Lord Hunters Liebesfluch

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Ein schrecklicher Liebesfluch liegt auf seiner Familie, und Lord Hunter ist sich sicher: Er darf niemals heiraten. Doch als er eine junge Dame aus höchster Not rettet, gerät sein Entschluss ins Wanken. Denn Rosa Rothwell ist nicht nur hinreißend, klug und verführerisch, sie ist auch guter Hoffnung - und braucht einen Ehemann!


  • Erscheinungstag 27.01.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505406
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Rosa hob den Kopf vom Kissen, als sich die Tür öffnete. Erst warf sie einen Blick auf die hölzerne Schale mit unappetitlichem Stew und dann auf ihren widerwärtigen Cousin. Mit kalter Verachtung beobachtete er, wie sie sich von ihm und dem Essen abwandte.

„Du solltest mir für die Speisereste dankbar sein, die ich dir bringe“, höhnte Antonio Di Mercurio, während er die Schale mit dem braunen Fraß auf den klapprigen Tisch schleuderte. „Dirnen verdienen es nicht, zusammen mit der Familie zu speisen!“

„Ist es dir wirklich nicht möglich, etwas freundlicher zu sein?“, erwiderte Rosa in ihrem gebrochenen Italienisch. Obgleich sie sich bemühte, ruhig zu bleiben, gewann ihr Zorn allmählich die Überhand. Ihr Cousin Antonio quälte sie seit vier Wochen und ließ keine Gelegenheit aus, um sie zu kränken und zu beleidigen. Wie oft hatte sie inzwischen schon die andere Wange hingehalten, anstatt sich zur Wehr zu setzen?

„Freundlicher? Vielleicht solltest du dich bemühen, weniger freundlich zu sein. Das könnte die Familie in Zukunft vor weiterer Schande bewahren.“ Antonio lachte hämisch über seinen Witz und wandte sich zum Gehen.

Rosa ergriff die Schale mit dem Stew und warf sie in Richtung des niederträchtigen Cousins. Doch er war bereits aus dem Zimmer geeilt, und das Essen knallte platschend gegen die geschlossene Tür. Rosa stieß einen wütenden Laut aus. Sie ließ sich wieder auf das Bett fallen und versuchte, sich zu beruhigen. Sie wusste, dass sie sich von Antonio nicht provozieren lassen durfte, aber es fiel ihr schwer, in diesem fremden Land und bei Leuten, die sie nicht gut kannte. Die Di Mercurios waren zwar ihre Verwandtschaft mütterlicherseits, doch sie gaben sich alles andere als gastfreundlich oder gar fürsorglich. In den vier Wochen, die sie nun bereits in der Villa in Italien lebte, hatte keiner von ihnen je auch nur ein einziges nettes Wort an sie gerichtet.

Rosa setzte sich plötzlich kerzengerade hin und blickte zur Tür. Hatte Antonio etwa auf der Flucht vor der fliegenden Schale vergessen, hinter sich abzuschließen? Sie konnte sich nicht erinnern, das Klimpern des alten Metallschlüssels oder das quietschende Einrasten des Schlosses vernommen zu haben. Rosa wagte kaum, sich Hoffnungen zu machen, als sie aufstand und das Zimmer durchquerte. Sie legte eine Hand auf den Türgriff und fragte sich, ob es sich nur um eine üble List ihres Cousins handelte, der vielleicht hinter der Tür auf ihren Fluchtversuch wartete.

Doch sie durfte keine noch so kleine Chance ungenutzt lassen. Vorsichtig drückte sie den Türgriff hinunter und hätte vor Freude fast aufgeschrien, als sich die Tür widerstandslos öffnete. Rasch schaute sie sich auf dem Gang um. Es war keine Menschenseele zu sehen. Da die Di Mercurios sonst zu jeder Tages- und Nachtzeit die Tür zu ihrem Zimmer verriegelten, bestand für die Familie keine Notwendigkeit, eine Wache aufzustellen.

Leise schloss Rosa die Tür und lehnte den Kopf von innen gegen das raue Holz. Endlich bot sich ihr die Gelegenheit zu fliehen. Seit sie hier angekommen war, hielt man sie in dem kleinen Zimmer gefangen. Nur eine Stunde täglich ließ man sie hinaus, damit sie sich ein wenig an der frischen Luft bewegen konnte. Dabei wurde sie immer streng von einem der zahlreichen Onkel und Cousins bewacht. Die Di Mercurios wollten sie vor der Welt verstecken, damit sie der Familie keine Schande bereitete. Dies war also ihre einzige Chance, und sie durfte sie nicht verspielen, indem sie jetzt kopflos handelte.

Sie legte sich ihr Cape um, sammelte eilig die nötigsten Habseligkeiten zusammen und verschnürte sie zu einem Bündel. Kurz bevor sie das Zimmer verließ, ließ sie eine Hand unter die Matratze gleiten und zog die kleine Geldbörse hervor, die sie die ganze Zeit während der Reise nach Italien und der Gefangenschaft in der Villa sorgfältig versteckt gehalten hatte. Ohne sich noch einmal nach dem Zimmer umzublicken, das einen Monat lang ihre Gefängniszelle gewesen war, hastete sie auf den Gang und hinaus in den Hof.

Der Garten lag in tiefer Dunkelheit, und Rosa brauchte ein paar Minuten, bis sich ihre Augen daran gewöhnt hatten. Glücklicherweise kannte sie diesen Teil des Geländes von den kurzen täglichen Runden im Freien. Sie tastete sich an der Hauswand entlang und überlegte, wie sie am besten entkommen konnte.

„Nun sei doch nicht so, Maria.“

Das war Antonios Stimme! Rosa blieb wie angewurzelt stehen, und das Herz pochte ihr so laut in der Brust, dass es eigentlich weithin hätte vernehmbar sein müssen.

