Liebeswunder mit dem Earl

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Hat er ihre Schreie gehört? Ein breitschultriger Fremder in eleganter Kleidung betritt die Hütte, in der Kate Schutz gefunden hat. Fast ohnmächtig ist sie vor Schmerzen, denn während draußen die Christnacht anbricht, kommt ihr Kind zur Welt! Doch Grant Rivers, Earl of Allundale, wird zu ihrem rettenden Engel. Er ist nicht nur Mediziner, sondern macht der ledigen Mutter auch einen Antrag, kaum dass sie ihr Weihnachtsbaby glücklich in den Armen hält. Kate sagt Ja - und schwört sich, dass Grant niemals erfahren wird, warum und vor wem sie in die Dezembernacht geflohen ist …


  • Erscheinungstag 24.10.2017
  • Bandnummer 580
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768041
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

24. Dezember 1819, im schottischen Grenzgebiet

Es war so leicht, ja verhängnisvoll einfach gewesen, in diese verzweifelte Lage zu geraten. Ein ungewohntes Glas Champagner, ein paar schmeichelhafte Worte, eine Mondnacht, und schon war sie von der Tugendhaftigkeit in den Ruin gestürzt.

Und ein Kind zur Welt zu bringen, war viel schwerer, als sie sich jemals vorgestellt hatte. Es liegt nur daran, dass ich allein bin, friere und Angst habe, redete Kate sich gut zu. Sobald die Schmerzen aufhören, werde ich mich wieder stärker fühlen, aufstehen und Feuer machen. Falls ich es schaffe, bis zu der Feuerstelle zu gehen, und falls es noch einen trockenen Kienspan gibt, und falls es mir gelingt, einen Funken zu entfachen …

„Hör sofort damit auf!“ Sie sprach die Worte laut aus, und ihre Stimme hallte in der frostigen Leere des verfallenen Häuschens wider. „Ich werde es schaffen, weil ich es schaffen muss. Ich bin es meinem Baby schuldig.“ Schließlich war es ihre Schuld, dass ihr Kind an einem kalten Wintertag in dieser erbärmlichen Umgebung zur Welt kommen würde. Sie hatte die Lage falsch eingeschätzt und war zu spät fortgelaufen. Vor dem Gasthof hatte ihr ein Taschendieb die Geldbörse aus dem Retikül gezogen, sodass sie ohne jeden Penny dastand. Vermutlich hätte sie besser in ein Armenhaus gehen sollen, anstatt den Weg fortzusetzen. Hatte sie wirklich geglaubt, dass ein Wunder geschah und sie am Ende der lehmigen Straße einen sicheren und warmen Zufluchtsort finden würde?

In den vergangenen Tagen hatte ihr Verstand ausgesetzt. Sie hatte nur noch ein Ziel vor Augen: Ich muss fliehen, bevor Henry mir das Baby wegnehmen kann! Sie würde alles, alles nur Erdenkliche tun, um zu verhindern, dass dieses Kind ihrem Bruder in die Hände fiel. Sie musste sich aufraffen, solange der düstere Winterhimmel noch ein wenig Licht gewährte. Vergeblich bemühte sie sich, von dem Haufen moderigen Strohs aufzustehen. „Reiß dich zusammen, Catherine Harding! Frauen gebären jeden Tag unter weit schlimmeren Bedingungen.“ Es gelang ihr, sich auf den Händen abzustützen und auf die Feuerstelle zuzukriechen.

Doch schon nach kaum einem Meter verließen sie die Kräfte. Es musste daran liegen, dass sie so lange nichts mehr gegessen hatte. Zitternd bohrte sie die Finger in den dreckigen Boden und schnappte nach Luft. Wenn sie sich einen Moment ausruhte, würde sie es vielleicht bis zur Feuerstelle schaffen. Die Geburt eines Kindes konnte schließlich nicht lange dauern, oder doch? Jungen Frauen ein paar grundlegende Tatsachen über das Leben zu erzählen, erschien ihr weit wertvoller, als sie in Aquarellmalerei oder Harfespielen zu unterrichten. Über die Listen hartgesottener Verführer und die Folgen eines mondbeschienenen Stelldicheins aufgeklärt zu werden, war sogar von noch größerem Nutzen. Und auch dass man nicht einmal der engsten Verwandtschaft trauen durfte, war eine Lektion, die sie viel zu spät gelernt hatte.

Vielleicht, wenn ihre Mutter, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte, Henrys Geburt überlebt hätte … Nein. Sie riss sich zusammen, damit kein verträumtes Wunschdenken ihre Entschlossenheit schwächte und die lähmende Furcht vor dem eigenen Schicksal ihr nicht die letzte Kraft raubte. Sie befand sich noch immer in der Mitte des Zimmers. Wie viel Zeit war vergangen, seit sie das Feuer hatte entfachen wollen? Stunden? Das unverändert schummrige Licht, das in das armselige Häuschen drang, ließ auf wenige Minuten schließen. Kate kroch ein Stückchen auf den Feuerrost zu.

Von draußen war ein Knirschen zu vernehmen, gefolgt von Schritten – durch den matschigen Boden gedämpft. Dann hörte sie das Schnauben eines Pferdes und die Stimme eines Mannes.

„Weiter schaffen wir es heute nicht mehr. Du lahmst, ich habe die Orientierung verloren, es beginnt zu schneien, und dies ist das erste Dach, das ich seit zehn Meilen erblicke.“

Ein Engländer, nicht alt, nicht jugendlich, die Sprechweise eines gebildeten Gentleman. Versteck dich!

Unbeholfen und von Angst getrieben, kroch sie so schnell wie möglich zurück zu dem Strohhaufen. Sie verbarg sich hinter einer umgefallenen Tischplatte. Die Beine des Möbels waren wahrscheinlich von Ratten verspeist oder der Feuchtigkeit zum Opfer gefallen. Der Atem wich wie ein Schluchzen aus ihren Lungen. Kate ballte die rechte Hand zu einer Faust, presste sie in den Mund und biss darauf.

„Wenigstens mangelt es uns nicht an Wasser.“ Grant Rivers zog einen Eimer mit verbogenem Griff aus dem Müllhaufen vor dem verfallenen Cottage und tauchte ihn in den kleinen Bach, der gurgelnd am Weg vorbeirauschte. Das rechte Ohr seines neuen Pferdes, das er in Edinburgh erworben hatte, zuckte. Offenbar war das Tier nicht an Konversation gewöhnt.

