Liebeslektion für einen Lord

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Der Himmel auf Erden: Die schüchterne Mary ist die glücklichste Frau in ganz London, als Lord Havelock ihr einen Antrag macht. Nur zwei Wochen nach ihrem ersten Treffen stehen sie schon vor dem Altar! Doch noch bevor die Hochzeitsnacht anbricht, findet sie eine schockierende Liste, verfasst von ihrem Gatten. Nach diesen Eigenschaften hat er seine Zukünftige ausgewählt: Sie soll unscheinbar, langweilig und still sein! Kühn wie nie beschließt Mary, ihm eine Lektion zu erteilen - und wandelt sich von der unschuldig Verführten zur sinnlichen Verführerin …


  • Erscheinungstag 02.08.2016
  • Bandnummer 0569
  • ISBN / Artikelnummer 9783733765163
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Dezember 1814

He, Chepstow! Ich brauche einen Rat!“

Lord Chepstow, der gerade durch die Vorhalle seines Clubs schlenderte, blieb stehen, erkannte Lord Havelock und grinste.

„Von mir?“ Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Du lieber Gott, wenn du meinen Rat willst, musst du wirklich schwer in der Tinte stecken.“

„Tu ich auch“, antwortet Lord Havelock unverblümt. Dann warf er einen vielsagenden Blick auf den Diener in der Halle, der kam, um ihm Hut und Mantel abzunehmen.

Chepstow wurde ernst. „Suchen wir uns ein ruhiges Plätzchen, wo wir unter vier Augen reden können?“

„Ja“, stimmte Lord Havelock zu. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Zwar hatte er wenig Hoffnung, dass ausgerechnet Chepstow mit irgendeiner neuen Idee herausrücken könnte, doch wenigstens war der Freund bereit, ihm zuzuhören.

Sobald sie die Tür der Bibliothek hinter sich geschlossen hatten, dem einzigen Raum, der im Club zu dieser – oder jeder anderen Zeit – verlassen dalag, platzte er mit seinem Problem heraus. Laut und deutlich.

„Ich muss heiraten.“

„Gütiger Himmel!“ Chepstow blieb der Mund offen stehen. „Hätte nie gedacht, du wärst der Typ Mann, der ein Mädchen in Schwierigkeiten bringt. Zumindest keins, das du meinst, dann heiraten zu müssen.“

Derart in seiner Ehre gekränkt, ballte Havelock unwillkürlich die Hände zu Fäusten, sodass Chepstow hastig eine beschwichtigende Geste machte.

„Wenn ich mir’s recht überlege“, beeilte er sich zu sagen, während er vorsichtig einen Schritt vor seinem Freund zurückwich, „so was könnte natürlich jedem passieren.“

„Mir nicht“, entgegnete Havelock. „Du weißt, ich war nie besonders hinter den Unterröcken her.“ Er ließ die Hände sinken, da ihm einfiel, dass Chepstow möglicherweise genau der richtige Mann war, um ihm zu helfen.

„Aber du, Chepstow! Du hast schon einige niedliche Vögelchen verschlissen, was? Und trotzdem ist es dir gelungen, deine Beliebtheit bei den Damen des ton zu wahren. Wie machst du das, Mann? Wieso umschwärmen sie dich noch immer? Das möchte ich gern wissen!“

„Indem ich den niedlichen Vögelchen meine Börse öffne“, erklärte Chepstow freimütig, „und den Damen von Stand gegenüber meine besten Manieren auffahre. Es ist ganz einfach …“

„Ja, wenn du nicht auf ein Verhältnis auf Dauer aus bist. Aber wenn du heiraten wolltest, was für eine Frau würdest du dann um ihre Hand bitten? Ich meine, wie muss deiner Ansicht nach eine Frau beschaffen sein, damit sie eine gute Ehefrau abgibt? Und wie würdest du vorgehen, um sie zu finden, wenn du nur vierzehn Tage Zeit hättest, um Nägel mit Köpfen zu machen?“

Chepstow erstarrte wie ein Hirsch vor der Flinte. „Ich? Heiraten?“ Langsam schüttelte er den Kopf. „Bestimmt nicht. Der Trick ist, die Fallen zu vermeiden, die sie einem stellen, und nicht geradewegs in eine hineinzustolpern.“

„Du verstehst nicht“, setzte Havelock an, doch Chepstow hörte gar nicht zu, sondern schaute wild um sich wie ein gehetztes Reh, das Deckung sucht. Und dann fand er, sichtlich erleichtert, Hilfe in Form von zwei jungen Männern, die versteckt hinter einem enormen Stapel Bücher, an einem der Lesetische in eine ernste Unterhaltung vertieft saßen.

„Fragen wir Ashe“, rief er, packte Havelock beim Arm und zog ihn, Verzweiflung im Blick, hinter sich her. „Er ist der Typ, der ohne Not Bücher liest, dem muss zwangsläufig einiges Wissenswertes über den Ehestand bekannt sein.“

Was natürlich Blödsinn war. Aber Chepstow befand sich eindeutig in einem Ausnahmezustand. Jemand, der glaubte, von Büchern brabbeln und ihn, Havelock, quer durch ein Zimmer bugsieren zu können, hatte ganz klar seinen Verstand eingebüßt.

Aber nun, so etwas konnte das Thema Heirat einem Burschen schon mal antun. Schließlich würde er auch nicht willig den Hals in die Schlinge stecken, wenn es eine andere Alternative gäbe. Doch Havelock war einfach noch immer keine eingefallen, obwohl er sich seit Stunden den Kopf zerbrach.

Also, stellte er für sich fest, blieb ihm nur eins übrig, nämlich dafür zu sorgen, dass die bittere Pille, die er zu schlucken hatte, irgendwie versüßt würde. So unwahrscheinlich es ihm auch erschien, musste doch irgendwo eine Frau existieren, die ihn nicht zwingen würde, sein ganzes Leben zu ändern.

Und wer wohl würde nicht versuchen, ihn zu ändern?

„Ashe und …“ Chepstow verstummte, als er ratlos den zweiten Mann neben Ashe am Tisch musterte.

„Morgan“, half der Earl of Ashenden aus und deutete mit einer trägen Geste auf seinen Begleiter. Havelock hatte Morgan hier und da schon gesehen, beim Pferderennen, in Jacksons Boxsalon, hier im Club und bei diversen gesellschaftlichen Anlässen, ohne jedoch mit ihm je gesprochen zu haben. Er war der Sohn irgendeines reichen Emporkömmlings, wenn er sich recht erinnerte, und soweit er wusste, kein übler Kerl, nur stammte er eben nicht aus den höchsten Kreisen. Nicht dass ihn das auch nur die Bohne gestört hätte. Nicht in einem Moment wie diesem.

Nachdem sie sich bekannt gemacht und entschieden hatten, sich weiterer Förmlichkeiten zu enthalten, drückte Chepstow seinen Freund auf einen Stuhl und hockte sich selbst, quasi zur Flucht bereit, nur auf die äußerste Kante der eigenen Sitzgelegenheit.