„Ich habe dir nie mehr als ein paar vergnügliche Nächte versprochen. Schließlich bist du nur ein Dienstmädchen.“

Rosa konnte Marias Antwort nicht verstehen, doch allein die Stimmlage verriet die Gefühle des Mädchens. Zweifellos hatte Antonio der jungen Bediensteten etwas vorgegaukelt, damit sie sich auf Intimitäten einließ.

Unter normalen Umständen wäre Rosa dem Mädchen zur Hilfe geeilt und hätte den Cousin zur Rede gestellt, doch an diesem Abend musste sie an sich denken. Sie würde es nicht ertragen, weitere fünf Monate eingesperrt zu werden, aber vor allem durfte sie nicht zulassen, dass die Di Mercurios ihr das Baby wegnahmen, um es einer fremden Familie zu geben. Rosa kämpfte nicht mehr nur um ihre eigene Zukunft. Leise durch die Nacht schleichend entfernte sie sich immer weiter von der Villa und huschte an der Begrenzungsmauer entlang. Schließlich erreichte sie den großen Zitronenbaum an der südlichsten Ecke des Grundstücks. Sie war zuversichtlich, es hier über die Mauer in die Freiheit zu schaffen. Selbst wenn jemand aufmerksam durch die Fenster blickte, war der Baum so weit vom Haus entfernt, dass sie unbemerkt hinaufklettern konnte.

Als der Zitronenbaum über ihr aufragte, vergewisserte sie sich noch einmal, dass ihr niemand gefolgt war, bevor sie sich auf den untersten Ast schwang. Die Villa und der Hof lagen in vollkommener Stille da, und auch Antonio und das unglückliche Dienstmädchen schienen wieder hineingegangen zu sein.

Rosa war Bäume hochgeklettert, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, doch aus Sorge um das Baby, das sie unter ihrem Herzen trug, kletterte sie besonders langsam und vorsichtig. Wenig später saß sie auf der Steinmauer und versuchte auszuloten, wie groß der Abstand zum Boden war. Da die Mauer an einem Hang gebaut war, ging es tiefer hinab als auf der Seite, die der Villa zugewandt war. Ein steiniger Pfad führte an der Mauer entlang, und es war nichts erkennbar, was ihre Landung abfedern würde. Sie wollte sich ganz langsam hinunterlassen und so lange wie möglich an der Mauerkante festhalten, doch als sie sich umdrehte, verlor sie das Gleichgewicht. Leise aufschreiend fiel sie rücklings hinunter. Sie konnte nur noch schützend die Arme um den Bauch legen und auf ein Wunder hoffen.

Thomas blieb die Luft weg, als plötzlich etwas von oben auf ihn herabfiel. Einen Augenblick zuvor war er noch gedankenverloren durch die Nacht spaziert, im nächsten lag er auf dem steinigen Boden und konnte sich nicht rühren.

„Oh …“, stöhnte eine zarte Stimme über ihm.

Thomas hob eine Hand und spürte Stoff. Wenn er sich nicht sehr irrte, lag eine Frau auf ihm, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie es dazu gekommen war.

„Verzeihen Sie“, sagte er schließlich auf Italienisch, als die Frau sich nicht von der Stelle rührte. Er musste beinahe über seine eigene Höflichkeit lachen – selbst nach drei Jahren in der Fremde hatte er seine guten englischen Manieren nicht abgelegt.

Sie drehte sich und bohrte ihm die Finger in den Brustkorb, während sie den Oberkörper aufrichtete. Wie benommen beobachtete Thomas, wie die junge Frau die Hände über ihren Körper gleiten ließ, als ob sie ihn nach Beulen und Schrammen untersuchte. Zärtlich strich sie in Bauchhöhe über ihr Kleid.

„Sind Sie verletzt?“, fragte sie ihn. Sie sprach Italienisch, doch ihr Akzent ließ Thomas vermuten, dass sie ursprünglich aus seinem Heimatland kam.

„Ich bin nur ein wenig außer Atem“, antwortete er auf Englisch, um seine Vermutung zu überprüfen.

„Sie sind Engländer?“

„Ja“, bestätigte er knapp. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, aufzustehen, damit ich mich hinsetzen kann?“

„Durchaus nicht“, entgegnete die junge Frau verlegen, der erst jetzt bewusst zu werden schien, dass sie auf seinem Oberkörper saß. Eilig erhob sie sich, schrie jedoch vor Schmerzen auf, als sie das Gewicht auf ihr linkes Bein verlagerte. Thomas sah, dass sie strauchelte, sprang rasch hoch und hielt die Unbekannte stützend an der Taille fest.

Bevor er einen Entschluss fasste, was als Nächstes zu tun war, betrachtete er die Frau einen Moment lang. Ihr Haar wirkte ein wenig zerzaust, doch er musste sich schon sehr täuschen, wenn es sich bei ihr um eine gewöhnliche Diebin handelte, die versuchte, vom Grundstück der Di Mercurios zu entkommen. Dafür war sie zu gut gekleidet, und auch sonst sprach alles dagegen.

„Weshalb sind Sie von der Mauer gesprungen?“, fragte Thomas.

„Ich bin nicht gesprungen, ich fiel“, antwortete sie gereizt.

„Dann lassen Sie mich die Frage anders formulieren: Weshalb sind Sie überhaupt auf die Mauer geklettert?“

„Das geht Sie nichts an“, erwiderte sie, als ob er sie beleidigt hätte.

Thomas zuckte gelassen mit den Schultern. Er würde sie nicht unter Druck setzen. Bestimmt würde sie ihm die Wahrheit auch so erzählen.

„Möchten Sie, dass ich Sie zurück zur Villa der Di Mercurios begleite oder jemanden von dort hole, der Ihnen hilft?“, erkundigte er sich leichthin.

