an erster Stelle. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken herunter. Außer seiner Arbeit waren Gianni nur wenige Dinge wichtig, so hatte man ihn erzogen. Er lebte nur für das Unternehmen und schätzte seine verantwortungsvolle Position zutiefst.

„Diese schmutzige Angelegenheit hat den Ruf des Unternehmens in Misskredit gebracht“, empörte sich sein Vater. „Das kann man nicht ignorieren.“

„Die Geschichte hat lediglich mich in Misskredit gebracht“, widersprach Gianni ruhig. „Ja, ich habe eine Dummheit gemacht und werde gar nicht erst versuchen, mich herauszureden.“

„Du hattest in einem Nachtklub Sex mit einer Frau!“, fuhr Federico ihn angewidert an. „Noch dazu vor laufender Kamera!“

„Ich wusste nichts von der versteckten Kamera“, erwiderte Gianni bitter. „Aber ich lasse mich auch nicht erpressen.“

„Du hättest das intrigante Flittchen bezahlen sollen, um den Ruf des Unternehmens zu schützen.“

„Dafür ist es jetzt zu spät.“ Gianni hatte keine Lust, sich weiter mit seinem Vater zu streiten. In den Augen des älteren Mannes konnte er sehen, dass ihm die Geschichte eine gewisse Genugtuung bereitete, und das verletzte ihn tief. Wie schon oft seit seiner Kindheit fragte er sich, was er getan hatte, um diese mangelnde Zuneigung zu verdienen.

„Du hast nie auf mich gehört oder auch nur einen Rat von mir annehmen wollen“, schimpfte Federico. „Hättest du dir eine Geliebte genommen, wäre das diskret gewesen. Dann hätte es keine solchen Überraschungen gegeben. Und keine Skandale.“

Gianni biss die Zähne zusammen. Seiner Überzeugung nach wäre eine Geliebte für ihn ebenso erdrückend gewesen wie eine Ehefrau. Wie sollte eine einzige Frau all seine Bedürfnisse befriedigen können? Gianni genoss die Freiheit und die Abwechslung, die sein Leben mit sich brachte, aber eine Geliebte hätte ein gewisses Maß an Treue verdient. Warum sollte er sich darauf einlassen, wenn die meisten Frauen, die er kennenlernte, mit einer kurzen Affäre zufrieden waren? Außerdem erinnerte ihn diese Lebensweise zu sehr an seinen Vater, und er wusste, wie sehr seine Mutter sich durch Federicos unzählige Geliebte gedemütigt gefühlt hatte.

„Noch besser wäre natürlich, du wärst schon verheiratet und würdest ein beständiges Leben führen“, fügte Federico Renzetti grimmig hinzu.

„Warum sollte ich schon mit achtundzwanzig Jahren heiraten wollen?“, fragte Gianni verständnislos.

„Ich war bereits mit dreiundzwanzig verheiratet!“

„Ja“, entgegnete Gianni und verkniff sich die Bemerkung, dass seine Mutter zu dieser Zeit die reichste Erbin in Europa gewesen war, so dass sein verarmter Vater sich diesen Fang nicht hatte entgehen lassen wollen. „Nur wenige Erwachsene binden sich heutzutage schon so jung.“

„Wärst du verheiratet oder auch nur verlobt, hätte der Vorstand noch Hoffnung, dass du dich in Zukunft besser benehmen wirst. Aber du willst einfach nicht erwachsen werden“, wetterte Federico weiter. „Was hast du nur gegen die Ehe?“

„Du meinst, weil du und Mutter in eurer Ehe so glücklich wart?“, entgegnete Gianni.

Sein Vater wurde blass und trat einen Schritt zurück. „Es tut mir leid, dass du von unseren Schwierigkeiten etwas mitbekommen hast.“

Gianni fühlte sich unbehaglich. Er hatte seinem Vater keine Vorwürfe machen wollen und sprach daher nur selten von seiner Mutter, die gestorben war, als er dreizehn Jahre alt gewesen war. Seine Erinnerungen an sie waren zu privat und zu schmerzlich.

Einige Sekunden herrschte ein angespanntes Schweigen. Dann hob Federico beschwichtigend die Hände.