Grant trug den Eimer in den Teil des Gebäudes, der einmal ein Kuhstall gewesen sein musste. Das Häuschen hatte aus zwei kleinen Räumen bestanden: die eine Hälfte für das Vieh, die andere für die Familie. Die Wärme der Tiere hatte den Bewohnern dieser ärmlichen Unterkunft sicher dabei geholfen, die harten Winter des schottischen Grenzlands zu überstehen. Noch immer bot das mit Heidekraut bedeckte Dach im Stallbereich ausreichend Schutz für ein Pferd und war über dem Wohnbereich sogar noch halbwegs intakt. Fensterscheiben oder eine Tür waren zwar nicht mehr vorhanden, aber die soliden Steinwände schützten immerhin vor dem heftigen Wind. Hier konnte er sich aufwärmen und sich ein wenig ausruhen. Er war Arzt genug, um zu wissen, dass er die Kopfschmerzen und den gelegentlichen Schwindel nicht ignorieren durfte, die ihn seit dem schweren Unfall vor einer Woche plagten.

Es war noch gerade hell genug, um die Hufe zu reinigen und den spitzen Stein zu entdecken, der sich im hinteren Teil des rechten Vorderhufs festgeklemmt hatte. Das Tier musste unter starken Schmerzen gelitten haben. Er strich dem Hengst entschuldigend über das weiche Maul. Es war seine Schuld, denn er hatte unbedingt weiterreiten wollen, obgleich er längst davon ausging, den Großvater nicht mehr lebend anzutreffen. Wenigstens hatte er es noch geschafft, dem Mann, der ihn großgezogen hatte, einen Brief zu schreiben und ihm aus tiefstem Herzen zu versichern, dass nur widrige Umstände ihn davon abhielten, an seinem Sterbebett zu sitzen.

Auch wenn der Großvater wahrscheinlich schon tot war, musste Grant um Charlies Willen so schnell wir möglich zurück nach Abbeywell. Es war zwar der letzte Ort, an dem er sein wollte, doch der Junge brauchte seinen Vater – und er brauchte seinen Sohn. Die Aussicht auf das diesjährige Weihnachtsfest war angesichts des Gesundheitszustands des Großvaters von Anfang an düster gewesen. Grant hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass es so schlimm kommen würde. Er hatte Edinburgh bereits am siebzehnten Dezember verlassen wollen. An diesem Tag war der verhängnisvolle Unfall passiert. Einem unachtsamen Arbeiter war in New Town eine Gerüstplanke aus den Händen geglitten. Das hätte mich beinahe das Leben gekostet, dachte Grant grimmig. Die offene Kopfwunde hatte ihn tagelang ans Bett gefesselt, während Charlie mit seinem sterbenden Urgroßvater in Abbeywell allein war. Sobald Grant das Bewusstsein wiedererlangt hatte und feststellen musste, dass er nicht einmal das Zimmer durchqueren, geschweige denn weiterreisen konnte, hatte er den Brief geschrieben. Vor zwei Tagen war die Antwort des Verwalters eingetroffen: Es stehe zu befürchten, dass der Earl die Nacht nicht überstehen werde.

Grant hatte gehofft, am Weihnachtstag bei seinem Sohn zu sein. Jetzt konnte er es immerhin noch bis zum morgigen Abend schaffen, wenn der verletzte Huf des Pferdes sich nicht entzündete und das Wetter nicht wechselte. „Wir ruhen uns aus und bleiben über Nacht hier, wenn es mir gelingt, ein Feuer zu entfachen.“ Mit einem Pferd zu reden, mochte zwar auf eine Gehirnerschütterung hindeuten, doch wenigstens war auf diese Weise noch etwas anderes zu hören als das Heulen des Windes, der durch das abgeholzte Grenztal fegte. Bis die Windrichtung wechselte, bot das verfallene Häuschen einen brauchbaren Schutz, und der Hengst war das schottische Wetter gewohnt.

Für ihn selbst waren diese Temperaturen ebenfalls nichts Neues. Er kannte die harten Winter von Northumberland, die sich von denen des schottischen Grenzlandes kaum unterschieden. In der Nähe des Cottages lag genug brennbarer Abfall herum. Er würde also ein Feuer machen, essen, was sich noch in den Satteltaschen befand, und sich ein Schlückchen Brandy aus seinem Flachmann genehmigen oder aus der Flasche mit schwarz gebranntem Whisky, die James Whittaker ihm bei ihrer gestrigen Verabschiedung in Edinburgh in die Hand gedrückt hatte.

Irgendetwas liegt in der Luft … Grant, trockene Äste in Händen, straffte die Schultern und hob die Nase. Blut? Es roch nach Blut und nach Angst. Nur zu gut hatte er diesen Geruch aus dem Sommer 1815 in Erinnerung – jene mörderischen Tage, in denen seine Freunde und er sich freiwillig in die letzte Schlacht gegen Napoleon begeben hatten.

Ein leises Ächzen war zu vernehmen, und das Pferd wurde unruhig. War es der Wind oder ein wildes Tier? Nein, dieser kaum vernehmbare Klagelaut hatte nach einem Menschen geklungen. Grant glaubte nicht an Geister. Also musste sich hier jemand aufhalten, der wahrscheinlich verletzt war und unter Schmerzen litt. Oder es handelte sich um eine Falle. Wegelagerern bot das alte Häuschen gewiss einen brauchbaren Unterschlupf. „Das werdet ihr bereuen“, murmelte er, warf das Brennholz in hohem Bogen in eine Ecke und zog das Messer aus seinem linken Stiefel.

Während die Äste geräuschvoll zu Boden fielen, schlich er in den ehemaligen Wohnraum. In das kleine Zimmer drang nur wenig Licht, und es wirkte verlassen. Er sah sich um, erblickte einen kaputten Stuhl, einen Haufen Stroh, einen umgekippten Tisch, Spinnweben und Schatten. Erneut war das leise Geräusch zu hören, und hier war die Angst noch stärker wahrzunehmen. Er ließ alle Vorsicht fallen, durchquerte entschlossen den Raum und zog an der Tischplatte, hinter der sich das einzig mögliche Versteck befand.

Es bedurfte keiner jahrelangen ärztlichen Erfahrung, um zu erkennen, dass die Frau, die sich dahinter auf dem Stroh versteckte, in den Wehen lag und überdies vollkommen verzweifelt war. Von allen medizinischen Notfällen, die ihm begegnen konnten, war dies im wahrsten Sinne des Wortes der größte Albtraum. Ihre verängstigten Blicke wanderten von seinem Gesicht zu dem Messer in seiner Hand, während sie panisch in das Stroh zurückwich.

„Verschwinden Sie!“ Ihre Stimme klang schwach und dennoch trotzig. Ihr Mund war blutverschmiert, ebenso wie die Hand, die sie schützend auf den gewölbten Leib gelegt hatte. Offenbar hatte sie sich in die Faust gebissen, um die Schmerzensschreie zu unterdrücken. Als er das sah, wurde ihm ganz elend. „Einen Schritt weiter und ich …“

„Und Sie legen mir ein Baby auf die Stiefel?“ Er schob das Messer zurück in den Stiefel, zwang sich zu lächeln und bemerkte, dass sie sich angesichts seines heiteren Tonfalls ein wenig entspannte. Als er seinen Hut auf den kaputten Stuhl warf und der Verband um seine Stirn sichtbar wurde, schien ihre Nervosität wieder zu wachsen.