Sie wurde leichenblass, als ob alles Blut aus ihrem Gesicht gewichen wäre.

„Bitte machen Sie sich um mich keine Gedanken“, sagte sie. „Ich gehe einfach meiner Wege, und Sie können Ihren Abend so fortsetzen, wie Sie es geplant haben.“

„Ohne Hilfe werden Sie nicht weit kommen.“ Er wies auf ihren linken Knöchel.

„Bitte, ich möchte Sie wirklich nicht länger aufhalten“, gab sie mit übertriebener Höflichkeit zurück.

Neugierig beobachtete er, wie sie mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einem Bein über den Weg hüpfte.

„Ich glaube, es hat noch nie jemand solche Qualen auf sich genommen, um meiner Gesellschaft zu entgehen“, sprach er seinen Gedanken laut aus, bevor er sich anschickte, neben ihr herzugehen.

Sie würdigte ihn keines Blickes und hüpfte tapfer weiter.

„Ich hoffe, Sie haben keine dringende Verabredung. Auf diese Weise kommen Sie nämlich nicht sehr schnell voran.“ Dieser Kommentar brachte ihm zwar einen finsteren Blick, aber keine Entgegnung ein.

Plötzlich blieb sie stehen, wechselte die Richtung und hüpfte schwankend auf die andere Seite des Weges. Thomas sah zu, wie sie einen dicken Stock vom Boden aufhob und ausprobierte, ob er als provisorische Krücke taugte. Der Stock erwies sich als wenig hilfreich.

„Lassen Sie mich raten“, sagte er, während sie weiterhüpfte. „Sie sind eine in Ungnade gefallene Bedienstete und haben das Familiensilber gestohlen.“

„Machen Sie sich nicht lächerlich.“

Zwei Hüpfer weiter machte sie eine Pause und blickte über die Schulter zurück. Die Enttäuschung über die geringe Entfernung, die sie zurückgelegt hatte, war ihr anzumerken.

„Sie wurden gezwungen, einen der widerlichen Männer aus der Familie Di Mercurio zu heiraten, und sind vor der Hochzeitsnacht geflohen.“

„Das wäre in der Tat ein guter Grund, das Weite zu suchen“, murmelte die junge Frau.

„Ich habe es!“, rief Thomas aus. „Die Di Mercurios hatten vor, Sie in einem Blutritus dem Teufel zu opfern.“

„Weshalb folgen Sie mir?“ Sie blickte ihn streng an.

„Ich dachte, Sie könnten vielleicht doch Hilfe brauchen.“

Stirnrunzelnd deutete sie auf den beinahe nutzlosen Stock. „Da Sie mir bisher keine Stütze sind, kann ich Sie nur auffordern, mich in Ruhe zu lassen.“

„Ich könnte Ihnen durchaus eine Stütze sein, wenn Sie mich nett darum bitten.“ Er schenkte ihr ein freundliches Lächeln. „Außerdem möchte ich vorher wissen, weshalb Sie über die Mauer geklettert sind.“

Sie scheint recht stur zu sein, dachte er, als sie erhobenen Hauptes ein paar Schritte weiterhumpelte.

„Ich wurde gefangen gehalten. Würden Sie mir jetzt bitte endlich helfen?“

„Nun, das ist nicht gerade die liebenswürdigste Art, eine Bitte vorzutragen, aber ein Gentleman kann über solche Kleinigkeiten hinwegsehen.“ Mit einer schwungvollen Bewegung hob Thomas sie hoch und unterdrückte ein Grinsen, als er ihr überraschtes Aufkreischen vernahm. „Wohin darf ich Sie bringen, Mylady?“

Es kam keine Antwort, und er sah, dass sie offenbar angestrengt nachdachte. Aus irgendeinem Grund war sie von den Di Mercurios eingesperrt worden, und es war ihr gelungen, zu fliehen. Allerdings schien sie ihre Flucht nicht viel weiter als bis über die Mauer geplant zu haben. Darauf hätte er sein gesamtes Erbe verwettet.

„Möchten Sie vielleicht zum örtlichen Magistrat, um die Freiheitsberaubung anzuzeigen?“, schlug Thomas vor und musste beinahe über ihren gequälten Blick lachen. „Oder sollten wir uns besser direkt an den Governatore wenden, da die Di Mercurios in dieser Gegend über zu großen Einfluss verfügen?“

Noch immer schwieg die Frau in seinen Armen.

„Wie heißen Sie?“, fragte er.

„Miss Rosa Rothwell.“

„Nun, Rosa“, sagte er und genoss ihren empörten Blick, weil er sie so vertraulich ansprach. „Es ist Zeit für eine Entscheidung. Wie lautet der Plan?“

„Ich wäre dankbar, wenn Sie mich zu einem Gasthof in der Nähe brächten“, antwortete sie mit Nachdruck.

„Ich möchte keinen wohldurchdachten Plan infrage stellen, aber der Gasthof im Dorf dürfte wohl der erste Ort sein, an dem die Di Mercurios nach einer flüchtigen Person suchen.“

„Ich werde den Gastwirt um Verschwiegenheit bitten.“

„Seine Schweigsamkeit wird davon abhängen, wer die dickere Geldbörse besitzt oder wer der einflussreichste Landbesitzer rund um den See ist.“

Rosa verfiel erneut in Schweigen, und Thomas sah sie besorgt an. „Sind Sie sicher, dass Sie Ihren Streit mit den Di Mercurios nicht beilegen können?“, fragte er ernst. „Das wäre das Einfachste.“

„Das ist völlig unmöglich.“ An der Entschiedenheit, mit der sie die Worte aussprach, erkannte er, in was für einer misslichen Lage sie sich befand. Sie steckte in Schwierigkeiten, in ernsthaften Schwierigkeiten, die sich nicht mit einer Entschuldigung oder einem versöhnlichen Händeschütteln aus dem Weg räumen ließen. Es fiel ihm schwer, sich vorstellen, dass die Di Mercurios die junge Frau wirklich gefangen gehalten hatten. Immerhin handelte es sich um eine angesehene Familie. Indes wusste er nichts über die Einzelheiten. „Ich muss von hier fort“, sagte sie leise. „Ich muss zurück nach England.“

Thomas beschleunigte seine Schritte auf dem staubigen Weg und spürte, dass Rosa ihm den rechten Arm drückte.

