Made in Texas - Kinderwunsch im Lone Star State (4-teilige Serie)

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HANNAHS WEG INS GROßE GLÜCK
Er liebt seine Freiheit, jettet als Reisejournalist um den ganzen Erdball. Keine Frau wird Joe Daugherty je dazu bringen, eine Familie zu gründen! Wenn überhaupt, dann nur Hannah und ihre süße Tochter Isabella … Warum träumt der Abenteurer Joe jetzt von einem Leben zu dritt?

WO DER ROTE SALBEI BLÜHT
Die süßen Wirbelwinde Henry und Heidi sind alles, was Claire seit dem Tod ihrer Schwester geblieben ist. Aber manchmal ist der Alltag sehr anstrengend, und die Verantwortung lastet schwer auf ihr. Und dann verlangt auch noch der Banker Heath McPherson, dass Claire ihre verschuldete Gästeranch verkauft! Hat er statt eines Herzens eine Rechenmaschine in der Brust? Und trotzdem klopft ihr eigenes Herz viel zu schnell, als Heath sich auf der Red Sage Ranch einmietet. Claire muss eine Entscheidung für die Zukunft treffen. Für oder gegen das Land - für oder gegen Heath …

KÜSSE, BABY UND FAMILIENGLÜCK
Als ihr attraktiver Retter durch den strömenden Regen auf ihr Auto zuläuft, vergisst Jacey einen Moment lang alles: groß, muskulös, blaue Augen - so steht Rafferty vor ihr und lässt ihr Herz schneller schlagen! Jacey ist auf der Flucht vor ihrem alten Leben hochschwanger in einen Sturm geraten und froh, dass jemand ihr zur Hilfe eilt. Doch so sexy Rafferty ist, so abwehrend verhält er sich auch! Trotzdem bietet er ihr an, die Nacht unter seinem Dach zu verbringen. Und Jacey sagt freudig zu: Sie träumt vom Familienglück und ist fest entschlossen, sein Herz zu erobern …

EIN SÜßER GLÜCKSBRINGER
Ein Baby aus heiterem Himmel? Der sexy Notarzt Thad Garner glaubt zu träumen, als die atemberaubende Michele Anderson von gegenüber mit einem Neugeborenen bei ihm klingelt. Ihr eigenes ist es nicht, seines aber auch nicht. Triumphierend und mit vorwurfsvoller, kühler Miene hält ihm seine schöne Nachbarin den Beweisbrief unter die Nase: Der süße Winzling ist offensichtlich das Kind seines Bruders! Thad ist sprachlos. Plötzlich erwacht in ihm ein starker Beschützerinstinkt. Und der unbändige Wunsch, die bezaubernde Michele in sein Leben zu lassen …


  • Erscheinungstag 15.08.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733727147
  • Seitenanzahl 576
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Cathy Gillen Thacker

Made in Texas - Kinderwunsch im Lone Star State (4-teilige Serie)

IMPRESSUM

Hannahs Weg ins große Glück erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2008 by Cathy Gillen Thacker
Originaltitel: „Hannah’s Baby“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA EXTRA
Band 61 - 2018 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Anna-Pia Kerber

Umschlagsmotive: "AntonenkoS / Shutterstock"

Veröffentlicht im ePub Format in 08/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733727239

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Hannah Callahan stand im Morgenlicht auf der Veranda ihres Elternhauses und ließ sich von der sanften Brise verführen, die einen perfekten Sommertag versprach. Ihr Blick verharrte auf den zartroten Strahlen der Morgendämmerung und schweifte dann über die mächtige Bergkette, deren Spitzen in der frühen Sonne erstrahlten.

Hier war sie aufgewachsen, in Summit, Texas, und die unermesslich weite Landschaft vermochte ihr noch immer den Atem zu rauben. Nachdem sie das College abgeschlossen hatte, war sie jahrelang berufsbedingt gereist und hatte hauptsächlich aus dem Koffer gelebt, von einem Hotel zum nächsten.

Zum ersten Mal war sie froh, dass dieses Leben als Nomadin nun ein Ende hatte. Froh darüber, ein neues Kapitel aufzuschlagen.

Ein dunkelgrüner Land Rover näherte sich auf der stillen Landstraße.

Hannah erkannte den Fahrer, nahm ihren Koffer hoch und trat die breiten, hölzernen Verandastufen hinunter.

Der fünfunddreißigjährige Joe Daugherty ließ den Motor laufen, stieg aus und kam auf sie zu. Er war lässig und zugleich zweckmäßig gekleidet, in eine weit geschnittene Cargohose und ein leuchtend-gestreiftes Shirt, das die grüne Farbe seiner Augen intensiv zur Geltung brachte.

Wie üblich kam sie sich neben seiner beeindruckenden Ein-Meter-neunzig-Statur ziemlich klein vor. Gegen seine beinahe einschüchternd breiten Schultern wirkte sie zierlich und zerbrechlich – und zerbrechlich war ein Wort, das ihr überhaupt nicht gefiel. Davon abgesehen passte es auch nicht zu ihr, denn sie hatte ihr Leben sehr wohl im Griff.

Vor fünf Monaten waren sie und Joe sich zum ersten Mal begegnet. Er war in den Gemischtwarenladen ihres Vaters spaziert, und sie waren sich auf Anhieb sympathisch gewesen. Die gegenseitige Anziehungskraft ging wohl über Sympathie hinaus, doch von Anfang an war klar, dass zwischen ihr und diesem aufregenden Abenteurer nichts laufen würde.

Denn ganz gleich, ob er ihr Interesse erwiderte oder nicht, sie befanden sich an völlig gegensätzlichen Punkten in ihrem Leben.

Hannah wollte endlich ankommen und sich dauerhaft niederlassen, Joe dagegen plante bereits die nächste Reise. Sein Aufenthalt in Summit war begrenzt, und zwar auf die Dauer der Recherche, die er für sein neues Buch benötigte. Danach würde er ein anderes Projekt angehen.

Hannah scheute sich vor einer kurzen Affäre, daher hatte sie innerlich sehr schnell eine Grenze gezogen und beschlossen, dass sie und Joe nichts weiter als Freunde seien.

Dass sie nun gemeinsam diese wichtige Reise antreten würden, war ein Glücksfall, mit dem Hannah nicht gerechnet hatte. Joe tat ihr damit einen großen Gefallen. Sie würde sich vor Augen halten, dass es genau das war: ein Gefallen.

Die Erregung und Freude, die sie an diesem Morgen verspürte, hatten auch gar nichts zu tun mit seinen strahlenden Augen. Oder der Tatsache, wie schön sich das Licht in seinem kurzen blonden Haar fing, das sich so gut von der gebräunten Haut abhob.

Sie hatte auch nichts zu tun damit, dass sie die kommende Woche mit diesem Mann verbringen würde.

Ihr rasender Puls war vielmehr darauf zurückzuführen, dass es zwischen ihr und dem einzigen verbleibenden Familienmitglied andauernd Spannungen gab. Spannungen, die sich nach den kommenden Ereignissen vermutlich noch verschärfen würden.

Nichts von ihren Gedanken ahnend, schob Joe die Hand unter ihre und nahm ihr das kompakte Köfferchen ab. „Ist das all dein Gepäck?“

Hannah nickte und versuchte zu ignorieren, dass ihre Haut prickelte – an der Stelle, wo seine Hand sie berührt hatte. Sie drückte den roten Leinenbeutel an ihre Brust, in dem sie alle wichtigen Papiere aufbewahrte. „Ich muss nur noch schnell beim Mercantile vorbei und mich von meinem Dad verabschieden.“ Und ein letztes Mal versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen.

Joe verstaute ihr Gepäck im Kofferraum. „Kein Problem.“ Er glitt hinter das Steuer, während sie auf dem Beifahrersitz Platz nahm. „Wir haben ausreichend Zeit dafür.“

Aber nicht genug Zeit, um die Meinung ihres Vaters zu ändern. Hannah schluckte und rutschte unruhig auf ihrem Sitz nach vorn. „Danke, dass du mitkommst.“

Joe hob die Schultern und schenkte ihr ein anziehendes, schiefes Grinsen. „Hey, es passiert ja nicht jeden Tag, dass mir jemand einen Trip nach Taiwan schenkt.“

„Ich meine es ernst …“

„Ich auch.“ Sein Blick enthielt all das Verständnis, das er von Natur aus für andere Menschen aufzubringen schien. „Du brauchst eben jemanden mit einem gültigen Reisepass und ausreichend Erfahrung mit Fernreisen. Jemanden, der sich in dieser bestimmten asiatischen Region auskennt, die Sprache beherrscht und sich durchschlagen kann. Und jemand, der frei und ungebunden genug ist, um kurzerhand alles stehen und liegen zu lassen und mitzufliegen, sobald du alle nötigen Papiere hattest.“

Denn genau diese Voraussetzungen hatten das Feld der möglichen Reisebegleiter deutlich eingeschränkt. Hannah war froh, dass Joe nicht mehr in das Angebot hineininterpretierte. Sie begann sich zu entspannen und ließ sich rücklings in den bequemen Sitz gleiten. „Hach, die Vorzüge des Lebens als Reiseschriftsteller“, neckte sie ihn.

Joe trat auf die Bremse, als ein Gürteltier in Sicht kam. Er wartete geduldig ab, bis das Tier die Straße passiert hatte. Währenddessen wandte er sich Hannah zu und grinste. „Die Vorzüge deines Unternehmer-Daseins sind auch nicht zu verachten. Wie ist das, wenn man vom Marketing-Ass zur Geschäftsführerin wird?“

Das Lob machte sie verlegen – vor allem, da es von ihm kam. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und spielte das Kompliment ein wenig herunter. „Geschäftsführerin darf ich mich noch gar nicht nennen“, ruderte sie zurück. „Schließlich gibt es da noch meinen Dad. Und ob der sich jemals aus dem Geschäft zurückzieht, ist fraglich. Er ist so stolz darauf, dass es unseren Laden bereits seit der Gründung von Summit gibt. Seit diesem Jahr – 1847 – ist er in Familienbesitz.“ In der Zwischenzeit hatte sich das idyllische Städtchen am Fuß der Berge bedeutend verändert: vom verschlafenen Siedlungspunkt für Rancher und Farmer hin zum attraktiven Kur- und Touristenort.

Das Gürteltier wackelte gemächlich in die Böschung, und Joe fuhr wieder an. „Ich finde es gut, dass du Änderungen vornehmen wirst.“

Er gehörte zu den wenigen, denen Hannah von ihren Plänen erzählt hatte, das Ladenkonzept zu erweitern. Der süße Duft nach Zimtbrötchen drang in den Wagen, als sie die Bäckerei passierten. Hannah liebte diesen Duft, doch gerade beschäftigte sie etwas anderes. „Erzähl das mal meinem Dad“, erwiderte sie finster.

„Das habe ich versucht. Mehrmals.“ Joe verzog den Mund, als würde er bereuen. „Aber warum sollte er auf einen Großstadttrottel von der Ostküste hören?“

An einer roten Ampel kam der Wagen zum Stehen. Hannah rutschte auf ihrem Sitz nach vorn. Die Nervosität hatte erneut von ihr Besitz ergriffen. Sie konnte es kaum erwarten, nach Taipei zu kommen. Ihr neues Leben war zum Greifen nah. „Du bist doch in Texas aufgewachsen.“

„Meine ersten zehn Lebensjahre“, stellte Joe richtig. Er winkte einem Rancher in einem schweren Pick-up-Truck. „Aber ich bin in Connecticut zur Schule gegangen.“

Hannah wusste, dass er eine Elitehochschule besucht hatte. Doch das war es nicht, was ihn so anziehend machte. Es war vielmehr seine offene, freundliche und kollegiale Art, die sie an ihm mochte. Für jeden hatte er ein nettes Wort.

Wenn er sich dazu entschlossen hätte, länger in diesem großartigen Landstrich im Westen Texas zu bleiben, dann wäre sie versucht gewesen, sich auf mehr als eine Freundschaft einzulassen.

Natürlich wusste sie es besser. Im Herzen war er genau jener Vagabund, der sie selbst jahrelang gewesen war. Und genau wie sie hatte auch er sicher seine ganz eigenen, schwerwiegenden Gründe dafür.

Seit dem Tod ihrer Mutter und dem Herzanfall ihres Vaters war ihr bewusst geworden, dass die Zeit begrenzt war: die Zeit, in der man sich alten Verletzungen stellen und Frieden schließen durfte. Oder es zumindest versuchen.

Ihre Mutter hatte sich immer gewünscht, dass Hannah sich mit ihrem Vater aussöhnen sollte. Das würde sie nun angehen – ob er nun kooperierte oder nicht!

Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie lange geschwiegen hatte. „Wann wird dein Buch fertig?“, schlug sie ein leichteres Thema an. Im vergangenen Frühling hatte Joe sich eine Blockhütte außerhalb des Städtchens gemietet und dort sein Basislager für die Recherche über Süd-West-Texas eingerichtet.

„Im Grunde ist es bereits fertig. Ich möchte nur noch einmal nach Big Bend fahren und mir einige Hotels ansehen. Dann werde ich die Artikel schreiben, mit denen ich für das Buch werben möchte, und dann geht es schon nach Australien. Zum nächsten Projekt.“

„Also gehst du am …?“

„Einen Tag nach Labor Day. Anfang September.“

Das bedeutete, sie würde Joe vermutlich niemals wiedersehen. Es blieben in etwa noch drei Wochen. Danach würde er nicht mehr im Mercantile vorbeischauen, um sich mit den Kunden über ihre Lieblingsorte in Summit zu unterhalten. Er würde sie nicht mehr necken und keine höfliche Konversation mit ihrem Vater führen.

Und er würde sie nicht mehr zum Mittagessen einladen, weder alleine noch mit einem der zahlreichen neuen Freunde, die er in Summit gefunden hatte und die ihm alles über das Leben hier berichten sollten.

Sie bogen in die Hauptstraße ein. Zuvorderst befanden sich Rathaus und Polizeistation gegenüber dem Stadtpark. Entlang der Straße folgten einige neue Cafés und Restaurants, die in die hübschen alten Gebäude aus Ziegelstein eingezogen waren.

Das von den Touristen am meisten fotografierte Haus war aber noch immer Callahan Mercantile & Feed, der Nahrungsmittel- und Gemischtwarenladen von Hannahs Familie, der an die alten Wildwestfilme erinnerte.