„Machen Sie sich nicht zum Narren.“ Sie sprach wie eine gebildete Engländerin, die ganz und gar nicht in diese armselige Hütte passte. Einen Augenblick senkte sie die Lider, und als sie die Augen wieder öffnete, erkannte er, wie erschöpft sie war. „Das Baby will einfach nicht zur Welt kommen.“

„Ihr erstes?“ Grant kniete sich neben sie. „Ich bin Arzt. Es wird alles gut gehen, vertrauen Sie mir.“ Eine Lüge zu Beginn. Wie viele werde ich noch benötigen? Ich bin nicht kompetent und habe keine Ahnung, ob alles gut gehen wird. Die einzige Geburt eines Babys, bei der ich assistiert habe, war eine Katastrophe. Aber zumindest hatte er zahllosen Fohlen erfolgreich auf die Welt geholfen. Mit seinem theoretischen Wissen und der praktischen Erfahrung, die er über die weibliche Anatomie gesammelt hatte, war er immerhin noch besser als gar keine Hilfe. Aber das Kind sollte sich besser beeilen, denn bis es geboren war, saß er hier fest.

Er war groß und hatte eine männliche Ausstrahlung. Mit seinem Kopfverband sah er trotz der ordentlich geschneiderten Kleidung wie ein Straßenräuber aus. Dennoch wirkten die Zuversicht, die er vermittelte, und seine tiefe ruhige Stimme wie eine Dosis Laudanum auf ihren schmerzhaft verkrampften Körper. Ein Arzt! Es kam ihr vor, als ob ihre Gebete erhört worden seien. Wunder waren also doch noch möglich.

„Ja, es ist mein erstes Kind.“ Und mein letztes. Kein noch so großes Vergnügen ist diese Tortur wert.

„Dann sollten wir jetzt erst einmal für Wärme sorgen.“ Er streifte den gefütterten Reiseumhang ab und deckte sie damit zu. Der Umhang roch nach Pferd, Leder und Mann – Gerüche, die sie seltsamerweise beruhigten. „Wir machen es Ihnen bequemer, sobald das Feuer brennt.“

„Dr. …?“

„Grantham Rivers, zu Ihren Diensten. Nennen Sie mich einfach Grant.“ Er stocherte in den Überresten der Feuerstelle, ging in den Stall und kehrte mit Holz zurück. Seine Stimme klang freundlich, dennoch spürte sie, dass er sich unbehaglich fühlte. Der gelassene Tonfall und die entschlossenen Bewegungen täuschten nicht über seine Anspannung hinweg.

„Grantham?“ Es war unglaublich, welche Wirkung ein wenig Freundlichkeit und Zuspruch auf sie hatten, auch wenn ihr bewusst war, dass ihr Retter sich am liebsten weit weg befunden hätte.

„Ja, ich bin in einer leidenschaftlichen Hochzeitsnacht in jenem Marktflecken gleichen Namens in Lincolnshire gezeugt worden.“ Mit einem Zündstein schlug er an einem Stahlstück Funken, bis der Zunder, den er bereithielt, glimmte. Dann gab er den aufflackernden Feuerschwamm zu dem Brennholz und brachte mit geübten Griffen ein Feuer in Gang. „Ich habe noch Glück gehabt. Schließlich hätte es auch Biggleswade sein können.“

Sie hatte sich nicht mehr vorstellen können, jemals wieder über irgendetwas zu lachen. Ihr belustigtes Prusten verwandelte sich sofort in ein Stöhnen, als eine Wehe einsetzte.

„Atmen Sie ganz ruhig weiter“, sagte er, während er sich um das Feuer kümmerte. „Atmen Sie weiter und entspannen Sie sich.“

„Entspannen? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?“ Keuchend lehnte sich Kate zurück. Es fiel ihr schon schwer genug, zu atmen.

„Nein, ich bin nur ein Mann und daher in Situationen wie dieser zu Unzulänglichkeit verdammt.“ Er verzog den Mund zu einem Lächeln, das ihr bitter vorkam, auch wenn sich das auf die Schnelle kaum beurteilen ließ. „Wie heißen Sie?“

Ich muss auf der Hut sein! Hier war sie ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Falls er kein so guter Mann war, wie es den Anschein hatte, war sie in einer aussichtslosen Lage. Doch der verzweifelte Wunsch, das Baby gesund zur Welt zu bringen, trieb sie dazu, ihm zu vertrauen. Allerdings reichte es, wenn sie ihm ihr Leben anvertraute, nicht auch noch ihre Geheimnisse. Sollte sie ihn über ihren Namen anlügen? Das ergab keinen Sinn. „Miss Catherine Harding“, antwortete sie nach kurzem Zögern. „Meine Freunde nennen mich Kate.“

Dr. Rivers brach die Reste der Tischbeine von der Tischplatte ab und stapelte das Holz neben dem Feuer. Entweder war es sehr morsch oder er war sehr stark. Sie musterte seine breiten Schultern und kam zu dem Schluss, dass Letzteres der Fall war.

„Wo ist der Vater des Kindes?“ Er schien über ihre Situation nicht übermäßig schockiert zu sein. Ärzte waren vermutlich daran gewöhnt, sich nichts anmerken zu lassen, ganz gleich, in welcher beschämenden Lage sich die Patienten befanden.

„Tot.“ Das war gelogen, und sie hatte geantwortet, ohne nachzudenken. Nachdem sie dieses eine Wort ausgesprochen hatte, kehrte auch ihre Vorsicht zurück. Dieser Fremde wirkte freundlich und versprach, ihr zu helfen. Dennoch konnte er sie immer noch im Stich lassen. Wahrscheinlich würde er das sogar tun, wenn er erfuhr, in welche Machenschaften sie verwickelt war. Seiner Redeweise, der Kleidung und der Manieren nach war er ein Gentleman. Aber Gentlemen erwiesen sich nicht immer als Retter aus der Not …

„Das tut mir leid.“ Grant Rivers legte die Tischplatte auf den Boden und verteilte darauf das trockenere Stroh. „Haben Sie Leinenwäsche bei sich? Unterkleider, Unterröcke?“

„In meinem Handkoffer. Es ist aber nicht viel.“ Es war alles, was sie hatte tragen können.

Zielstrebig sah er ihre Sachen durch. Ein Nachtgewand legte er zur Seite, dann breitete er Leinenwäsche auf dem Stroh aus und rollte ihre beiden Kleider zu einem Kissen zusammen.

„Dr. …“

„Grant.“

„Sie wissen sich wirklich zu helfen.“ Eine Wehe kam, doch diesmal ließ sie sich leichter ertragen. Er sorgte dafür, dass sie sich entspannte. Genau wie er gesagt hatte.