„Wohin gehen wir?“, fragte sie.

„Eine Meile entfernt von hier habe ich eine Villa gemietet“, antwortete er. „Dort können Sie über Nacht bleiben, und alles Weitere werden wir dann morgen früh in die Wege leiten.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob …“

„Ihnen bleibt keine andere Wahl“, fiel er ihr ins Wort. „Entweder Sie kommen mit, oder die Di Mercurios werden Sie binnen Kurzem finden.“

„Ich bin eine junge Frau aus gutem Hause“, entgegnete Rosa steif.

„Sie können mir glauben, dass ich mich Ihnen nicht nähern werde. In meinem Haus sind Sie in Sicherheit.“

Nicht, dass sie nicht hübsch und attraktiv wäre, auf eine unschuldige Art und Weise … Aber Thomas war schon lange nicht mehr in Versuchung geraten, und diese zerzauste junge Frau würde ihn gewiss nicht von seinem vorbestimmten Weg abbringen.

2. KAPITEL

Thomas setzte sie behutsam auf dem bequemen Lehnstuhl auf der hinteren Terrasse der gemieteten Villa ab. Rosa wirkte einen Augenblick wie gebannt, als sie den See und die dahinterliegenden Berge sah. Die nächtliche Schwärze des Wassers betonte die schneebedeckte Silhouette der Berge vor dem sternklaren Himmel. Obgleich sie sich seit einem Monat in Italien aufhielt, hatte sie seit ihrer Ankunft nichts gesehen, was außerhalb der Mauern der Di Mercurios lag.

„Schön, nicht wahr?“

Sie betrachtete ihren Gastgeber einen Augenblick und überlegte, was sie von ihm halten sollte. Er war selbstbewusst und arrogant – ein Mann, der es gewohnt war, seinen Willen durchzusetzen. Seine bevormundende Art hatte ihr von Anfang an nicht behagt, aber sie hatte sich auf die Zunge gebissen, weil … nun, weil sie nicht wusste, wohin sie sonst gehen sollte.

„Wer sind Sie?“, fragte Rosa, während sie die teuren Terrassenmöbel und den zweifellos nicht minder kostspieligen Ausblick registrierte.

„Hunter. Lord Thomas Hunter. Ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Rosa Rothwell.“ Aus seinem Munde klang ihr Name wie ein hübsches Kompliment.

„Leben Sie allein hier?“, fragte sie.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, entgegnete Thomas mit müdem Lächeln. „Ich halte mich an das, was ich gesagt habe. Ihre Jungfräulichkeit ist hier nicht in Gefahr.“

Unwillkürlich legte Rosa eine Hand auf ihren Unterleib, strich über den Stoff des Kleides und dachte an das wachsende Leben, das sie ruiniert hatte. Sie hatte ihre Unschuld verloren, was jedoch nicht bedeutete, dass sie nicht mehr auf sittliche Regeln und Schicklichkeit achtete. Allein in einem Haus mit einem ziemlich attraktiven Gentleman die Nacht zu verbringen stand ganz sicher weit oben auf der Liste der Dinge, die eine junge Dame niemals tun durfte. Diese lange Liste hatte ihre Mutter ihr von klein auf vorgebetet. Nichtsdestotrotz war sie jetzt hier, ihr blieb keine andere Wahl, und sie war bereit, ihr Schicksal und die bereits befleckte Ehre in die Hände von Lord Thomas Hunter zu geben. Ihre Mutter wäre entsetzt gewesen.

Lord Hunter verschwand für ein paar Minuten in der Villa, bevor er mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern zurückkehrte. Sie beobachtete, wie er die Flasche entkorkte und die beiden Kelche füllte. Er reichte ihr einen und nahm ihr gegenüber auf einem Stuhl Platz.

„Verraten Sie mir den Grund, weshalb die Di Mercurios Sie eingesperrt haben?“ Er hob eine Hand. „Nein, nein, nein! Lassen Sie mich raten. Das ist amüsanter.“ Er trank einen Schluck Wein und sah sie prüfend an.

„Es handelt sich um eine private Angelegenheit“, erklärte Rosa und runzelte die Stirn.

„Haben Sie etwas gestohlen?“ Er lehnte sich entspannt zurück.

Sie ging nicht auf seine Frage ein und blickte auf die rote Flüssigkeit in ihrem Weinkelch, die betörend duftete.

„Dann handelt es sich also um etwas Skandalöseres“, mutmaßte Hunter. „Haben Sie eine der alten Damen beleidigt, eine von denen, die wie bösartige englische Bulldoggen aussehen?“

„Diese alten Damen sind meine Großmutter und meine Großtante.“

„Oh, das tut mir leid. Nun, vielleicht werden Sie im Alter nicht so schrumpelig. Noch ist nichts verloren.“ Er hielt einen Moment inne, bevor er weitersprach. „Dann handelt es sich also um Ihre Familie, ja? Allmählich wird die Geschichte spannend.“

Rosa trank einen Schluck Wein und spürte, wie sich die Wärme von ihrer Kehle aus in ihrem Körper ausbreitete. Der Wein schmeckte köstlich und hatte schon jetzt eine berauschende Wirkung auf sie.