„Hör zu! Du kannst immer noch aus dieser grässlichen Situation herauskommen, wenn du die richtige Frau heiratest. Aber kennst du überhaupt eine anständige Frau? In den verruchten Privatklubs und auf den wilden Partys, zu denen du so gerne gehst, wirst du sie kaum finden. Sie sollte reif und anständig sein und einen makellosen Ruf genießen.“

„Angesichts der Schlagzeilen, die ich letztes Wochenende verursacht habe, würde eine anständige Frau mich wohl kaum heiraten wollen“, merkte Gianni an.

„Unsinn“, entgegnete sein Vater ungeduldig. „Du bist reicher als Krösus! Selbst die moralischste Frau könnte bei dem, was du zu bieten hast, nicht widerstehen.“

„Ich habe aber kein Interesse an einer geldgierigen Frau“, erwiderte Gianni. „Außerdem gibt es keine Garantie, dass ein Ehering an meinem Finger die Bedenken des Vorstands zerstreuen würde.“

„Wir Vorstandsmitglieder sind alles alte Männer, Gianni. Wir setzen Ehe mit Erwachsensein, Reife und Stabilität gleich“, erklärte sein Vater. „Sicher könntest auch du dich mit einer Ehe abfinden, wenn diese die gewünschten Resultate bringt, oder?“

Gianni biss die Zähne zusammen und schwieg. Er kannte nur Partygirls und angehende Fotomodelle. Andererseits zog er den Rat seines Vaters nicht ernsthaft in Betracht. Er hatte einen Fehler gemacht und würde daraus lernen, auch wenn er dafür Lehrgeld zahlen musste. Aber sich in eine unglückliche Ehe stürzen, nur um den moralischen Vorstellungen anderer Leute gerecht zu werden? Das kam überhaupt nicht in Frage.

Josephine Hamilton las die Absage der Bank und schaute aus dem Dachfenster hinüber zu der palastartigen Residenz Belvedere, die an Ladymead, den Familiensitz der Hamiltons, angrenzte. Ladymead stammte noch aus der Tudor-Zeit und war baufällig.

Während das Familienvermögen der Hamiltons geschwunden war, war das Vermögen der Renzettis ständig gewachsen. Belvedere gehörte nun Gianni Renzetti, dem größten Grundbesitzer und Arbeitgeber in der Gegend. Vor über hundert Jahren hatte ein Vorfahre von Giannis Mutter ein Stück Land von Ladymead gekauft und darauf die prachtvolle Residenz errichten lassen. In den folgenden Jahren hatten Giannis Vorfahren das ursprünglich zu Ladymead gehörende Land Stück für Stück aufgekauft. Nur der ummauerte Garten, die Nebengebäude und ein Stück am Ufer des Sees gehörten noch den Hamiltons. Würde Gianni auch den Rest aufkaufen, wenn die Schulden sie zwangen, ihr Heim zu verkaufen? Ladymead wird zu einem Schleuderpreis weggehen, dachte Jo unglücklich.

Langsam stieg sie die wackelige Dienstbotentreppe hinab. Wann hatte es zuletzt überhaupt einen Dienstboten in ihrem Haus gegeben? Mühsam unterdrückte sie das überwältigende Gefühl des Versagens und straffte die Schultern. Für ihre Angehörigen musste sie stark sein.

Jo legte das Schreiben der Bank auf den Küchentisch, wo ihre Großmutter und ihre beiden Großtanten bereits saßen und warteten. Der Familienrat der Hamiltons tagte.

„Wieder eine Absage“, sagte Jos Großmutter Liz bestürzt.

„Aber ich habe extra eine Kerze angezündet und um Erfolg gebeten!“, rief ihre an Zauberei glaubende Großtante Trixie enttäuscht aus und schüttelte den Kopf, wobei ihre Ohrringe und Armbänder laut klimperten und ihr das lange graue Haar ins Gesicht fiel. „Warum hat das nicht funktioniert?“

Sibyl, die jüngere der Schwestern, verdrehte die blauen Augen und hob ihre künstlichen Wimpern im Stil einer Femme fatale. „Weil wir nicht kreditwürdig sind“, sagte sie mit der ihr eigenen Sachlichkeit. „Und was jetzt?“

Jo zuckte mit den Schultern und spielte nervös mit ihrem langen blonden Zopf. Die dunkelblauen Augen in ihrem zarten Gesicht waren voller Sorge.