Die weitläufige Fassade trug den typischen Blockhaus-Stil, und die gemütlichen Schaukelstühle auf der Veranda luden zum Verweilen ein – selbst nachdem man seine Einkäufe erledigt hatte.

Joe lenkte den SUV geschmeidig in eine Parklücke vor dem Laden. „Ob dein Dad wieder das leckere Gebäck besorgt hat?“, überlegte er, während er den Motor abstellte.

„Mit Sicherheit. Er geht jeden Morgen zuerst in die Bäckerei, bevor er den Laden öffnet. Nimm dir, was du möchtest. Ich werde ihn suchen gehen.“

Gus war im Lagerraum, wie sich gleich darauf herausstellte.

Auch mit über siebzig Jahren war er ein attraktiver Mann mit ausdrucksstarken, dunkelbraunen Augen, die Hannah von ihm geerbt hatte. Sein dichtes graues Haar war seit dem Tod ihrer Mutter schneeweiß geworden.

Gus Callahan war zeitlebens kein einfacher Mensch. Er ging stur seinen Weg, und wenn er einmal eine Meinung gefasst hatte, war es nahezu unmöglich, ihn davon abzubringen. Er hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und war nie bereit, dem zuliebe Ausnahmen zu machen – auch nicht für seine Tochter.

Mit einem Mal fühlte sich Hannahs Kehle an wie zugeschnürt. Wann würde sie jemals damit aufhören, um seine Anerkennung zu ringen? Immerhin war sie längst erwachsen und hatte in ihrem Leben viel erreicht. Warum war es ihr so wichtig, seine Zustimmung zu haben, wenn sie doch längst für sich selbst entschieden hatte, was das Richtige war?

„Dad?“ Es war kaum mehr als ein heiseres Flüstern, sodass sie sich wiederholte. „Dad?“ Da fand sie ihn über den alten Schreibtisch gebeugt, mit einem Stapel Kontoauszüge vor sich auf der Tischplatte. „Es ist Zeit. Ich muss zum Flughafen“, erklärte sie – in der Hoffnung, es möge ein Wunder geschehen und Gus seine Meinung ändern.

Gus hob den Kopf und legte die Stirn in unschöne Falten. Sein Blick war schwer zu lesen. Dann sagte er tonlos: „Noch kannst du absagen.“

Es war überhaupt nicht Joes Absicht zu lauschen. Schon gar nicht einem Familienstreit, der ihn nichts anging. Aber Hannahs frustriertes Seufzen hallte voll Hoffnungslosigkeit durch das Mercantile und ließ ihn aufhorchen.

„Dad.“ Ihrer Stimme waren die Tränen anzuhören – Tränen, die sie noch nie vor ihm und vermutlich auch niemand sonst gezeigt hatte. Bitte.“

Gus erhob sich abrupt und stürmte in den Verkaufsraum, auf die langen Ladenzeilen zu, die sich unter Produkten bogen. Entweder hatte er Joe nicht bemerkt, oder es war ihm herzlich gleich, dass dieser den unschönen Familiendisput mitanhörte.

Mit einem grimmigen Zug um die Mundwinkel marschierte Gus in die Ecke des Ladens, wo eine vorsintflutliche Kaffeemaschine auf einem wackeligen Beistelltisch thronte. Er lupfte einen Plastikbecher von dem Stapel und hielt ihn mit wilder Entschlossenheit unter den Spender. Es war erstaunlich, dass er den Becher dabei nicht einfach zerquetschte. „Ich werde nicht so tun, als ob ich das für eine gute Idee hielte, Hannah.“ Finster starrte er über den Rand des Kaffeebechers. „Du willst ein Baby? Es gibt bessere Wege, sich eins zu beschaffen.“

Ihr entfuhr ein leises Schluchzen. „So einfach ist das nicht.“

„Natürlich nicht, verdammt noch mal!“ Er kippte den Kaffee hinunter, wie andere ein Glas Whiskey geleert hätten. „Da draußen gibt es eine Menge Cowboys und Geschäftsmänner und weiß der Teufel wer, die nur darauf warten, dich auszuführen. Von hier bis Austin würden sie Schlange stehen, um dich zu heiraten.“

Hannah hob abwehrend die Hände. Nun glomm Wut in ihrem Blick. „Die liebe ich aber nicht.“

Gus hob eine struppige Braue. „Woher willst du das wissen, wenn du ihnen nicht einmal eine Chance gibst? Du lässt dich nicht mal auf ein Date ein.“

Hannahs Mund bildete eine schmale Linie. Ihre Mimik erinnerte plötzlich auffallend an die ihres jähzornigen Vater. „Ich werde mich bestimmt nicht auf jemanden einlassen, nur um nicht alleine zu sein.“

„Wenn deine Mutter noch hier wäre …“

Das war ein Tiefschlag, entschied Joe, der genau wusste, wie es sich anfühlte, seine Eltern zu verlieren.

„Mom würde mich unterstützen. Sie fände es gut, dass ich adoptieren will“, schoss Hannah zurück.

„Deine Mutter – Gott hab sie selig – hätte damit allerdings unrecht“, erwiderte Gus heftig.

Hannah schüttelte wortlos den Kopf. Ihr Blick verharrte auf dem Fußboden – ganz so, als würde sie innehalten und innerlich um Kraft beten. Kraft für das letzte Gefecht. Daraufhin hob sie den Kopf. Sie wirkte gefasst. „Wenn ich zurückkehre, werde ich Isabella mitbringen. Und ich werde deine Unterstützung brauchen.“

Dass sie die nicht bekommen würde, war klar und deutlich im Raum zu lesen.

Der Schmerz in ihrem Gesicht war mehr, als Joe ertragen konnte. Völlig entgegen seiner Regel, sich aus anderer Familien Angelegenheiten herauszuhalten, trat er vor, zwischen die beiden Kampfhähne. „Wenn wir unseren Flug nicht verpassen wollen, müssen wir jetzt los, Hannah.“

Gus musterte ihn geringschätzig. „Wenn du meiner Tochter wirklich ein Freund sein willst, dann solltest du sie davon abhalten, in dieses Flugzeug zu steigen.“

Seine Worte schienen Hannah wie Schläge zu treffen. Sie erblasste. Ihre Augen schimmerten verräterisch, doch dann blinzelte sie die Tränen entschlossen weg. „Auf Wiedersehen, Dad“, sagte sie rau. Sie trat vor, gab Gus eine mehr als flüchtige Umarmung und wandte sich ab – mit einem verletzten Ausdruck im Gesicht, der Joe scharf ins Herz schnitt.

Wortlos kehrten sie zum Auto zurück und stiegen ein.

Er fühlte mit ihr. Nur zu gut kannte er das Gefühl, um Anerkennung und Liebe zu kämpfen. Bei Familienmitgliedern, die es besser wissen müssten und die im entscheidenden Augenblick zu einem stehen sollten.

Zugegeben, seine Ablehnung war etwas höflicher erfolgt. Subtiler. Doch das machte sie nicht weniger schmerzhaft. Joe startete den Motor und fädelte sich in den Verkehr ein. Wenig später fuhren sie auf den Highway.

„Tut mir leid, dass du das miterleben musstest.“ Hannahs Hände zitterten.

Das braucht es nicht, dachte Joe. Er wurde von einer unerwarteten Welle des Verständnisses und der Zuneigung erfasst, die ihn überraschte. Mehr als alles verspürte er das Bedürfnis, ihr Trost zu spenden. „Ich bin schon in solchen Waisenhäusern gewesen, Hannah.“

Vierzig und mehr Kinderbettchen in einen Raum gepfercht, ein Säugling nach dem anderen, manchmal sogar zwei in ein Bettchen gequetscht. Alptraumhafte Zustände, mit nicht mehr als ein oder zwei Frauen, denen es unmöglich war, sich um alle Kinder gleichzeitig zu kümmern.

„Diese Kinder hätten keine Chance, wenn es nicht Menschen wie dich gäbe“, erklärte er. Seine Stimme wurde rau, als er sich an die hageren, traurigen kleinen Gesichter erinnerte. „Menschen, die bereit sind, für diese Kinder ihr Heim zu öffnen. Und ihr Herz.“

Hannah atmete hörbar aus. „Mein Dad …“

„Wird sich einkriegen, sobald das Baby da ist“, prophezeite Joe. Dieser neue, verletzliche Zug in ihrem hübschen Gesicht gefiel ihm gar nicht.

„Glaubst du wirklich?“ Sie sah ihn forschend an.

Nach all seinen eigenen Erfahrungen? Wenn Joe ehrlich gewesen wäre, hätte seine zynische Seite gesiegt, und er hätte … Nein gesagt. Aber ein Nein war nicht das, was Hannah jetzt brauchte.

„Sicher“, entgegnete er stattdessen. Und das musste vorerst ausreichen.

2. KAPITEL

„Das kann nicht sein“, empörte sich Hannah, der die Frustration deutlich anzusehen war. Sie lehnte sich an die marmorne Theke der Rezeption – wie um Halt zu suchen, während der Englisch sprechende Hotelangestellte noch einmal die Reservierung im Computer überprüfte.

Vierunddreißig nervenzehrende Stunden hatte die Reise gedauert, bis sie das Fünf-Sterne-Hotel in Taipei erreicht hatten. Hannah war so müde, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Sie sehnte sich nach einer heißen Dusche, einem sauberen Pyjama … und einem gemütlichen Bett.

Sie hielt Zeige- und Mittelfinger deutlich in die Höhe. „Ich habe zwei Zimmer reserviert. Nicht eins.“

Der Mann am Empfang wirkte verwirrt und verlegen. Noch einmal studierte er den Bildschirm, kniff die Augen zusammen und sagte dann sehr langsam, jede Silbe betonende: „Zwei Erwachsene.“ Er nickte höflich. „Zwei Betten.“

„Zwei Erwachsene, zwei Betten, zwei Zimmer“, verlangte Hannah. „Ich brauche zwei Karten“, betonte sie und wedelte mit der elektronischen Schlüsselkarte, die sie bereits erhalten hatte.

Der Mann blickte sie bloß entgeistert an.

Joe dagegen wirkte gelassen. So, als ob er bereits damit gerechnet hätte, dass bei einer Reise dieses Ausmaßes Pannen passieren könnten. Er kam Hannah zu Hilfe und wandte sich in fließendem Mandarin-Chinesisch an den Hotelangestellten. Dieser schien sich deutlich zu entspannen.

Zwei Minuten verstrichen, während die beiden sich höflich – und für Hannah völlig unverständlich – auf Chinesisch unterhielten. Daraufhin sah Joe sie an. „Die Adoptions-Agentur hat für jede ‚Familie‘, die sich angemeldet hat, ein Zimmer gebucht. Da du offenbar nach getrennten Betten gefragt hast, haben sie uns ein Zimmer mit zwei Doppelbetten besorgt.“

Nachvollziehbar. Irgendwie. „Können wir noch ein Zimmer bekommen?“, fragte Hannah dennoch.

Joe schüttelte den Kopf. „Das Hotel ist für den Rest des Sommers komplett ausgebucht. Wir könnten es in einem anderen Hotel versuchen, aber da besteht wohl wenig Hoffnung. Die schönen Unterkünfte sich schon vergeben.“

Hannah ließ den Kopf in den Nacken fallen. Nach einer vierstündigen Autofahrt zum internationalen Flughafen in El Paso, einer zweistündigen Warte- und Eincheck-Zeit, sechsundzwanzig Stunden im Flieger und schließlich drei weiteren Stunden vom Flughafen Taipei bis hier fühlte sie sich mehr tot als lebendig.

Joe war während des Fluges hin und wieder eingeschlafen, doch Hannah war viel zu aufgeregt gewesen.

„Ein Zimmer ist in Ordnung“, sagte Joe.

Sich mit Joe ein Zimmer teilen zu müssen, verlieh der Reise eine Intimität, mit der sie nicht gerechnet hatte. „Aber …“, begann sie zu protestieren.

Zum ersten Mal zeigten sich auch in Joes Gesicht winzige Fältchen der Erschöpfung. „Wir werden es überleben, Hannah. Außerdem werden alle Familien, die wegen einer Adoption angereist sind und mit deiner Agentur gebucht haben, auf der fünften Etage wohnen. Du wirst also ohnehin hier im Hotel sein müssen, wenn die Babys morgen Nachmittag gebracht werden.“

Hannah wusste, dass er recht hatte. Sie musterte sein Gesicht. Immerhin hatte auch er sich diese Reise anders vorgestellt. „Es tut mir wirklich leid.“

Er nahm beide Koffer auf und strebte den Aufzügen entgegen, vorbei an dem spektakulären Springbrunnen aus Marmor, der die Hälfte der Lobby einnahm. „Ich wünsche mir nichts als eine Dusche und einen Platz zum Schlafen“, ließ Joe sie wissen. „Alles andere wird sich finden.“

Zu Hannahs endloser Erleichterung war ihre Unterkunft wunderschön und luxuriös. Das Zimmer war sehr großzügig geschnitten und bot eine breite Fensterfront, dank der man eine unglaubliche Aussicht auf die Stadt hatte. Die breiten Betten waren mit blütenweißen Bezügen versehen, Bettzeug und Kissen sogar mit Daunenfedern gefüllt. In der Suite gab es außerdem einen Plasma-Fernseher, einen Schreibtisch und natürlich Internetverbindung.

Im angrenzenden Badezimmer befanden sich zwei Waschbecken, eine Dusche mit Marmorsockel und eine Badewanne.

Joe machte nicht den Eindruck, als ob er all diesen Luxus nötig gehabt hätte. Zielstrebig ging er zum Schreibtisch, nahm sich einen Apfel aus einem Körbchen und holte sein Notebook aus der Tasche. „Ich muss meine E-Mails abrufen. Wenn du also ins Bad möchtest, nimm dir alle Zeit, die du brauchst.“

Hannah schleppte ihren Koffer ins Badezimmer und zog sich aus. Sie machte verschwenderischen Gebrauch von allen Shampoos, Duschgels und Lotionen und verweilte viel länger als gewöhnlich unter dem heißen, tröstenden Wasserstrahl.

Danach brachte sie es noch fertig, sich die Zähne zu putzen und ein Handtuch um das nasse Haar zu schlingen. In eine der dicken, weißen, flauschigen Hotelroben gehüllt, verließ sie daraufhin das Bad – wankte zum nächstgelegenen Bett und schlief ein, sobald ihre Wange das Kissen berührte.

„So spät sind sie doch gar nicht“, versuchte Joe sie zu trösten, als sie am folgenden Nachmittag gemeinsam auf die Adoptions-Agentur warteten.