„Havelock hat beschlossen, sich zu verheiraten“, verkündete er ganz wie ein Mann, der gerade eine heiße Kartoffel aus seinen verbannten Fingern hat fallen lassen. Dann stürzte er sich geradezu auf den Diener des Clubs, der in die Bibliothek gekommen war, um zu sehen, ob die jungen Herren ein Labsal benötigten.

„Wir brauchen eine Flasche Wein“, verlangte Chepstow mit Nachdruck.

Kaum war der Keller außer Hörweite, erklärte Havelock: „Ich will nicht, ich muss heiraten, unbedingt. Und ehe ihr auf die Idee kommt – nein, nicht, weil ich neuerdings dazu übergegangen wäre, unschuldige Mägdelein zu verführen.“ Er warf Chepstow einen gereizten Blick zu. „Das keineswegs.“

„Ganz ruhig“, mahnte der Freund, während er einen Stapel Bücher verschob, um Platz zu schaffen für die Flasche und die Gläser, mit denen der Diener hoffentlich gleich auftauchte. „Das war eine Fehleinschätzung, die jedem hätte passieren können, da du so … so aufgeregt wirkst. Und dann die Art, wie du das Thema auftischst …“

„Gentlemen“, sagte Ashe in seiner ruhigen Art, die irgendwie jeden dazu brachte zuzuhören, „vielleicht wäre es am besten, wenn Havelock selbst, mit seinen eigenen Worten, erklärte, wo das Problem liegt und wie wir ihm seiner Ansicht nach helfen können? Ehe er sich noch gezwungen sieht, seine Sekundanten zu rufen.“

Als er Morgans erschreckten Blick sah, schmunzelte er still in sich hinein. „Wer dieser Tage Havelocks Ehre ankratzt, ist ein Dummkopf.“

„Ich fordere doch nicht meine Freunde! Hab ich noch nie getan.“

„Du hast Wrexton ein halbes Ohr weggeschossen“, meinte Chepstow.

„Der war nicht mein Freund.“ Havelock verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte Ashe quer über den Tisch hinweg zornig an. „Und er hatte nicht mich beleidigt. Aber … eine Dame.“

„Oho! Und da dachte ich, du habest gesagt, du seiest nicht hinter den Unterröcken her.“

„Bin ich auch nicht. War nie der Typ. Es war ganz anders …“

„Soweit ich hörte“, warf Ashe milde ein, „hätte der Ehemann ihn fordern müssen, wenn du es nicht schon getan hättest.“

„So wäre es auch korrekt gewesen“, fauchte Havelock. „Nur …“ Er seufzte und schob sich seine ungebärdigen Haare aus der Stirn. „Ich geriet als Erster über Wrexton in Wut.“

„Lass gut sein“, sagte Ashe versöhnlich. „Hauptsache ist, wenigstens einer hat ihm eins draufgebrannt.“

„Ich hätt’s nicht tun sollen“, gab Havelock zu, während der Diener zurückkam, ein Tablett mit Wein und frischen Gläsern in Händen. Das Duell war keineswegs Wrextons erstes gewesen. Dessen Pistole versagte zum Glück, sonst hätte der Mann ihn mausetot geschossen. Was damals in ihm, Havelock, den Wunsch auslöste, ihn umgehend zu erschießen. Und es wäre ihm auch gelungen, nur bekam er rein zufällig einen Schluckauf, wodurch er sein Ziel verfehlte und nur das Ohr des Burschen traf, anstatt ihm die Kugel in sein sogenanntes Herz zu jagen. Und dann hätte er aus dem Land fliehen müssen oder sich einer Mordanklage stellen.

Zu sehen, wie nahe er daran gewesen war, dem Familiennamen durch seine Unbeherrschtheit Schande zu bereiten, hatte ihn damals ernüchtert. Seitdem bemühte er sich außerordentlich, sein hitziges Temperament zu zügeln.

Allerdings war seit der Affäre mit Wrexton kaum jemand dumm genug zu glauben, man könnte ihn ungestraft reizen. Das Gerücht verbreitete sich, er habe den Mann bewusst gezeichnet. Dass er ein erstklassiger Schütze sei.

Was einfach nur zeigte, wie töricht die meisten Leute waren.

„Ich wünschte nur“, sagte er, während er sich großzügig an dem Wein bediente, „meine Probleme ließen sich lösen, indem ich ein Duell anzettelte, meine Sekundanten wählte und jemandem eine Kugel verpasste. Aber es ist einfach eine Tatsache, dass ich heiraten muss“, erklärte er bedrückt. „Und das bald. Aber ich will nicht am Ende an eine Xanthippe gefesselt sein, die mir das Leben zur Hölle macht, indem sie ständig an mir herumnörgelt und mich bessern will. Und bei Frauen ist es nun mal so … du merkst erst, wie sie wirklich sind, nachdem sie dich fest am Wickel haben.“ Er hob sein Glas an den Mund, genehmigte sich einen großen Schluck Wein und erinnerte sich, wie oft er dieses Phänomen schon beobachtet hatte. In der einen Minute war die Auserwählte eine keusch errötende Braut, die in hellem Entzücken zum Altar schritt, und in der nächsten wurde sie zum echten Weibsteufel, der den armen Kerl von Pantoffelheld, der sie geehelicht hatte, in ein frühes Grab trieb.

„Nun, die Antwort darauf ist, sich des Charakters der Frau zu vergewissern, bevor du sie heiratest“, verkündete Ashe mit aufreizender Logik.

„Und wie wohl soll ich das in der knappen Zeit, die mir bleibt, anstellen?“

„Heirate eine, die du gut kennst“, sagte Morgan in einem Ton, als wäre die von ihm vorgeschlagene Lösung mehr als augenfällig.

„Gott, nein!“ Havelock griff nach seinem Glas und trank den Rest in einem Zug. „Ich kann nicht einmal den Gedanken ertragen, wahrhaftig in einem Haus mit auch nur einem der Mädchen zu leben, die ich wirklich gut kenne. Und außerdem würden sie sich nicht, nur um mir gefällig zu sein, auf eine rasche Eheschließung einlassen. Die wollen eine große Hochzeit mit allem Drum und Dran.“ Er schüttelte sich. „Ganz zu schweigen von einer immensen Brautausstattung und so weiter.“

„Um es also ganz klar zu sagen – du willst ein Mädchen, das dich nimmt, wie du bist, und keinen Anspruch auf eine Hochzeit in großem Rahmen legt.“

„Genau.“

„Du suchst ein verhuschtes Mäuschen“, stellte Morgan fest. „Ein Mäuschen, das so verzweifelt nach der Ehe giert, dass es sich mit dem Wenigen, das du ihm zu bieten bereit bist, zufriedengeben wird.“

„Das ist es!“, rief Havelock, was sofort den Spott von Morgans Gesicht wischte. „Das würde gehen. Morgan, du bist ein Genie!“