„Ich werde Gianni fragen, ob er uns das Geld leiht. Die Banken haben alle abgesagt. Er ist unsere letzte Hoffnung.“

„Ich weiß nicht, ob du allein zu ihm gehen solltest.“ Sybil spielte auf den schockierenden Zeitungsartikel an, den jeder vor Ort gesehen und verschlungen hatte.

Jo ignorierte ihre Bemerkung. „Ich treffe ihn heute Abend. Am Wochenende ist er immer zu Hause. Ich dachte, wir sollten es locker angehen.“

„Sicher wünschst du jetzt, du hättest Ja gesagt, als er dich letztes Weihnachten wieder zum Abendessen eingeladen hat.“ Sibyl seufzte. „Immerhin war es schon die zweite Einladung, und du hast ihn wieder abgewiesen. Was ihn sicher nicht großzügiger stimmen wird.“

„Ich denke, er wäre schockierter gewesen, hätte ich Ja gesagt“, entgegnete Jo, um das Thema zu beenden. Sie kannte sich selbst sehr gut. Gianni brachte sie in Versuchung wie kein anderer Mann. Ihr war schmerzlich bewusst, dass sie bei ihm schwach werden könnte, genau deshalb hatte sie immer abgelehnt. Gianni war ein Casanova, und Jo war fest entschlossen, nicht zu einer weiteren Kerbe in seinem Bettpfosten zu werden. Andererseits kannte sie Gianni bereits seit ihrer Kindheit, und ihre – wenn auch lockere – Freundschaft war ihr zu wichtig, als dass sie diese besondere Beziehung gefährden wollte.

„In manchen Kulturen glaubt man, dass, wenn man einem Menschen das Leben gerettet hat, dieses Leben einem gehört“, sinnierte Trixie gedankenverloren. „Gianni hat für seine Bemühungen an jenem Tag nicht viel zurückbekommen.“

Sibyls Augen blitzten wütend auf. „So war es nicht. Auch wenn niemand das zugeben will: Jo hat ihn vor dem Ertrinken gerettet, nicht er sie!“

Jo zog die Nase kraus. „Ich war neun Jahre alt und er gerade dreizehn“, erinnerte sie ihre Großtanten sanft. „Wir waren beide dumm und haben beide überlebt. Das ist alles, was zählt.“

Sybil wollte schon widersprechen, sah dann aber das angespannte Gesicht ihrer älteren Schwester und schwieg. Liz Hamiltons Sohn Abraham hatte sich im See ertränkt, und niemand mochte dieses schmerzliche Thema vor seiner Mutter diskutieren.

Unangenehm berührt von der Erinnerung an diese Verbindung zwischen ihr und Gianni und an das Geheimnis, das sie in ihrer kindlichen Naivität beide verschwiegen hatten, erhob Jo sich vom Tisch. Sie hatte Gianni ein Jahr vor jenem Unfall kennengelernt. Ihre Großmutter hatte sie zu einem Besuch bei Giannis Mutter Isabella mitgenommen, einer charmanten und freundlichen Frau, die lange gegen den Krebs angekämpft und ihre Krankheit stoisch ertragen hatte.

Isabella liebte Rosen, und Liz Hamilton hatte ihr damals einen Strauß mitgebracht. Im sonnenbeschienenen Salon war exquisiter Nachtmittagstee serviert worden. Jo hatte der Unterhaltung der Erwachsenen gelauscht und sich fürchterlich gelangweilt. Und dann war Gianni hereingekommen, ein großer, schlaksiger zwölfjähriger Junge mit seidig glänzenden schwarzen Haaren und olivfarbener Haut. Jo hatte die Liebe in seinen Augen gesehen, als er seine gebrechliche Mutter ansah; eine Liebe, die auf Gegenseitigkeit beruhte, denn seine Mutter hatte ihn zu sich gewunken und vorgestellt. Sie war eindeutig sehr stolz auf ihn.