Selten im Leben waren die Stunden für ihn so qualvoll langsam vergangen. Vor allem, seit Hannah damit begonnen hatte, vor dem imposanten Panoramafenster auf und ab zu tigern.

Das machte die Aussicht nicht weniger imposant. Im Gegenteil. Es fiel Joe erheblich schwer, die Augen von ihr zu wenden. Von ihren langen, schlanken Beinen, ihrem wohlgeformten Körper und ihrem seidigen Haar, das jedes Mal verführerisch über ihre Schultern streifte, wenn sie die Richtung wechselte.

Es half auch nicht, dass sie in ein schlichtes, aber anmutiges weißes Kleid gehüllt war, das jeden ihrer Schritte betonte und ihre Weiblichkeit zur vollen Geltung brachte.

„Sie hätten schon vor einer halben Stunde hier sein müssen“, überlegte Hannah. Ihre Stimme verriet ihre Nervosität.

Joe hob betont lässig die Schultern. „Sicher liegt es am Verkehr.“ Ein Blick in ihre schönen, von dichten dunklen Wimpern umrahmten Augen versetzte ihm einen kleinen Stich in die Brust. „Mach dir keine Sorgen“, bat er. „Ich bin sicher, es läuft alles nach Plan.“

Wenn er das doch auch von sich behaupten könnte. Immerhin hatte er auf dieser Reise einen Auftrag zu erfüllen. Hannah hatte ihn aufgrund seiner Kenntnisse mitgenommen – und nicht aufgrund einer gegenseitigen Anziehungskraft.

„Du hast ja recht.“ Hannah Wangen erröteten. Sie legte die Hände auf die Hüften. „Ich sollte nicht überreagieren. Davon abgesehen ist das alles ja nicht dein Problem.“

Das sollte es zumindest nicht sein, überlegte Joe. Und das wäre es auch nicht, wenn Hannahs Freundin aus Chicago nicht im letzten Augenblick abgesagt hätte, weil sie sich um eine dringende Familienangelegenheit kümmern musste.

Jene Freundin hatte ein Baby aus Taiwan adoptiert und wäre demnach ebenfalls eine ideale Reisebegleiterin für Hannah gewesen. Alleine durfte Hannah nicht fliegen, denn die Agentur bestand darauf, dass das Baby von zwei verantwortungsvollen, erwachsenen Begleitpersonen in sein neues Heim gebracht wurde.

Diese Regel war durchaus sinnvoll, entschied Joe, denn die lange Reise war strapaziös und anstrengend und schwer zu bewältigen, wenn man sie allein mit einem noch fremden Baby angehen musste.

Hannahs Familie bestand im Grunde nur aus Gus. Und selbst wenn dieser gewollt hätte, wäre die Reise aufgrund seiner Gesundheit kaum möglich gewesen.

Deshalb hatte sich Hannah an Joe gewandt. Sie hatte ihm versichert, dass er in Taipei alle Freiheiten genießen und sich um nichts zu kümmern brauchte, was mit ihr und der Adoption zu tun hatte.

Während sie sich um die Formalitäten bemühen und sich mit dem Baby vertraut machen würde, durfte er an seinen Artikeln arbeiten oder sich die Stadt ansehen.

Für Joe hatte das alles verlockend geklungen. Zu lange war er nicht aus Summit herausgekommen, und außerdem liebte er diesen Teil Asiens.

Unglücklicherweise hatte das Missverständnis mit dem Hotelzimmer seine Konzentrationsfähigkeit erheblich beeinträchtigt. Da war der Duft nach Patchouli und Rosenholz, der von Hannahs Seifen und Shampoos ausging. Da war ihre Art, jede Stunde einen Lippenpflegestift aufzutragen, der ihre vollen Lippen so süß und weich wirken ließ.

Dinge, die Joe überdeutlich bewusst waren, auch wenn sie das nicht sein sollten.

Das Telefon klingelte. Hannah eilte durch das Zimmer, lauschte eine Weile und bedankte sich schließlich. Als sie den Hörer auflegte, erhellte sich ihr Gesicht. „Es gab ein Problem mit dem Tagungsraum, in dem wir uns treffen sollten, deswegen …“

Es klopfte.

Hannahs Blick flog auf. „Oh mein Gott, Joe! Sie ist da!“

Mit klopfendem Herzen eilte Hannah zur Tür und riss sie schwungvoll auf. Auf dem Flur wartete eine taiwanesische Tagesmutter – mit Hannahs Baby auf dem Arm. Für einen Augenblick wurde Hannah von ihren Gefühlen überwältigt. Sie konnte kaum atmen. Endlich war ihre Tochter da – nach so langer Zeit des Wartens und Bangens.

Das Baby war sehr viel kleiner, als sie erwartet hatte. Kaum mehr als sieben Kilo, vermutete Hannah. Dabei war sie bereits zehn Monate alt.

Dafür war sie unbeschreiblich schön. Sie hatte dunkle, ausdrucksstarke Mandelaugen, die von langen Wimpern gerahmt und von eleganten Brauen eingefasst wurden. Eine kleine Stupsnase verlieh ihr ein neugieriges, keckes Aussehen, während der Zug um ihre anmutig geschwungenen Lippen ernster wirkte.

Im Gegensatz zu den Fotos, die Hannah vor einigen Monaten von der Agentur erhalten hatte, wirkte das Gesichtchen runder und voller, die Konturen bereits bedeutend weiblicher und eleganter.

Bloß Ärmchen und Beinchen sahen alarmierend dünn und zerbrechlich aus.

Unter der goldenen Haut waren die Wangen leicht gerötet. Kaum verwunderlich, da das Kind trotz der Hitze dick eingepackt war. Darüber hatte Hannah bereits gelesen: Die Taiwanesen lebten in der ständigen Angst, ein Baby könne sich erkälten, daher kleideten sie es stets mollig warm ein – ungeachtet des Wetters oder der Jahreszeit.

„Das ist Zhu Ming“, erklärte die Tagesmutter, während sich entlang des Korridors vor jeder Tür dieselbe Übergabe abspielte.

„Hallo, Isabella Zhu Ming“, flüsterte Hannah zärtlich. Sie streckte die Arme aus.

Behutsam überreichte die Pflegerin ihr das kleine Mädchen.

Eine Welle der Zuneigung überkam Hannah, als sie das Kind an sich schmiegte. Es war, als würde sich all die Liebe, die sie in den vergangenen Monaten des Wartens gesammelt hatte, endlich den richtigen Weg suchen.

Vorsichtig strich Hannah dem Baby eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn.

In Isabellas Augen spiegelte sich jedoch Erschöpfung. Ihr kleiner Körper wurde ganz fest vor Anspannung, als sie sich in Hannahs Armen wiederfand.

Sie versuchte zwar nicht zu entkommen, aber sie wirkte auch nicht besonders begeistert, wie Hannah enttäuscht feststellte.

In ihrem Ausdruck lag eine seltsame Art Resignation, als wäre sie schon jetzt der Welt überdrüssig. Ein Ausdruck, den man in einer alten Seele, nicht in einem Kleinkind erwarten würde.

Sie wird Zeit brauchen, um sich an dich zu gewöhnen. Und um zu lernen, dass du sie nicht auch noch verlassen wirst, erinnerte sich Hannah daran, wovor man sie gewarnt hatte.

In der Theorie war es einfach gewesen, das zu verstehen und sich darauf vorzubereiten. Doch in der Realität tat es weh, dass das Baby sich nicht bereitwillig an sie schmiegte.

Die Tagesmutter stellte eine Tasche mit Babynahrung und Windeln auf einen Sessel. „Morgen um neun Uhr wir kommen wieder“, erklärte sie routiniert, aber mit einem schweren Akzent. „Wir gehen zu Behörde, machen Adoption fertig.“ Die Pflegerin berührte Isabellas Wange. „Zaijian, Zhu Ming.“

Bei diesem Abschiedswort begann Isabellas Unterlippe verdächtig zu zittern. Sie wirkte noch ängstlicher und nervöser, als sich die Frau nun entfernte und die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.

Hannahs Blick streifte Joe. Sein Gesicht wirkte ebenso von Ehrfurcht ergriffen wie sie selbst.

Mit neuem Mut trug Hannah das angespannte Kind zum Fenster. Doch wenn sie gehofft hatte, dass der überwältigende Ausblick das Baby trösten würde, hatte sie sich getäuscht. Ein gestresster Ausdruck trat in sein kleines Gesicht. Tränen stiegen in seine Augen, doch es gab keinen Laut von sich.

Hannah wurde von Mitgefühl überwältigt. Es war vermutlich das erste Mal, dass ihre süße kleine Tochter das Waisenhaus verlassen hatte. Im vergangenen Herbst war sie gefunden worden, nachdem sie auf einem öffentlichen Marktplatz ausgesetzt worden war.

Und nun all diese neuen Eindrücke, nach einer stundenlangen Busfahrt, eingepackt in viel zu warme Kleidung und dann einer Fremden überlassen, die nicht einmal in ihrer gewohnten Sprache redete …

Das musste mehr als beängstigend sein.

Hannah begriff, dass sie viel Geduld haben musste. Geduld, Aufmerksamkeit und all die Liebe, die der Kleinen bisher vorenthalten worden war. Sie wiegte das Kind sanft auf den Armen. „Wir haben alle Zeit der Welt, meine Kleine“, sagte sie sanft. „Deine Mama ist ja da. Und ich verspreche dir, dass ich von nun an immer für dich da sein werde. Ich werde dich beschützen. Ich werde dich nicht im Stich lassen.“

Joe hatte geglaubt, dass es in ihm keinen Funken Sentimentalität mehr gab, seit seine Eltern damals gestorben waren.

Weinen passte nicht zu ihm. Niemals.

Daher war er mehr als schockiert, als er spürte, wie sich beim Anblick der beiden seine Kehle verengte.

In der Art, wie Hannah das Baby ansah, lag eine unbeschreibliche Zärtlichkeit. Es war Liebe. Echte, unerschütterliche Liebe, obwohl noch keine fünf Minuten vergangen waren, seit Hannah das Kind in die Arme geschlossen hatte.

Auch das Kind schien es zu spüren.

Hannah schmiegte das Kind an ihre Brust. Mit der freien Hand öffnete sie die Tasche, nahm ein Heft heraus und begann zu lesen. Offenbar war es die Anleitung, wie man die Babynahrung zubereiten sollte.

Hannahs Blick streifte seinen, als sie zum Bett ging. Einen Moment lang schien sie zu überlegen, dann legte sie Isabella vorsichtig auf der Matratze ab.

Das Baby begann umgehend zu weinen.

„Oh, Liebes.“ Hannah nahm sie sofort wieder auf den Arm.

Isabelle hörte auf zu weinen und klammerte sich an Hannah, als ob ihr Leben davon abhinge.

Hannah sah Joe an. „Ich weiß, ich habe versprochen, dich nicht darum zu bitten …“

Oh-oh.

„… aber laut dieses Ernährungsplans soll Isabella um vier Uhr die nächste Flasche Babynahrung bekommen. Ich muss dieses Sojamilchpulver anrühren und nachsehen, ob ihre Windel nass ist. Und weil all das hier so neu für sie ist …“

Es war ihr sichtlich unangenehm, um Hilfe zu bitten, daher kam Joe ihr entgegen. „Willst du, dass ich sie halte?“, fragte er. Es klang zwanglos, so als sei es überhaupt keine große Sache für ihn. Aber irgendwie war es eine große Sache.

Hannah nickte, und es sah aus, als würde sie erneut von ihren Gefühlen überwältigt. „Würdest du bitte, ja? Nur für einen Moment?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Er streckte die Arme aus.

Isabella glitt in seine Umarmung. Ein misstrauischer Ausdruck trat in ihre Augen. Hannah entfernte sich langsam, und das Baby starrte ihn unverwandt an.

Entgegen seiner Erwartung fühlte Joe eine Welle der Zuneigung in sich aufsteigen. Er reichte dem Baby den kleinen Finger. Eine Minute verstrich. Isabella machte einen Schmollmund – dann streckte sie die Hand aus und schloss ihre winzige Faust um Joes Finger.

Überrascht sah er sie an. In ihren Augen las er eine tiefe Vorsicht, Skepsis und so etwas wie Zynismus. Keine typischen Eigenschaften für ein Baby. In der Hoffnung, sie würde seine Miene erwidern, zeigte er ihr ein breites, fröhliches Lächeln.

Nichts. Nicht einmal ein Zucken um die winzigen Mundwinkel.

„Ich glaube, sie mag mich nicht so sehr wie dich“, bemerkte er und tat so, als sei sein Stolz schwer getroffen.

Als Antwort hob Hannah bloß die Braue. Zum Glück fasste sie die Bemerkung so auf, wie sie gemeint war – als Versuch, die angespannte Stille aufzulockern.

„Sie ist wahrscheinlich keine Männer gewöhnt“, gab Hannah zu bedenken, während sie das Fläschchen vorbereitete. „Im Waisenhaus haben bestimmt nur Frauen gearbeitet.“ Sie erhitzte Wasser in dem kleinen Kocher, gab es in die Flasche und schüttelte sie, bis sich das Pulver aufgelöst hatte.

„Vermutlich.“ Joe neigte den Kopf und führte Isabellas kleine Hand an seine Wange, die mit einem dunklen Schatten versehen war. „Das kennst du nicht, was? Du denkst bestimmt, ich hätte mich für unser erstes Treffen rasieren können.“

Hannah lachte. „Wieso? Ich glaube, es gefällt ihr.“ Nachdenklich betrachtete sie die beiden. „Du siehst ein bisschen aus wie ein Pirat.“

„Wie bitte? Hast du das gehört, Isabella?“, tat Joe empört. „Ich glaube, ich wurde gerade beleidigt.“ Seine übertriebene Mimik fesselte das Baby so sehr, dass es all seine Angst vergessen zu haben schien.

Hannah stieg in das Spiel ein. „Wurdest du nicht! Piraten sind sexy.“

Der Blick des Babys ging voll Faszination zwischen Hannah und Joe hin und her.

„Vielleicht die Schauspieler in Fluch der Karibik“, räumte Joe ein. Er zwinkerte Isabella zu.

„Genau. Orlando Bloom war umwerfend“, bestätigte Hannah und schüttelte heftig das Fläschchen. Ihre Wangen waren gerötet. „Ich muss zugeben, ich war ein bisschen verknallt in ihn.“

Das war es: ein Spiel, dachte Joe. Für eine Sekunde hatte er geglaubt, Hannah würde mit ihm flirten. Er wusste nicht, ob er enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Ein Flirt würde sie beide nicht weiterbringen. Am Ende gingen sie ja doch getrennte Wege.