„Ich wurde mit Schimpf und Schande aus England hierhergeschickt“, erzählte sie schließlich.

„Ihre Eltern haben Sie den ganzen weiten Weg bis nach Italien geschickt? Sie müssen etwas reichlich Skandalöses verbrochen haben, um so weit verbannt zu werden.“

Vermutlich war es beschämend genug, vor der Ehe ein Kind zu erwarten. Zumindest war ihre Mutter dieser Auffassung. Sie hatte Rosa als „abscheuliche Hure“, „undankbaren Schandfleck“ und „gewöhnliche Straßendirne“ beschimpft. Obgleich Rosa nach den strengen Moralvorstellungen der Mutter erzogen worden war, fühlte sie selbst sich seltsamerweise nicht abstoßend oder widerlich, und sie empfand für das kleine Leben, das in ihr entstand, nichts als Wärme und Zuneigung.

Gegen ihren Willen traten Rosa Tränen in die Augen, als sie an die hasserfüllte Stimme ihrer Mutter dachte. Ich will dich niemals wiedersehen, Rosa! Und auch dein Kind will ich nie zu Gesicht bekommen! Sie hatten immer ein schwieriges Verhältnis gehabt, aber die Endgültigkeit, mit der die Mutter sich von ihr losgesagt hatte, war schmerzhafter gewesen, als sie sich vorgestellt hatte.

Noch tiefer hatte sie die Reaktion des Vaters verletzt. Er hatte sie nur entsetzt angestarrt, nachdem sie gestanden hatte, ein Kind zu erwarten. Dann hatte er sie mit der zeternden Mutter allein gelassen. Zu ihrem Vater hatte sie immer eine enge und liebevolle Beziehung gehabt. Ihr Vater, und nicht ihre Mutter, hatte mit ihr gespielt, als sie klein gewesen war. Als sie älter wurde, rief er sie oft in sein Arbeitszimmer, und sie diskutierten stundenlang über Bücher, die sie beide gelesen hatten. Dass er seine einzige Tochter fallen ließ, weil sie ein uneheliches Kind erwartete, hatte ihr das Herz gebrochen.

Rosa senkte den Kopf und blinzelte die Tränen fort. In Gegenwart eines Fremden würde sie auf keinen Fall weinen, noch dazu über etwas, was sich nicht mehr ändern ließ.

„Meine Eltern fanden es skandalös genug“, stellte sie mit traurigem Lächeln fest.

„Und die Di Mercurios sollten sich um Sie kümmern?“, fragte Hunter.

Sie zuckte mit den Schultern. Sie wusste nicht genau, welche Anweisungen die italienische Verwandtschaft erhalten hatte, doch schon bei ihrer Ankunft war deutlich geworden, dass sie nicht willkommen war.

„Sie haben mich einen Monat lang in einem kleinen Zimmer eingesperrt.“

„Und vermutlich haben Sie nur Schleimsuppe bekommen.“

Sie sah ihn fest an und überlegte, ob er sich über sie lustig machte, doch das spöttische Funkeln war aus seinen Augen verschwunden.

„Manchmal habe ich auch die Reste von einem Stew oder steinhartes Brot bekommen.“

„Wie großzügig. Kein Wunder, dass Sie fortgelaufen sind.“

Rosa starrte an ihrem Gastgeber vorbei auf das dunkle Wasser. Sie hätte diese ganze Grausamkeit ertragen, wenn nicht der Verlust des Kindes gedroht hätte. Bei einer ihrer täglichen Runden über den Hof war ein Dienstmädchen in ihre Nähe geeilt und hatte ihr zugeflüstert: „Machen Sie sich keine Sorgen, Signorina. Die Familie, die sie ausgesucht haben, ist anständig und liebevoll. Für Ihr Kleines wird dort gut gesorgt sein.“

Das Mädchen hatte eine Tracht Prügel riskiert, nur weil sie mit Rosa gesprochen hatte, und die Worte waren eigentlich aufmunternd gemeint gewesen. Doch Rosas Herz hatte sich vor Grauen zusammengezogen, und sie hatte sofort gewusst, dass sie unbedingt fliehen musste. Keiner durfte ihr das Kind wegnehmen! Sie würde bis zum letzten Atemzug darum kämpfen, das Baby zu behalten, und nichts und niemand würde sie voneinander trennen können.

„Wie sieht also der Plan aus, Rosa Rothwell?“ Hunter sah sie fragend an.

„Ich reise zurück nach England.“

„Zurück zu denen, die Sie hierher verbannt haben?“

Sie verzog das Gesicht. Sie hatte keine Zweifel, dass ihre Mutter sie umgehend nach Italien zurückschicken würde, sobald sie an der Türschwelle erschien.

„Ich habe eine gute Freundin, die mich aufnehmen wird. Ich muss nur erst zu ihr gelangen.“

Rosa spürte Hunters forschenden Blick. Sie fühlte sich entblößt, als ob er all ihre Geheimnisse erkennen könnte.

„Zeit, ins Bett zu gehen“, sagte er plötzlich, stand auf und trank den letzten Schluck Wein aus.

Rosa wollte gerade erwidern, dass sie noch eine Weile auf der Terrasse bleiben würde, als er sie mit seinen starken Armen aus dem Lehnstuhl hob und in die Villa trug.

„Was machen Sie?“, fragte Rosa empört.

„Ich bringe Sie ins Bett.“

„Lassen Sie mich sofort herunter!“

Er achtete nicht auf ihre Worte, trug sie durch ein elegant eingerichtetes Wohnzimmer und öffnete mit einem Fußtritt die Tür zu einem Schlafzimmer. Mit raschen Schritten durchmaß er den Raum und legte sie auf das breite, komfortable Polsterbett.