Gianni war sehr höflich gewesen. Er verzog nicht einmal das Gesicht, als Isabella ihn gebeten hatte, Jo mit nach draußen zu nehmen und zu beschäftigen. Stattdessen stellte er Jo ein paar heikle Fragen, um das Schweigen zwischen ihnen zu brechen, zum Beispiel, warum sie bei ihren Großeltern lebte. Sie hatte geantwortet, dass ihre Mutter tot sei und sie sich nicht mehr an sie erinnerte und dass niemand wusste, wer ihr Vater war. Ihre Offenheit und Ehrlichkeit hatten Gianni irritiert, aber Jo war damals zu naiv, um zu lügen. Als sie sagte, dass sie sich lieber die Bibliothek ansehen würde als den Garten, zeigte er ihr ein Regal mit englischen Büchern, und binnen kürzester Zeit machte Jo es sich in einem Sessel bequem und las in den Kinderbüchern, die einmal ihm gehört hatten.

„Wie alt bist du eigentlich?“, fragte er sie irgendwann.

„Acht“, antwortete sie stolz.

„Du bist echt winzig!“

„Bin ich nicht. Du bist bloß sehr groß. Meine Güte, kannst du wirklich Englisch und Italienisch lesen?“

„Wenn ich Englisch spreche, kann ich es auch lesen“, erwiderte Gianni. „Meine Großmutter war Engländerin. Meine Mutter wollte, dass ich zweisprachig aufwachse, darum gehe ich auf eine englische Schule.“

Er besuchte ein elitäres Internat, wo nur Reiche, Mitglieder des Adels oder der Königsfamilie ihre Kinder hinschickten. Obwohl seine Mutter so krank war, war er nur selten auf Belvedere. Erst im darauffolgenden Jahr hatte Jo ihn wiedergesehen – unter Umständen, die sie lieber vergessen wollte.

„Dieser arme Junge“, hatte ihre Großmutter damals zu ihren Schwestern gesagt. „Er hat kaum Zeit mit seiner Mutter verbringen können. Nur in den Ferien. Und nun ist sie tot. Isabella sagte, sein Vater sei sehr streng, was die Schule betrifft. Er hat seinem Sohn nicht erlaubt, dass er sich freinimmt, um in den letzten Wochen bei seiner Mutter sein zu können.“

Jo hatte unter einem Baum im Vorgarten gesessen, als sie Gianni in der Ferne zum See hinuntergehen sah. Weil er trauerte, dachte sie zuerst gar nicht daran, zu ihm zu gehen. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, was sie in so einer Situation sagen sollte, und sie waren ja auch nicht wirklich Freunde, dafür war der Altersunterschied zu groß.

Sie hatte beobachtet, wie er in den See ging. Ob er wusste, dass der Boden nach einigen Metern steil abfiel? Und warum hatte er eigentlich keine Badesachen an? Als sie ihn weiter in den See gehen sah, erinnerte sie sich plötzlich an ein Gespräch zwischen ihren Großtanten, das sie zufällig gehört hatte, und sprang auf. Die beiden hatten über den Tod von Jos Onkel Abraham im Jahr zuvor gesprochen.

„Sie hat gesehen, wie Abraham in den See ging“, hatte Trixie damals geschluchzt. „Wie konnte er das seiner eigenen Mutter nur antun? Sie sah von ihrem Schlafzimmerfenster aus, wie er ins Wasser ging, immer tiefer und tiefer, bis er verschwand. Da schrie sie auf und rannte los. Aber es war zu spät. Als wir am See ankamen, war er schon tot.“

Damals hatte Jo nicht verstanden, dass ihr Onkel sich das Leben genommen hatte, weil er das Vermögen der Familie durch zweifelhafte Investitionen verloren hatte. Aber sie wusste, dass er ertrunken war. Aus Sorge um Gianni brach sie nun die eiserne Regel, niemals ohne Begleitung eines Erwachsenen an den See zu gehen, und rannte so schnell wie nie zuvor in ihrem Leben direkt in das Wasser hinein. Sie war eine gute Schwimmerin, daher hatte sie keine Angst.