Hannah wollte sich niederlassen, er wollte durch die Welt ziehen. Reisen machte alles einfacher. Joe gelang es immer nur für eine begrenzte Zeit, sich einzufügen und Freundschaften zu schließen. Dann zog es ihn weiter, und er sah nicht zurück.

Inzwischen war er ein Meister darin.

„Du liebe Zeit.“ Hannah hatte einige Tropfen der Babynahrung auf ihrem Handgelenk verteilt, um die Temperatur zu überprüfen. „Das ist viel zu heiß. Ich muss die Flasche unter kaltes Wasser halten.“

Doch zu spät: Isabella hatte die Flasche bereits gesehen. Sie begann sich auf Joes Armen zu rühren, streckte die Arme aus und begann schließlich zu weinen, als sie keinen Erfolg hatte.

Hannah redete beruhigend auf sie ein, bis sie die Flasche endlich heruntergekühlt hatte.

Es dauerte keine zwei Minuten, bis Isabella sie geleert hatte. Mit großen flehenden Augen blickte sie zu Hannah auf.

„Sollen wir ihr noch eine machen?“, fragte Hannah irritiert.

Das fragte sie ihn? Was wusste er schon über Babys? „Warum nicht?“, entgegnete er. Unverfänglicher konnte man schließlich nicht antworten.

3. KAPITEL

Seltsam, dachte Hannah. Monatelang hatte sie sich auf diesen Moment vorbereitet. Hatte sich die erste Begegnung ausgemalt, hatte sich vorgestellt, wie sie Isabella halten, füttern und wickeln würde.

Und jetzt war sie völlig durcheinander.

Natürlich war die Realität mächtiger und überwältigender als jede Vorstellung. Aber wenn sie völlig ehrlich zu sich selbst war, lag es auch an Joe, der ihre Gedanken ablenkte.

Vom ersten Augenblick an hatte sie ihn gemocht. Sie war sich seiner Präsenz überdeutlich bewusst, seiner Blicke, seiner Worte. Das lag nicht nur an seinem Äußeren, welches – zugegeben – äußerst anziehend war. Vielmehr lag es an seiner Art, mit Menschen in jeglicher Situation umzugehen. Diese Erfahrenheit, diese Weltgewandtheit, die er sich wohl durch all seine langen Reisen angeeignet hatte, waren extrem attraktiv.

Er schien instinktiv zu spüren, wann er eingreifen und wann er sich besser zurückhalten sollte. Und Isabella hatte er so unerwartet sanft und liebevoll auf den Arm genommen, dass der Anblick beinahe wehtat.

Joe hätte einen großartigen Vater abgegeben.

In nur wenigen Sekunden hatte er das Baby völlig in seinen Bann gezogen, und sie machte den Eindruck, als würde sie sich in seinen starken Armen ganz sicher und geborgen fühlen.

Wenn er doch bloß Interesse am Familienleben gehabt hätte … aber das hatte er nicht.

Das musste Hannah sich vor Augen halten. Und sie musste aufhören, um seine Unterstützung zu bitten.

„Soll ich sie tragen, während du die zweite Flasche vorbereitest?“, fragte Joe.

Jetzt oder nie. Hannah hatte jedem erzählt, wie gut sie als Single-Mutter zurechtkommen würde. Jetzt war der Moment gekommen, dies zu beweisen.

Sie holte tief Atem. „Ich glaube, wir schaffen das schon“, erklärte sie und zeigte ein selbstbewusstes Lächeln – auch wenn sie sich nicht gerade selbstbewusst fühlte.

„Wenn du etwas unternehmen möchtest, dir etwas ansehen, Essen gehen … ist das schon in Ordnung. Wir schaffen das.“

Zunächst war Joe nichts anzumerken. Doch dann war es, als glitte ein Schatten über sein Gesicht. Sein Blick verschleierte sich. Plötzlich war er wieder der Joe, den sie angeheuert hatte. Der Joe, der im Flugzeug drei Reihen entfernt gesessen hatte. Ein Mann, der sie nach Taiwan begleitete, weil es die Formalitäten verlangten – und nichts weiter.

„Gute Idee.“ Er lächelte – sein gewohntes, attraktives Lächeln. „Ihr wollt bestimmt ein bisschen Zeit für euch haben.“

Hannah versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, als er nach der Schlüsselkarte griff. Immerhin war es ihr eigener Vorschlag gewesen, dass er ausging.

„Wartet nicht auf mich“, erklärte er. Dann ließ er sie allein.

Bereits eine Stunde später begann Hannah zu bereuen, dass sie Joe ins Nachtleben von Taipei entlassen hatte.

Der Vorrat an Babynahrung war nicht groß genug, und wie sich sehr schnell herausstellte, mochte Isabella die amerikanische Version davon nicht, die Hannah vorsichtshalber mitgebracht hatte.

Zum Glück hatten ihre Zimmernachbarn dasselbe Problem. Der engagierte Adoptivvater verließ das Hotel, kehrte kurz darauf mit Babynahrung zurück und versorgte damit sowohl seine eigene Familie als auch Hannah, die die Päckchen mit Sojamilchpulver dankend entgegennahm.

Doch damit nahmen die Probleme kein Ende. Sobald Hannah das Baby niederlegen wollte, begann es bitterlich zu weinen. Das Windel-Wechseln wurde zur wahren Herausforderung, und an Schlaf war überhaupt nicht zu denken.

Als Joe gegen elf Uhr am Abend leise in das Hotelzimmer zurückkehrte, saß Hannah noch immer aufrecht in ihrem Sessel – mit einer hellwachen Isabelle im Arm.

Hannah war sich wohl bewusst, dass ihr Kleid vom missglückten Windel-Wechseln einige Flecken bekommen hatte. Das schlechte Gewissen begann an ihr zu nagen. Eine echte Mutter hätte wohl gewusst, wie man mit der Situation umging.

Joe dagegen war so nett, die Flecken zu übersehen und so zu tun, als handele es sich um einen ganz gewöhnlichen Anblick an einem ganz gewöhnlichen Abend. „Na, ihr seid noch wach?“, fragte er leichthin und schlüpfte aus den Schuhen. Leise trat er an den Sessel, ging in die Knie und betrachtete Isabellas Gesicht. Sein Blick fiel auf ihren Kopf.

Er hob die Braue, streckte die Hand aus und berührte vorsichtig ihr Haar, das wie ein öliger Helm um ihren Kopf lag. „Wolltest du ihr eine neue Frisur machen?“

Hannah seufzte. „Ich habe irgendwo gelesen, dass man die Kopfhaut mit Babyöl einreiben soll. Ich habe es vielleicht ein bisschen übertrieben.“ Sie versuchte, Isabellas Gewicht zu verlagern, da ihr Arm inzwischen drohte einzuschlafen. „Ich sollte sie baden, aber ich habe Angst, dass sie anfängt zu schreien, sobald ich sie loslasse.“

Joe nickte. Einmal. Dann sagte er entschlossen: „Na schön. Zu zweit werden wir das Kind ja wohl schaukeln.“

Hannahs Augen weiteten sich. „Ich hatte dir versprochen, dass du dich um nichts kümmern musst …“

Mit einer lässigen Handbewegung räumte Joe ihren Einwand beiseite. „Es ist doch so: Solange die kleine Lady hier nicht einschläft, tust du es auch nicht. Was bedeutet, dass ich auch nicht schlafen kann. Aber ich schlafe gerne. Also – los geht’s.“

Hannahs Erleichterung war größer, als sie sich eingestehen wollte. Während Joe das Baby auf den Armen wiegte, bereitete sie das Bad vor. Sie füllte das breite Waschbecken mit warmem Wasser und gab sanftes Shampoo hinein, das nach Lavendel duftete.

Dann kam der Moment, vor dem sie sich am meisten gefürchtet hatte: Isabella sollte ins Waschbecken gesetzt werden. Sobald ihre Zehen das Wasser berührten, begann sie zu zappeln.

Joe hielt sie fest. Selbst das gelbe Gummi-Entchen, das Hannah aus der Badetasche hervorzauberte, konnte Isabella nicht ablenken. Sie strampelte mit den Beinchen und versuchte zu entkommen.

Da begann Joe auf Chinesisch zu reden.

Isabella wurde ganz still.

Er griff nach dem Entchen und ließ es vor ihren Augen tanzen. „Huaji Entchen. Entchen xihuan, Isabella Zhu Ming …“ Daraufhin imitierte er das Schnattern einer Ente. Das brachte Hannah zum Lächeln, doch Isabella betrachtete ihn mit einem würdevollen Ernst.

Gefesselt von Joes Worten und seinem Spiel mit dem Entchen, ließ sie sich anstandslos von Hannah die Haare waschen.

Hannah und Joe sahen sich an. Sie teilten das Erfolgserlebnis des ersten Baby-Badens, das – dank Joe – zu einer relativ stressfreien Angelegenheit wurde.

Später, als Isabella in ein flauschiges, pinkfarbenes Handtuch gehüllt war, wiegte Hannah sie an ihrer Brust und atmete tief in den süßen, sauberen Baby-Duft. Ihr Herz war angefüllt mit einer Zärtlichkeit und Liebe, die sie zuvor noch nie empfunden hatte. Und sie hätte schwören können, dass auch Joe es fühlen konnte …

Joe hatte gehört, dass es Tage, Wochen, mitunter sogar Monate dauern konnte, bis sich eine Beziehung zwischen Baby und Adoptivmutter aufbauen konnte.

Doch hier sah es ganz so aus, als hätten die beiden einander gefunden – es war Liebe auf den ersten Blick.

„Was denkst du?“, fragte Hannah, während sie sich im Sessel niederließ. „Du schaust so wehmütig.“

„Tue ich das?“ Joe hob die Schultern. Er versuchte zu überspielen, wie ergriffen er von der Situation war.

Zum ersten Mal in seinem Leben stellte er die Entscheidung, keine Familie zu gründen, infrage. Er war sich stets sicher gewesen, dass es besser war, allein zu bleiben. Keine Verpflichtungen, keine Enttäuschungen.

Aber die kleine Isabella Zhu Ming in den Armen zu halten, war ein überwältigendes Gefühl.

Brachte er sich selbst um diese großartige Erfahrung, wenn er kein Vater sein wollte? Oder wählte er den cleveren Weg, indem er sich die Freiheit nahm, die gesamte Welt zu erkunden?

Von einer plötzlichen Unruhe ergriffen, durchmaß er das Zimmer mit großen Schritten. Er ordnete seine Kleidung, räumte den Koffer auf und griff schließlich nach der Schokolade, die das Hotelpersonal auf das Kopfkissen gelegt hatte.

„Ja, das tust du.“ Hannah schenkte Isabella ein strahlendes Lächeln und streichelte ihr über das Haar.

„Ich habe bloß an all die Orte gedacht, die ich gerne noch sehen – und über die ich gerne noch schreiben würde“, flunkerte er.

Hannah verlagerte das Gewicht des Babys. „Wie viele Bücher hast du schon geschrieben?“

„Zehn.“ Da bemerkte Joe die kleine Kamera, die Hannah mitgebracht hatte. Er wusste, dass sie sich später darüber freuen würde, also machte er einige Fotos von ihr und Isabella, die ihm aufmerksam dabei zusah.

„Und wie viele sollen es noch werden?“

Er hob die Schultern. „Fünfzig, wenn es gut läuft. Und außerdem aktualisierte Versionen der Bücher, die ich bereits herausgebracht habe.“

„Heißt das, dass du all diese Orte noch einmal besuchen wirst?“

„Einige, ja. Die Welt verändert sich so schnell, und manche Hotels haben inzwischen schon wieder geschlossen.“

„Das muss sehr aufregend sein“, bemerkte Hannah.

Und einsam, fügte er in Gedanken hinzu. Vor allem in Nächten wie diesen, wenn er sich in einer faszinierenden Stadt befand, aber niemanden hatte, mit dem er seine Erlebnisse teilen konnte.

„In deinem vorherigen Job bist du doch auch viel gereist, oder?“, fragte er zurück.

Hannah legte das Baby an ihre Schulter. „Jede Woche bin ich zu einem anderen Kunden gefahren, um das Marketing-Konzept seiner Firma zu besprechen und es zu verändern oder sogar komplett neu zu gestalten.“

„Hast du das gerne gemacht?“

Sie strich über Isabellas Rücken. „Ich mochte die Herausforderung. Ich mochte das Gefühl, etwas zu verbessern.“ Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. „Aber ich hasste es irgendwann, aus dem Koffer zu leben. Immer spät ins Bett gehen und früh wieder aufstehen, irgendwelche Mietwagen in irgendwelchen unbekannten Städten fahren …“

Joe grinste. „Das Reisen war nicht gerade dein Lieblingsaspekt an deinem Job.“

„Vielleicht.“ Sie dachte einen Augenblick nach. „Obwohl … es hätte vielleicht anders ausgesehen, wenn ich in Fünf-Sterne-Hotels gewohnt und einen Fahrer gehabt hätte.“ Vorsichtig wandte sie den Kopf und blickte in Isabellas Gesicht. „Ich glaube, sie ist jetzt eingeschlafen.“

Behutsam stand sie auf und legte das schlafende Baby in das Kinderbettchen. Joe wollte ihr das leere Fläschchen abnehmen. In diesem Augenblick drehte sich Hannah herum.

Sie stieß gegen seine Brust. Ihr Blick flog auf und blieb an seinem haften.

Es erforderte seine sämtliche Willenskraft, sie nicht in die Arme zu schließen. Nicht ihren Mund mit seinen Lippen zu verschließen.

Aber das wäre nicht richtig. Er würde die Situation ausnutzen, ihre Verletzlichkeit, und später würde sie es vielleicht bereuen.

Alles in ihm strebte danach, sie zu berühren, doch Joe schob sein Verlangen gewaltsam beiseite. Er räusperte sich und machte einen Schritt rückwärts.

Er wünschte, die Situation wäre eine andere. Er wünschte, er wäre ein anderer. Jemand, der sich auf Menschen einlassen konnte. Auf eine Familie.

Dann würde er es wagen. Er würde der offensichtlichen Anziehungskraft zwischen ihnen nachgeben und sehen, wo sie das hinführte. Aber er war nicht bereit, sesshaft zu werden. Und sie war nicht der Typ Frau, der sich auf eine flüchtige Affäre einließ.