„Vielleicht möchte ich noch gar nicht schlafen“, sagte sie verärgert.

Hunter zuckte mit den Schultern. „Jetzt sind Sie erst mal hier.“

Rosa hätte ihm am liebsten alle Beschimpfungen entgegengeschleudert, die ihr schon länger auf der Zunge lagen. „Nur weil …“, begann sie entrüstet und stellte überrascht fest, dass Hunter das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss. Es war schwer, sich mit einem Mann zu streiten, der gar nicht zuhörte.

Sie hob den Kopf und überlegte, ob sie zurück auf die Terrasse hüpfen sollte, um ihm zu zeigen, dass sie sich nicht wie ein Kind zu Bett schicken ließ. Doch ihr Körper war bereits in die weiche Matratze gesunken, und sie roch die duftende frische Bettwäsche. Morgen würde sie Lord Hunter Paroli bieten. Sie würde ihm zwar für seine Hilfe danken, zugleich aber darauf bestehen, ihrer eigenen Wege zu gehen. Heute Nacht jedoch genoss sie es einfach, in seinem bequemen Gästebett zu schlafen.

3. KAPITEL

Thomas wälzte sich schlaflos in seinem Bett hin und her und schob missmutig grummelnd die leichte Decke beiseite. Es begann bereits zu dämmern. Er hatte bisher kaum Schlaf gefunden und fühlte sich erschöpft und unruhig.

Er griff nach dem mehrfach gelesenen Brief auf dem kleinen Tisch neben dem Bett – der Grund für die schlaflose Nacht. Jedes Mal, wenn er die inzwischen vertrauten Zeilen las, haderte sein Gewissen mit seinen selbstsüchtigen Plänen, und er war sich nicht mehr sicher, was er tun sollte. Und wenn es eines gab, was Thomas nicht ertrug, war es Ungewissheit. Seufzend richtete er sich im Bett auf und begann den Brief erneut zu lesen, wobei er sich fragte, ob er sich damit nur selbst bestrafen wollte oder auf irgendeine göttliche Eingebung hoffte.

Mein geliebter Sohn,

ich hoffe, dass es Dir gut geht und dass Deine Seele auf Deinen Reisen Trost und Ruhe findet. Ich habe Dich jetzt seit drei Jahren und acht Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen – eintausenddreihundertundfünfundvierzig Tage sind verstrichen, seit Du Dich von mir verabschiedet hast. Du weißt, dass ich es Dir nicht verüble, fortgegangen zu sein – ich selbst habe Dich dazu ermutigt. Doch ich vermisse Dich jeden Tag und jede Minute, seit Du fort bist.

Mir geht es den Umständen entsprechend gut. Meine Freunde fragen mich, wann ich aufhöre, zu trauern, wann ich wieder zu leben beginne und nach vorne blicke. Sie verstehen nicht, was es heißt, erst den Ehemann und dann einen Sohn zu verlieren. Ich denke, niemand außer Dir versteht das.

Seit Du fortgegangen bist, bemühe ich mich um Geduld. Ich wollte Dir immer genug Zeit geben, um auf Deine Weise zu trauern und irgendwie mit der ungewissen Zukunft zurechtzukommen. Du weißt, dass ich Dich nie unter Druck gesetzt habe, zurückzukehren, Dich an Deine Pflichten erinnert habe oder daran, dass die Ländereien einen Herrn benötigen. Ich habe inständig gehofft, dass Du auf Deinen Reisen Frieden findest, beglückende Erfahrungen sammelst und mit neuer Freude am Leben zu mir zurückkehrst. Aber drei Jahre und acht Monate sind eine lange Zeit, und jetzt will ich meinen Sohn wieder zu Hause haben.

Ich bin einsam, Thomas. Zwar bin ich von Freunden, entfernten Verwandten und treuen Bediensteten umgeben, aber ohne Dich erscheint mir das Leben trostlos und leer. Daher habe ich beschlossen, Dir diese selbstsüchtigen Zeilen zu schreiben. Ich weiß, dass Du Deinen Vater und Deinen Bruder verloren hast und Dich möglicherweise eines Tages mit einem grausamen Schicksal abfinden musst. Dennoch bitte ich Dich jetzt, auch an mich zu denken.

Komm zu mir zurück. Fülle Longcroft Hall wieder mit Deinem Lachen. Versuche, wieder mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken. Es ist vielleicht zu viel verlangt, wenn ich mir wünsche, dass Du heiratest und Kinder bekommst, das ist mir bewusst. Aber bitte überlege Dir, ob Du nicht wenigstens nach Hause zurückkehrst und Dein Geburtsrecht wahrnimmst.

Ich lebe in der Hoffnung, Dich eines schönen Tages wieder in meine Arme schließen zu können.

Deine Dich liebende Mutter

Er wollte nicht mehr an den Brief denken, sondern den Schmerz und die Einsamkeit vergessen, die seine Mutter dazu gebracht hatten, ihm das zu schreiben, nachdem sie seit beinahe vier Jahren klaglos ertrug, dass er durch die Ferne reiste. Zunächst hatte sie ihn selbst dazu gedrängt, zu reisen und in der weiten Welt neue Erfahrungen zu sammeln. Er sollte nicht das Gefühl haben, etwas in seinem Leben zu verpassen. Thomas wusste, dass er bald nach England zurückkehren musste, zurück zu den Erinnerungen und zurück in ein halb leeres Zuhause. Er hatte ein zu weiches Herz, um seiner Mutter die Bitte auszuschlagen.

