Magische Nacht mit dem Millionär (3-teilige Serie)

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

MAGISCHES SPIEL DER LIEBE
Adrien Morrell sucht Leidenschaft, aber keine Liebe! Und als es ihm gelingt, die schöne Selene in seinen Bann zu ziehen, sieht er sich schon am Ziel seiner Träume: eine sinnliche Affäre. Doch dann macht ihm sein Herz einen Strich durch die Rechnung: Täglich wächst seine Sehnsucht, mit Selene für immer zusammen zu sein. Aber darf er nach den tragischen Ereignissen der Vergangenheit noch auf eine glückliche Zukunft hoffen?

HOCHZEITSNACHT IM HIMMELBETT
Seit Julianne auf dem Schloss des attraktiven Millionärs Simon Keller wohnt, beschwört er sie, das verbotene Zimmer zu meiden. Doch ihre Neugier siegt, und der Preis ist hoch: Simon verlangt, dass Julianne ihn heiratet. Nur so kann er verhindern, dass sie sein Geheimnis verrät!

VERFÜHRT VON EINEM MILLIONÄR
Eine heiße Nacht mit einem Hotelgast - wundervoll! Und streng untersagt! Deshalb schleicht sich die junge Servicekraft Tess in aller Frühe aus Ben Adams Suite. Doch wenige Monate später muss sie ihm ein Geständnis machen. Und der attraktive Millionär reagiert überraschend …


  • Erscheinungstag 15.10.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783751504188
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Kristi Gold, Susan Crosby, Michelle Celmer

Magische Nacht mit dem Millionär (3-teilige Serie)

Kristi Gold

Magisches Spiel der Liebe

IMPRESSUM

Magisches Spiel der Liebe erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

© 2006 by Kristi Goldberg
Originaltitel: „House Of Midnight Fantasies“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BACCARA
Band 1449 - 2007 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Brigitte Bumke

Umschlagsmotive: majdansky / depositphotos

Veröffentlicht im ePub Format in 10/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751504065

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

 

Werden Sie Fan vom CORA Verlag auf Facebook.

1. KAPITEL

Maison de Minuit. Haus der Mitternacht.

Allein der Name klang unheilvoll, aber diese finstere Plantagenbesitzervilla in Louisiana symbolisierte den ersten ernsthaften Schritt, den Selene Albright Winston Richtung Freiheit machte.

Selene nahm all ihren Mut zusammen und stieg aus ihrem Wagen. Dann ging sie mit einem mulmigen Gefühl über den gepflasterten Weg zum Eingang der Veranda. Nicht ein Windhauch regte sich in den Bäumen, und nur das gelegentliche Zirpen einer Zikade unterbrach die gespenstische Stille. Uralte knorrige Eichen, die über und über mit Spanischem Moos behangen waren, wirkten wie finstere Wachposten, die Eindringlinge abwehren sollten. Die Rasenflächen waren ungemäht, und in den mit Unkraut überwucherten Beeten blühten keinerlei Blumen.

Ein paar Schritte vor der Veranda blieb Selene stehen, um das Haus zu betrachten, das ebenfalls vernachlässigt wirkte. Die neoklassizistische hellgelbe Fassade des Herrenhauses zeigte deutliche Anzeichen von Verfall, genau wie die Fensterläden, die Holzornamente und die sechs imposanten Säulen, die den Vorbau trugen und seltsamerweise schwarz gestrichen waren. Selene beschlich beim Anblick des düsteren Hauses ein unangenehmes Gefühl und hoffte, dass das Innere des Hauses in einem besseren Zustand war. Tatsächlich hätte sie am liebsten kehrtgemacht und wäre weggelaufen. Nein, diesmal würde sie nicht den einfachen und sicheren Weg gehen.

Als sie die erste Stufe der Holztreppe zum Eingang betrat, knarrte sie, als würde sie gleich zusammenbrechen. Doch ein plötzliches Bild vor ihrem geistigen Auge war sehr viel beängstigender.

Augen. Eisblaue Augen. Augen, die sie fixierten.

Selene schloss ihre eigenen Augen, damit die Vision verschwand. Aber als sie die zweite Stufe betrat, ergriff die Vision erneut von ihr Besitz. Ihr stockte der Atem, und sie verlor all ihre Zuversicht. Doch sie kämpfte dagegen an. Nachdem sie jahrelang alles versucht hatte, sich von dieser Gabe zu befreien, wollte sie so etwas nie wieder in ihr Leben lassen.

Sie atmete tief durch und legte ihren geistigen Schild an, den sie zu ihrem Schutz entwickelt hatte, erleichtert, dass er funktionierte, als sie die dritte und letzte Treppenstufe nahm.

Nach kurzem Zögern klopfte sie an die Tür, von der die schwarze Farbe abblätterte, dann strich sie mit einer Hand über ihr elegantes, ärmelloses rotes Kleid. Ihr Haar hatte sie mit einem Band im Nacken zusammengebunden, doch auch das verschaffte ihr in der unerbittlichen Juni-Hitze wenig Erleichterung. Sie war nervös und fühlte sich unbehaglich, da niemand auf ihr Klopfen reagierte.

Sie klopfte noch einmal und war froh und ängstlich zugleich, als sie Schritte näher kommen hörte. Sie hatte keine Ahnung, wer ihr öffnen würde. Sie wusste nicht, ob sie auf Freund oder Feind treffen würde – womöglich erwartete sie ein Blick in die eisblauen Augen, die ihr gerade erschienen waren.

Gleich darauf stand eine Frau mit wachen dunklen Augen vor ihr. Sie war ungefähr Mitte sechzig, ihr graues Haar trug sie in einem streng wirkenden Kurzhaarschnitt. Sie hatte ein hellgrünes Kleid an und wirkte zurückhaltend, aber keineswegs bedrohlich. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie und lächelte freundlich.

„Sind Sie Miss Lanoux?“

„Ja, und wer sind Sie?“ Wenigstens war es die richtige Adresse, auch wenn sie offenbar nicht erwartet wurde. „Selene Winston. Ich bin wegen der Restaurierung hier.“

Die Frau schien überrascht. „Ich habe Sie erst morgen erwartet.“

Selene hätte schwören können, dass sie letzten Freitag telefonisch vereinbart hatten, sie solle sich am Montag vorstellen. Vielleicht sollte sie in das Gasthaus zurückkehren, in dem sie in den zehn Tagen seit ihrer spontanen Flucht aus Georgia wohnte. Vielleicht sollte sie dieses Missverständnis als Hinweis nehmen, die Sache zu lassen. „Falls es nicht passt, kann ich morgen wiederkommen.“

„Nein, nein, kommen Sie ruhig rein.“ Die Frau bedeutete Selene einzutreten. „Willkommen im Maison de Minuit … Sie sind Mrs. Winston, nicht wahr?“

„Winston ist der Name meines Exmannes, ich bin geschieden.“ Selene erschrak über ihren bitteren Unterton. „Nennen Sie mich einfach Selene.“

„Dann müssen Sie mich Ella nennen. Und jetzt sollten wir aus der Hitze heraus.“

Als Selene das großzügige Foyer betrat, fiel ihr sofort zweierlei auf – im Haus war es nicht viel kühler als draußen, und durch die schweren Läden vor den Fenstern fiel praktisch kein Licht herein. Es herrschte eine düstere Atmosphäre im Haus, und es roch muffig und nach altem Holz.