Es war für beide das Beste, wenn sie Freunde blieben. Nichts weiter.

„Wir sollten auch versuchen zu schlafen“, bemerkte er betont locker.

Der verträumte Ausdruck in ihren Augen verging. „Richtig. Wer weiß, wann sie wieder aufwacht.“

Joe ging zum Schreibtisch und warf einen Blick auf das Display seines BlackBerry. Das Telefon zeigte einen entgangenen Anruf an. Und eine Nachricht.

Er seufzte. „Ich muss telefonieren. Ich werde dafür in die Lobby gehen.“

„Du kannst auch hier telefonieren“, bot sie an.

Nicht, dass Joe dem Gespräch freudig entgegensah. Und es war auch nichts, was er mit jemandem teilen wollte. „Ich will Isabella nicht wecken“, wich er aus. „Das könnte eine Weile dauern. Du brauchst nicht auf mich zu warten.“

Zum Glück hatte keiner der drei geahnt, welche Schwierigkeiten am nächsten Morgen auf sie zukamen – sonst wäre die Nacht noch viel unruhiger verlaufen.

Gegen drei Uhr waren sie von Isabellas Schrei geweckt worden, der so herzzerreißend klang, dass Hannah erschrocken aus dem Bett sprang.

Ihr kleines Mädchen hatte offensichtlich einen Alptraum, und es dauerte einige Minuten, bis sie zu sich kam. Womöglich kamen die Schrecken der Vergangenheit wieder hoch. Wer konnte schon wissen, ob sie sich daran erinnerte, wie sie von ihrer Familie verlassen worden war?

Sie starrte Hannah an, als hätte sie sie noch nie zuvor gesehen, und begann dann leise zu wimmern.

Erst als Joe sich ihr zuwandte und mit leiser, tiefer Stimme auf Chinesisch zu ihr sprach, beruhigte sie sich und fiel wenig später in den Schlaf, sodass auch Hannah und Joe noch etwas ruhen konnten.

Zumindest waren sie ausgeschlafen, als ihnen am folgenden Morgen die Hiobsbotschaft überbracht wurde: Der Übersetzer, der Hannah zum Gerichtshof begleiten sollte, war plötzlich krank geworden.

Hannah und zwei weitere englischsprachige Familien mussten demnach mit erheblichen Verzögerungen rechnen.

Hannah war am Boden zerstört. Eine internationale Adoption war eine schwierige, zerbrechliche Angelegenheit, und die kleinste Panne konnte den Prozess aufhalten. Es konnte dazu führen, dass Hannah weitere Tausende Dollar ausgeben musste oder dass sie wochenlang in Taipei festsaß. Im schlimmsten Fall würden die Behörden Isabella Zhu Ming sogar zurück ins Waisenhaus schicken.

Joe wusste all das.

Und dieses Wissen mochte der Grund sein, warum er sich spontan als Übersetzer zur Verfügung stellte. Daraufhin betrachtete Hannah ihn mit einem ganz neuen Blick. So, als hätte er ihre Welt vor dem Untergang gerettet.

Joe begann zu ahnen, dass er hier in etwas verwickelt wurde, das er womöglich nicht mehr aufhalten konnte. Doch es war ihm unmöglich, Hannah jetzt im Stich zu lassen – nachdem sie schon so weit gekommen waren.

Die Befragung vor Gericht stellte sich als unerwartet persönlich heraus. Joe fand sich in der unangenehmen Lage wieder, Hannah Fragen stellen zu müssen, die er ihr persönlich nicht gestellt hätte.

Nichtsdestoweniger interessierten ihn die Antworten genauso sehr wie das Gericht. Wenn nicht sogar noch mehr.

Bei der Frage: „Haben Sie vor, eines Tages zu heiraten?“, beobachtete er Hannahs Gesichtsausdruck sehr genau.

Wie bei allen anderen persönlichen Fragen blieb sie tapfer. „Nur, wenn der Mann mein Kind ebenso sehr liebt, wie ich es tue.“

Damit schien sie genau die richtigen Worte gefunden zu haben. Der Richter wirkte zufrieden. Doch dann kam die Frage auf: „Werden Sie alleine für das Kind sorgen?“

Hannah straffte sich. „Ja. Ich arbeite in einem Familienbetrieb, daher kann ich Isabella zur Arbeit mitnehmen.“

Joe übersetzte auch diese Antwort. Insgeheim fragte er sich allerdings, was Gus wohl dazu sagen würde.

Nach der Befragung folgte banges Warten. Schließlich wurde die Zustimmung des Gerichts bekannt gegeben.

In dem Wissen, noch weitere Hürden vor sich zu haben, hielten sich Joe und Hannah mit ihren Emotionen vorerst zurück. Der nächste Gang führte sie ins Krankenhaus, wo Isabella sorgfältig untersucht wurde.

Auch hier bekamen sie grünes Licht für das weitere Adoptionsverfahren.

Zuletzt fuhren sie in das amerikanische Konsulat. Auch hier gab es eine ausführliche Befragung, dieses Mal glücklicherweise auf Englisch. Hannah hielt sich wacker. Offenbar machte sie einen vertrauenerweckenden Eindruck auf die Sachbearbeiterin. Endlich wurde die Adoption anerkannt, und Isabella Zhu Ming Callahan wurde ein Visum ausgestellt.

Als die drei das Gebäude verließen, war schwer zu erkennen, wessen Lächeln größer war – das von Hannah oder das von Joe.

„Ach herrjeh.“ Hannah sah ihn mit großen Augen an. „Mir ist gerade aufgefallen, dass du den ganzen Tag noch gar nichts gegessen hast.“

„Du doch auch nicht.“ Joe grinste. „Nur Isabella ist auf ihre Kosten gekommen. Sie hat schon sechs Fläschchen vertilgt.“

Hannah schüttelte den Kopf. „Ich fühle mich wirklich schlecht dir gegenüber. Du hast dir so viel Mühe gegeben, und zum Dank lasse ich dich verhungern.“

Joe winkte ab. „Du kannst es wiedergutmachen. Lass uns gemeinsam zu Abend essen. Ich kenne ein Restaurant in der Stadt, in dem es hervorragendes Essen gibt, ohne dass wir uns dafür schick machen müssten.“

„Das ist gut.“ Hannah strich sich eine Strähne aus der Stirn. „Ich fühle mich nämlich nicht wirklich salonfähig.“

4. KAPITEL

In diesem Augenblick wurde Hannah bewusst, dass sie gerade einem Date zugestimmt hatte.

Zumindest etwas, das einem Date ziemlich nahekam. Einem Date mit Baby.

Ihre Aufregung wuchs, als sie gemeinsam ins Taxi stiegen. Joe gab dem Fahrer Anweisungen auf Chinesisch, kurz darauf hielten sie vor dem Restaurant.

Hannah brachte Isabella zunächst in den Waschraum, um ihre Windel zu wechseln und sich zumindest das Haar zu bürsten, bevor sie sich zum Essen setzte. Als sie an den Tisch kam, war Joe am Telefonieren.

Er wirkte … gestresst.

„Du solltest dich beruhigen.“ Er sandte Hannah einen entschuldigenden Blick.

Sie lächelte und versuchte ihm mit Gesten zu zeigen, dass er sich Zeit lassen sollte.

Ihre Neugier war allerdings geweckt. Schon am vergangenen Abend hatte sie sich gefragt, mit wem Joe telefoniert hatte. Natürlich ging sie das überhaupt nichts an. Trotzdem kam sie nicht umhin, sich zu fragen, ob es eine Frau war.

Während der vergangenen vier Monate in Summit hatte ihn niemand in weiblicher Begleitung gesehen. Doch das hieß ja nicht, dass nicht irgendwo auf der Welt eine Freundin auf ihn wartete.

Doch selbst wenn es eine gab – es war zumindest nicht die Frau am Telefon, wie Hannah gleich darauf feststellte.

„In diesem Alter machen Mädels doch ständig mit ihren Freunden Schluss“, erklärte Joe. „Wenn Valerie ihm den Laufpass gegeben hat, wird sie wohl einen guten Grund dafür gehabt haben. Ja, das mache ich. Aber ich glaube nicht, dass sie mich anruft. Bis dann, Tante Camille.“

Er beendete das Gespräch mit einem finsteren Gesichtsausdruck, dann wandte er sich an Hannah. „Tut mir leid. Ich hatte schon zehn Nachrichten von meiner Tante und meinem Onkel bekommen. Ich musste mal zurückrufen.“

Hannah war froh, dass er überhaupt bereit war, mit ihr über seine Familie zu sprechen, denn bisher wusste sie nichts darüber. „Steht ihr euch denn nahe?“

Er zögerte. Seine Miene veränderte sich. „Sie haben die Vormundschaft übernommen, nachdem meine Eltern bei einem Zugunglück im Urlaub in Spanien ums Leben gekommen waren.“

Hannah, deren Mutter erst vor zwei Jahren gestorben war, wusste noch genau, wie weh das getan hatte. Gleich beide Eltern zu verlieren, musste nahezu unerträglich für ihn gewesen sein. „Wie alt warst du da?“

„Neun.“ Er sah Isabella an. Diese streckte auf ihrem Babystühlchen die Arme aus und lehnte sich ihm entgegen. „Ich lebte ein Jahr lang bei meiner Tante, meinem Onkel und ihren drei Kindern, dann ging ich ins Internat.“

Hannah hob Isabella aus ihrem Stuhl, da sie ganz offensichtlich zu Joe wollte. „War das eine Familientradition bei euch? Ins Internat zu gehen, meine ich.“

Joe nahm die Kleine entgegen und legte sie behutsam an seine Schulter, sodass sie die anderen Gäste im Restaurant ansehen konnte. Sie kuschelte die Wange an den weichen Stoff seines Shirts und griff nach seinem Ärmel.

„Ich war der Einzige.“ Er strich über Isabellas Rücken. „Aber es war eine gute Lehre. Ich bin früh selbstständig geworden.“

Selbstständig? Oder unfähig, sich niederzulassen? überlegte Hannah. Der Gedanke machte sie traurig.

„Jedenfalls haben meine Tante und mein Onkel gestern herausgefunden, dass meine Cousine Valery die Sommerkurse sausen lässt und aus ihrem Zimmer auf dem College-Campus auszieht. Offenbar hat sie sich von ihrem Freund getrennt und will nicht länger auf demselben Campus wohnen. Beide besuchen dieselben Kurse in einer privaten Hochschule bei Austin. Sie hat sich abgemeldet und ist einfach abgehauen.“

Hannah hatte in der Zwischenzeit ein Fläschchen vorbereitet. Sie nahm Isabella auf den Schoß, die sofort hungrig zu trinken begann. „Hat deine Tante mit Valery gesprochen?“

„Die beiden waren an ihrem Sommerferienort in Aspen, als sie von der Trennung erfuhren. Sie sind sofort nach Austin gefahren. Valery war bei einer Freundin untergekommen. Erst dort haben sie mitbekommen, dass Valery die Kurse aufgegeben hat. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie sie reagiert haben. Sie können ziemlich … kontrollsüchtig sein. Jedenfalls wollten sie, dass Valery an die Uni zurückgeht. Aber die hat ihre Sachen gepackt, eine hübsche Summe Geld abgehoben und sich aus dem Staub gemacht.“

Joe seufzte. „Meine Tante und mein Onkel waren außer sich. Jetzt glauben sie, dass Valery sich auf den Weg zu mir gemacht hat, weil sie weiß, dass ich für eine Weile in Texas wohne.“

„Bloß bist du nicht in Texas.“

„Nein. Ich habe meiner Familie nicht gesagt, dass ich kurzfristig verreise.“ Er fuhr sich durch das dichte, blonde Haar. „Wenn sie etwas brauchen, schicken sie mir eine Mail. Oder rufen mich an, wenn es so dringend ist wie das hier. Ansonsten höre ich nicht allzu viel von ihnen.“

Isabella machte ein gluckerndes Geräusch. Milchbläschen bildeten sich auf ihren Lippen. Joe griff nach einer Serviette, lehnte sich vor und wischte ihr behutsam den Mund ab.

Diese kleine, liebevolle Geste ließ Hannah lächeln. Er war ein Naturtalent im Umgang mit Kindern. „Stehen Valery und du euch nahe?“, fragte sie mit ehrlichem Interesse.

Wieder einmal schien sich sein Gesichtsausdruck zu verschließen. „Sagen wir mal, wir haben der Familie gegenüber ähnliche Ansichten.“

Ähnliche Ansichten? Was in aller Welt sollte denn das bedeuten? Und was war das für ein Bedauern, das sie in seinen Augen lesen konnte?

„Wie dem auch sei, ich bin sicher, dass es ihr gut geht“, erklärte Joe mit einem finalen Ton – als wolle er damit das Thema beenden. „Sie wird schon wieder auftauchen, wenn sie so weit ist.“

Das gemeinsame Abendessen verging wie im Flug. Joe war ein sehr unterhaltsamer Erzähler und gab Geschichten aus China und Taiwan zum Besten, die Hannah zum Lachen brachten – und zum Staunen. Es musste herrlich gewesen sein, all jene Orte zu besuchen.

Viel zu schnell vergingen die Stunden, und schließlich wurde es Zeit zum Aufbrechen. Morgen würden sie nach Texas zurückfliegen, und Hannah hatte noch nicht einmal ihren Koffer gepackt.

Zurück im Hotelzimmer, war sie sich Joes Nähe mehr denn je bewusst. Ob er sie ebenso gern berühren wollte wie sie ihn? Kämpfte auch er gegen diese unglaubliche Anziehungskraft, die nach dem Abenteuer mit Isabella nur noch intensiver geworden war?

Hannah zwang ihren Blick weg von Joe. Sie sah Isabella an, die noch immer ein ernstes, aufmerksames Gesicht machte.

„Ob sie jemals lächeln wird?“, wollte Hannah wissen.

„Selbstverständlich. Sobald sie merkt, dass sie wirklich bei dir bleiben darf. Und dass das hier nicht bloß ein schöner Traum ist.“

Hannah lächelte gedankenvoll. „Morgen sind wir schon wieder in Texas.“ Zurück in der Realität.

„Ich hätte gedacht, dass du dich mehr darüber freust.“

„Es ist nur … Ich mache mir Sorgen um Dad“, gab Hannah zu. Zum ersten Mal empfand sie Angst vor der Veränderung. Angst vor dem Alltag, den sie von nun an alleine bestreiten musste – wenn ihr Vater das Baby ablehnte.