„Dann solltest du dich besser darauf einrichten, ein recht unscheinbares Ding zu nehmen“, entgegnete Morgan, ein wenig verdutzt ob der Begeisterung über den Vorschlag, den er mit solch triefendem Sarkasmus geäußert hatte. „Und vielleicht dazu noch arm.“

Havelock lehnte sich zurück und bedachte das einen Moment. „Ich glaube, ein unscheinbares Äußeres würde mich nicht abhalten, solange sie nicht ein absolutes Scheusal ist.“

„Einen Augenblick mal.“ Ashe meldete sich wieder zu Wort. „Auch wenn du aus welchem Grund auch immer entschieden hast, sofort, in solcher Eile zu heiraten, darfst du doch die Sache mit der Erbfolge nicht vergessen. Wir alle, außer vielleicht du, Morgan“, sagte er und schenkte dem Sohn eines Neureichen ein trockenes Lächeln, „haben die Pflicht, zu heiraten und Söhne zu zeugen, die unsere Verantwortlichkeiten übernehmen.“

„Kapiert“, erwiderte Havelock, ehe Ashe das Offensichtliche aussprach. Er musste eine finden, mit der zu schlafen ihm nicht allzu schwerfallen würde. Das verstand sich natürlich von selbst!

„Mir fällt auf, dass du bisher nicht verneint hast, ein Mädel mit beträchtlicher Mitgift zu suchen.“ Morgan sah ihn prüfend an. „Musst du aus diesem Grund so eilig heiraten? Du suchst dringend eine Erbin?“

An diesem Punkt platzte Chepstow, der Havelock schon ein Glas Wein voraus war, mit lautem Lachen heraus.

„Nur weil ich nicht zu den Dandys gehöre“, klagte Havelock und tastete unsicher nach seinem Krawattentuch, das er am Morgen ziemlich aufs Geratewohl gebunden hatte und dessen Form weit von der anscheinend mühelosen Eleganz entfernt war, die die anderen drei Männer erzielt hatten, „heißt das nicht, dass ich nicht ein hübsches Einkommen hätte.“

Er sah, wie Morgan sein Jackett beäugte, an dem im Laufe des Tages irgendwie eine Tasche halb eingerissen war, und dann den Blick auf seine, Havelocks, schmutzige Stiefel senkte, für die heimzugehen, um sie zu wechseln, er nach dem vernichtenden Gespräch mit seinen Anwälten sich nicht die Zeit genommen hatte. Aufgeregt war er unermüdlich die Straße entlanggelaufen, krampfhaft auf der Suche nach einer Lösung, und als er dabei an seinem Club vorbeigekommen war, hatte er sich entschieden, hineinzugehen, um sehen, ob nicht jemand eine bessere Idee als er selbst haben würde.

„Ich habe es nicht nötig, dass mein Zukünftige mehr als sich selbst in die Ehe einbringt“, endete er kriegerisch.

Wieder war es Ashe, der die Spannung löste, indem er den in diskreter Entfernung herumtrödelnden Diener herbeiwinkte und ihn anwies, Papier und Tinte zu besorgen.

„Was wir jetzt tun müssen, ist, denke ich, schriftlich aufzulisten, was genau du suchst, ehe wir uns der Herausforderung zuwenden, wie du es bekommen kannst.“

„Da hörst du es!“, rief Chepstow triumphierend. „Habe ich dir nicht gesagt, dass Ashe der Richtige ist, um dir zu helfen? Ich werde dann mal …“ Er wollte sich erheben.

Havelock brauchte ihm nur einen wilden Blick zuzuwerfen, um ihn aufzuhalten. Ein Gentleman überließ nicht anderen die Rettung eines Freundes, der ihn um Hilfe gebeten hatte. Wann immer Chepstow in der Klemme saß, pflegte Havelock ihm beizustehen; nun, da die Sache sich umgekehrt verhielt, erwartete er ebensolche Loyalität.

Sichtlich resigniert sank Chepstow wieder auf seinen Stuhl nieder und trug mit Grabesstimme dem Lakaien auf, der gerade mit den Schreibutensilien zurückkam, eine neue Flasche Wein zu bringen.

„So!“ Ashe tunkte energisch die Feder in die Tinte. „Du verlangst weder Schönheit noch Reichtum von deiner zukünftigen Braut. Aber du verlangst auf jeden Fall, dass sie von nachgiebiger Natur ist …“

„Ein Mäuschen“, wiederholte Morgan spöttisch.

Vorwurfsvoll blickte Ashe ihn über den Rand seiner Augengläser an.

„Anspruchslos. Und nicht aus den höheren Kreisen, in denen du dich üblicherweise bewegst.“

Er sah Havelock schaudern und schrieb „Nicht aus den oberen Zehntausend“ auf die Liste. Dann ließ er die Hand über dem Papier schweben. „Noch weitere Punkte?“

Überlegend runzelte Havelock die Stirn.

„Durchaus noch ein paar. Das macht die Sache ja so verdammt schwierig.“ Er fuhr sich zum, wie ihm vorkam, tausendsten Mal an diesem Tag mit den gespreizten Fingern durchs Haar. Nicht, dass es eine wesentliche Veränderung seiner Frisur – oder eher der nicht vorhandenen Frisur – bewirkt hätte. Zum Glück befasste er sich nicht sonderlich mit seiner Erscheinung, denn sein dichtes, lockiges Haar tat, was es wollte. Da es sich weder Kamm noch Pomade beugte, blieb nichts anders, als es kurz zu halten und das Beste zu hoffen.

„Ich möchte keine Frau, die überhaupt so etwas wie Familie besitzt“, sagte er mit Nachdruck.

„Du meinst … keine Familie von Adel?“ Der Sohn des Krösus schenkte ihm einen mitfühlenden Blick. „Würdest nicht wollen, dass die auf dich runtersehen?“

Ehe Havelock noch aufspringen, den Burschen bei der Kehle packen und ihn kräftig durchschütteln konnte, warf Ashe beruhigend ein: „Morgan ist sich deiner einflussreichen verwandtschaftlichen Verbindungen nicht bewusst, Havelock. Er wollte dich bestimmt nicht beleidigen.“

Nein. Havelock seufzte. Vermutlich nicht. Außerdem hatte er sowieso schon beschlossen, sich innerhalb der Mauern des Clubs stets des Vergnügens einer anständigen Prügelei zu enthalten.

„Siehst du, es ist so – ich bin mit der Hälfte des verdammten ton verwandt“, erläuterte er dem verwirrten Morgan. „Weißt du, Stiefbrüder und Stiefschwestern und die dazugehörigen Cousins und Tanten und Onkel, und alle meinen, sie hätten das Recht, ihre Nase in meine Angelegenheiten zu stecken. Ich will keine Frau, die mir noch mehr Verwandte beschert und mein Leben noch komplizierter macht, vielen Dank auch!“

Er sah, dass Ashe „Waise“ auf die Liste schrieb. „Keine Verwandten.“

Morgan nickte. „Das klingt vernünftig. Eine Waise, ein Mädchen ohne besorgte Verwandtschaft, wird umso wahrscheinlicher einem Handel zustimmen, wie du ihn anscheinend einzugehen gedenkst.“

„Was meinst du damit?“

Chepstow füllte rasch Havelocks leeres Glas bis zum Rand und schob es ihm hin.