Gianni verschwand gerade unter der Wasseroberfläche, als sie nach ihm rief, doch er hörte sie nicht. Jo lief weiter in den See hinein und wollte eben losschwimmen, als ihre Füße sich in den Wasserpflanzen verfingen. Plötzlich bekam sie Panik und vergaß alles, was sie über das Verhalten im Wasser gelernt hatte. Sie ruderte wild mit den Armen und kickte mit den Füßen, um sich zu befreien, doch dadurch versank sie nur noch schneller und tiefer in dem trüben Wasser.

Was danach geschehen war, wusste sie nicht mehr. Sie erinnerte sich nur daran, wie sie hustend und prustend am Ufer lag. Gianni drehte sie auf den Rücken und sagte ihr immer wieder, sie solle atmen. Der Blick seiner braunen Augen war voller Sorge.

Wer hat nun wen gerettet?, fragte sich Jo bis heute. Darüber wurde nie gesprochen, denn sie hatte niemandem erzählt, was sie damals vermutete: dass Gianni, verzweifelt über den Tod seiner Mutter, in den See gegangen war, um nie wieder aufzutauchen. Und sie selbst wäre damals sicher auch ertrunken, hätte er sie nicht aus dem Wasser gezogen. Seit jenem Tag hatte sie jedenfalls immer einen großen Bogen um den See gemacht.

Beim Abendessen brachte Jo vor lauter Nervosität kaum einen Bissen hinunter. Um ihre Großmutter nicht zu beunruhigen, aß sie dennoch etwas von der Suppe.

„Sicher willst du Gianni das Land am See anbieten“, sagte Liz Hamilton leise. „Das kannst du gern tun. Seit dem Tod deines Onkels Abraham war dort niemand mehr fischen.“

„Irgendetwas muss ich ihm anbieten. Unser Dach wird einen weiteren Winter nicht überstehen“, erwiderte Jo zerknirscht.

„Das Dach über meinem Laden muss auch repariert werden“, bemerkte Trixie.

„Das Dach auf dem Haus ist wichtiger“, entgegnete Sybil. „Und dann müssen die Kabel neu verlegt werden. Sonst schalten sie uns den Strom ab, weil wir die Sicherheitsstandards nicht einhalten.“

„Eins führt zum anderen.“ Liz seufzte schwer. „Die Elektrik hat Jos Plan zunichte gemacht, hier eine Frühstückspension zu eröffnen. Jeder will Geld, aber wir haben keins. Unsere Einnahmen reichen gerade einmal, um die wöchentlichen Rechnungen zu zahlen.“

Jo ließ die Schultern hängen und schob den Suppenteller weg. Manchmal wurde ihr einfach alles zu viel. Die Bürde der Verantwortung. Die Tatsache, dass sie jeden Penny mehrmals umdrehen mussten.

Bis ihr Onkel Abraham die Ersparnisse der Familie verloren hatte, waren sie klargekommen. Dann aber war auch noch ihr Großvater gestorben, der einen guten Geschäftssinn gehabt hatte. Jo hatte eigentlich ihren Abschluss in Betriebswirtschaft nutzen wollen, um einen Job zu finden. Aber Ladymead und ihre Familie zu unterstützen, stand für sie an erster Stelle. Sie hatte einige gute Ideen, wie sie mit den ungenutzten Gebäuden im Hinterhof Einnahmen erzielen könnten. Leider kosteten die dazu erforderlichen Veränderungen oder Renovierungen zu viel Geld.

Trixie hatte jetzt einen kleinen Laden, in dem sie Kristalle, Kerzen und Kunsthandwerk verkaufte, außerdem buchten die Menschen bei ihr gern Tarotsitzungen. Sybils Herz wiederum schlug für das kleine Tierheim, das sie in der Scheune untergebracht hatte. Aber sie verkaufte auch Biogemüse, das ihr einziger verbliebener Angestellter Maurice in dem ummauerten Garten züchtete. Maurice war uralt, lebte vor Ort und weigerte sich, in Rente zu gehen.

Duffy, Jos Papagei, flog herein, landete auf dem Stuhl vor Jo und fing an, ein Lied aus einem Musical zu singen: Money makes the world go round.