„In der Armee habe ich mich an eine einfache Devise gehalten: Wenn es nichts gibt, mach etwas daraus.“ Er blickte sie an. „Wir sollten dafür sorgen, dass Sie etwas Bequemeres anziehen und sich auf dieses komfortable Bett legen.“ Es wurde immer dunkler, und sie konnte seiner Miene nichts entnehmen. „Kate, es tut mir leid. Ich bin ein Mann und Ihnen vollkommen fremd, aber wir sollten dafür sorgen, dass Sie das Nachtgewand anziehen. Außerdem muss ich Sie untersuchen.“ Nun klang er beinahe ungeduldig. „Sie sind eine Patientin, und in dieser Situation können Sie sich keine falsche Scham leisten.“

Denk an das Baby! ermahnte sie sich. Stell dir vor, dass Grant Rivers ein Schutzengel ist. Ein geschlechtsloser Weihnachtsengel. Mir bleibt keine andere Wahl, als ihm zu trauen. „Also gut.“

Er zog sie aus wie ein Mann, der sich mit den Verschlüssen von Frauenkleidern auskannte. Geschlechtslos ist wohl nicht der richtige Begriff. Noch bevor sie sich schämen konnte, hatte er ihr aus dem fleckigen Reisekleid und dem Unterkleid geholfen. Ihr Nachtgewand hatte er in der Nähe des Feuers abgelegt, sodass sich der Stoff angenehm erwärmt hatte. Sie zog es über und legte sich hin. Während sie noch erleichtert über die einfache, aber unverhoffte Bequemlichkeit aufseufzte, hatte er ihr bereits das Nachtgewand bis zur Taille hochgeschoben und dafür gesorgt, dass sie die Knie anwinkelte.

„Ja, so können Sie liegen bleiben.“ Grant breitete erneut den Reiseumhang über ihr aus. „Jetzt brauchen Sie noch etwas Heißes zu trinken. Lehnen Sie sich zurück und versuchen Sie, warm zu werden.“

Kate beobachtete mit halb zusammengekniffenen Augen, wie er das Feuer schürte und einen Eimer Wasser hereinbrachte, den er neben dem Feuerrost abstellte. Er zündete eine kleine Laterne an, füllte einen Becher mit Wasser und gab etwas aus einem Flachmann hinzu, den er auf einem Ziegelstein neben den Flammen abgestellt hatte. Anschließend wusch er sich in dem Eimer die Hände. Seine Bewegungen waren zielstrebig und geschmeidig. Er schien ein Mann der Tat zu sein, der ungern Zeit verlor. Nun war er allerdings gezwungen, sich nach dem Zeitplan des Babys zu richten. Sowohl die Tüchtigkeit des Mannes als auch seine spürbare Ungeduld verliehen ihr Zuversicht. Es war, als ob sie ihn schon lange kennen würde.

„Woher kommt die Laterne?“

„Ich habe immer eine in einer der Satteltaschen dabei. Ich muss nur noch einen weiteren Behälter für Wasser finden. Davon werden wir eine Menge brauchen, bis wir hier fertig sind. Glücklicherweise waren die letzten Bewohner reichlich unordentlich und hinterließen draußen einen Haufen brauchbaren Müll.“

Dass er im Umgang mit häuslichen Tätigkeiten ein solches Geschick bewies, war für einen Mann sehr ungewöhnlich. Für seinen Pragmatismus konnte sie nur dankbar sein. Kate betrachtete seine breiten Schultern und die muskulösen Beine in den hautengen Breeches aus Wildleder. Sie hatte nicht gedacht, sich je wieder zu einem Mann hingezogen zu fühlen. Doch wenn sie es sich rein theoretisch vorstellte, besaß Grant Rivers mehr als die nötigen Attribute. Zweifellos war er sehr … „Aaah!“

„Halten Sie durch, ich bin in einer Minute wieder bei Ihnen.“ Als er zurückkehrte, trug er ein Sortiment alter Töpfe und Kannen, und Wasser schwappte auf den Boden. Er hielt die Hände gegen das Feuer. „Meine Finger sind schon wieder kalt.“

Warum sagt er das jetzt …? Kate holte entrüstet Luft, als er mit der Laterne in einer Hand zu ihren Füßen in die Knie ging und unter den Umhang tauchte, der über ihren Beinen lag.

„Es ist erstaunlich, wie man sich den Umständen anpassen kann“, murmelte sie nach aufreibenden Minuten, die ihr endlos vorkamen. Unglaublich, dass ihre Stimme noch immer vernünftig klang und nichts von der Panik verriet, die in ihrem Inneren tobte.

Grants Kopf kam wieder zum Vorschein. Zerzaust, aber gelassen richtete er sich auf und strich sich das kräftige dunkelbraune Haar aus der Stirn. Er lächelte, was die Attraktivität seiner Gesichtszüge noch steigerte. „Bei Geburten ist eine gewisse Intimität unvermeidlich“, sagte er. „Aber alles scheint so zu sein, wie es sein sollte.“ Das Lächeln erstarb, als er einen Blick auf die Taschenuhr warf, die er aus der Weste gezogen hatte.

„Wie lange dauert es denn noch?“ Vergeblich versuchte sie, es nicht wie eine Forderung klingen zu lassen.

„Noch einige Stunden, denke ich. Am Anfang gehen Babys es gern langsam an.“ Er stand neben dem Feuer und wusch sich die Hände in einem der Behälter mit Wasser. Anschließend goss er etwas aus einem Fläschchen in einen zerbeulten Wasserkessel, der keinen Griff mehr hatte.

„Stunden?“

„Trinken Sie das.“ Er reichte ihr das Gebräu in einem Becher aus Horn – offenbar ein weiterer Gegenstand, den er seinen unerschöpflichen Satteltaschen entnommen hatte. „Gleich hole ich etwas zu essen. Wann hatten Sie die letzte Mahlzeit?“

Darüber musste sie nachdenken. „Gestern. Ich habe in einem Gasthof gefrühstückt.“

Grant erwiderte nichts. Stattdessen brachte er ihr ein einfaches, mit Käse belegtes Sandwich. Ihr fiel auf, dass er nichts aß. „Was essen Sie? Sie haben mir gerade alles gegeben, was Sie mit sich führen, nicht wahr?“

Er zuckte mit den Schultern und schenkte sich etwas von der Flüssigkeit in einen henkellosen Becher. „Sie brauchen jetzt Kraft. Ich kann gut von meinen Fettreserven leben.“

Er setzte sich auf den Boden, lehnte den Kopf gegen die raue Steinwand und schloss die Augen. Was für Fettreserven? Bei jedem anderen Mann hätte sie angenommen, dass er ein Kompliment erhaschen wollte. Aber zu Grant Rivers und seiner Geradlinigkeit passte das nicht.

Wo arbeitete er als Arzt? Sie sann über ihn nach und döste allmählich ein, als sich durch das Essen und den heißen Trank ein wohliges Gefühl in ihrem Magen ausgebreitet hatte. Er war gebildet und hatte Dienst in der Armee geleistet. Er trug keinen Ehering – auch wenn sich daraus noch nicht viel schließen ließ – und einen Siegelring an der linken Hand. Seine Kleidung war von guter Qualität, und doch ritt er ohne einen Diener durch das unwirtliche Grenzland und hatte sich offenkundig darauf eingestellt, die Nacht unter diesen rauen Bedingungen zu verbringen.