Er beschloss, eine Runde im See zu schwimmen. Das war genau das, was er jetzt brauchte – ein belebender und erfrischender Start in den neuen Tag. Vielleicht schaffte er es dann, die lange Heimreise zu planen. Er sprang aus dem Bett, schnappte sich ein Handtuch und band es sich locker um die Taille. Barfuß tappte er durch die Villa, blickte bewusst nicht in Richtung der Tür zum Gästezimmer und trat hinaus auf die Terrasse. Am Horizont breiteten sich gerade die ersten Sonnenstrahlen aus. Obgleich es noch kühl war, spürte Thomas bereits, dass Hitze in der Luft lag. Es würde wieder ein brütend heißer Tag werden, einer von jenen, an denen er sich nach dem frischen Wind und dem bewölkten Himmel in England sehnte.

Keine Minute später erreichte er den See, machte ein paar Dehnübungen und rüstete sich für das kalte Nass. Dann ließ er das Handtuch fallen und tauchte in das dunkle Wasser. Er glitt tiefer in die Schwärze des Sees und konnte beim Schwimmen kaum die Umrisse der eigenen Hände erkennen. Das kühle Wasser spülte die Rastlosigkeit der schlaflosen Nacht aus seinem Körper und verlieh ihm Kraft für den neuen Tag. Thomas tauchte, bis seine Lungen brannten, seine Muskeln vor Mangel an Sauerstoff zitterten und ihm graue Punkte vor den Augen flimmerten. Er machte noch zwei weitere Schwimmzüge, wollte sich beweisen, dass es sein Verstand war, der seinen Körper kontrollierte, und nicht umgekehrt. Erst als sich alles in seinem Kopf drehte, stieß er kraftvoll an die Oberfläche, schoss aus dem Wasser und schnappte nach Luft.

Eine Weile ließ er sich auf dem Rücken treiben, bis er sich erholt hatte und wieder ganz normal atmete. Als die Sonne über die Hügel stieg und das Licht auf der Wasseroberfläche glitzerte, schwamm er entspannt weiter, ohne den Blick vom Horizont abzuwenden.

Es war ihm die liebste Zeit des Tages. Während er mit geübten Zügen durch das Wasser glitt, konnte er ohne Ablenkung Pläne schmieden und nachdenken. Es gab dann nur ihn, die frühe Morgenluft und den stillen See.

Er schwamm mehr als eine Viertelstunde, bevor er umkehrte. Die Villa am Ufer des Sees war so weit entfernt, dass sie wie ein Spielzeughaus wirkte. Er vernahm die ersten Geräusche und Hundegebell aus dem verschlafenen Dorf, das allmählich zum Leben erwachte.

Als Thomas wieder den Rand des Sees erreichte, drehte er sich noch einmal um und blickte über das tiefblaue Wasser, bevor er die hölzerne Leiter zum Ufer hochkletterte.

Es wurde langsam hell, als Rosa erwachte, und sie genoss es, noch einen Moment im Bett zu liegen und zu beobachten, wie das warme Licht der Morgendämmerung durch die Fenster strömte. Von Natur aus war sie keine Frühaufsteherin, und zu Hause hatte man ihr oft nachsichtig gegönnt, ein spätes Frühstück im Bett einzunehmen. Doch seit ein paar Wochen weckte sie eine morgendliche Übelkeit. Nur durch ein Glas mit kaltem Wasser oder eine Kleinigkeit zu essen ließ sich das Unwohlsein beheben.

Rosa wusste, dass sie sich glücklich schätzen konnte. Viele Frauen, die guter Hoffnung waren, übergaben sich ständig und waren mehr oder weniger ans Bett gefesselt. Die Morgenübelkeit verdarb ihr wenigstens nicht den ganzen Tag.

Gemächlich erhob sich Rosa, glättete das Kleid, das voller Falten war, nachdem sie darin geschlafen hatte, und ordnete ihre Haare. Einen Moment betrachtete sie prüfend den Fußknöchel, der über Nacht angeschwollen war und sich rötlich verfärbt hatte. Auch wenn sie den linken Fuß nur behutsam auf den Boden stellte, ließ der Schmerz sie zusammenzucken. Sie biss die Zähne zusammen, und es gelang ihr, bis zur Tür zu hüpfen, auch wenn sie sich immer wieder auf den Möbeln abstützen musste.

Die Villa lag in tiefer Stille, und Rosa spürte, dass sie allein war. Natürlich war Lord Hunter ein Frühaufsteher. Er war genau der Typ, der zu unchristlicher Morgenstunde schon fröhlich und munter war. Sie war kurz davor, sich geschlagen zu geben und sich auf einen Stuhl sinken zu lassen, als sie den kunstvoll verzierten Gehstock erblickte, der gegen die Wand neben ihrer Schlafzimmertür lehnte. Gewiss hatte Lord Hunter ihn für sie dort hingestellt.

Rosa ergriff den geschwungenen Knauf und fand heraus, dass sie damit ein bisschen besser vorankam, wenngleich es noch immer schmerzhaft war. Sie durfte nicht vergessen, sich bei ihrem Gastgeber für diese Aufmerksamkeit zu bedanken.

Sie wollte nicht seine Schränke durchwühlen, musste aber dringend etwas essen. Sie humpelte hinaus auf die Terrasse. Am Vorabend hatte sie bemerkt, dass ein großer Orangenbaum über dem Sitzbereich aufragte, und beim Gedanken an eine saftige Orange begann ihr leerer Magen zu knurren.

Rosa musste sich recken und strecken, um auch nur den untersten Ast zu erreichen, doch ihre Mühe wurde belohnt, als sie schließlich eine duftende Orange in den Händen hielt. Sie zog die Schale an einer Seite ab und schob sich das erste Stück in den Mund. Sie kaute langsam und genoss es, sich den süßen Saft von den Fingern zu lecken, bevor sie in das nächste Stück biss. Sie musste sich sehr beherrschen, um nicht die ganze restliche Orange auf einmal zu verschlingen, nachdem sie die Schale und auch die feinen weißen Häutchen entfernt hatte. Nachdem sie die erste Orange verspeist hatte, pflückte sie eine zweite von dem Orangenbaum, ergriff wieder den Gehstock und humpelte an den Rand der Terrasse.