„Ich bin sicher, Morgan meinte nichts damit, an dem du Anstoß nehmen könntest, Havelock“, mahnte Ashe in dem vernunftstrotzenden Ton, den so viele Männer als verdammt herablassend empfanden.

Langsam verstand Havelock, warum.

Er verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte Morgan an, der, das musste man zu seiner Ehrenrettung sagen, dem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, begegnete.

Ashe nahm seine Augengläser ab und begann, sie mit einem seidenen Taschentuch, das er aus einer Innentasche seines Jacketts zog, zu polieren. „Darf ich einen Vorschlag machen?“

„Ach ja, bitte. Dafür kam ich schließlich her. Um zu sehen, ob mir jemand helfen könnte, einen Weg durch diesen … Sumpf zu finden.“

„Also, was mich angeht“, erklärte Ashe zögernd, „ich könnte es nicht aushalten, mit einer Frau verheiratet zu sein, wenn sie nicht einen scharfen Verstand besäße.“

„Gott“, stieß Havelock entsetzt hervor. „Ich wüsste nicht, was ich mit einem Blaustrumpf anfangen sollte!“

„Ach, komm schon!“, sagte Chepstow, und man sah endlich wieder sein freches Grinsen. Dann fuhr er fort und bot diverse Vorschläge dahingehend, was man mit einem Blaustrumpf, seinen Strumpfbändern und mehreren weiteren seiner Bekleidungsstücke anstellen könnte, bis er sich damit in Niederungen des Vulgären begab, die wenn auch vom Thema ablenkten, so doch dazu nützten, die Atmosphäre ein wenig aufzulockern.

Als ihr Gelächter schließlich verebbte, sie sich die Augen getrocknet, ihre Gläser aufgefüllt und eine neue Flasche Wein bestellt hatten, ergriff Ashe wieder ernst das Wort.

„Havelock, du darfst nicht vergessen, dass diese Frau, wer immer es sein mag, die Mutter deiner Kinder sein wird. Daher solltest du nicht nur überlegen, mit was für einer Art Frau unter einem Dach zu leben du dir vorstellen könntest, sondern solltest dich außerdem fragen, wie die Kinder ausfallen sollen, die du zu zeugen gedenkst. Für mich kann ich nur sagen, dass ich doch hoffe, meine Sprösslinge würden mich stolz machen können. Ich fände die Vorstellung abscheulich“, erklärte er, wobei er Havelock außerordentlich durchdringend anschaute, „dass ich meine Freiheit beschnitten hätte, nur um eine Brut von Idioten hervorzubringen.“

Wieder einmal fuhr Havelock sich mit den Fingern durchs Haar. „Da hast du nur recht.“ Er seufzte. „Muss natürlich an die Erbfolge denken. Also gut, schreib es dazu, Ashe. Sie soll kein Spatzenhirn haben.“

Da Ashe gerade einen Schluck von seinem Wein trank, übernahm Morgan die Feder und schrieb die Bedingung nieder.

„Außerdem soll sie freundlich sein“, äußerte Havelock mit ziemlichem Nachdruck. „Soll gut mit Kindern umgehen können. Nicht eins von den Frauenzimmern, die nur an sich denken.“

„Gut, sehr gut, langsam kommen wir vorwärts“, lobte Ashe, während Morgan diese Punkte der länger werdenden Liste hinzufügte.

„Also, eine Liste ist ja gut und schön“, wandte Morgan ein und warf die Feder hin. „Aber was stellst du dir vor, wie du diese Frau, die all deine Anforderungen erfüllt, finden wirst? Über eine Anzeige in der Zeitung?“

„Gott, nein! Es soll doch nicht die ganze Welt wissen, wie verzweifelt ich nach einer Frau suche! Im Umkreis von fünfzig Meilen um die Stadt würde sich jede kupplerische Mutter mit ihrer affektierten Tochter auf mich stürzen. Außerdem …“ Er schüttelte den Kopf. „Das würde viel zu lange dauern. Viel zu lange! Überlegt doch nur – die Anzeige aufgeben, dann auf die Antworten warten, die Berge von Post durchsehen, dann mit all den Frauen verhandeln …“

Morgan lachte laut auf. „Du bist dir verflixt sicher, dass du Hunderte Antworten bekommst, was?“

„Oh ja!“, antwortet Havelock gereizt. „Während der letzten sechs Jahre haben sich mir die Frauen Saison für Saison an den Hals geworfen.“

„Und auf den Hauspartys im Sommer auch“, warf Chepstow ein.

„Und da war diese Gesellschaft zu Weihnachten, nicht wahr?“, ergänzte Ashe. „Wo die …“

„Lass gut sein!“, unterbrach Havelock ihn rasch. „Ich dachte, wir hätten uns geeinigt, diese Episode nie wieder zu erwähnen.“

„Und dann dieses Mädel beim Pferderennen …“, führte Chepstow unbeirrt auf.

Morgan lachte erneut. „Es ist gut! Ihr habt mich voll und ganz überzeugt. Havelock ist tatsächlich einer von denen, den die kleinen Ladys des ton als den ersten Preis auf dem Heiratsmarkt betrachten.“ Obwohl der Blick, mit dem er Havelock musterte, seine Meinung ausdrückte, dass ihm unverständlich war, wie der weibliche Verstand arbeitete.

„Und ihr würdet nicht glauben, welche Tricks manche anwenden, um mich einzufangen“, klagte Havelock bitter.

„Könntest du dich nicht einfach für eine von den Frauen entscheiden, die sich als so eifrig darauf bedacht gezeigt haben, dich … äh … einzufangen? Das würde doch Zeit sparen, oder?“

Havelock bedachte Morgan mit einem kalten Blick, ehe er sagte: „Nein, absolut nicht! Ich kann die Frauen nicht ausstehen, die dich anschmachten und mit den Wimpern klimpern und dir eine Ohnmacht vorspielen und bei jeder Gelegenheit ihren Busen vor deinen Augen wogen lassen.“

Aus dem Augenwinkel sah er, wie Ashe „sittsam“ unten auf der Liste notierte.