Knisternd glitt ein Stück Holz in das Feuer, sie schrak hoch und war sofort hellwach. „Woher stammt Ihre Kopfverletzung?“ Befand er sich auf der Flucht?

„Ein dummer Unfall in Edinburgh. Ich habe bei einem Freund in New Town übernachtet, und überall waren Baustellen. Irgendein törichter Arbeiter hat eine Planke auf mich herabfallen lassen. Erst war ich bewusstlos und konnte mich auch nicht viel bewegen, aber es ist nichts gebrochen.“

Er schloss erneut die Augen, und sie tat es ihm gleich. Beruhigt döste sie wieder ein. Sie war in Sicherheit, solange er bei ihr war.

2. KAPITEL

Die Nacht verging mit wenig Schlaf, der von zunehmend heftigen Wehen unterbrochen wurde. Irgendwann war sie so erschöpft, dass sie ihr Schicksal und das des Babys ganz den fähigen Händen von Grant Rivers überließ – seiner Zuversicht, seiner beruhigenden Stimme und seiner männlichen Stärke. Sie hatte das Gefühl, dass er ein guter Mann war. Doch selbst wenn sie sich irrte, blieb ihr keine andere Wahl. Während scheinbar endlose Stunden verstrichen, wuchs ihr Vertrauen.

Wenn die Schmerzen unerträglich wurden, umklammerte sie seine Hände. Er beschwerte sich mit keinem Wort. Er würde das Kind auf die Welt holen und sie retten, sodass sie das Baby in den Armen halten konnte. Er war ihr Wunder. Niemals zuvor hatte sie eine solche Müdigkeit empfunden. Ein Kind zu gebären, so qualvoll, wie sie es sich niemals ausgemalt hatte. Es kam ihr vor, als ob es Jahre dauern würde. Aber es würde gut gehen. Grant Rivers würde dafür sorgen.

Es dauerte zu lange. Kate war vollkommen erschöpft, das Licht der Laterne war viel zu spärlich, und er hatte keine Instrumente bei sich. Er wusste nur zu gut, dass er hilflos war, wenn es zu Komplikationen kam.

Als dämmriges Morgenlicht durch die Fenster drang, trank Grant einen Schluck Whisky, rieb sich mit den Händen über das Gesicht und stellte sich seiner Furcht. Weder sie noch das Baby würden sterben. Diesmal, in dieser schrecklichen Situation, würde er sowohl die Mutter als auch das Kind retten. Er musste nur die Nerven behalten und seinen Verstand benutzen. Dann würde es ihm gelingen, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Diesmal. Er reckte sich und stand auf, um nach dem Pferd zu sehen. Er sah, dass auf den Resten der steinernen Rückwand ein Strauch wuchs. Grant lächelte.

„Reden Sie mit mir, Kate“, forderte er sie auf, als er in den Wohnraum zurückkehrte. „Woher kommen Sie, und weshalb sind Sie hier an einem Weihnachtsmorgen allein?“

„Ich bin nicht allein.“ Sie öffnete die Augen. „Sie sind bei mir. Ist wirklich Weihnachten?“

„Ja. Ich wünsche Ihnen frohe Festtage.“ Er zeigte ihr den kleinen Strauß mit Winterbeeren, den er für sie gepflückt hatte, und sie dankte es ihm mit einem Lächeln. Hölle! Sie sieht entsetzlich aus! Ihr Gesicht war kreidebleich und von den Strapazen gezeichnet. Das Haar war strähnig und wirr, die Augen waren blutunterlaufen. Sie ist dünn und hat wahrscheinlich schon eine ganze Weile nicht mehr richtig gegessen. Aber sie ist eine Kämpferin.

„Wie alt sind Sie?“

„Dreiundzwanzig.“

„Reden Sie mit mir“, forderte er sie wieder auf. „Woher kommen Sie? Ich lebe gleich hinter der Grenze in Northumberland.“

„Ich bin …“ Sie verzog das Gesicht. „Suffolk. Mein Bruder ist ein … ein Gutsbesitzer. Meine Mutter starb bei seiner Geburt, und mein Vater kam vor ein paar Jahren bei einem Jagdunfall ums Leben. Er war ein echter Landmensch und machte sich nichts aus London. Mein Bruder Henry ist anders, aber er ist nicht bedeutend oder reich und verfügt auch nicht über gute Beziehungen, auch wenn er das nicht wahrhaben möchte. Er wollte, dass ich eine vorteilhafte Heirat eingehe.“

Sie war also eine Frau von Stand, wie er vermutet hatte. „Sie sind volljährig.“ Grant wischte ihr mit einem feuchten Lappen über das Gesicht und gab ihr erneut von dem warmen verdünnten Brandy zu trinken. Ein heißer süßer Tee wäre besser gewesen, doch er hatte nichts anderes.

Sie schwieg, und er nahm an, dass sie darüber nachdachte, wie viel sie ihm anvertrauen sollte. „Er verfügt über mein Geld, bis ich mit seinem Segen heirate. Ich verliebte mich und war leichtsinnig und naiv. Ich hatte ein ruhiges behütetes Leben auf dem Land, bevor ich Jonathan begegnet bin.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Dann starb Jonathan. Henry sagte, dass ich in dem Jagdhaus in der Nähe von Edinburgh bleiben muss, das er von einem Onkel geerbt hat. Mein Kind wollte er einfach in einem Waisenhaus abgeben. Es soll aber nicht an einem solchen Ort aufwachsen, an dem es bestimmt nicht geliebt wird …“ Ihre Stimme versagte.

Das war nicht die ganze Geschichte. Er war sicher, dass Kate sie entsprechend zurechtgebogen hatte. Das konnte er ihr kaum verübeln. Wahrscheinlich passierte so etwas ständig – junge wohlerzogene Frauen fanden sich in einer derartig heiklen Situation wieder, und die Familie schritt ein, um Schande und Schaden zu begrenzen. Auch für Kate wurde vermutlich ein ahnungsloser Gatte gesucht, an den sie weitergereicht werden konnte, sobald man sich des Kindes entledigt hatte. In diesem Falle war das jammerschade, denn er war sich sicher, dass Kate mit ihrer entschlossenen Art eine gute Mutter abgeben würde.

Er lehnte sich wieder gegen die Wand, ohne ihre rechte Hand loszulassen. Auf diese Weise würde er sofort merken, wenn die nächsten Wehen einsetzten, selbst wenn er zwischendurch eindöste. Er war so todmüde, dass ihn selbst die Albträume nicht wecken würden, die ihn oft plagten, aber Kates fester Griff würde dafür sorgen. Wie viel Zeit war inzwischen vergangen? Charlie wartete auf ihn. Für sein Alter war er ein kluges und vernünftiges Kerlchen. Doch der Junge hatte schon viel zu viel durchgemacht und brauchte seinen Vater. Und eine Mutter braucht er auch.