Sie folgte Ella durchs Foyer. Vor einem kleinen Salon blieben sie stehen. Hier war es genauso düster wie im Eingangsbereich, denn dichte blaue Vorhänge ließen kein Tageslicht durch. Die Antiquitäten, mit denen das Zimmer möbliert war, waren höchstwahrscheinlich echt und ein Vermögen wert. Nichts, was sie nicht gekannt oder in ihrem früheren Leben selbst besessen hätte. Einem Leben, das sie nur zu gern hinter sich gelassen hatte. Aber sie hatte von jeher ein Faible für Dinge mit Geschichte.

„Das hier ist nur einer der Wohnräume“, sagte Ella. „Und wie das ganze Haus muss er renoviert werden.“ Sie fächelte sich Luft zu. „Es geht um eine Grundsanierung. Sie müssen Kostenvoranschläge für eine neue Klimaanlage besorgen. Sehr wahrscheinlich muss das Dach neu gedeckt werden, was bedeutet, Sie müssen einen geeigneten Bauunternehmer finden.“

„Einen Moment“, unterbrach Selene, als ihr klar wurde, was Ella da gesagt hatte. „Ich hatte keine Ahnung, dass die Arbeiten derart umfangreich sein würden.“

„Meine Liebe, Sie können engagieren, wen Sie wollen. Es sei denn, Sie haben ein Problem damit, Handwerker zu beaufsichtigen.“

Nein, das hatte Selene nicht. Sie hatte jahrelang Hauspersonal gehabt. „Wenn ich ein entsprechendes Budget bekomme, kann ich den Auftrag übernehmen.“

„Geld spielt keine Rolle.“

Offenbar hatte Ella Lanoux Vermögen, obwohl sie überhaupt nicht so zu sein schien wie die reichen Frauen, die Selene von klein auf kannte, einschließlich ihrer eigenen Mutter. Auch wenn sie nicht an einen so großen Auftrag gedacht hatte, so war sie schließlich hergekommen, um Arbeit zu finden. Um sie selbst zu sein, ihr eigenes Geld zu verdienen. Um neu anzufangen.

Ella winkte Selene weiter. „Kommen Sie weiter, ich zeige Ihnen alles.“ Vor einer Doppeltür blieb sie stehen. „Das hier ist bei Weitem der beeindruckendste Teil des Hauses.“

Damit stieß sie die Flügeltür auf, und Selene blickte in einen großen runden Raum, der einen original erhaltenen Dielenboden zu haben schien. Von der Raummitte aus führte eine breite Freitreppe, die mit rotem Teppich ausgelegt war, in die erste Etage hinauf. Selenes Blick wanderte zur Decke, auf der sich Putten mit goldenen Flügelchen auf einem mit Wolken verzierten blauen Himmel tummelten. In der Mitte hing ein schwerer Kristalllüster. Selene kannte solche Räume bisher nur von Fotos.

„Das ist absolut atemberaubend.“

Ella lächelte stolz. „Diese Wirkung hatte der Saal auch auf mich, als ich ihn zum ersten Mal sah.“ Sie deutete auf die gegenüberliegende Seite. „Küche und Esszimmer sind dort drüben. Wir besichtigen beides später. Jetzt zeige ich Ihnen die obere Etage.“

Als sie Ella die Treppe hinauffolgte, hatte Selene das Gefühl, geradewegs in den Himmel hinaufzusteigen. Ein Stück Paradies mitten in der Dunkelheit.

Oben angekommen machte Ella eine Kopfbewegung nach links. „Dieser Korridor führt zur Vorderseite des Hauses, wo es zwei Zimmer gibt. Das eine war einmal ein Kinderzimmer, das andere wurde in ein Privatbüro umgewandelt.“

Selene entging die Betonung auf privat nicht. Sie zeigte nach rechts. „Und auf dieser Seite?“

„Hier befinden sich die Schlafzimmer, einschließlich Ihrem, falls wir uns einig werden.“

„Ich müsste auf der Baustelle wohnen?“

„Kost und Logis wären inklusive, während Sie hier arbeiten.“

Wahrscheinlich wäre es so am praktischsten. Sie würde nicht die gut zehn Meilen in die Stadt fahren oder eine passende Unterkunft suchen müssen. Falls sie den Job übernahm. Selene ging hinter Ella her, die scharf rechts in einen schmalen, mit Paneelen verkleideten Flur abbog, der von ein paar Wandlampen schwach beleuchtet war.

Schon nach wenigen Schritten wurde Selenes Aufmerksamkeit auf eine lebensgroße Bronzefigur am Ende des Korridors gelenkt. Ein Dämon mit Hörnern, spitzen Zähnen und Krallen, der eine verängstigte, spärlich bekleidete Frau fest im Griff hatte. Diese Gestalt war wirklich ein Kontrast zu den Engelchen, die über die Rotunde wachten. Eine klassische Darstellung von Gut und Böse. Himmel und Hölle.

Plötzlich hatte sie eine weitere Vision. Im Gegensatz zu den Bildern, die sie vor dem Eingang vor ihrem geistigen Auge gesehen hatte, hatte sie bei dieser Vision das Gefühl zuzuschauen, wie es schon so oft in der Vergangenheit der Fall gewesen war. Sie sah eine Hand über ihren nackten Arm gleiten. Eine große Männerhand, die weiter über ihren Rücken glitt, über ihre Taille, bis hinunter zu ihrem Po, ehe sie, Selene, blinzelte und die Vision bezwang. Sie hatte keine Ahnung, wie es dazu gekommen war, denn es schien niemand in der Nähe zu sein. Und das fand sie mehr als nur ein wenig beunruhigend.