Als sie über den See blickte und wie verzaubert bewunderte, wie das Sonnenlicht auf der glatten Oberfläche glitzerte, fiel ihr Blick auf einen Mann im Wasser, der sich mit kraftvollen Armbewegungen dem Ufer näherte. Er schwamm schnell, doch es wirkte, als ob es ihn nicht die geringste Mühe kostete. Als er das Ufer beinahe erreicht hatte, erkannte Rosa, dass es sich um Lord Hunter handelte. Beinahe musste sie lachen. Sie hatte ja geahnt, dass er ein Frühaufsteher war! Wahrscheinlich schwamm er jeden Morgen in aller Frühe mehr als eine Meile durch den See, während sie noch ermattet im Bett lag.

Rosa sah zu, wie er sich dem Ufer näherte und die Leiter zu dem schmalen Steg erklomm, der das Grundstück mit dem See verband. Stück um Stück wurde die nackte Haut seines athletischen Oberkörpers sichtbar, die vor Nässe glänzte. Schon gestern, als er sie auf Händen getragen hatte, waren ihr seine ungewöhnlich breiten Schultern und die stählernen Muskeln aufgefallen.

Ihr wurde ganz warm, doch sie konnte den Blick auch nicht von ihm abwenden, als ihr bewusst wurde, dass er überhaupt nichts anhatte und vollkommen nackt auf dem Steg stand. Offenbar unbesorgt, beobachtet zu werden, strich er sich das nasse Haar aus dem Gesicht, bevor er ein Handtuch ergriff und es sich um die Hüfte band.

Erst jetzt blickte er zur Terrasse hoch und sah Rosa. Er weiß, dass ich ihn schon die ganze Zeit beobachtet habe! Einen Augenblick schien sein Körper zu erstarren wie bei einem Wolf, der Beute wittert. Dann hob er die rechte Hand und winkte ihr freudig zu.

Am liebsten wäre sie im Boden versunken! Konnte es kein Erdbeben geben, das einen Spalt unter ihr entstehen ließ, in dem sie verschwinden konnte? Sie kam sich wie eine schamlose Voyeurin vor, aber sie hatte doch nicht wissen können, dass er nackt im See badete.

„Guten Morgen“, begrüßte Hunter sie lächelnd, als er die Terrasse betrat.

„Guten Morgen“, murmelte Rosa verlegen und bemühte sich, an der vielen nackten und sonnengebräunten Haut auf ihrer Augenhöhe vorbeizusehen. Aus dem bronzenen Schimmern ließ sich leicht schließen, dass er sich schon längere Zeit in einem warmen Klima aufhielt.

„Haben Sie gut geschlafen?“

Wie konnte er sie so etwas Alltägliches fragen, während er halb nackt vor ihr stand?

Rosa zwang sich, ihm in die Augen zu sehen, und lächelte gequält.

„Sehr gut, vielen Dank.“

Ihre Wangen glühten derart, als ob sie gerade aus einer überhitzten Schmiede getreten wäre, und ihr Herz pochte lauter als galoppierende Pferdehufe. Doch wenn es Hunter nicht in Verlegenheit brachte, seine Blöße zu bedecken, wollte sie sich ihr Unbehagen nicht anmerken lassen.

„Ist hier die Aussicht am frühen Morgen nicht wundervoll?“

Unwillkürlich linste Rosa hinab zu dem Handtuch, das er sich um die Taille gewickelt hatte, und sie hörte, wie er tief in sich hineinlachte.

„Ja, es gibt nichts, was das Morgenlicht nicht schmeichelhaft erscheinen lässt“, entgegnete Rosa, während sie Hunters breites Grinsen zur Kenntnis nahm.

„Von der Mitte des Sees aus sieht alles sogar noch schöner aus“, beteuerte er und machte einen Schritt auf sie zu. „Beim nächsten Mal sollten Sie mich begleiten. Um diese Uhrzeit eine Runde im See zu schwimmen bringt den Körper richtig in Schwung.“

Er weiß genau, was er gerade tut, dachte Rosa. Keine junge Frau aus gutem Hause hätte sich dabei wohlgefühlt, hier zu stehen und sich mit einem Mann über die Aussicht zu unterhalten, nachdem sie ihn gerade nackt aus dem See hatte steigen sehen. Doch Hunter schien es darauf anzulegen, sie in Verlegenheit zu bringen. Wollte er etwa, dass sie sich in eine Ohnmacht flüchtete? Nun, sie war in ihrem Leben nie ohnmächtig geworden, und vor dem bisschen nackten Fleisch würde sie auch nicht davonlaufen. Selbst wenn es Fleisch war, wie es nur die besten Bildhauer ersinnen konnten.

„So früh am Morgen bevorzuge ich anderes“, entgegnete sie lächelnd. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, humpelte sie zu dem Orangenbaum zurück und pflückte eine weitere Frucht. In aller Ruhe begann sie, die Orange zu schälen, und erst als sie ein Stück zwischen den Fingern der rechten Hand hielt und kurz davor war, es sich zwischen die Lippen zu schieben, sah sie Hunter an. „Möchten Sie auch?“

Es bereitete ihr große Genugtuung, ihn sprachlos zu sehen, die Augen wie gebannt auf das Stückchen Orange geheftet, das zwischen ihren Lippen verschwand. Rosa lächelte siegesgewiss, drehte sich um und begab sich zurück in die Villa – wobei ihr Triumphmarsch durch das Klacken des Gehstocks auf den Fliesen ein wenig an Glanz einbüßte.

Autor

Laura Martin
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