„Und überhaupt, die Mädchen, die ich schon kenne, also die, die deutlich gezeigt haben, dass sie mich wollen, haben genauso deutlich gezeigt, dass sie um einiges mehr von mir wollen, als ich zu geben bereit bin. Ich würde sie unglücklich machen, und als Folge würden sie gründlich dafür sorgen, dass sie mich verdammt unglücklich machen.“

Ashe tauchte die Feder in die Tinte und schrieb: „Sucht keine Zuneigung in der Ehe.“

Stirnrunzelnd nahm Morgan einen Schluck von seinem Wein. „Was diese Liste beschreibt“, sagte er schließlich nachdenklich, „ist eine Frau, die bereit wäre, eine geschäftsmäßige Verbindung ins Auge zu fassen. Eine aus einer respektablen, aber ins Unglück geratenen Familie vielleicht. Eine, die gerne Kinder haben möchte, doch nicht hoffen kann, auf dem üblichen Weg einen Antrag zu bekommen.“

„Was meinst du mit üblich?“

„Durch weibliche Kniffe“, bot Morgan hilfreich an.

„Oh, das!“ Havelock schnaufte. „Nein, auf keinen Fall eine mit zu vielen weiblichen Kniffen. Ich mag sie lieber geradeheraus.“

„Ehrlich“, schrieb Ashe.

„Du liebe Güte“, rief Chepstow stöhnend mit einem Blick auf die Aufzählung. „Du wirst im Leben keine Frau mit all diesen Eigenschaften finden, egal, wie lange du suchst.“

„Ach, ich weiß nicht“, meinte Morgan. „Hier in London gibt es auch jetzt eine Menge arme, vornehme Familien, die sich mit ihrem Einkommen nur mühsam durchschlagen und mit reichlich Töchtern gesegnet sind, die sich die Finger danach lecken würden, einen Antrag von einem Mann in Havelocks Verhältnissen – wie ihr sie mir schildert – zu bekommen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er unter denen eine oder zwei finden würde, die zumindest ein paar der Charakterzüge haben, die ihm wichtig sind. Besonders, wenn er sich von unscheinbarem Äußeren nicht abhalten lässt.“

Havelock beugte sich zu ihm. „Meinst du wirklich?“

„Oh ja.“

„Und weißt du auch, wo man die treffen kann?“

Morgan lehnte sich zurück, schlug seine langen Beine übereinander und fixierte die Wand über Havelocks Kopf. Die anderen am Tisch warteten mit angehaltenem Atem auf seine Antwort.

„Weißt du was, ich glaube tatsächlich, ja. Ich könnte dich wahrscheinlich schon morgen Abend mit ein paar möglichen Kandidatinnen bekannt machen, wenn es dir nicht zu …“ Er brach ab, beäugte Havelocks wenig elegante Aufmachung und lachte. „Nein, du siehst nicht aus, als ob du auf Etikette Wert legtest. Und ich habe eine Einladung für einen Ball von einer Familie, die niemals in den höchsten Kreisen der Gesellschaft akzeptiert würde, trotz all ihres Reichtums. Aber unter ihren Gästen gibt es immer eine Anzahl von Leuten in genau jenen Umständen, die für dich von Nutzen wären. Aus guter Familie, aber ins Elend geraten, die sich ihren gesellschaftlichen Umgang nicht aussuchen können. Ich behaupte mal, dass dich dort jedes einzelne weibliche Wesen im heiratsfähigen Alter als von Gott gesandt betrachten wird.“

„Und es würde dir nichts ausmachen, mich zu diesem Ball mitzunehmen?“

„Nicht im Mindesten“, sagte Morgan liebenswürdig. „Dafür hat man schließlich Freunde, dass sie einem helfen.“

Aber ja! Fast hatte Havelock schon geglaubt, Chepstow werde ihn enttäuschen. Doch wirklich, der Bursche hatte getan, was er konnte. Er hatte ihn zu Ashe gebracht, mit dessen Hilfe er die eigenen Gedanken in eine logische Ordnung hatte bringen können, und ihn Morgan vorgestellt, der ihm praktische Unterstützung gewähren würde.

„Auf die Freundschaft!“ Er hob sein Glas und prostete den anderen drei Männern zu.

„Und auf die Ehe“, verkündete Ashe, ebenfalls sein Glas hebend.

„Nur nicht zu überschwänglich!“ Chepstow verharrte mit seinem Glas kurz vor dem Mund. „Vielleicht auf Havelocks Ehe. Nicht auf die Institution als solche.“

„Dann eben auf Havelocks Ehe“, lenkte Ashe ein.

„Darauf können wir meinetwegen trinken“, sagte Chepstow. „Auf deine Braut, mein Freund.“

Und wir wollen hoffen, dachte Havelock, während er die Liste sorgsam faltete und in die Tasche seines Jacketts steckte, dass die Frau, die zumindest die wichtigsten dieser Eigenschaften besitzt, morgen Abend auf dem Ball sein wird.

2. KAPITEL

Kannst du wirklich nichts anderes mit deinem Haar anfangen?“ Tante Pargetter seufzte.

Woraufhin Mary den Blick senkte und den Kopf schüttelte.

„Hättest du dir nicht wenigstens Lottys Brennschere ausleihen können? Bestimmt würde es ihr nichts ausmachen. Ich bin mir sicher, brächtest du nur ein gaaanz klein wenig Schwung in dein Haar, sähe es viel reizender aus, als wenn du es einfach nur wie einen Vorhang um dein Gesicht fallen lässt.“

Mary tastete nach ihrer Frisur, um zu sehen, ob sich aus dem adretten Knoten, in den sie ihr Haar gebunden hatte, schon wieder Strähnen lösten.

„Nein, nein“, sagte Tante Pargetter unwillig. „Es hat sich noch nichts gelöst. Ich sprach ganz allgemein.“

Ah, das. Allgemeine Äußerungen hatte Mary während der letzten Monate häufig genug zu hören bekommen. Von Anwälten, bezogen auf bedürftige weibliche Wesen, von Verwandten, bezogen darauf, wie kostspielig es sie komme, ihre Pflicht zu tun, und von Mietkutschern, bezogen auf Fahrgäste, die kein Trinkgeld gaben. Zusätzlich hatte sie viele spezifizierte Bemerkungen vernommen – die sie genauestens darüber aufklärten, wieso sie bedürftig geworden war und warum keine der Familien, zu denen sie eine nach der anderen geschickt worden war, ihr zurzeit ein Heim bieten konnte.

„Nun, ich weiß, es ist dir ein wenig unangenehm, einen Ball zu besuchen, während du noch in Trauer bist“, fuhr Tante Pargetter erbarmungslos fort. „Aber ich kann dich einfach heute Abend nicht allein hierlassen. Du würdest nur Trübsal blasen. Und außerdem, da werden heute eine Menge akzeptabler Männer sein. Wer sagt denn, dass du nicht jemandem ins Auge fallen wirst, und dann sind all deine Probleme gelöst.“

Unwillkürlich riss Mary den Kopf hoch und die Augen weit auf. Tante Pargetter sprach von Heirat. Heirat! Als wäre das die Antwort auf die Probleme aber auch jeder Frau.