Sie merkte erst, dass sie stehen geblieben war, als Ella sich lächelnd zu ihr umdrehte. „Ziemlich grotesk, nicht wahr? Ich nenne ihn Giles, nach dem früheren Eigentümer. Der verrückte Mann hat dieses Ding geliebt, aber er war ja auch sehr exzentrisch.“

Selene würde sich sicher nur schwer daran gewöhnen können, die Furcht einflößende Statue jedes Mal sehen zu müssen, wenn sie auf den Gang trat. „Es überrascht mich, dass er die Statue nicht mitgenommen hat.“

„Leider hat sie nicht in seinen Sarg gepasst.“

Selene zuckte innerlich zusammen. War das der Ursprung ihrer Vision – die Gedankenspielchen eines Geistes? Das war ihr noch nie passiert. Normalerweise nahm sie die Gedanken lebender Menschen auf. „Es tut mir leid zu hören, dass er gestorben ist.“

„Das braucht es nicht. Er war fast neunzig und hatte eine vierzig Jahre jüngere Geliebte. Sie war diejenige, die ihn um die Ecke gebracht hat.“

„Sie hat ihn umgebracht?“

Lachend schüttelte Ella den Kopf. „Nicht absichtlich. Sagen wir, die Männer der Morrells zelebrieren ihre Männlichkeit nach allen Regeln der Kunst. Leider kannte Giles seine Grenzen nicht.“

„Na ja, wenigstens hat er die Welt als glücklicher Mann verlassen. Ist er denn hier im Haus gestorben?“

„Nein. In Frankreich.“ Selene war sehr erleichtert, bis Ella ergänzte: „Aber leider hat dieses Haus den Ruf, Tragödien anzuziehen.“

Großartig. Das hatte Selene noch gefehlt – hier hausten also womöglich rastlose Geister, die darauf aus waren, in ihren Gedanken herumzuspuken. Aber das würde sie keinesfalls zulassen.

Sie gingen ein paar Schritte weiter, bis Ella vor einer geschlossenen Tür stehen blieb. „Das hier wäre Ihr Zimmer.“ Sie zeigte Richtung Dämon am Ende des Flurs. „Das Gästezimmer dort hinten wird momentan nicht benutzt. Der jetzige Eigentümer hält es verschlossen und möchte es lassen, wie es ist.“

Selene war sprachlos. „Ich dachte, Sie wären die Eigentümerin.“

„Oje, tut mir leid, wenn ich Ihnen diesen Eindruck vermittelt habe. Adrien Morrell, Giles’ Enkel, hat die Plantage geerbt. Ich bin seine Assistentin.“ Ella lächelte spöttisch. „Und sein Dienstmädchen und seine Köchin. Ich gebe ihm hin und wieder auch einen Rat, ob er darum bittet oder nicht.“

Selene kam allmählich der Verdacht, dass sie noch viel über dieses Haus würde erfahren müssen und dass manches davon nicht angenehm sein würde. „Wohnt Mr. Morrell im Haus?“

„Das hier ist sein Zimmer.“ Ella zeigte auf eine Tür in der Nähe. „Es ist das große Elternschlafzimmer und grenzt an Ihr Zimmer, aber ich verspreche Ihnen, dass er Sie nicht behelligen wird.“

„Wo befindet sich Ihr Zimmer?“

„Neben der Küche. Und das hier wäre also Ihr Reich.“ Ella öffnete die Tür und ließ Selene eintreten.

Wie überall im Haus standen auch in diesem Zimmer antike Möbel. Auf dem viktorianischen Doppelbett aus Kirschholz lag eine weiße Spitzendecke. Den glanzlos gewordenen Dielenboden bedeckten mehrere bunte Teppiche. Die weißen Gardinen waren aufgezogen und gaben den Blick auf eine zweiflügelige Tür frei, die auf eine Veranda hinausführte. Offenbar ging sie auf die Rückseite des bewaldeten Anwesens hinaus. Im Zimmer gab es mehrere Ventilatoren, aber sie brachten kaum Kühlung.

„Ich fürchte, das Zimmer hat kein eigenes Bad. Sie müssten das Bad gegenüber benutzen.“

Na wunderbar, sie würde also ein Badezimmer mit einer völlig fremden Person teilen. Noch dazu mit einem Mann. Natürlich hatte sie schon einmal ein Bad mit einem praktisch Fremden geteilt – ihrem Mann. Und am Ende der Ehe hatte Richard sogar in einem anderen Zimmer geschlafen, hatte in seiner eigenen Welt gelebt, in der kein Platz für seine Frau war. „Ich nehme an, das bedeutet, Mr. Morrell benutzt es auch.“

„Nein, seine Suite hat ein eigenes Bad. Er hat es einbauen lassen, ehe er einzog. Leider ist das die einzige Verbesserung, die er bewerkstelligt hat.“

Wenigstens wäre er ihr nicht im Weg. „Ich denke, ich kann mich damit arrangieren.“

„Dann haben Sie den Job, wenn Sie ihn wollen.“

Selene ging das fast zu schnell. „Möchten Sie nicht erst meine Mappe sehen? Oder einen Kostenvoranschlag?“

„Das ist nicht nötig. Ich verspreche Ihnen, Sie werden mehr bezahlt bekommen, als für diese Art Arbeit üblich ist. Alle Einzelheiten sind in einem einfachen Vertrag festgehalten, den Mr. Morrell selbst entworfen hat.“

„Sollten Sie sich nicht erst mit ihm beraten?“

„Er vertraut meinem Urteil, und ich glaube, dass Sie Ihre Sache gut machen werden.“

Konnte sie es sich wirklich leisten, eine so wichtige Entscheidung Hals über Kopf zu treffen? Vielmehr – konnte sie es sich leisten, das Angebot nicht anzunehmen? Wahrscheinlich würde sie lange nach einer anderen Arbeit suchen müssen, da sie zwar einen Abschluss als Innenarchitektin, aber wenig Erfahrung besaß.

Selene gab sich einen Ruck. „Sobald der Vertrag in Ordnung ist, übernehme ich den Job“, sagte sie.

Ella sah sehr zufrieden drein. „Wunderbar. Wann können Sie einziehen?“

„Sofort, wenn nötig. Ich wohne im Gasthof. Ich brauche nur meine Sachen dort abzuholen.“ Das meiste, was Selene besessen hatte, hatte sie zurückgelassen. Die bitteren Erinnerungen an eine gescheiterte Ehe allerdings nicht.

„Dann also gleich heute.“ Ella ging zur Tür. „Ich zeige Ihnen noch schnell den Vertrag, und während Sie in der Stadt sind, will ich sehen, ob ich einen Termin ausmachen kann, damit Sie Mr. Morell kennenlernen.“

„Ich freue mich darauf.“

„Eines müssen Sie über Adrien wissen“, sagte Ella, als sie auf den Flur zurückkehrten. „Er ist ein schwieriger Fall. Ich kenne ihn seit vielen Jahren, und am besten kommt man mit ihm klar, wenn man ihm energisch Paroli bietet.“

Bei dieser Bemerkung fragte sich Selene, ob sie im Begriff war, einen großen Fehler zu begehen. „Ich werde es mir merken.“

Auf der Rückfahrt zum Gasthof kamen Selene noch mehr Zweifel, obwohl sie die Vereinbarung zufriedenstellend und die Bezahlung mehr als großzügig fand. Sie hätte Ella gründlicher befragen sollen, besonders nach dem mysteriösen Eigentümer des Hauses. Doch das Jobangebot war zu einer Zeit gekommen, als sie nicht wusste, wie ihre Zukunft aussehen würde. Es war reiner Zufall gewesen, und sie hatte die Chance einfach ergriffen.