Im Augenblick konnte er nichts tun, um den Lauf der Dinge zu beschleunigen. Er rutschte ein Stück, um an der schroffen Wand eine halbwegs glatte Stelle zum Anlehnen zu finden. Noch etwas belastete ihn. Er hatte seinen Großvater enttäuscht, weil er nicht erneut geheiratet hatte. Mit zunehmender Gebrechlichkeit hatte der alte Mann ihm gegenüber immer und immer wieder den Wunsch zum Ausdruck gebracht, er möge sich eine Frau suchen. Der Junge ist ein feiner und aufgeweckter Bursche, aber er braucht Geschwister, er braucht eine Mutter … Und du brauchst eine Frau.

Wieder und wieder hatte Grant dieselben müden Ausreden vorgebracht. Er brauche mehr Zeit, er wolle diesmal die richtige Frau finden, damit nicht noch einmal alles schiefging. Er brauche einfach Zeit. Doch um was zu tun? Um den Charakter der hübschen jungen Dinger zu ergründen, die sich auf dem Heiratsmarkt zur Schau stellten? Das Risiko, einen weiteren fatalen Fehler zu begehen, war groß. Sein eigenes Glück spielte dabei eine untergeordnete Rolle, aber Charlie sollte eine liebevolle Stiefmutter bekommen. Ich verspreche dir, eine Frau zu finden, hatte er zu seinem Großvater gesagt, als er sich beim letzten Mal von ihm verabschiedet hatte. Dennoch war er nur wieder auf den Kontinent gereist.

Er selbst brauchte keine Ehefrau und sehnte sich auch nicht danach, aber Abbeywell benötigte eine Hausherrin und Charlie die Fürsorge einer Frau.

„Was werden Sie tun, sobald das Baby auf der Welt ist?“, fragte er die erschöpfte Frau an seiner Seite.

„Ich weiß es nicht“, antwortete sie. „So weit vermag ich im Augenblick nicht zu denken. Es gibt niemanden, an den ich mich wenden kann, doch ich werde es schon schaffen … irgendwie.“

Sie ist keine Schönheit, aber sie besitzt Mut und mütterliches Pflichtgefühl. Es war, als wäre die Zeit außer Kraft gesetzt und Vergangenheit und Gegenwart würden miteinander verschmelzen. Zwei Frauen im Kindbett – für das eine Baby konnte er nichts mehr tun, das andere würde er vielleicht retten. Doch selbst wenn ihm das gelang, war das Kind durch den Makel der unehelichen Geburt für immer bestraft.

Ihm kam eine Idee. Kate brauchte einen Zufluchtsort und Sicherheit für das Baby. Würde sie eine gute Gouvernante für Charlie abgeben? Er überlegte hin und her. Charlie hatte einen fähigen Hauslehrer. Was der Junge brauchte, war mütterliche Zuneigung. Grant dachte an seine Mutter, die an einem Fieber gestorben war. Damals war er nicht viel älter gewesen als sein Sohn jetzt. Die Mutter hatte ihm eine Vorstellung von Herzensgüte und Schönheit vermittelt. Sie war zur Stelle gewesen, um ihn liebevoll zu umarmen oder ihm einen Kuss zu geben, wenn von ihm zu viel Manneszucht verlangt wurde.

Dieses mütterliche Einfühlungsvermögen, diese Zärtlichkeiten waren kostbar. Kate war noch nicht Mutter, doch er spürte, dass sie von Natur aus fürsorglich war. Charlie braucht keine Gouvernante, er braucht eine Mutter. Also solltest du sie heiraten.

Was um alles in der Welt kam ihm da in den Sinn? Ich bin zu müde, um einen klaren Gedanken zu fassen, und mein Kopf hat sich offenbar auch noch nicht von dem Unfall erholt.

Er hörte, wie der Hengst nebenan schnaubte und hell wieherte. Grant stand auf, ging zur Türöffnung und starrte in den Nebel. Zwei Männer, die wie Landarbeiter aussahen, stapften neben einem Eselkarren den Weg hoch. Er kehrte zu Kate zurück, die aufblickte. Immerhin lächelte sie, wenn auch schwach. Tapferes Mädchen. Wünschst du dir das Unmögliche?

„Wir befinden uns noch in Schottland“, sagte er, als ihm bewusst wurde, dass sich seine verrückte Idee in die Tat umsetzen ließ. Bin ich wahnsinnig geworden, oder sind diese beiden Fremden da draußen, die just nach meinem verwegenen Gedanken auftauchen, eine Art Zeichen? „Es nähern sich gerade zwei Männer, zwei Bauern, auf dem Weg.“ Zeugen. „Kate – heiraten Sie mich.“

„Ich soll Sie heiraten?“

Es fiel ihr schwer, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als das Leben, das in ihr darum kämpfte, auf die Welt zu kommen. Sie starrte ihn an.

Im Licht der Morgendämmerung wirkte es nicht, als hätte er den Verstand verloren, auch wenn sie natürlich seine Kopfverletzung in Betracht ziehen musste. Nein, selbst nach einer schlaflosen Nacht, in der er sich in einem halb verfallenen Cottage um eine Frau in den Wehen gekümmert hatte, sah er wie ein anständiger, attraktiver englischer Gentleman aus.

„Ich bin weder verheiratet noch verlobt, und ich kann für eine Frau mit Kind sorgen. Wenn Sie mich heiraten, bevor das Baby zur Welt kommt, wird es nicht unter dem Makel der Unehelichkeit leiden.“ Er lächelte, als ob er ihr Mut machen wollte, doch es lag keine Wärme in seinem Blick.

Nicht unehelich. Ihr Kind würde einen anständigen Namen und eine Zukunft bekommen. Sie und das Baby würden vor Henry in Sicherheit sein. Wahrscheinlich jedenfalls. Nach einer weiteren Wehe kam ihr die Vorstellung, einen völlig Fremden zu heiraten, wie ein rettender Einfall vor. Ohne Genaueres über sie zu wissen, bot er ihr einen Ausweg. Sie würde einen neuen Namen erhalten und ein neues Zuhause, und das war alles, was für das Baby wichtig war.