„Du hast das böse Wort ‚Geld‘ gesagt, das hat er gehört“, schimpfte Sybil mit ihrer großen Schwester.

„Immer noch besser als die Bibelzitate. Aber ich muss zugeben, dass er erstaunlich einfühlsam ist, wenn er Shakespeares Sonette zitiert“, bemerkte Trixie liebevoll.

„Er ist eben ein sehr gebildeter Papagei“, sagte Liz Hamilton voller Stolz.

Jo verließ den Raum und ging sich umziehen. Fairy, ein anmutiger Windhund, folgte ihr nach oben. McTavish, der Scottish Terrier der Hamiltons, der alle Menschen hasste außer Jo, jagte draußen Hasen. Das war gut so, weil sie gleich nach Belvedere wollte und der kleine Hund Gianni ganz besonders hasste. Seine Haushälterin hatte Jo kürzlich zweimal anrufen müssen, weil McTavish im Garten auf Gianni lauerte.

Sie strich ihr verblasstes blaues Sommerkleid glatt, löste ihren Zopf und bürstete schnell noch ihr Haar. Gianni legte sehr viel Wert auf Pünktlichkeit, und sie wollte ihn auf keinen Fall verärgern.

Zusammen mit Fairy stieg sie in den Pick-up-Truck, das einzige verbliebene Fahrzeug auf Ladymead, dessen Nutzung streng geregelt war, damit jeder von ihnen ab und an etwas Freiheit genießen konnte. Gianni hingegen hatte eine riesige Garage voller Autos, die meisten davon Sportwagen.

Bedrückt dachte Jo an ihr letztes Zusammentreffen mit Gianni. Er war zu Ralphs Beerdigung gekommen und hatte ihr persönlich sein Beileid für ihren „Verlust“ ausgesprochen. Ralph Scott, der beim Absturz seines Militärhubschraubers ums Leben gekommen war, war zwar nur ein guter Freund gewesen, aber außer ihrer Familie glaubten fast alle, Jo und Ralph wären heimlich verlobt gewesen. Dabei hatte Ralph diese Geschichte nur verbreitet, um sein Gesicht zu wahren, nachdem er herausfand, dass seine frühere Verlobte Jane ihn mit seinem besten Freund betrog. Ralphs Tod war für Jo ein Schock gewesen, doch sie trauerte lediglich um einen guten Freund, nicht um einen Mann, den sie geliebt hatte. Das hätte sie Gianni gerne erklärt, aber um sie herum waren so viele Menschen gewesen, dass sie keine Gelegenheit dazu gehabt hatte.

Gianni hatte ihr auf seine eigene Weise Trost gespendet und erklärt, es brächte nur Kummer, einen Menschen zu lieben. Als sie das in Frage stellte, gab er zu, dass ihm jemand, als er noch jünger war, das Herz gebrochen und er daraus gelernt hätte. Jo war erstaunt gewesen, dass er ihr etwas derart Persönliches erzählte, teilte seine Meinung aber nicht. Dennoch fragte sie sich seitdem immer wieder, wer diese Frau wohl war und was zwischen den beiden vorgefallen war.

Jo verdrängte die unpassenden Gedanken, parkte den Wagen vor dem Haus und ging zu der imposanten Eingangstür. Abigail, Giannis mollige Haushälterin, öffnete lächelnd die Tür und ließ Jo herein.

„Mr. Renzetti ist in der Orangerie. Zu dieser Jahreszeit ist es dort sehr schön, wenn man die Terrassentüren weit öffnet und die Sonnenstrahlen hereinfallen.“ Sie führte Jo durch die große Eingangshalle und hinaus in die Orangerie mit den vielen Pflanzen. „Wie geht es Ihnen? Ihre Großmutter erzählte mir gestern, Sie seien sehr beschäftigt.“

„Irgendwie hat der Tag nie genug Stunden“, gab Jo zu und hielt den Atem an, als sie Schritte hörte, kräftig und sicher wie der Mann selbst.

„Jojo“, sagte Gianni. „Für welchen Zweck sammelst du denn heute?“ Er hatte ihr mal gesagt, der Name Josephine sei viel zu lang, Jo hingegen klänge wie ein Jungenname, und sie fortan einfach Jojo genannt, auch wenn sie ihn jedes Mal böse anschaute.