Der Hausbesitzer war vermutlich ein komischer Kauz in mittleren Jahren, genauso seltsam wie sein Großvater und obendrein griesgrämig. Doch das war in Ordnung, solange sie ihre eigenen Entscheidungen treffen konnte, zumindest, was ihr Privatleben betraf.

Ja, sie würde mit Adrien Morrell klarkommen. Besser noch, sie würde ihn ganz und gar ignorieren.

„Wer zum Teufel ist sie, Ella?“

Adrien bemerkte das Erstaunen seiner langjährigen Vertrauten sofort, gefolgt von einem Anflug von schlechtem Gewissen. „Du hast sie gesehen?“

Ja, das hatte er. Er hatte vom Fenster aus beobachtet, wie sie aus ihrem Wagen ausstieg. Hatte ihr kurzes Zögern und ihr Misstrauen gespürt. Er hatte registriert, dass ihr goldblondes, im Nacken zusammengebundenes Haar in weichen Locken bis auf den Rücken fiel. Und er hatte ihren schlanken Hals bemerkt, ihre makellose helle Haut, ihre langen Beine und die Rundungen ihrer Hüften. Aus den Schatten neben der Treppe heraus hatte er auch beobachtet, wie sie den Korridor entlangging, und er hatte sich mehr vorgestellt, als sie nur zu beobachten. Eine unliebsame Reaktion, die er jedoch nicht hatte abstellen können.

Adrien rollte einen Stift auf seinem Schreibtisch hin und her. „Was wollte sie?“

„Einen Job.“

„Ich nehme an, du hast ihr gesagt, dass sie sich in der Adresse geirrt hat.“

„Nein, hab ich nicht.“ Ella trat näher. „Sie heißt Selene Winston, und ich habe sie damit beauftragt, die Restaurierung zu beaufsichtigen.“

Adrien spürte Wut in sich aufsteigen. „Ich habe dir keine Erlaubnis gegeben, irgendjemanden zu beauftragen.“

Ella stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch und beugte sich vor. „Jemand muss die Pläne umsetzen, ehe dieses Haus über unseren Köpfen zusammenfällt.“

„Das entscheide ich, nicht du.“

„Genau das ist das Problem. Du entscheidest gar nichts. Wir brauchen jemanden, der dieses Haus instand setzt, damit du es verkaufen und weggehen kannst.“

Im Moment wollte er gar nicht weg. Das Haus war sein Zufluchtsort geworden, seine private Hölle, die er sich selbst geschaffen hatte. „Wie hast du sie gefunden?“

„Ich habe in der Zeitung von St. Edwards annonciert, und sie hat auf die Anzeige geantwortet, und zwar als Einzige. Und du wolltest doch jemanden, der sich persönlich um das Haus kümmert. Sonst hätte ich schon vor Monaten eine Baufirma aus Baton Rouge beauftragen können.“

„Woher kommt sie?“

„Aus Georgia. Sie ist geschieden. Ihrem Wagen und ihrer Kleidung nach zu urteilen, hat sie vermutlich Geld oder hatte einmal welches. Aber aus irgendeinem Grund hat sie beschlossen, sich in St. Edwards niederzulassen. Solange sie gut arbeitet, interessiert es mich eigentlich nicht, wieso sie ausgerechnet hierhergekommen ist.“

Adrien interessierte es. Er konnte keine Frau gebrauchen, die sich wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben noch nie die mit Diamantringen geschmückten Hände schmutzig gemacht hatte. „Wie viel Erfahrung hat sie?“

„Da du doch der allwissende, alles sehende Unternehmer bist, solltest du sie selbst fragen.“

Wenn Ella nicht Ella wäre, würde er sie hinauswerfen. „Es ist mir eigentlich verdammt egal, weil ich nicht die Absicht habe, sie bleiben zu lassen.“

„Dir ist alles verdammt egal, Adrien.“ Ella seufzte auf. „Es ist jetzt über ein Jahr her. Du musst dein Leben weiterleben.“

Ein Leben voller Reue. Ein Leben, das er selbst zum Stillstand gebracht hatte. Und es gefiel ihm so. „Sag ihr, dass sie hier nicht gebraucht wird.“ Oder erwünscht ist.

„O doch, sie wird hier gebraucht. Und sie bleibt, oder ich gehe mit ihr.“

Noch mehr leere Drohungen. Nichts, was Adrien nicht schon von seiner Ersatzmutter gehört hätte. Ella würde nirgendwohin gehen, weil sie ihn keinesfalls allein lassen wollte. Um des lieben Friedens willen würde er ihr ihren Willen lassen. „Schön. Mach, was du willst. Sorge nur dafür, dass sie mir aus dem Weg geht.“

„Vielleicht solltest du ihr das selbst sagen. Sie hat eingewilligt, hier zu wohnen, bis das Haus fertig ist. Ich habe sie im Zimmer neben deinem Zimmer einquartiert.“ Damit eilte Ella zur Tür hinaus.

Adrien fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er brauchte das alles nicht. Brauchte diese Frau nicht um sich. Selbst wenn sie hübsch war. Selbst wenn er seit Monaten wie betäubt und bei ihrem Anblick langsam wieder lebendig geworden war, zumindest in körperlicher Hinsicht.

Er wollte verdammt sein, wenn er einfach so mit ihr ins Bett ging, und er hatte die feste Absicht, sie zur Abreise zu bewegen. Er wusste nicht genau, wie er das anstellen würde, aber er würde es schaffen. Ganz bestimmt.

Selene musste sich nicht sofort mit ihrem neuen Arbeitgeber auseinandersetzen. Ella zufolge hatte der Plantagenbesitzer kein Gespräch gefordert, und zum Abendessen war er auch nicht erschienen. Sie war ihm auf dem Weg in ihr Schlafzimmer nicht begegnet, aber vorhin hatte sie ihn vorbeigehen hören. Dann ging eine Tür, und sie hörte eine Zeit lang das Knarren von Dielen, als ginge er auf und ab. Erst vor wenigen Augenblicken hatte es aufgehört. Wenn sie jetzt nur einschlafen könnte.

Aber einzuschlafen schien genauso schwierig zu sein wie ihren Arbeitgeber zu Gesicht zu bekommen. Die Ventilatoren hielten nur die warme Luft in Bewegung, und auch die offenen Fenster brachten keine Kühle. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie die Menschen früher diese Sommerhitze ohne Klimaanlagen überstanden hatten.

Selene brauchte unbedingt frische Luft. Also stand sie auf, öffnete die französischen Fenster und trat barfuß und in ihrem dünnen weißen Nachthemd auf die Veranda. Sie stützte die Arme auf das schwarze Geländer und sah zum Mond und den unzähligen Sternen hoch, die am Nachthimmel funkelten.