Joe trat neben sie. Er reichte Isabella die Hand, und sie ergriff umgehend seinen Zeigefinger. „Gus wird Isabella lieben, sobald er sie sieht“, stellte er fest.

Hannah sah ihn skeptisch an.

„Wie könnte er auch nicht?“, fragte Joe lächelnd.

Ja, wie könnte er …

Es tat Hannah gut, Joe an ihrer Seite zu wissen, als sie den Laden betrat.

Eine dreißigstündige Reise lag hinter ihnen, und sie sah sich auf einmal nicht mehr in der Lage, ihrem Vater allein entgegenzutreten.

Gus arbeitete selbst sonntags im Geschäft, überprüfte die Ware, ordnete das Lager und kümmerte sich um die Buchhaltung. Und an Wochentagen verbrachte er bis zu dreizehn Stunden im Laden, vom frühen Morgen bis in den Abend.

Kaum verwunderlich, dass er einen Herzanfall erlitten hatte. Wenn er nicht bald einsah, dass es an der Zeit war, kürzerzutreten, befürchtete Hannah einen weiteren Anfall.

Mit klopfendem Herzen schritt sie durch den Verkaufsraum, Isabella fest an die Brust gedrückt, Joe dicht hinter sich. Gus befand sich im hinteren Teil des Geschäfts. Sie fanden ihn im Lagerraum, hoch oben auf einer Metallleiter stehend, wo er gerade eingerollte Decken in ein Fach sortierte.

„Dad?“

Er wandte den Kopf. Sein Gesichtsausdruck war weniger freudig als vielmehr argwöhnisch.

Hannahs Mut sank. Trotzdem wollte sie das hier richtig angehen. Isabella hatte viel durchgemacht und verdiente mehr von dem einzigen Großvater, den sie je haben würde.

Hannah bemühte sich um einen freundlichen Tonfall. „Warum kommst du nicht herunter und begrüßt deine neue Enkelin?“

Gus nahm eine weitere Decke aus dem Eimer, den er mit einem Haken an der Leiter befestigt hatte. „Ich kann jetzt nicht. Bin beschäftigt.“

Als ob das nicht warten könnte, dachte sie mit aufwallendem Zorn.

Joe hob die Braue, hielt sich aber zurück.

Isabella bewegte sich im Schlaf. Sie öffnete die süßen, rosigen Lippen und gähnte herzzerreißend.

Das entging Gus. Ihm entging alles.

Hannahs Temperament begann zu brodeln. Verdammt noch mal, dachte sie, dies war der wichtigste Tag in ihrem Leben, und ihr Vater würde ihn ruinieren, wenn er sich weiterhin wie ein sturer, alter Bock aufführte!

Behutsam legte sie das Baby in Joes Arme. Dann stapfte sie los, schnappte sich die zweite Leiter und führte sie auf der Metallschiene nahe an Gus’ Leiter heran.

Gus beobachtete sie. Mit jedem Schritt, den sie die Leiter erklomm, wurde seine Miene finsterer. „Hannah, ich habe jetzt keine Zeit zum Streiten. Und ich habe noch viel zu erledigen.“

Zu spät ging ihr auf, dass dies der entscheidende Augenblick war: das Kräftemessen, dem sie sich bereits vor ihrer Abreise hätte stellen müssen. Anstatt abzuwarten und zu hoffen, dass sich ihr Vater von allein erweichen ließe.

Sie hielt inne, sobald sie auf der Leiter mit ihm auf Augenhöhe war. „So. Nur dieses eine Mal, Dad, wirst du mir zuhören.“

Gus warf einen Blick zurück. Auf Joe, der gut fünf Meter entfernt auf dem Erdboden stand, die schlafende Isabella im Arm. Sein Tonfall wurde streng. „Wir können später darüber sprechen, junge Dame! Unter vier Augen.“

Noch nie im Leben hatten sie sich gegen ihren Vater zur Wehr gesetzt. Bis jetzt. „Wir werden jetzt darüber sprechen“, erwiderte sie ebenso entschlossen.

Er blinzelte. „Was ist denn in dich gefahren?“, fragte er, ganz offensichtlich fassungslos.

Heiße Tränen stiegen in Hannahs Augen. „Ich sag dir, was in mich gefahren ist. Dasselbe, das immer in Mom gefahren ist, wenn du so ungerecht zu mir warst.“

Mit dem entscheidenden Unterschied, dass ihre Mutter nicht mehr da war, um zwischen den beiden zu vermitteln – und um Gus klarzumachen, dass es gar nicht so abwegig war, was Hannah sich von ihm wünschte.

Wenn sie wollte, dass er sie unterstützte, musste sie das nun selber einfordern. Auch wenn er sich so abweisend und kalt gab wie jetzt!

Sie seufzte schwer und umfasste die oberste Sprosse der Leiter fester. „Ich liebe dich, Dad. Mehr, als du ahnst. Aber ich werde es nicht zulassen – nicht zulassen, hörst du! –, dass du mein Kind verachtest.“

Gus entglitten buchstäblich die Gesichtszüge. „Du glaubst, das tue ich?“

„Ich weiß es doch nicht!“ Hannah hielt inne, als sie sah, wie Gus’ Hand in die Tasche seines Shirts glitt – um sich dann plötzlich verzweifelt an die Brust zu fassen, als ob er Schmerzen hätte. „Dad!“, rief sie.

Doch zu spät. Er hatte bereits den Halt verloren und rutschte zur Seite. Mit rudernden Armbewegungen fiel er von der Leiter.

Hannah konnte nichts tun außer zusehen, wie er fiel und in der Auslage mit Jeans und Flanellhemden landete.

Erst im Nachhinein wurde ihr bewusst, dass es ihr eigener Schrei war, der durch den Laden hallte.

Die folgende halbe Stunde verschwamm in Hannahs Wahrnehmung zu einer verwaschenen Kette von Ereignissen, begleitet von viel lautem Fluchen – von Gus – und von unzähligen Entschuldigungen – von ihr.

Gedämpft wurde beides von Joes ruhigen Worten, der Ordnung in das Chaos zu bringen versuchte und den Notarzt anrief.

Da Hannah nicht im Krankenwagen mitfahren durfte, kletterte sie neben Joe in den Geländewagen. „Das ist alles meine Schuld“, jammerte sie. „Ich hätte nicht mit ihm streiten dürfen.“

Joe wiederholte, was Gus selbst bereits drei Mal versichert hatte: „Es war ein Unfall, Hannah. Unfälle passieren nun einmal. Und wenn du mich fragst, hätte dein Vater gar nicht erst auf dieser Leiter stehen dürfen. Diese Arbeit müsste ein weitaus jüngerer Mensch übernehmen.“

„Leichter gesagt als getan“, erwiderte Hannah. Mit zitternden Fingern schloss sie ihren Sicherheitsgurt. „Hier in Summit finden wir für solche Jobs höchstens Schüler.“

„Dann stellt ihr eben Schüler an“, sagte Joe leichthin.

Hannah verzog das Gesicht. „Dad traut keinen Schülern. Er glaubt, sie könnten die Aufgaben nicht so gut erledigen wie er selbst.“

„Nun, vielleicht ist es jetzt an der Zeit, dass er seine Meinung ändert.“

Richtig. Es war höchste Zeit. Zeit, dass sich im Leben ihres Vaters etwas grundlegend änderte. Und dass er wieder einmal lebte, anstatt nur zu arbeiten.

Denn leben würde er – und das hoffentlich noch sehr lange.

Hannah versuchte die Tränen zurückzuhalten. Sie vergrub das Gesicht in Isabellas Haaren, die wundersamerweise den gesamten Tumult verschlafen hatte.

Erst im Krankenhaus erinnerte sie sich daran, dass Joe ja auch noch ein eigenes Leben hatte, zu dem er zurückkehren würde.

„Du musst nicht bleiben“, sagte sie tapfer. „Wenn du lieber …“

Joe legte den Finger auf ihre Lippen. „Schsch. Es gibt keinen Ort, an dem ich gerade lieber wäre.“

Und damit war es entschieden.

Joe wartete mit Isabella in der Cafeteria des Krankenhauses, während Hannah ihren Vater zu den Untersuchungen begleitete. Bald darauf stand fest: Gus’ Arm war gebrochen und die Schulter ausgerenkt, doch sein Herz schien völlig normal zu arbeiten. Die Kleider hatten seinen Sturz zum Glück abgedämpft und Schlimmeres verhindert.

Hannah überlegte, ob sie ihrem Vater um den Hals fallen – oder ihn ihm umdrehen sollte. Inzwischen war er mit Schmerzmitteln versorgt und hatte immerhin aufgehört zu fluchen, dafür wirkte sein Gesicht grau und erschöpft.

„Morgen früh um halb acht wirst du operiert“, wiederholte Hannah die Worte des Arztes. „Ich werde versuchen, um sieben hier zu sein. Wenn du irgendetwas brauchst, ruf mich an. Gute Nacht, Dad.“

Sie hauchte einen Kuss auf seine Wange und ließ ihn zurück, den Kopf auf das Kissen gebettet, die Lider bereits halb geschlossen.

Wenig später wurde sie von Joe nach Hause gefahren. Er half ihr, den Koffer ins Haus zu tragen und Isabellas Kinderbettchen an den richtigen Platz zu rücken, das sie schon vor ihrer Reise nach Taiwan gekauft hatte.

Hannah betrachtete sein Gesicht. Der Hauch eines Dreitagebarts lag um sein Kinn, und auch unter seinen Augen hatten sich Schatten eingenistet, die vom fehlenden Schlaf erzählten.

Im Grunde war es erstaunlich, dass sie beide noch nicht im Stehen eingeschlafen waren. „Du solltest nicht mehr fahren“, stellte sie fest. Er würde eine weitere halbe Stunde unterwegs sein, und das auf einer kurvenreichen Bergstraße, die immer schmaler wurde und kurz vor seiner Blockhütte in einen groben Schotterweg überging.

„Es ist ein bisschen weit zum Laufen“, versuchte Joe zu scherzen.

Sie schüttelte den Kopf. „Bleib über Nacht hier. Wir haben ein gemütliches Gästezimmer.“

Einen Augenblick zögerte er. „Bist du sicher?“

„Natürlich.“ Sie hob die Schultern, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Aber das war es nicht. In Wahrheit war es eine große Sache für sie – vor allem, da sie seit gefühlten hundert Jahren niemand mehr zu sich nach Hause eingeladen hatte.

Zumindest nicht, um bei ihr die Nacht zu verbringen.

„Ich schulde dir was“, fügte sie hinzu.

Joes Blick hielt ihren gefangen. „Ich fand die letzten Tage mit dir auch schön.“

Dann tat er das, worauf sie seit Tagen gewartet hatte. Er nahm sie in die Arme und schloss ihren Mund mit seinen Lippen.

Oft im Leben wurde man von dem enttäuscht, auf das man so sehnlich gewartet hatte. Aber nicht hier.

Seine Berührung war wie elektrisierend. Er schmeckte nach Minze, nach Kaffee … und aufregend männlich. Dicht an ihn geschmiegt, fühlte sie seinen starken, warmen Körper, seine Umarmung, von der sie sich zugleich geborgen und verführt fühlte.

Der Kuss war zunächst zart und behutsam, dann wurde er leidenschaftlicher, fordernder, und ihre Gefühle wurden übermächtig.

Er war all das, was sie sich je von einem Mann gewünscht hatte.

Es gab eine Verbindung zwischen ihnen, die sie nie zuvor zu jemand anderem empfunden hatte. Eine Verbindung, die ihre Seele berührte.

Als er sich von ihr löste, war sie so erregt, dass sie kaum atmen konnte.

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen.

Doch Joe verschloss ihre Lippen erneut mit einem Kuss – ganz so, als wolle er sie davon abhalten, das Geschehene in Worte zu fassen. Einen Namen für etwas zu finden, für das es womöglich keinen Namen gab.

Nach diesem zweiten Kuss legte er sanft die Hände auf ihre Schultern und dirigierte sie in Richtung ihres Schlafzimmers. Er sah sie lange an. „Träum süß“, sagte er schließlich. Dann drückte er die Klinke herunter, brachte sie mit einer sanften Geste ins Zimmer – und schloss die Tür hinter ihr.

5. KAPITEL

„Du kannst mir hier doch nicht helfen“, konstatierte Gus am nächsten Morgen. „Mach, dass du in den Laden kommst. Ruthann kann sich nicht um alles kümmern.“ Damit meinte er seine Aushilfskraft und langjährige Freundin seiner verstorbenen Frau.

Hannah hob die Braue. „Bist du sicher, dass ich nicht bleiben soll?“

Eine Krankenschwester kam herein und überprüfte Gus’ Infusionsbeutel. „Gehen Sie ruhig, Hannah. Wir haben hier alles im Griff. Sobald Ihr Vater nach der Operation aufwacht, darf er Sie anrufen.“

Mit gemischten Gefühlen verließ Hannah den Raum. Draußen wartete Joe mit Isabella. „Er will mich in den Laden scheuchen“, bemerkte sie mit einem gequälten Lächeln. „Das war ja zu erwarten.“

Joe sah sie mitfühlend an. Mitfühlend und … sehnsüchtig? Oder entsprang das ihrer Einbildungskraft? Vielleicht wünschte er sich ebenso sehr, sie erneut zu küssen.

Der Gedanke entfachte einen wahren Schmetterlings-Taumel in ihrem Bauch. Sie wollte ihn küssen. Und zwar nächstes Mal ohne Jetlag, ohne die Sorge um die Adoption und ohne die Angst um ihren starrsinnigen Vater. Wenn sie weniger erschöpft und ausgelaugt war.

„Wie war seine Stimmung?“, blieb Joe beim Thema Gus, während sie der Fahrstuhl ins Erdgeschoss brachte.

„Er war griesgrämig wie immer. Eigentlich ist er das seit Moms Tod nur noch.“

„Und wie war er davor?“

Sie verließen das Krankenhaus, überquerten den Parkplatz und traten zu Joes Geländewagen. Wie selbstverständlich glitt Isabella von Joes in Hannahs Arme. Wie selbstverständlich schlug Joe die Richtung zum Laden ein.

Hannahs Herz machte einen Sprung. Doch sie durfte sich nicht in dem Gefühl in Sicherheit wiegen, sie seien eine Familie. Das waren sie nicht.