Sie war mittlerweile derartig erschöpft, dass für sie nur noch das Kind von Bedeutung war. Grant war Arzt und lebte im wilden Northumberland, Hunderte von Meilen von London entfernt. Das würde für die nötige Sicherheit sorgen. Doch weshalb wollte Grant sie zur Frau nehmen und sich mit dem Kind eines anderen Mannes belasten? Das Baby wäre nicht unehelich. Wir könnten uns verstecken. Die verführerischen Worte wirbelten ihr durch den müden Kopf, und die Verzweiflung war größer als die Vorsicht. „Dafür reicht die Zeit nicht mehr.“

„Wir sind in Schottland“, erwiderte Grant. „Wir müssen uns nur vor Zeugen zu Eheleuten erklären – und zwei Zeugen kommen gerade des Weges. Sagen Sie Ja, Kate, dann hole ich die beiden, und wir sind Mann und Frau.“

„Ja.“ Er eilte hinaus, bevor sie ihre Zustimmung widerrufen konnte. Sie hörte, wie er einen lauten Gruß ausrief. Ja, ich werde es tun. Ein weiteres Wunder, das mit meinem Schutzengel, dem Doktor, einhergeht. Ein Weihnachtswunder. Er musste die Wahrheit niemals erfahren, dann konnte sie ihn auch nicht verletzen.

„Jojojo, wir helfen gern, wenn’s darum geht. Ich bin Tam Johnson und das is’ mein ältester Sohn Willie.“ Der Mann sprach in dem breiten Dialekt des schottischen Grenzlands. „Sie ha’m Glück, dass wir hier g’rad langlaufen. Wir sind nur in der Gegend, um ’nem Nachbarn ’nen Gefallen zu tun.“

Sie hörte schlurfende Schritte, und Grant kam in das Cottage. „Dürfen wir eintreten?“ Kate nickte, und er trat zur Seite, um zwei stämmige schwarzhaarige Männer in den Raum zu lassen. Sie verströmten den Geruch von nassen Schafen, Heidekraut und Torfrauch.

„Guten Morgen, Mistress“, begrüßte sie der Ältere der beiden mit freundlicher Gelassenheit, als ob er jeden Tag in der Woche eine Ehe in einem verfallenen Cottage bezeugte. Der junge Mann neben ihm knetete seine Mütze zwischen den Fingern. Er schien sich in der Situation nicht so wohl zu fühlen wie der andere, der offenbar sein Vater war.

„Guten Tag“, entgegnete sie, zu kraftlos, um Verlegenheit zu empfinden.

Grant holte ein Notizbuch, das er vermutlich seinen unerschöpflichen Satteltaschen entnommen hatte. „Wir sollten die Eheschließung wohl besser schriftlich festhalten, und Sie unterschreiben, ja?“

„Jojojo, wär’ wohl das Beste. Dann sind Sie also Engländer? Sie müssen eigentlich nix anderes tun, als sich zu Mann und Frau zu erklären. Gegenseitig, mein’ ich natürlich.“ Der ältere Mr. Johnson schnaubte belustigt über seine eigene Gewitztheit.

„Verstehe.“ Grant kniete neben Kate nieder und ergriff ihre rechte Hand. „Ich, Grantham Phillip Hale Rivers, erkläre vor diesen Zeugen, dass ich dich, Catherine …“

„Jane Penelope Harding“, flüsterte sie.

„Catherine Jane Penelope Harding, zu meiner Frau nehme.“

Erneut setzte eine Wehe ein. Sie biss die Zähne zusammen. „Vor diesen Zeugen erkläre ich, Catherine Jane Penelope Harding, dich, Grantham Phillip … Hale Rivers, zu meinem Gatten.“

„Ich denke, wir erledigen das Schriftliche draußen.“

Sie bekam nur noch am Rande mit, dass Grant die Johnsons hinausführte. Vor lauter Schmerz und Anstrengung verlor sie fast die Besinnung.

Wo war Grant? Sie horchte und hörte, dass er mit den Männern nebenan im Stall war.

„Vielen Dank, Männer.“ Das Klimpern von Münzen war zu vernehmen. „Trinken Sie auf unsere Gesundheit. Sie bringen dann am Nachmittag den Eselskarren zu uns?“

„Jojojo, das machen wir, keine Sorge.“ Es klang nach dem älteren Johnson. „Jetzt, wo der Regen aufgehört hat, is’ es nich’ schwierig, nach Jedburgh zu kommen. Das erreichen Sie, bevor’s dunkel wird. Danke für die Großzügigkeit, Sir. Mögen Ihre Frau und das Kind gesegnet sein.“

„Grant!“

Er duckte sich unter dem niedrigen Türsturz und war wieder bei ihr. „Hier bin ich.“

„Es passiert etwas.“

„Das will ich doch hoffen.“ Er hob die Laterne an. „Schauen wir mal nach, was unser Kind macht.“

Grant gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Selbst in diesen letzten hektischen Minuten hatte sie sich beschützt gefühlt, und als die ersten unwilligen Schreie die Luft erfüllten, wusste er sofort, was zu tun war.

„Da ist sie“, sagte er und legte ihr das sich windende, glitschige rotgesichtige Baby auf den Bauch. „Das hübscheste kleine Mädchen der Welt ist ausgesprochen verärgert über uns beide, wenn man nach dem Klang der Stimme urteilt.“

Es war Zeit vergangen, und die Welt hatte sich außerhalb der Blase, in der sie sich mit ihrem Baby in den Armen befand, weitergedreht. Ihr wurde bewusst, dass Grant sich zielstrebig um sie herum bewegte. Irgendwann nahm er das Kind, wusch es und wickelte es in eines seiner Hemden. Dann kümmerte er sich um sie selbst und half ihr, ein sauberes Kleid anzuziehen, bevor er sie und das Baby in seinen Umhang hüllte.

Er reichte ihr ein heißes Getränk und einen Brei. Vermutlich waren die Johnsons zurückgekommen und hatten das Essen mitgebracht. Sie wusste es nicht. Als Grant sie fragte, ob sie in der Lage sei, weiterzureisen, nickte sie nur. Er schien in Eile zu sein, und sie verließ sich darauf, dass er auf sie aufpassen würde. Liebevoll schmiegte sie ihre winzige Tochter an ihre Brust.

Die holprige Fahrt auf dem Karren war zunächst unangenehm, und ihr Gesicht fühlte sich eiskalt an. Dennoch war die Welt für sie in Ordnung, weil das Baby und Grant bei ihr waren. Dann hörte sie Lärm und Leute, die sich unterhielten. Grant trug sie in ein Gebäude, und bald darauf spürte sie die Wärme und Bequemlichkeit eines weichen Bettes. Offenbar befanden sie sich in einem Gasthof.

Kate blickte zu ihm hoch. Er sah zerzaust und todmüde aus. Und … traurig? Dies war der Mann, den sie geheiratet hatte. Es fühlte sich unwirklich an. „Vielen Dank.“

„Es ist mir ein Vergnügen.“ Er klang beinahe überzeugend. „Wie sollen wir sie nennen?“

„Anna, nach meiner Mutter.“ Das hatte sie während der Fahrt auf dem Karren beschlossen. Anna Rivers. Und ich bin jetzt Mrs. Rivers. Wir sind in Sicherheit, wenngleich auf Kosten einer Lüge. Einer Lüge, die nicht klein war, aber sie würde ihm eine gute Ehefrau sein und zufrieden mit jedem noch so bescheidenen Zuhause. Er würde es nie erfahren.