Hier draußen war es etwas kühler, und der sanfte Wind strich über ihren erhitzten Körper und ihr zerzaustes Haar. Die Geräusche der südlichen Sommernacht umfingen sie –zirpende Grillen, quakende Frösche. Sie lauschte auf das Plätschern des Mississippi, der nicht weit entfernt vorbeifloss. Plötzlich hörte sie es im Gebüsch rascheln. Zweifellos wimmelte es in den Sümpfen nur so von unangenehmem Getier. Luchse, Alligatoren, mit Sicherheit Schlangen.

Vor ihrem geistigen Auge tauchte kurz ein Bild auf – eine weitere Vision, dass jemand sie beobachtete – gefolgt von einer tiefen, rauen Männerstimme, die sagte: „Zu heiß zum Schlafen?“

2. KAPITEL

Selene fuhr herum und entdeckte ein paar Meter entfernt auf einem Korbsofa eine dunkle Gestalt. Sie unterdrückte einen Aufschrei, die eine Hand am Ausschnitt ihres Nachthemds, mit der anderen umfasste sie das Geländer fester. „Sie haben mich erschreckt.“

„Offensichtlich.“ Das klang sehr spöttisch.

Wunderbar. Eine mitternächtliche Begegnung mit einem Armleuchter. Das hatte ihr noch gefehlt. „Ich nehme an, Sie sind Mr. Morrell.“

„Richtig.“

Auch wenn ihr sein Benehmen nicht gefiel, war Selene doch erleichtert. Wenigstens hatte sie es nicht mit einem Geist zu tun.

Und jetzt? Sie konnte ihm eine Gute Nacht wünschen und in ihr Zimmer zurückkehren. Sie konnte sich ihm natürlich auch vorstellen. Also nahm sie ihren Mut zusammen und trat näher. Das Mondlicht reichte aus, um ein paar Einzelheiten zu erkennen. Zum Beispiel, dass er nicht viel älter als Mitte dreißig sein konnte und nicht der Griesgram war, den sie sich vorgestellt hatte.

Sein leicht welliges dunkles Haar reichte ihm bis zum Kinn, seine Lippen waren fest zusammengepresst und strahlten, genau wie sein kantiges Kinn, Unnachgiebigkeit und Verschlossenheit aus. Dann betrachtete sie seine Augen. Die gleichen Augen, vermutete sie, die sie bei ihrer Ankunft im Geist vor sich gesehen hatte. Unheimlich blaue Augen.

Er trug kein Hemd, während ihr Baumwollnachthemd wenig Schutz vor seinen Blicken bot. Nicht unbedingt das passende Outfit für die erste Begegnung mit ihrem Boss, aber das war jetzt nicht mehr zu ändern.

Mit einem gezwungenen Lächeln streckte Selene ihm die Hand hin. „Ich bin Ihre neue Angestellte, Selene Winston.“

„Ich weiß, wer Sie sind.“ Er ließ den Blick träge über ihren Körper wandern, um sie unverblümt zu mustern, ehe er nach kurzem Zögern ihre ausgestreckte Hand ergriff. Selene durchzuckte ein heftiges Gefühl, ein Schmerz, der von ihm ausstrahlte. Ein tiefer, nagender Schmerz.

Schnell ließ sie die Hand sinken und wich einen Schritt zurück, als habe sie einen elektrischen Schlag bekommen. Und es fühlte sich wirklich so an. Mit dieser Gabe lebte sie, so lange sie denken konnte, verbarg sie aber vor anderen. Wohlerzogene Mädchen aus den Südstaaten lasen keine Gedanken. Doch in all den Jahren hatte sie nie die Gefühle der Menschen, deren Gedanken sie las, erahnt. Sie hatte durch Bilder und gelegentlich Worte die Gedanken anderer wahrnehmen können, aber nie deren Empfindungen. Bis jetzt.

„Nett, Sie kennenzulernen“, murmelte sie, als sie sich etwas gefangen hatte.

Er erwiderte nichts, sondern starrte sie weiterhin an. Am liebsten wäre sie vor ihm weggelaufen, obwohl sie sich seltsam von ihm angezogen fühlte. Von seiner Aura. Seinem Schmerz.

Trotz der unangenehmen Situation bemühte sie sich um ein Gespräch. „Ich würde gern mit Ihnen darüber sprechen, wie Sie sich die Restaurierungen vorstellen. Natürlich nicht jetzt, ich brauche etwas zum Schreiben. Vielleicht morgen. Oder übermorgen, wenn Sie wollen.“ Gütiger Himmel, was faselte sie da für dummes Zeug.

„Sie brauchen nur eines zu wissen. Ich erwarte Perfektion.“

Selene kannte sich aus mit Perfektion. Sie hatte ein perfektes Leben geführt mit einer perfekten Familie. War auf perfekte Schulen gegangen und hatte den perfekten Mann geheiratet. Vielmehr den perfekten Betrüger. „Ich werde mein Bestes tun, um Sie zufriedenzustellen.“

„Das wird sich zeigen. Ich bin nicht leicht zufriedenzustellen.“

Das überraschte Selene nicht, war Adrien Morrell nach Ellas Einschätzung doch ein „schwieriger Fall“. Da sie auf die Berührung ihrer Hände so heftig reagiert hatte, ahnte sie, dass er dafür vielleicht seine Gründe hatte. „Haben Sie irgendwelche besonderen Vorlieben?“

Er betrachtete eingehend ihr Gesicht und ließ den Blick auf ihrem Mund verweilen. „In welcher Hinsicht?“

Wieder hatte sie eine Vision vor ihrem geistigen Auge, sosehr sie auch versuchte, das zu verhindern. Sie erfasste nur einen Teil seiner Gedanken, aber es reichte, um zu erkennen, dass es um nackte Körper ging. Ihren nackten Körper.

Selene begriff nicht, warum ihre antrainierte Fähigkeit, diese Dinge zu unterbinden, sie jetzt im Stich ließ. Verstand nicht, warum sie im Mittelpunkt seiner Fantasien stand, eine Frau, die er eben erst getroffen hatte. Aber am beunruhigendsten war, dass sie das erregte.

„Ich meine mit Hinsicht auf die Restaurierung“, erwiderte sie, sobald die Vision verschwunden war.