„Mein Vater war immer ein anspruchsvoller Mensch. Er nimmt alles peinlich genau. Aber er geht mit sich selbst noch viel härter ins Gericht als mit all seinen Mitmenschen. Das macht es vielleicht nicht besser, aber man kann zumindest verstehen, warum er so handelt.“

Joe nickte. „Ist er mit deiner Mutter auch so umgegangen?“

„Nein. Sie war die Einzige, auf die er gehört hat. Zumindest manchmal. Beide konnten ziemlich stur sein, sodass ein Streit am Ende doch zu keiner Lösung führte. Trotzdem sind sie gut miteinander ausgekommen.“

„Und wie bist du mit deinem Dad ausgekommen?“

Hannah hob die Schultern. „Ich habe gelernt, dass man nicht jedes Wort persönlich nehmen darf. Die Menschen haben eben verschiedene Wege, sich auszudrücken. Später hat mir das sogar sehr geholfen. Als Beraterin von Firmenchefs muss man sich alles Mögliche anhören. Vor allem, wenn man ihre vermeintlich wohlbewährten Konzepte infrage stellt. Sie hören es nicht gerne, wenn man mit Verbesserungsvorschlägen daherkommt. Dann werden sie unleidlich. Nichts davon braucht man sich zu Herzen zu nehmen.“

Sie grinste. „Und am Ende haben die immer auf mich gehört.“

Joe warf ihr einen Seitenblick zu. „Du warst gut“, stellte er fest.

„Ich war hartnäckig.“ Und hoffentlich würde sich diese Taktik auch bei ihrem Vater auszahlen.

Im Gegensatz zu diesem überschlug sich Ruthann beinahe vor Freude, als Hannah, Joe und Isabella das Mercantile betraten. „Du liebe Zeit! Das ist das hübscheste Baby, das ich je gesehen habe!“ Ruthanns Augen begannen bei Isabellas Anblick zu leuchten.

Hannah lächelte. Es war genau die Reaktion, die ihre Mutter gezeigt hätte. Wenn Izzie Callahan noch am Leben gewesen wäre.

Izzie und Ruthann waren beste Freundinnen gewesen, seit Hannah denken konnte. Ruthanns Kinder waren inzwischen glücklich verheiratet und lebten an Ost- und Westküste, während Izzie Summit treu geblieben war. Und das, obwohl ihr Mann seit einigen Jahren verstorben war.

In diesem Augenblick hielt ein langer Touristenbus vor dem Laden. Hannah ahnte, dass im Mercantile gleich die Hölle los sein würde.

„Ruthann, wo sind eigentlich Buck und Monte?“, erkundigte sie sich nach ihren Aushilfskräften.

„Buck hat sich bei dem Versuch, ein junges Pferd einzureiten, den Knöchel gebrochen. Und Montes Semesterferien sind seit letzter Woche um, er ist ans College zurückgekehrt. Zur Zeit sind nur Marcy und ich im Laden.“

„Ach herrje.“ Hannah ließ sorgenvoll den Blick schweifen. Im Kühlschrank fehlten Wasser- und Eisteeflaschen, das Regal mit Studentenfutter war nur noch halb gefüllt.

„Wir brauchen dringend noch einen Verkäufer“, stellte Hannah fest.

„Dein Dad sagt, er könne sich keine Vollzeitkraft leisten.“ Ruthann krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch. „Heute müssen wir erst mal alleine zurechtkommen, nehme ich an.“ Da ging die Tür auf, und die Touristenmeute strömte herein.

Hannah blieb kaum Zeit, sich über Ruthanns Worte zu wundern. Sie hatte geglaubt, dass der Laden nur schwarze Zahlen schrieb – warum also keine Vollzeitkraft?

Wie ertragreich die Touristensaison war, bestätigte sich in den kommenden vierzig Minuten. Die Reisenden kauften Rucksäcke, Cowboy-Stiefel, Postkarten und Andenken. Allein jener Bus brachte an diesem Tag zweitausend Dollar in die Kasse.

Im August kauften auch viele Familien im Mercantile ein, die ihren Wanderurlaub in den Bergen vorbereiteten. Das Sortiment bot alles, was man sich für den Outdoor-Bereich wünschen konnte: Studentenfutter, Dörrfleisch, Schlafsäcke, Zelte, Campingkocher sowie Sattelfett und Pferde-Leckerlis.

Während Hannah die Kunden beriet – die schlafende Isabella in einem Tragegurt an ihre Brust geschmiegt –, bedienten Ruthann und Marcy die Kasse. Joe plauderte mit den Touristen und versuchte herauszufinden, welche ihre Lieblingsort in Texas waren.

Ungefragt kam er Hannah zu Hilfe und begann, die Regale aufzufüllen.

Hannah war erleichtert. Doch in dem Augenblick, in dem sie glaubte, einige Minuten durchatmen zu können, bemerkte sie die Katastrophe.

Fassungslos stand sie im Lagerraum und starrte auf den riesigen Stapel Pappkartons. „Ruthann“, rief sie. Rasch zählte sie noch einmal nach. Vor ihr befanden sich fünfzig Kartons voll mit Bohnen. Viel zu viel für das Mercantile.

Dafür fehlten die Boxen mit den Cowboy-Stiefeln. Schon im Verkaufsraum war ihr aufgefallen, dass es nur noch Damenschuhe in Größe 34 gab. Die Kartons mit Größe 38 waren unauffindbar – doch genau diese wurden am meisten verkauft.

„Was ist los?“ Ruthann blieb neben ihr stehen. „Oh, das …“

Hannahs Augen weiteten sich. „Wie konnte das passieren? Dad hat doch ein System, wenn er die Bestellungen aufgibt.“

Ruthann lächelte grimmig. „System ist wohl zu viel gesagt. Er schreibt sich für gewöhnlich nichts auf, sondern hat die Zahlen alle im Kopf. Seit einigen Wochen war er allerdings ein bisschen durcheinander. Und seit du nach Taiwan geflogen warst, hat er sich einige Male vertan. Er wusste nicht mehr, dass er schon einmal Bohnen bestellt hatte.“

Unverzüglich begann das schlechte Gewissen an Hannah zu nagen. Die Adoption hatte ihren Vater noch mehr aufgeregt, als er sich anmerken ließ.

„Unter uns gesagt: Seit seinem Herzanfall ist er auch ein bisschen unsicher geworden“, gab Ruthann zu.

Da auch sie ihren Mann durch einen Herzinfarkt verloren hatte, war sie eine unersätzliche Stütze und Ratgeberin für Hannah und Gus. „Vielleicht ist es an der Zeit, dass er dir mehr Verantwortung übergibt“, bemerkte Ruthann mitfühlend und kehrte an ihren Platz an der Kasse zurück.

Die Stunden vergingen wie im Flug. Jedes Mal, wenn Hannahs und Joes Blicke sich trafen, kam es ihr so vor, als sei er genauso froh darüber, hier zu sein, wie sie. Ob er sie vermissen würde?

Sie wagte gar nicht daran zu denken, wie bald er Summit verlassen wollte.

Als sie am Abend die Eingangstür abschloss und den Kasseninhalt in den Safe brachte, wiegte Joe die kleine Isabella auf den Armen und sprach leise auf Chinesisch zu ihr.

Der Anblick versetzte ihr Herz in wilde Freude.

Isabella hatte zwar das Lächeln noch nicht ausprobiert, aber sie wirkte zufriedener als je zuvor. Hannah ging zu ihnen. „Ich möchte mich revanchieren“, eröffnete sie. „Für deine großartige Hilfe.“

„Es war mir ein Vergnügen“, wehrte Joe ab.

Hannah schüttelte den Kopf. „Es muss doch irgendetwas geben, womit ich dir eine Freude machen kann.“

Er überlegte. „Ich bräuchte einen Betaleser für mein Buch …“

„Nun … das könnte ich vielleicht machen. Sicher.“

„Also wenn du möchtest. Das Rechtschreibprogramm erkennt längst nicht alle Fehler, und inhaltliche schon gar nicht.“

„In Ordnung.“ Hannah strahlte. Es bedeutete, dass auch er sie an seiner Arbeit teilhaben ließ.

Ihre Blicke blieben aneinander haften.

Ein warmes Gefühl breitete sich in Hannahs Bauch aus.

Da klopfte jemand an die Schaufensterscheibe. Ein Mädchen winkte in den Verkaufsraum. Es hatte dieselben sandblonden Haare wie Joe.

„Valerie!“ Joe beeilte sich, ihr zu öffnen.

Valeries Blick glitt über die Schürze mit dem Mercantile-Logo, dann blieb er an Isabella haften. „Wow. Und ich dachte, ich wäre die Einzige, deren Leben eine unerwartete Wendung genommen hat.“

„Es ist nicht so, wie es aussieht“, erklärte Joe bestimmt.

„Wie sieht es denn aus?“, neckte Valerie.

Als ob das Baby zu mir gehört, dachte er unwillkürlich. Aber das tat es schließlich nicht.

Valerie streckte die Hand aus und berührte Isabellas Wange. „Ich habe dich gesucht“, erklärte sie und musterte Joe aufmerksam. „Laut deiner Mail an Mom und Dad hättest du gestern von deiner Reise zurückkommen sollen. Ich habe stundenlang bei der Blockhütte gewartet, und als du nicht kamst, habe ich den Besitzer ausfindig gemacht. Ich habe ihn überredet, mich reinzulassen. Aber du kamst nicht.“

In diesem Augenblick trat Hannah näher. Valeries Blick glitt von ihr zu Joe, dann zu dem Baby. „Oh“, sagte sie. In ihre Augen trat ein wissender Ausdruck. „Ach so.“

„Nichts ach so“, versuchte Joe die Spekulationen seiner Cousine zu unterbinden. „Das hier ist Hannah Callahan. Ihr gehört der Laden. Ihr Vater hatte einen Unfall, deswegen helfe ich ihr vorübergehend. Hannah, das ist meine Cousine Valerie Daugherty.“

„Freut mich, dich kennenzulernen“, begrüßte Hannah die Jüngere freundlich und schenkte ihr ein herzliches Lächeln.

„Mich auch.“ Valerie schüttelte ihre Hand.

„Wissen deine Eltern, wo du bist?“ Joe wollte kein Spielverderber sein, aber die Frage musste gestellt werden.

„Nicht – direkt.“ Valeries Blick verfinsterte sich.

„Dann musst du sie anrufen. Sie sind krank vor Sorge.“

„Hm.“ Seine Cousine zupfte am Ärmel ihrer Bluse. „Ich hatte gehofft, ich könnte erst mal hierbleiben. Aber die Hotels sind ausgebucht. Ich habe schon überall angefragt.“

„Du kannst bei mir bleiben“, bot Hannah ohne zu zögern an.

Joe sah sie entsetzt an, doch sie überging seinen Blick. „Du hast mir und meiner Familie geholfen, jetzt helfe ich deiner Familie. Ich schulde dir etwas. Und wenn Valerie bei mir wohnt, weißt du immerhin, dass es ihr gut geht.“

Valerie strahlte Hannah an. „Das ist großartig! Was möchten Sie pro Nacht?“

„Erstens: Nenn mich Hannah“, stellte Hannah richtig. „Und zweitens brauchst du nichts zu bezahlen. Das Gästezimmer steht ohnehin leer.“

Das brachte Valerie in Verlegenheit. „Nein, wirklich, das geht doch nicht. Ich würde mich schlecht fühlen, wenn ich umsonst bei … dir wohne, Hannah. Können wir nicht irgendeinen Deal machen?“

„Nun …“ Hannah hob die Schultern. Dann umschrieb sie den Laden mit einer Geste. „Wir könnten hier morgen Hilfe gebrauchen. Weil mein Vater im Krankenhaus liegt und sich unsere Aushilfe den Knöchel gebrochen hat, fehlt uns ein Mitarbeiter. Und wir werden morgen bestimmt von Touristen überrannt.“

„Klar!“ Valeries Lächeln schien den Raum zu erhellen. „So machen wir das.“

Joe atmete langsam aus. Valeries Eltern würden einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn sie davon erfuhren. „Na schön. Ich werde sie anrufen. Sie müssen zumindest wissen, wo du bist.“

Valerie tat eine wegwerfende Handbewegung. „Mach doch. Und sag ihnen, dass ich erst wieder mit ihnen rede, wenn sie aufhören, sich einzumischen.“

„Vielleicht haben sie einen guten Grund, sich einzumischen. Immerhin kannst du die Uni nicht einfach ein Jahr vor deinem Abschluss hinwerfen.“

„Zumindest werde ich keinen Abschluss in englischer Literatur machen.“ Ihr Tonfall verriet, wie ernst es ihr damit war. Es klang nicht so, als würde sie sich umstimmen lassen. „Damit müssen sie eben leben.“

Der Streit konnte sich nicht entfalten, da sich in diesem Augenblick Isabella bemerkbar machte. Hannah nahm sie in den Arm. „Möchtet ihr euch vielleicht später darüber unterhalten, in aller Ruhe bei mir zu Hause? Es war ein langer Tag, und Isabella braucht ihr Fläschchen.“

Sie deutete nach draußen, wo sich inzwischen dicke, schwarze Sturmwolken am Himmel zusammengebraut hatten. „Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es, bevor der Sturm losbricht. Ich mache euch einen Vorschlag: Ihr holt etwas Leckeres zum Abendessen im Restaurant am Ende der Straße, und solange fahre ich rasch ins Krankenhaus und sehe nach Dad. Es wird nicht lange dauern. Außerdem müsste Ruthann schon dort sein.“ Sie seufzte. „Ich hoffe, Dad lässt seine schlechte Laune nicht an ihr aus.“

Hannahs Plan wurde sofort in die Tat umgesetzt. Doch im Krankenhaus erlebte sie eine Überraschung. Die Tür zu Gus’ Zimmer stand offen, und die Szene, die sich ihr bot, war mehr als ungewöhnlich.

Von schlechter Laune konnte jedenfalls nicht die Rede sein. Gus wirkte geradezu zufrieden, während Ruthann um ihn herumflatterte, die Kissen aufklopfte und ihm Wasser und Kekse reichte.

„Oh, du bist schon da.“ Ruthann stemmte die Hände in die Hüften. Sie wirkte ertappt, und Hannah stellte erstaunt fest, dass sie sogar ein wenig errötete.

„Wie geht es dir, Dad?“, fragte sie freundlich.

„Ging mir nie besser.“ Er berichtete in knappen Worten, dass die Operation gut verlaufen und keine Komplikationen aufgetreten waren. Doch es schien ihn etwas anderes zu beschäftigen. „Wo ist …“ Er verstummte und hob die Braue.