„Sammeln?“, fragte sie verdutzt zurück und spürte, wie sie errötete. Im denkbar schlechtesten Moment musste sie an das körnige Zeitungsfoto von ihm zusammen mit dieser halbnackten Frau denken und hatte plötzlich Schmetterlinge im Bauch. Ihre Großmutter hatte gesagt, Gianni sei ihr Nachbar, daher sei es respektlos, diese schmierige Zeitung im Haus zu haben, da er erpresst worden sei und von der Kamera nichts gewusst habe. Jo hatte sich geschämt, dass sie trotzdem jedes schmutzige Detail verschlungen hatte, und sie schämte sich noch mehr, als sie spürte, wie sich jetzt ihre Brustwarzen aufrichteten und ihr heiß wurde. Aber letztendlich war sie eine Frau wie jede andere, und Gianni war einfach unwiderstehlich. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie unglaublich gutaussehend er war. Der maßgeschneiderte dunkle Nadelstreifenanzug betonte seine muskulöse Brust und die schlanken durchtrainierten Oberschenkel.

Fairy, die von Jos Befangenheit nichts bemerkte, fand einen Teppich, drehte sich dreimal darauf herum und legte sich hin.

„Für welchen wohltätigen Zweck sammelst du? Wenn du zu Besuch kommst, sammelst du doch meistens für irgendeine Organisation. Aber normalerweise machst du vorher keinen Termin aus“, erklärte Gianni und musterte sie verstohlen. Das Verlangen, das dabei in seinem Unterleib wuchs, war ihm nur allzu bekannt.

Josephine Hamilton war exquisit, es gab einfach kein besseres Wort. Aus dem hübschen Kind war eine schöne Frau geworden, mit einer seidigen blonden Mähne, saphirblauen Augen, einer zarten Nase und vollen rosigen Lippen. Sie war schlank, ungefähr einen Meter fünfundsechzig groß und hatte die Anmut einer Balletttänzerin. Wenn er sie ansah, nahm es ihm den Atem. Vergangenes Weihnachten war sie zusammen mit den Weihnachtssängern auf Belvedere aufgetaucht, ihre Augen hatten geleuchtet, ihr Haar war zerzaust gewesen, und ausnahmsweise hatte sie ihn angelächelt. 

Jetzt lachte Gianni, als sie ihn verständnislos ansah. „Das letzte Mal, als du hier warst, hast du für die Obdachlosen gesammelt und bei meinen Dinnergästen einiges lockergemacht. Dein Vortrag hätte einen Stein erweichen können.“

Wieder errötete Jo. „Ja, sie waren sehr großzügig. Aber ich wäre nicht gekommen, wenn ich gewusst hätte, dass du Gäste hast.“

„Setz dich“, schlug er vor, als seine Haushälterin mit Kaffee und Kuchen hereinkam.

„Danke, für mich bitte nichts“, erwiderte Jo angespannt und setzte sich nervös auf einen weich gepolsterten Korbstuhl.

„Normalerweise isst du aber gern Kuchen“, bemerkte Gianni überrascht. „Du wirkst wirklich sehr angespannt. Was ist los?“

Jo versteifte sich. „Du behandelst mich wie einen Gast. Das fühlt sich nicht richtig an. Denn ich bin hier, um dich um einen Kredit zu bitten“, gestand sie.

„Ich bin keine Bank“, entgegnete er und dachte: Das ist typisch Jo, einfach damit herauszuplatzen.

„Die Banken haben alle abgelehnt.“

„Das solltest du mir aber besser nicht sagen.“

Jo hob das Kinn. „Ich bin nicht dumm. Ich weiß, du würdest das sowieso prüfen.“

Autor

Lynne Graham
<p>Lynne Graham ist eine populäre Autorin aus Nord-Irland. Seit 1987 hat sie über 60 Romances geschrieben, die auf vielen Bestseller-Listen stehen. Bereits im Alter von 15 Jahren schrieb sie ihren ersten Liebesroman, leider wurde er abgelehnt. Nachdem sie wegen ihres Babys zu Hause blieb, begann sie erneut mit dem Schreiben....
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