„Ich möchte überhaupt nichts damit zu tun haben. Es sei denn, Sie haben keine Ahnung, was Sie tun sollen.“

Selene wurde ärgerlich. „Wieso glauben Sie, dass ich nicht weiß, was ich tun soll?“

„Ich habe keinen Beweis dafür, dass Sie es wissen.“

Wie sollte sie darauf antworten? Am besten nur mit der halben Wahrheit. „Ich habe einen Abschluss als Innenarchitektin. Ich habe Personal geführt und mein eigenes Haus renoviert. Ich habe sogar selbst Möbel aufgearbeitet.“

„War das vor oder nach dem Tennismatch mit den Damen im Klub?“

Sein herablassender Ton gefiel ihr nicht. Und noch weniger gefiel ihr, dass er mit ihrem früheren Leben richtig lag. „Ich glaube, es war an dem Tag, als ich mit den Töchtern des Senators zum Tee verabredet war“, erklärte sie zuckersüß. „Und gleich danach ging ich zu meiner Benimmstunde, um zu lernen, wie man nett und freundlich ist, selbst wenn man es mit ungehobelten Armleuchtern zu tun hat. Diese Lektionen scheinen mir leider im Moment entfallen zu sein.“

Er sah aus, als wolle er tatsächlich lächeln, tat es jedoch nicht. „Nennen Sie mich etwa einen Armleuchter, Mrs. Winston?“

In einer dramatischen Geste legte sie eine Hand auf die Brust. „Aber nein, Mr. Morrell. Das wäre wirklich ganz ungehörig.“

Wieder ließ er den Blick über ihren Körper wandern. „Es ist nichts Schlimmes daran, hin und wieder ungehörig zu sein, Selene.“

Zweifellos hatte er keine Schwierigkeiten damit. Er war unverschämt genug, sie beim Vornamen zu nennen. Dreist genug, seinen Fantasien mit ihr freien Lauf zu lassen. Und er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht aufzustehen … bis jetzt.

Langsam erhob er sich. Wie sie angenommen hatte, war er etwas über eins achtzig. Seine Brust war muskulös und mit dunklen Härchen bedeckt, sein Bauch über seiner schwarzen Hose flach. Allein seine Nähe brachte Selene durcheinander. Außerdem war da sein Duft. Es war ein schwacher, klarer Duft, der perfekt zur Sommernacht passte, als sei Mr. Morrell ein Teil davon. Rätselhaft, berauschend, verboten.

Falls er sie hatte einschüchtern wollen, hatte er sein Ziel erreicht. Aber Selene würde das nicht zulassen. Sie würde sich nie mehr von einem Mann einschüchtern lassen, selbst wenn er absolut atemberaubend war – auf bedrohliche Art und Weise.

Statt zurückzuweichen, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ein paar dunkle Weinreben auf seinem muskulösen Oberarm, die das Wort Imperium umrankten. „Ein interessantes Tattoo. Mein Latein ist ein wenig verrostet. Was bedeutet das?“

Er schaute ihr tief in die Augen. „Herrschaft, abbsolute Macht.“

Diese Bemerkung, gepaart mit seiner überwältigenden Ausstrahlung, lähmte sie regelrecht. Dabei wusste sie, was er vorhatte. Wenn sie nicht gleich ging, würde er sie küssen. Und sie würde es womöglich zulassen.

Sie zwang sich zurück in die Realität und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich glaube nicht, dass Macht absolut ist, Mr. Morrell.“

Dann wandte Selene sich von ihm ab, um in ihr sicheres Schlafzimmer zurückzukehren. Doch nach wenigen Schritte hörte sie ihn sagen: „Es gibt Macht, die absolut ist, Selene. Und Sie wissen das.“

Sie wagte nicht, ihn noch einmal anzusehen oder zu antworten. Das würde ihm nur beweisen, dass er eine gewisse Macht besaß – über sie.

Sie machte die Tür hinter sich zu und schloss ihn damit aus. Aber sie schaffte es nicht, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen, und sie konnte auch die anhaltende Hitze nicht loswerden, die wenig mit den sommerlichen Temperaturen zu tun hatte.

Sie stieg ins Bett und versuchte, an etwas anderes zu denken. Aber als sie einschlief, war Adrien Morrell das Letzte, woran sie dachte. Das Letzte, was sie vor ihrem geistigen Auge sah.

In dem Moment, als Selene am nächsten Morgen vom Bad in den Flur trat, wusste sie, dass er in der Nähe gewesen war. Sie hatte sofort den Duft seines Aftershaves in der Nase, aber wichtiger noch, sie spürte seine Gegenwart. Es war ein undefinierbares Gefühl, das sie vollkommen vereinnahmte. Zu sehen war er allerdings nirgends. Das hätte sie freuen sollen, doch irgendwie war sie enttäuscht – natürlich nur, weil sie gern bei Tageslicht einen Blick auf ihn geworfen hätte. Einen ausgiebigen Blick.

Als sie nachsehen wollte, ob seine Schlafzimmertür offen stand, versetzte die grässliche Statue ihr einen heftigen Schreck. Dämon Giles würde unbedingt woandershin müssen. Am liebsten hätte sie ihn in den nahe gelegenen Sumpf geworfen.

Wenig später eilte Selene in weißer Leinenhose und korallenfarbigem ärmellosem Top die Treppe hinunter, froh, den düsteren Korridor hinter sich lassen zu können.

Auf ihrem Weg durch die Rotunde zur Küche blieb sie vor einem Gemälde stehen, das eine junge Frau mit grünen Augen und pechschwarzem Haar zeigte. Die Hände hatte sie sittsam im Schoß gefaltet. Nach ihrer Kleidung zu urteilen – ein langes weißes Spitzenkleid –, hatte die Lady wohl vor vielen Jahren auf der Plantage gelebt. Doch als Selene die Inschrift auf dem Messingschild unten auf dem Rahmen las, lief ihr ein Schauer über den Rücken, und ein ungutes Gefühl überkam sie.

Grace – Sie schläft bei den Engeln.

Vielleicht lag hier der Schlüssel zu einer der Tragödien, von denen Ella gesprochen hatte. Vielleicht war diese schöne junge Frau zu früh gestorben, womöglich sogar in diesem Haus. So beunruhigend dieser Gedanke war, Selene wollte mehr über die Vergangenheit der Plantage erfahren. Und wer könnte ihre Fragen besser beantworten als die rechte Hand des gegenwärtigen Besitzers?

In der Küche stand Ella an einem alten weißen Herd, machte Rührei und summte dabei ein fröhliches Lied.

„Guten Morgen“, begrüßte Selene sie und setzte sich an den alten Kiefernholztisch.

„Guten Morgen“, erwiderte Ella. „Haben Sie gut geschlafen?“

„Einigermaßen gut. Ich werde eine Weile brauchen, um mich einzugewöhnen.“ Um mich daran zu gewöhnen, dass Adrien Morrell direkt nebenan wohnt, dachte sie. Die ganze Nacht über hatte sie immer wieder seine Schritte gehört, als sei er unruhig gewesen. Genau wie sie. Sie war es immer noch.