Ein Zittern überlief sie. Sie presste die Lippen fest zusammen und senkte den Blick erneut. Tante Pargetters Probleme würde es lösen, ganz recht. Nicht, dass sie es ausgesprochen hätte, doch Mary sah sehr gut, dass es die sowieso begrenzten Mittel der Familie ziemlich beanspruchen würde, sie auf unbestimmte Zeit zu versorgen und unterzubringen. Doch anstatt die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen und sie weiterzureichen an wieder andere Verwandte, auf die Mary sich vielleicht berufen könnte, hatte Tante Pargetter sie aufgenommen, ihr die Hand getätschelt und gesagt, sie solle sich nicht weiter ängstigen, sie werde für sie sorgen.

Nur war Mary nicht klar gewesen, dass Tante Pargetters Vorstellung von Fürsorge beinhaltete, sie zu verheiraten.

„Heb den Kopf ein wenig höher und schau freier umher“, riet die Tante, trat an sie heran, hob ihr mit einem Finger das Kinn an und sagte: „Du hast schöne Augen, weißt du. Was meine Mädels für Wimpern wie die deinen gäben …!“ Seufzend schüttelte sie den Kopf und dann, ehe Mary wusste, wie ihr geschah, und ausweichen konnte, kniff sie ihr in beide Wangen. „So! Das bringt ein wenig Farbe in dein Gesicht. Nun musst du nur noch lächeln, so als hättest du Spaß, und du wirst ganz anders aussehen, nicht mehr ganz so …“

Abstoßend. Langweilig. Schäbig.

„Unauffällig“, endete Tante Pargetter. „Weißt du, du könntest wirklich ganz hübsch sein, wenn du nur …“ Sie wedelte gereizt mit den Händen, doch ehe sie sich ein Wort einfallen lassen musste, das wie durch ein Wunder Mary nicht als absolut erbärmlich beschreiben würde, retteten ihre eigenen Töchter sie, die, in einer Wolke von Locken und Rüschen, ins Zimmer getänzelt kamen.

Für Mary blieb nun keine Zeit mehr, da Tante Pargetters reizende Sprösslinge der Begutachtung bedurften und dazu ein bisschen zusätzlicher Verschönerung, bevor sie alle drei Mädels in eine Mietdroschke schob, die länger warten zu lassen sie sich nicht leisten konnte.

„Die heutige Einladung ist von einer Familie namens Crimmer“, berichtete die Tante, während die Droschke über das Pflaster holperte. „Sie sind da nicht so förmlich, daher werden sie nichts dagegen einwenden, wenn ich einen zusätzlichen Gast mitbringe. Also mach dir keine unnötigen Gedanken darüber, dass du keine offizielle Einladung erhalten hast.“

Trotzdem schaute Mary etwas aufgeregt drein. Sie hatte nicht geahnt, dass ihre Tante sie zu der Gesellschaft mitnehmen würde, ohne die Gastgeber vorab benachrichtigt zu haben.

Tante Pargetter beugte sich zu ihr. „Ich werde ihnen eben erklären, dass du gerade erst zu Besuch bei uns eingetroffen bist, was ja auch wirklich die Wahrheit ist. Außerdem werden die Crimmers begeistert sein, damit prahlen zu können, ihr jährlicher Ball sei mittlerweile so beliebt geworden, dass jedermann ihn besuchen wolle. Aber speziell für dich, mein Liebes, ist der Umstand ein höchst glücklicherer, dass sie für zwei Söhne Bräute finden müssen … nicht, dass der letztgeborene schon alt genug dafür wäre, und der ältere soll mehr oder weniger versprochen sein, hörte ich flüstern.“

Da Mary ob der irgendwie widersprüchlichen Natur des weitschweifigen Ergusses verwirrt die Stirn in grüblerische Falten legte, fügte die Tante hinzu: „Es ist nämlich so – die jungen Männer haben eine Menge reicher Freunde mit Söhnen, die bestimmt ebenfalls Ausschau nach einer Gemahlin halten, besonders nach einer, die so gute Verbindungen hat wie du.“

„Was meinst du damit, Mama?“ Charlotte musterte Mary erstaunt. Es verblüffte sie offensichtlich zu hören, dass an Mary tatsächlich etwas war, das ihr auf dem Heiratsmarkt gute Aussichten verschaffte, während sie und ihre Schwester sie doch die ganze Woche nur als die arme Verwandte betrachtet hatten.

„Nun, zwar war Marys arme, liebe Mama meine Cousine, angeheiratet natürlich, aber ihr Papa war der jüngere Sohn der jüngsten Tochter des Earl of Finchingfield.“

Mary sank das Herz. Ihre wohlmeinende Tante beabsichtigte eindeutig, heute Abend die Nachricht bezüglich ihrer Blutsverwandtschaft mit einem Earl zu verbreiten, als wäre sie eine … eine Zuchtstute!

„Aber wenn sie mit dem Earl of Finchingsfield verwandt ist, warum hat sie ihn nicht um Hilfe ersucht?“, meldete sich Dorothy, Charlottes jüngere – und hübschere – Schwester zu Wort.

Das war eine gute Frage. Also blickte Mary sehr interessiert zu ihrer Tante, um zu hören, wie die die eheliche Verstrickung ihrer Mutter erklären würde.

„Ach, das Übliche!“ Tante Pargetter wedelte lässig mit der Hand. „Man billigte die Heirat nicht, man drohte mit Enterbung, dann redeten alle nicht mehr miteinander, und ehe man sich versah, klaffte ein tiefer Graben zwischen den Parteien. Doch die Verwandten von Marys Mutter kennen hoffentlich immer noch ihre Pflicht, wenn ein Kind betroffen ist. Nicht, dass du noch ein Kind wärst, Mary, aber du weißt, was ich meine. Es ist nicht richtig, dass du die Folgen für Fehler erleiden musst, die deine Eltern gemacht haben.“

Charlotte und Dorothy schauten Mary nun mit großen Augen an. Mary wurde das Herz nur noch schwerer. In den wenigen Tagen, seit sie in dem kleine Haus in Bloomsbury lebte, hatte sie schon entdeckt, dass ihre Cousinen leidenschaftlich einer bestimmten Art von Romanen zugetan waren, Geschichten, in denen enterbte Heldinnen von einem Abenteuer ins andere stolperten, bis sie zuletzt einen italienischen Fürsten ehelichten. Mary fürchtete sehr, dass die beiden sie plötzlich in einer solchen Rolle sähen.

Da aber die Crimmers, die ihr Vermögen im Handel gemacht hatten, zu ihrem Ball kaum je einen italienische Fürsten bitten würden, brauchte sie nicht zu befürchten, dass eine ihrer Cousinen sie in dessen Arme schubsen würde. Genau genommen brauchte sie nicht zu befürchten, dass sie in irgendjemandes Arme geschubst werden würde. Beide Mädchen waren selbst zu interessiert an akzeptablen Junggesellen, als dass sie auch nur einen, ob Ausländer oder nicht, durch ihre gierigen Finger schlüpfen lassen würden.