„Also dann Anna Rosalind, nach Ihrer und meiner Mutter.“ Als sie ihn verwundert über den besitzergreifenden Tonfall anblickte, zuckte er mit den Schultern. „Sie ist eine bedeutende kleine Persönlichkeit. Daher braucht sie wenigstens zwei Vornamen. Übrigens habe ich ein Kindermädchen gefunden, das sich mit Neugeborenen auskennt.“ Ein fröhliches sommersprossiges Gesicht tauchte neben ihm auf. „Dies ist Jeannie Tranter, und sie freut sich, uns nach England zu begleiten. Wir haben es jetzt nicht mehr weit bis nach Northumberland.“

„Oh wie gut.“

In welchen Verhältnissen Grant wohl in Northumberland lebt? Aber es spielt keine Rolle. Das Baby und ich sind jetzt in Sicherheit, Hunderte Meilen von Henry und Hunderte Meilen von einem wahrscheinlich rachsüchtigen Jonathan entfernt. Niemand kann mir Anna wegnehmen, weil sie jetzt zu Grant gehört. Das war alles, was von Belang war. Wir beide gehören jetzt ihm.

Bei diesem Gedanken runzelte sie die Stirn. Ihr Baby hatte nun einen Vater, aber sie hatte auch einen Gatten. Obgleich sie den Mann gar nicht kannte, lag ihre Zukunft in seinen Händen.

Grant stand noch immer neben dem Bett und blickte sie an. Sie schenkte ihm ein Lächeln, bevor sie sich wieder um das Baby kümmerte.

„Ich nehme ein Bad, anschließend bin ich im Privatsalon, für den Fall, dass Sie mich brauchen“, sagte Grant zu dem Kindermädchen.

Jeannie nickte lebhaft, doch ihre Aufmerksamkeit galt der Frau und dem Baby auf dem Bett. „Jawohl, Sir. Ich bin sicher, dass wir Sie nicht stören müssen.“

Das soll wohl heißen, dass ich hier als Mann überflüssig bin. Beim letzten Mal war es genauso gewesen. Denk nicht an das letzte Mal.

Grant ging in die benachbarte Kammer und zog sich aus. Dann setzte er sich in den Zuber vor dem Kamin. Das Badewasser war noch immer heiß, und es war herrlich, den Schmutz der letzten vierundzwanzig Stunden vom Körper zu schrubben. Er seifte sein Haar ein, tauchte unter und hob den Kopf wieder aus dem Wasser. Er war nicht geneigt, aufzustehen. Badezuber waren ein guter Ort zum Nachdenken.

Grant war für eine Weile eingedöst und erwachte, weil das Wasser kalt geworden war. Schnell stieg er aus dem Zuber, um sich abzutrocknen und in seiner dezimierten Reisegarderobe nach etwas Frischem zum Wechseln zu suchen. Bei der Geburt eines Kindes benötigte man Unmengen sauberes Leinen.

Als er schließlich im Privatsalon saß, sich ein Glas Wein eingeschenkt hatte und die Beine auf dem Kaminvorleger ausstreckte, kehrte sein Verstand zurück. Was hatte er bloß getan? War es eine gute Tat gewesen? In jedem Fall handelte es sich um einen riskanten Akt der Nächstenliebe, eine Frau für das ganze Leben an einen vollkommen Fremden zu binden. Oder war es ein selbstsüchtiger Akt gewesen? Hatte er damit nur das Versprechen einlösen wollen, das er seinem Großvater gegeben hatte? Dass er eine Gattin und eine Stiefmutter für Charlie gefunden hatte, ohne um eine Braut zu werben oder sich über die Brautwahl den Kopf zu zerbrechen, bereitete ihm Unbehagen.

Hatte er nur eine einfache Lösung gesucht? Doch jetzt war es zu spät, um über die Motive nachzusinnen. Er hatte es getan. Das Baby war ein Mädchen, er musste sich also keine Gedanken um die Erbfolge machen. Er hatte eine Fremde geheiratet, die aber immerhin aus guten Kreisen stammte. Ihr Bruder, der offenbar nach gesellschaftlichem Aufstieg strebte, würde hocherfreut sein, wenn er herausfand, wer sein neuer Schwager war. Das konnte zu einem Problem werden, wenn er nicht vorsichtig war. Grant ließ einen Schluck Wein im Mund kreisen, während er über alles nachsann.

Schließlich schob er die Zweifel beiseite. Er hatte jetzt eine Frau, die sich um die Führung des Haushalts kümmern würde und klug genug wirkte, um ihn nicht zu Tode zu langweilen, wenn er sich zu Hause aufhielt. Kate hatte Mut und Entschlossenheit bewiesen, das ließ sich nicht von der Hand weisen. Er hatte eine Ehefrau, und die Zeit würde zeigen, ob er ein unverantwortliches Wagnis eingegangen war.

Morgen mussten sie noch etliche Meilen über Heide- und Moorland zurücklegen. Wenn das Wetter hielt, würden sie es an einem Tag schaffen. Er hatte den Gastwirt bereits für eine geeignete Kutsche und kräftige Pferde bezahlt. Der Hengst hatte sich wieder vollständig erholt. Glücklicherweise war es nur eine kleine wunde Stelle gewesen.

Unwillkürlich kam ihm ein alter Kinderreim in den Sinn. Es ging um einen Reiter, dessen kleine Unachtsamkeit schlimme Konsequenzen hatte: Weil ein Nagel fehlte, ging das Hufeisen verloren, weil das Hufeisen fehlte, ging das Pferd verloren, und weil das Pferd fehlte, ging der Reiter verloren. Schließlich ging die Schlacht verloren, und das Königreich ging unter. Wegen seiner Eile hatte sein Hengst gelahmt. Er hatte anhalten müssen und eine Ehefrau und ein Kind gewonnen. Grant stand auf, klingelte, damit man ihm das Abendessen und eine weitere Flasche Wein brachte. Was faselte er da in Gedanken vor sich hin? Welcher aberwitzige Optimismus hatte ihn glauben lassen, dass die Heirat von zwei verzweifelten Fremden nicht unweigerlich in eine Katastrophe münden würde?

3. KAPITEL

Mr. Rivers ist wirklich ein ausgezeichneter Reiter, nicht wahr, Madam?“

„Hm?“ Kate lag auf der gepolsterten Bank im Inneren der Kutsche und sah während der Fahrt nicht viel mehr als ab und an einen Baumwipfel. „Ist er das?“

Jeannie, das Kindermädchen blickte sie verwundert an. „Aber Sie haben ihn doch bestimmt schon einmal reiten sehen, Madam?“

Autor

Louise Allen
<p>Louise Allen lebt mit ihrem Mann – für sie das perfekte Vorbild für einen romantischen Helden – in einem Cottage im englischen Norfolk. Sie hat Geografie und Archäologie studiert, was ihr beim Schreiben ihrer historischen Liebesromane durchaus nützlich ist.</p>
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