Ella brachte Selene ihr Frühstück und eine Tasse Kaffee. „Lassen Sie es sich schmecken.“

Selene machte sich eigentlich nichts aus Eiern oder Speck. Ein wenig Toast wäre ihr lieber gewesen. „Das sieht wirklich sehr gut aus, aber ich bin morgens nie besonders hungrig. Außerdem wollte ich heute früh mit der Arbeit beginnen.“

Ella setzte sich mit einer Tasse Kaffee zu Selene an den Tisch. „Wenn Sie noch eine Weile bleiben, treffen Sie vielleicht Mr. Morrell, wenn er zum Frühstücken herunterkommt.“

„Ich habe ihn bereits getroffen.“ Selene wartete, bis Ellas Überraschung verflogen war. „Letzte Nacht, auf der Veranda vor unseren Zimmern.“

Ella trank einen Schluck Kaffee. „Wie ist es gelaufen?“

„Nicht allzu schlecht. Er wollte wissen, welche Erfahrung ich mit der Arbeit habe, und ich hatte den Eindruck, dass er sich nicht mit den Details der Restaurierung beschäftigen will.“

Ella seufzte. „Er will in Ruhe gelassen werden.“

Selene hatte das letzte Nacht gespürt, trotz seiner Fantasien, in denen sie eine Rolle gespielt hatte. „Womit genau verdient er seinen Lebensunterhalt?“

„Er ist Unternehmer. Mittlerweile hat er aus seinem Erbe ein kleines Vermögen gemacht. Hauptsächlich kauft er unprofitable Firmen auf, saniert sie und verkauft sie wieder mit großem Gewinn. Er ist sehr gut darin, zumindest war er es bis …“ Ella ließ den Satz unvollendet.

„Bis …?“

„Bis er beschloss, sich eine Auszeit zu nehmen.“

Selene hätte gern mehr über Adrien Morrell erfahren. Aber sie spürte, dass Ella ihre Fragen nicht beantworten würde. Also sollte sie das Thema wechseln. „ Ich würde gern einige Bauunternehmer anrufen und Termine vereinbaren.“

Ella trank schnell noch einen Schluck Kaffee. „Sie werden sich in Baton Rouge umhören müssen, denn hier in der Gegend werden Sie niemanden finden, der bereit wäre, hierherzukommen. Die Leute sind abergläubisch. Sie glauben, auf dem Haus liege ein Fluch.“

Unbewusst hatte Ella Selene damit eine Gelegenheit gegeben, Fragen zu stellen. „Hat die Frau auf dem Porträt neben der Treppe irgendetwas zu tun mit den Dingen, die hier geschehen sind?“

„Ich bin mir nicht sicher. Wahrscheinlich schon, aber ich weiß nichts Näheres über sie.“

Selene trank ihren Kaffee aus und stand auf. „Ich werde in die Stadt fahren und bei einigen Geschäftsleuten vorbeischauen. Vielleicht kann mir ja jemand einen hiesigen Bauunternehmer empfehlen, der nicht abergläubisch ist.“

„Viel Glück.“ Ella deutete auf Selenes Teller. „Vorher sollten Sie aber doch noch etwas essen.“

„Nein danke. Ich will so schnell wie möglich mit der Restaurierung beginnen.“ Sie wollte so schnell wie möglich weg, weil sie deutlich spürte, dass Adrien jeden Moment in der Küche auftauchen würde. Er würde sie nur wieder aus dem Gleichgewicht bringen. Wenn sie ihn bei Tageslicht wiedersehen würde, könnte sie ihr Interesse an ihrem Boss nicht länger verheimlichen. Sie gestand sich ein, dass sie vollkommen von ihm fasziniert war. Er hatte Geheimnisse, so viel wusste sie, und von den meisten würde sie vermutlich nie etwas erfahren.

Doch sie wusste auch, dass diese Geheimnisse seinen Schmerz verursacht hatten, und sie hatte sich schon immer von verlorenen Seelen angezogen gefühlt. Sie hatte bei der Telefonseelsorge gearbeitet und dabei auch erfahren, dass manche Leute in Bedrängnis gar keine Hilfe wollten. Sie hatte den Verdacht, dass Adrien Morrell gar nicht aus seiner Einsamkeit herauswollte. Das war der Grund warum sie sich schwor, ihm keine Beachtung zu schenken, solange er nicht in ihre Gedanken eindrang.

Adrien stand in seinem Büro am Fenster und sah zu, wie Selene Winston wegfuhr. Er ging sofort in ihr Zimmer, um zu sehen, ob sie für immer gegangen war.

Das weiße Nachthemd, das sie letzte Nacht getragen hatte, hing über dem Fußende des Bettes. Der dünne Stoff hatte nur wenige Details ihres Körpers enthüllt, aber genug, um ihn in Unruhe zu versetzen. Er strich über das Nachthemd, das so weich war wie ihre Haut. Das wusste er genau, obwohl er sie nicht berührt hatte. Noch nicht. Aber er würde es.

Vergangene Nacht hatte er mit sich gerungen. Er wusste nicht, ob er seinem Verstand oder seinen Gefühlen folgen sollte. Viele verglichen ihn mit einem Raubtier, jemandem, der ein Revier eroberte, sowohl in geschäftlicher Hinsicht als auch in privater. Bis vor Kurzem hatte er für die Jagd gelebt, und die Belohnung, die eine Eroberung mit sich brachte. Selene Winston hatte dieses Verlangen wieder in ihm erweckt. Auch wenn er alles tat, um seinen Urtrieb zu unterdrücken, so war er doch immer noch ein Mann. Ein Mann mit einer Mission.

Er hatte vor, sie in seine düstere, von ihm selbst geschaffene Welt zu ziehen, indem er sie langsam und vollkommen verführte. Anfangs würde sie vielleicht abgeneigt sein, aber schließlich würde sie ihm ohne Vorbehalt folgen. Willig. Offen.

Durch sie würde er eine Zeit lang von seinen Selbstvorwürfen abgelenkt werden. Er würde zeitweise vergessen können, was ihn quälte.

Eine Viertelstunde später hielt Selene in St. Edwards vor „Abby’s Antiques“, einem Antiquitätengeschäft, in dem sie schon einige Male gewesen war. Es lag mit einer Reihe anderer Geschäfte an der einzigen größeren Straße des Ortes. Nach kurzem Zögern stieg sie aus und betrat den Laden.

Die Inhaberin, Abby Reynolds, eine zierliche Mittvierzigerin, sah von ihrer Ladentheke hoch und begrüßte Selene mit einem Lächeln. „Hallo, Mrs. Winston. Ich dachte, Sie hätten die Stadt verlassen.“

„Wie es aussieht, werde ich noch eine Weile hier sein.“

Abby legte das Buch, das sie gelesen hatte, beiseite. „Sie haben sich entschlossen zu bleiben?“

„Ja, und das habe ich Ihnen zu verdanken. Erinnern Sie sich an die Annonce, die Sie mir gezeigt haben? Es handelt sich um eine Plantage westlich der Stadt, und ich wurde beauftragt, die vollständige Instandsetzung des Hauses zu beaufsichtigen.“

Maison de Minuit.“ Selene entging nicht die plötzliche Besorgnis in Abbys Ton. „Das ist bestimmt eine große Herausforderung.“

„Ja, und deshalb bin ich hier.“ Selene stellte ihre Tasche auf die Ladentheke. „Kennen Sie zufällig einen hiesigen Bauunternehmer, der bereit wäre, die Sache in Angriff zu nehmen?“