Sie beruhigte sich und atmete tief durch. Nur keine Bange. Tante Pargetter mochte, so viel sie wollte, Mary als eine angemessene Partie bezeichnen, das hieß aber nicht, dass sie sich in Gefahr befand, heute Abend – oder an irgendeinem Abend – von einem heiratslustigen Mann im Sturm erobert zu werden. Sie war nicht der Typ Mädchen, den Männer überhaupt zu erobern wünschten.

Männer pflegten sie eher gar nicht zu bemerken. Also gut, dafür sorgte sie schon selbst, denn sie hatte sich Zurückhaltung angewöhnt, und mittels des kleinen Tricks, sich stets ein paar Schritte hinter ihren lebhafteren Cousinen zu halten, gelang es ihr auch heute, im Hintergrund zu bleiben. Besonders schwierig war das sowieso nie. Die meisten Mädchen ihres Alters wollten ja angeschaut werden. Besonders von den Männern. Also gab es immer eine, hinter der man sich verbergen konnte.

Als die Tante mit ihren Töchtern Platz nahm, fand Mary einen Stuhl ein wenig seitwärts hinter ihnen, den sie außerdem noch leicht verschob, sodass sie eine hübsch buschige Topfpflanze zusätzlich als Sichtschutz nutzen konnte.

Obwohl sie selbst nun von einem großen Teil des Ballsaals abgeschirmt war, hatte sie doch die großen Flügeltüren gut im Blick, durch die immer noch Gäste hereinströmten, einander lautstark begrüßten und sich in ihrer prunkvollen Abendgarderobe spreizten. Wenn Mary nicht schon beschlossen hätte, sich mehr oder weniger unsichtbar zu machen, hätte der zur Schau gestellte Reichtum sie völlig verschüchtert. Dorothy und Charlotte musterten beide die Menge begierig und kommentierten hinter ihren Fächern flüsternd die Roben und den Schmuck der Damen und den Wuchs und das Vermögen der Herren.

„Oh, schau, da ist Mr. Morgan“, rief Charlotte plötzlich, als zwei junge Gentlemen die Ballsaal betraten. „Ich hätte ihn hier wirklich heute Abend nicht vermutet.“

Angesichts dessen, wie beide Mädchen sich sofort aufrechter hinsetzten und lebhafter mit ihren Fächern wedelten, nahm Mary an, dass der fragliche Mann ein, wie sie es nannten, „guter Fang“ sein musste. Ausnahmsweise konnte sie auch den Grund erkennen. Der kleinere der beiden Herren sah außerordentlich gut aus, irgendwie lässig, und dazu mit so ungezwungener Eleganz gekleidet, dass er viel zugänglicher wirkte als andere Männer seines Alters mit ihren gestärkten Kragenspitzen und übermäßig eng taillierten Frackröcken.

„Wer ist das neben ihm?“

Dem Neuankömmling folgte auf dem Fuße ein sehr großer, beinahe schlaksiger Mann mit auffallend dichten Augenbrauen.

„Ein Schulfreund von ihm oder Ähnliches?“, flüsterte Charlotte. „Schau nur, wie Mrs. Crimmer ihn anstrahlt, ihm die Hand gibt … irgendwie aufgeregt?“

Wie ihre Cousinen folgte auch Mary mit Blicken den beiden Herren, die ganz entschieden akzeptable Junggesellen sein mussten, gemessen an der Art, wie alle Damen, an denen sie vorbeikamen, sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln kokett in Szene setzten.

Bis die Gentlemen sie endlich erreicht hatten, waren Charlotte und Dorothy schon ganz aus dem Häuschen.

„Guten Abend, Mrs. Pargetter, Miss Pargetter, Miss Dorothy“, grüßte der große schlanke Herr. Mary war ein wenig verwirrt. Das war der Mann, der ihre Cousinen derart närrisch machte?

Er musste schon sehr reich sein, denn sein Äußeres sprach nicht unbedingt für ihn. Anders als das seines Begleiters.

„Darf ich Ihnen meinen Freund vorstellen?“, fügte Mr. Morgan hinzu. „Viscount Havelock.“

Wie siamesische Zwillinge rissen beide Mädchen gleichzeitig den Blick von dem Mann los, den sie für den besten Fang des Abends gehalten hatten, und wandten sich dem anderen Herrn zu, der sich gerade als ein echtes Mitglied des Hochadels entpuppt hatte.

Während sie ihre Busen noch ein wenig weiter vorstreckten, warfen sie ihm kokette Blicke zu und wedelten aufgeregt mit ihren Fächern.

Der Viscount, offensichtlich unbeeindruckt von ihrer Fähigkeit, diese drei Dinge gleichzeitig zustande zu bringen, schenkte ihnen nur ein kurzes Nicken. Dann glitt sein Blick an ihnen vorbei, traf auf den Marys, die eben mühsam ein Lächeln unterdrückte, und verharrte.

„Und wer ist das?“

„Oh, nun, das ist … nun, meine Nichte, das heißt so gut wie … also, angeheiratet“, erklärte Tante Pargetter. „Miss Carpenter.“

Mary spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. Sie hätte sich wirklich nicht darüber lustig machen sollen, dass ihre Cousinen sich so albern hervortaten, nur weil ein Mann mit einem hohen Titel direkt vor ihnen stand. Doch er wirkte nicht, als verübelte er es ihr. Im Gegenteil, der gelangweilte, leicht irritierte Blick, mit dem er die Mädchen bedacht hatte, war spurlos verschwunden. Wenn überhaupt, so hätte sie schwören mögen, sah er drein, als teilte er ihre Ansicht, dass die beiden sich ein wenig kindisch aufführten.

Und dann lächelte er sie, Mary, an, als hätte er … Also, wenn es nicht gänzlich unmöglich gewesen wäre, hätte sie gesagt, als hätte er gerade einen lang gesuchten Schatz gefunden.

„Möchten Sie tanzen, Miss Carpenter?“

„Ich?“ Ihr blieb der Mund offen stehen. Hastig klappte sie ihn zu, dann schüttelte sie den Kopf und schaute zu Boden.

„N…nein, ich könnte nicht …“ Ihre Cousinen würden so böse auf sie sein. Und gekränkt. Und das mit Recht. Es ist ja beinahe eine Brüskierung, mich um einen Tanz zu bitten, mich ihnen vorzuziehen, nachdem sie beide sich so deutlich interessiert gezeigt haben. Hat er mich vielleicht eben deswegen aufgefordert?

Bei Männern wusste man ja nie. Eine allem Anschein nach wohlgesinnte Geste konnte genauso gut gemeint sein, jemandem ganz bewusst eins auswischen oder ihn auf seinen Platz verweisen zu wollen. Sie starrte auf ihre Schuhe nieder, und ihre Gemütsverfassung sank etwa genauso tief. Man konnte einen Mann nicht nach seinen hübschen Gesichtszügen beurteilen. Und sie war töricht gewesen, sich auch nur einen winzigen Moment davon täuschen zu lassen und … und von seinem ziemlich ermutigenden Lächeln.