„Isabella?“ Hannah lächelte. „Sie ist bei Joe.“

„Soso.“ Gus wiegte den Kopf. „Und wie stehst du zu Joe?“ Offenbar hatten die Schmerzmittel seine Zunge gelockert.

„Wir sind Freunde.“ Auch nach diesem unglaublichen, überwältigenden Kuss? Hannah wusste es selbst nicht. Aber wenn sie ehrlich zu sich war, wünschte sie, Joe und sie wären mehr als nur Freunde.

Als der Sturm losbrach und die ersten schweren Tropfen vom Himmel fielen, saßen die vier bereits in Hannahs gemütlicher Küche und teilten sich zwei große Pizzen.

Hannah und Valery kamen großartig miteinander aus. Insgeheim freute sich Joe, dass Hannah seine Cousine schon beinahe wie eine jüngere Schwester behandelte. Valerys Brüder hatten sie nie besonders beachtet. Sie waren zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt und hatten den Karriereweg eingeschlagen, den sich ihre Eltern für sie gewünscht hatten.

Es tat gut zu sehen, dass Valery nicht völlig den Halt verloren hatte – auch wenn ihre Probleme sie einholen würden und Joe noch immer nicht wusste, was zwischen ihr und ihrem Ex-Freund vorgefallen war.

Nach dem Essen kümmerten sich Joe und Valery um das Geschirr, während Hannah die kleine Isabella wickelte und zum Schlafen vorbereitete.

Mit einem Mal kam Joe der Gedanke, wie friedlich dieser Augenblick war. Und dass er dem am nächsten kam, was Joe sich unter Familienleben vorstellte.

Es war ein verwirrender Gedanke, den er rasch beiseiteschob. Trotzdem wäre er gerne noch geblieben. Schweren Herzens nahm er schließlich Autoschlüssel und Jacke an sich und verabschiedete sich von Valery. Hannah begleitete ihn auf die Veranda.

Der Wind hatte nachgelassen, und der Sturm war in einen gleichmäßigen Regen übergegangen. Eine tiefe Ruhe hatte sich auf das historische Viertel gelegt, in dem Hannah wohnte. Großzügige Grundstücke umgaben die erhabenen, alten Häuser, hinter deren Fenstern heimelige Lichter brannten, die warmgelbe Lichtkreise in den Regenschleier zeichneten.

Eine unerwartet romantische Stimmung stellte sich ein, während Joe und Hannah nebeneinander am Geländer der überdachten Veranda lehnten und hinaus in den Regen sahen.

Allein Hannahs sorgenvoller Gesichtsausdruck trübte das Bild. „Was hast du?“, fragte Joe.

„Ich mache mir Sorgen um Dad“, gab sie zu. „Morgen früh soll ich ins Krankenhaus kommen. Der Arzt möchte etwas mit mir besprechen.“

Joe war fest entschlossen, ihr Mut zu machen. „Immerhin haben sie bereits festgestellt, dass sein Herz in Ordnung ist.“

„Ich weiß. Trotzdem bin ich beunruhigt. Und das Geschäft scheint auch nicht so gut zu laufen, wie ich bisher glaubte.“

Wie gerne hätte er sie getröstet, doch er widerstand der Versuchung, sie in die Arme zu nehmen. „Hast du dir die Buchhaltung schon angesehen?“, fragte er stattdessen.

Sie hob die Schultern. „Bisher hat mein Vater immer darauf bestanden, alles selbst zu machen. Aber er braucht meine Hilfe – ob er will oder nicht. Leider wird es ihn umso mehr aufregen, wenn ich ihm das sage.“

Joe nickte. Er konnte sich sehr gut ausmalen, wie Gus reagieren würde, wenn man ihm die Zügel aus der Hand nahm. Er lehnte sich vor. „Was kann ich tun, um dir zu helfen?“

Sie wandte den Kopf und sah ihn an. Ein leises Lächeln spielte um ihren Mund. „Mir ein Freund sein.“

Das war der Augenblick, in dem sich Joes Selbstkontrolle in Luft auflöste. Er umfing ihr Gesicht mit den Händen – und küsste sie.

Sie wich nicht zurück. Im Gegenteil, sie öffnete den Mund und erwiderte den Kuss, als hätte sie lange darauf gewartet.

Joe spürte sein Herz in seiner Brust schlagen, und es war, als würde sich ihr Herzschlag spiegeln, so deutlich spürte er ihren Puls unter seinen Fingern, als er ihren Hals berührte.

Sein gesamter Körper sehnte sich danach, sie zu berühren. Er umfing sie fester, zog sie an sich, und der Kuss geriet außer Kontrolle.

Erst als ein Scheinwerfer die Dunkelheit durchschnitt und ein Auto langsam am Haus vorbeifuhr, wurde Joe bewusst, dass dies nicht der richtige Ort war, um sich zu verlieren.

Ganz zu schweigen von seiner Cousine, die im Haus wartete, Isabella, die jeden Moment erwachen konnte, und Gus, den Hannah morgen früh im Krankenhaus besuchen würde.

All das würde Joe in nur wenigen Tagen hinter sich lassen – und Hannah würde ihr Leben allein in die Hand nehmen. Für sie beide gab es keine Zukunft.

Er umfasste ihre Arme und sah ihr direkt in die Augen. „Ich werde nur noch wenige Tage hier sein.“

Ihr Blick war verschleiert. Ihr Atem war heftig, als sei sie ebenso erregt wie er. „Ich weiß.“ Im sanften Schein des Verandalichts glaubte er, sie erröten zu sehen. „Das ist mir egal.“ Ihre Fingerspitzen berührten seine Brust.

„Hannah …“

Sie erhob sich auf die Zehenspitzen und drückte sich an ihn. Ihre Brüste berührten seinen Oberkörper. „Ich will Zeit mit dir verbringen, Joe.“

Das wollte er auch.

„Ich weiß, dass du bald gehst. Und warum wir das hier nicht tun sollten. Aber du machst mich so … leichtsinnig.“ Ihr Lächeln war jetzt dunkel und verführerisch.

Der folgende Kuss setzte seinen Körper in Flammen. Er öffnete ihren Mund und kostete ihre Zunge, biss sanft in ihre Lippe, sodass ihr ein leises Stöhnen entfuhr.

Das Geräusch brachte ihn beinahe um den Verstand.

Dann löste sie sich von ihm und sah ihn an. „So leichtsinnig“, wiederholte sie leise.

Mit diesen Worten wich sie zurück, schenkte ihm ein letztes Lächeln und ging ins Haus.

6. KAPITEL

Am folgenden Morgen spielte Hannah in Gedanken immer wieder diese Szene durch.

Sie konnte kaum glauben, was sie getan hatte. Was sie gesagt hatte. Und doch entsprach es absolut der Wahrheit.

In ihrem gesamten Leben hatte sie sich bisher auf keine flüchtige Affäre eingelassen. Sie hatte zwei ernsthafte Beziehungen geführt, die beide in etwa fünf Jahre gedauert hatten. Keine der beiden hatte zu der Hochzeit geführt, von der sie geträumt hatte.

Und keine der beiden Beziehungen hatte sich für sie vollkommen und umfassend richtig angefühlt. Daher hatte es ihr nicht leidgetan, sie zu beenden.

Doch Joe gehen zu lassen, würde ihr leidtun. Es würde sogar wehtun – so viel wusste sie schon jetzt.

Aber es würde ihr noch mehr leidtun, ihren Gefühlen nicht nachzugeben. Sie musste zumindest wissen, was zwischen ihnen möglich war. Die Leidenschaft auskosten, die sich schon in dem Kuss entfacht hatte.

Valery schlief noch, als Hannah das Haus verließ. Die Küche hatte sich seltsam leer angefühlt. Sie vermisste Joe, als sie Isabella fütterte. Und sie vermisste Joe, als sie ins Krankenhaus fuhr, um sich dem Gespräch mit den Ärzten zu stellen.

Gus empfing sie mit seinem üblichen grimmigen Gesichtsausdruck. „Wo ist Isabella?“, fragte er. Es klang vielmehr wie ein Befehl.

„Im Schwesternzimmer. Sie wird gut versorgt.“

„Warum hast du sie nicht mitgebracht?“, verlangte Gus zu wissen.

Hannah hob die Braue. Wie man’s macht, macht man’s verkehrt

„Ich wollte dich nicht aufregen.“

Gus schnaubte durch die Nase und richtete sich im Bett auf. „Ich werde mich aufregen, wenn ich aufstehen und sie höchstpersönlich holen muss.“

Wilde Freude wallte in Hannah auf, doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie ging los und holte Isabella – die sich bei den Frauen unerwartet wohlgefühlt hatte.

Ein neuer Schritt, den Hannah allerdings weniger genießen konnte, als ihr lieb gewesen wäre. Bedeutete es doch, dass Isabella nicht mehr auf Joe angewiesen war.

Als sie mit dem Baby auf dem Arm ins Krankenzimmer zurückkehrte, erschrak sie. Nicht nur der Chirurg war anwesend, der Gus operiert hatte, sondern auch der Kardiologe und ihr gemeinsamer Hausarzt.

„Machen Sie nicht so ein Gesicht, Hannah“, beschwichtigte der Hausarzt. „Wir hielten es lediglich für sinnvoll, das weitere Vorgehen gemeinsam zu besprechen. Es geht um Gus’ Genesung.“

„Die er wirklich ernster nehmen sollte“, mischte sich der Kardiologe ein.

„Zumindest darf er in den kommenden Wochen nicht Auto fahren“, erklärte der Chirurg. „Und der Verband um seinen Arm sollte nicht nass werden.“ Er sah Gus direkt an. „Sie werden Hilfe brauchen, Gus.“

Gus quittierte den Rat mit einem erneuten Schnauben.

„Außerdem dürfen Sie sich auf gar keinen Fall anstrengen“, fuhr der Kardiologe fort. „Sie sollten darüber nachdenken, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen und in Rente zu gehen.“

„So weit kommt’s noch“, empörte sich Gus.

„Dann werden Sie zumindest eine Auszeit nehmen. Und zwar mindestens für die nächsten drei Monate“, riet der Kardiologe. „Sie wollen doch noch erleben, wie Ihre Enkelin in die Highschool kommt.“

Nachdem die Ärzte das Zimmer verlassen hatten, öffnete Hannah das Fenster. Sie atmete tief ein. Und selbst ihr Vater sah so aus, als könne er frische Luft gebrauchen. Er tat zwar so grimmig und grantig wie immer, aber Hannah bemerkte, wie tief ihn die Worte der Ärzte getroffen hatten.

Nie war der Zeitpunkt deutlicher gewesen, um über seinen Rücktritt zu sprechen. „Du hast es gehört, Dad“, sagte sie sanft. „Wir sollten über das Mercantile reden. Du hattest mir versprochen, ich würde den Laden eines Tages übernehmen. Aus diesem Grund bin ich im vergangenen Frühling nach Hause gekommen. Aber seither durfte ich nur Hilfsarbeiten tun. Es ist an der Zeit, dass sich das ändert.“

Gus schnitt eine Grimasse. „Ich kenne das Geschäft in- und auswendig. Ich habe alle Zahlen im Kopf. Das Mercantile braucht mich.“

Ich brauche dich, Dad!“, widersprach Hannah. „Und zwar gesund und munter. Du wirst weder mir noch dem Mercantile von Nutzen sein, wenn du einen zweiten Herzinfarkt bekommst.“

Sie seufzte hörbar, zog sich einen Stuhl an Gus’ Bett und setzte sich, Isabella auf den Armen wiegend. „Du warst immer ein starker, gerechter Vater, der mich in meinen Träumen und Zielen unterstützt hat.“

Gus wandte den Kopf und sah sie direkt an – halb geschmeichelt, halb skeptisch. Als sie fortfuhr, legte sich seine Stirn in Falten.

„… bis Mom gestorben ist und du dich in ein bitteres Grummelmonster verwandelt hast.“

„Na, vielen Dank.“ Unter seinen buschigen weißen Brauen warf er ihr einen finsteren Blick zu.

Hannah ließ sich nicht beirren. „Hör zu, Dad: Ich vermisse Mom genauso sehr wie du. Mehr, als ich in Worte fassen kann. Aber du und ich, wir sind noch am Leben. Und ab jetzt gehört Isabella dazu. Sie verdient es, dass wir eine echte Familie für sie sind. Und sie verdient einen starken, verlässlichen Großvater. Ich weiß, dass du das sein kannst.“

Es verstrich beinahe eine volle Minute, bis Gus zögernd antwortete: „Du tust ja gerade so, als ob wir seit Jahren keine Familie mehr wären.“

Hannah senkte für einen Moment den Blick. „Manchmal hat es sich so angefühlt.“ Sie streichelte Isabellas Kopf. „Aber wir können das ändern. Und dafür brauche ich dich, Dad. Ich will, dass du gesund bist. Aber dafür musst du kürzertreten. Überlass das Mercantile mir. Sonst muss ich mir einen anderen Job suchen, der mich erfüllt.“

Gus kniff die Augen zusammen. „Du bist ein zäher Verhandlungspartner.“

„Ich habe beim besten gelernt.“

Nun konnte Gus das Lächeln nicht verbergen. Er räusperte sich. „Na schön. Ich gebe dir etwas Zeit, den Laden zu übernehmen, solange ich gesund werde. In dieser Zeit kannst du mit dem Mercantile machen, was du willst.“ Er hob Zeige- und Mittelfinger. „Zwei Wochen.“

„Zwei Wochen!“ Hannah schüttelte den Kopf. „Das ist ja gar nichts. Acht Wochen.“

Gus schnaubte. „Sechs Wochen. Dann wird der Gips abgenommen.“

„Abgemacht.“ Sie reichte ihm die Hand.

Gus schlug ein.

Daraufhin erhob sich Hannah und drückte Isabella schützend an ihre Brust. Gus überraschte sie, indem er sie an etwas erinnerte. „Hast du nicht heute einen Termin beim Kinderarzt?“

Autor

Cathy Gillen Thacker
<p>Cathy Gillen Thacker ist eine Vollzeit-Ehefrau, - Mutter und – Autorin, die mit dem Schreiben für ihr eigenes Amusement angefangen hat, als sie Mutterschaftszeit hatte. Zwanzig Jahre und mehr als 50 veröffentlichte Romane später ist sie bekannt für ihre humorvollen romantischen Themen und warme Familiengeschichten. Wenn sie schreibt, ist ihr...
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