Die Taten eines Mannes enthüllten seinen wahren Charakter.

„Meine Nichte ist in Trauer, wie Sie sehen“, erklärte Tante Pargetter rasch mit einer Geste zu Marys schlichtem, unauffälligen Gewand.

„Wirklich?“

Der Tonfall des Viscounts ließ Mary unwillkürlich den Blick heben. Er klang fast, als ob er … aber nein, es konnte ihn nicht freuen zu hören, dass sie in Trauer war, oder? Das war doch absurd.

Und nun, da sie ihn ansah, fand sie auch nichts in seiner Miene, das anderes als Mitgefühl andeutete.

„Vielleicht“, äußerte er in etwas gütigerem Ton, „möchten Sie mich später zum Dinner begleiten?“

„Oh, nun, ich …“ Der Ausdruck in seinen Augen … ihr wurde der Mund trocken, so … so eindringlich war er. Als ob er auch noch ihr letztes Geheimnis ergründen wollte. Als ob er ihr Inneres nach außen kehren wollte, bis er sämtliche Geheimnisse aus ihr herausgeschüttelt hätte. Als könnte ihn nichts davon abbringen.

Unter dem Blick fühlte sie sich höchst ungemütlich. Doch just als sie zu dem Schluss kam, seine Einladung irgendwie ablehnen zu müssen, antwortete ihre Tante für sie.

„Mary wäre geehrt. Nicht wahr, Liebes?“ Und sie stupste Mary mit ihrem zugeklappten Fächer, als müsste sie die gewünschte Antwort aus ihr herauspieksen.

Da sie es immer noch nicht über sich brachte zu antworten, lächelte der Viscount erneut, dann wandte er seine Aufmerksamkeit ihren Cousinen zu.

„Und bis dahin“, verkündete er mit überraschendem Enthusiasmus, „würde wohl eine von diesen beiden reizenden jungen Damen einem Fremden Mitleid bezeugen und mit mir tanzen?“

Ehe die beiden Mädchen in ihrem Eifer, seinen Arm zu ergattern, die Ellenbogen einsetzen konnten, um die jeweils andere fortzustoßen, reichte zum Glück der große, dünne Herr Charlotte seine Hand.

Als die vier sich zum Tanzparkett aufmachten, seufzte Mary erleichtert auf. Doch die Erleichterung währte nicht lange.

„Ich glaube, du hast eine Eroberung gemacht“, hauchte ihre Tante hingerissen, während sie, einen Palmwedel zur Seite schiebend, dichter an sie heranrückte. „Lord Havelock schien höchst interessiert an dir zu sein.“

„Ich kann mir nicht denken, warum“, meinte Mary. Sie hatte sich praktisch hinter einer Topfpflanze versteckt, sie trug ein schmuckloses Kleid, das ihrem blassen Teint nicht sonderlich bekam, und sie hatte ihm den erbetenen Tanz verweigert. „Vielleicht braucht er Augengläser“, grübelte sie laut. „Das würde es erklären.“

„Unsinn! Er kann deutlich sehen, dass du aus gutem Hause bist. Meine Mädels mögen hübscher sein als du“, fuhr sie ohne Umschweife fort, „doch weder die eine noch die andere wüssten sich in dieser Welt zu bewegen.“ Sie nickte in Richtung des Viscounts, der eine strahlende Dorothy aufs Parkett führte.

„Also, ich würde meinen, ich auch nicht“, entgegnete Mary. „Es ist nicht so, als hätte ich jemals dazugehört.“

„Nein, aber deine Mutter war viel vornehmer als ich je gewesen bin. Und auch dein Vater – gewiss hat er dich gelehrt, wie sich eine wahre Dame zu betragen hat.“

Mary gab sich alle Mühe, auf diese Feststellung nicht zu reagieren, doch die Erwähnung ihres Vaters löste eine körperlich schmerzende innere Abwehr in ihr aus.

„Papa war … sehr streng mit mir, ja“, gab sie zu. Nicht, dass sie je erwähnen würde, in welcher Form sich diese Strenge zu zeigen gepflegt hatte, nicht einer lebenden Seele gegenüber. Besonders nicht, da er es vor allem ganz entschieden an ihrer Mutter ausgelassen hatte und nicht an ihr.

Da ihre Tante sie ununterbrochen anschaute, als erwartete sie weitere Ausführungen, räumte sie noch ein: „Und sicher, er hatte strenge Ansichten darüber, wie eine Dame sich betragen sollte.“ Und er hatte diese Ansichten brutal unterstrichen. Mit lauthals hervorgebrachten Forderungen, unterbrochen von schreckerregendem Schweigen, wenn er nüchtern war, und wenn nicht, dann mit Fäusten und Tritten.

„Ich möchte wirklich nicht“, sagte sie mit bebender Stimme, „dass mich ein geeigneter Gentleman einer meiner Cousinen vorzieht. Besonders nicht, wenn sie von ihm so eingenommen zu sein scheinen.“

„Nun, das ist alles gut und schön, aber er hat ja schlicht nur Augen für dich. Außerdem würden sich meine beiden mit Mr. Morgan viel wohler fühlen. Siehst du, er ist nicht so sehr fern von ihnen, gesellschaftlich betrachtet, trotz seines Reichtums.“

Mary nahm ihre Cousinen, die sich geschickt durch die Reihen der Tänzer bewegten, noch einmal ins Visier. Zwar wirkte Dorothy, als vergnügte sie sich sehr, doch Charlotte glühte geradezu. Und hatte Dorothy gerade Mr. Morgan über die Schulter hinweg einen koketten Blick zugeworfen, während der Viscount ihr bei einer Tanzfigur den Rücken zukehrte?

Sie runzelte die Stirn. Wie konnte auch nur eine der beiden diese lange Bohnenstange von Mann dem umwerfenden Viscount vorziehen? Nicht nur sah der viel besser aus, nein, auch sein gesamter Habitus war viel liebenswürdiger. Sie hatte sogar gemeint, etwas wie Sinn für Humor in den Tiefen seiner honigbraunen Augen zu entdecken. Als er sie dabei ertappt hatte, wie sie ob der Reaktion ihrer Cousinen auf seinen Titel lächelte, war es so gewesen, als hätten sie insgeheim einen Spaß miteinander geteilt.

Nur, ermahnte sie sich scharf, um ihn einen kurzen Augenblick darauf zu verdächtigen, er habe die beiden höchst unfreundlich brüskieren wollen.

Angesichts dieser Tatsache durfte sie kaum über ihn urteilen. Oder meinen, ihre Beobachtung könne in irgendeiner Weise Charlottes oder Dorothys Entscheidungen beeinflussen. Hohe Lords waren dafür bekannt, arm wie die Kirchenmäuse zu sein. Wenn seine Taschen leer waren, dann würde er Ausschau nach einer Erbin halten. Was die beiden ausschloss.

Außerdem wussten sie, dass Mr. Morgan reich war. Was ihn für die Mädchen schrecklich verlockend machen musste.

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