Abby schüttelte den Kopf. „Sie werden hier niemanden finden, der da hinausgehen würde.“

Genau das hatte Ella auch gesagt. „Was hat das Haus denn an sich, dass alle es meiden wie die Pest?“

„Nun ja, da wäre die Sache mit dem Liebespaar, das angeblich dort gestorben ist, und dann die Voodoo-Frau, die danach dort gelebt hat. Und der irgendwie verrückte Giles Morrell, der zum Glück nicht lange dort war. Sie haben die freie Auswahl.“

Selene fragte sich, ob Grace Teil des Liebespaars war. „Wissen Sie Näheres? Ich würde gern etwas über die Geschichte der Plantage erfahren.“

„Ich bin erst seit ein paar Jahren in der Stadt. Wenn über die Plantage geredet wird, dann immer nur kurz, als hätten die Leute Angst, das Thema überhaupt anzuschneiden. Und dann ist da noch die Frau, die vor einem Jahr auf mysteriöse Art und Weise verschwand.“

„Was für eine Frau?“

„Angeblich hat sich Adrien Morrell über ein Jahr lang dort mit ihr verkrochen. Ralph Allen, der für einen Lieferservice arbeitet, hat dort jede Woche Päckchen angeliefert. Er sagt, er habe sie ein paarmal an einem der oberen Fenster gesehen.“

Bestimmt hatte Adrien keine unbekannte Frau in dem geheimnisvollen Schlafzimmer eingesperrt. Ein völlig absurder Gedanke. Trotzdem … „Aber soweit man weiß, hat sie das Haus verlassen?“

„Die Lieferungen hörten plötzlich auf, und niemand hat sie seither gesehen. Allerdings schwört Ralph, dass er eines Morgens einen Leichenwagen aus der Richtung des Hauses hat kommen sehen.“

Selene musste schlucken. „Sie ist gestorben?“

Abby fühlte sich sichtlich unbehaglich. „Dafür gibt es keinen eindeutigen Beweis. Keine Todesanzeige oder so etwas. Aber Mr. Morrell hat genug Geld, um sich Schweigen zu erkaufen. Daher ist wohl alles möglich. Falls er wollte, dass sie starb, konnte er es arrangieren, ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen.“

Selene konnte sich Adrien eigentlich nicht als Mörder vorstellen. Aber was wusste sie schon von ihm? Nicht viel, außer dass er ein äußerst attraktiver, mächtiger Mann war. „Vielleicht ist sie aus freien Stücken gegangen.“

„Vielleicht war sie ein Geist.“ Abby lächelte beruhigend. „Sie wissen ja, wie das mit Klatsch so ist, Selene. Ständig wird die Geschichte weiter ausgeschmückt.“

Selene hätte gern geglaubt, dass alles nur dummes Gerede der Leute war. Trotzdem fühlte sie sich immer noch unbehaglich. „Kennen Sie jemanden, der über die früheren Besitzer der Plantage Bescheid weiß? Vielleicht einen Historiker?“

„Leider gibt es keine Bibliothek in der Stadt, sonst hätte ich Sie dorthin geschickt. Sie könnten es im Gericht probieren, aber ich weiß nicht, wie weit zurück deren Akten reichen. Sie haben sie noch nicht einmal elektronisch erfasst. Und sie haben eine Menge Dokumente bei einer Überschwemmung in den Zwanzigerjahren verloren.“

Es würde nicht leicht werden, etwas über die Plantage herauszufinden. „Ein Versuch kann ja nicht schaden.“

„Viel Glück. Inzwischen kann ich mich ja umhören, und wenn ich jemanden finde, der die Geschichte der Plantage kennt, sage ich Ihnen Bescheid.“

„Das wäre wunderbar.“ Selene schrieb Abby ihre Handynummer auf. „Sie können mich jederzeit anrufen.“

„Ich schreibe Ihnen die Adresse einer Freundin auf. Linda Adams wohnt in Baton Rouge und hat sich auf das Restaurieren von Antiquitäten spezialisiert.“ Sie gab Selene den Zettel mit der Anschrift. „Sie kann Ihnen bei der Auswahl von Stoffen helfen und allem, was mit der Aufarbeitung der Möbel zu tun hat. Ihr Mann ist Bauunternehmer, und da er Erfahrung mit historischen Häusern in der Gegend hat, ist er ja vielleicht bereit, für Sie tätig zu werden.“

Selene bedankte sich und wollte sich gleich darauf auf den Weg nach Baton Rouge machen. Doch noch ehe sie auf die Straße abbiegen konnte, kam ihr ein Name in den Sinn, den sie so deutlich wahrnahm wie die Kirchenglocke, die gerade zu läuten begann. Der Name hatte keinerlei Bedeutung für sie, aber die Stimme, die ihn aussprach.

Adrien Morrells Stimme.

„Wer ist Chloe?“ Selene bemerkte, dass sich Ella versteifte.

„Wo haben Sie diesen Namen gehört?“, wollte Ella wissen.

„In der Stadt.“ Sie wagte nicht zu sagen, dass der Name plötzlich in ihren Gedanken aufgetaucht war.

Ella warf ihr einen argwöhnischen Blick zu, ehe sie die Erbsen auf ihrem Teller hin und her zu schieben begann. „Das ist nicht möglich. Niemand in der Stadt weiß von ihr.“

„Man glaubt, eine Frau namens Chloe lebte eine Weile mit Mr. Morrell hier, und dann war sie verschwunden. Es geht das Gerücht um, dass sie gestorben ist.“

Ella schob ihren Teller beiseite. „Erstens, Sie können nicht immer glauben, was Sie hören, Selene. Zweitens, ich weiß zwar nicht, wer Ihnen von ihr erzählt hat, aber wenn ich Sie wäre, würde ich das Thema streichen.“

Selene entging Ellas ärgerlicher Unterton nicht. Sie befürchtete, wenn sie sie zu sehr drängte, dann würde Ella auch mehr von Selenes Vergangenheit wissen wollen. Oder schlimmer, sie trotz des Vertrags sofort entlassen. „Ich war heute in Baton Rouge und habe eine Frau gefunden, die mir bei der Restaurierung der Möbel helfen wird. Ihr Mann ist Bauunternehmer und will vorbeikommen, um uns einen Kostenvoranschlag für verschiedene Reparaturen zu machen. Aber nicht vor nächster Woche.“

Zu Selenes Erleichterung lächelte Ella. „Sie haben heute wirklich eine Menge erledigt.“

„Ich war auch im Gericht. Man sagte mir, es würde einige Tage dauern, um irgendwelche Pläne vom Haus in den Archiven ausfindig zu machen, falls sie überhaupt welche haben. Meinen Sie, ich könnte hier welche finden?“

„Adrien hat wahrscheinlich welche, aber da müssten Sie ihn selbst fragen.“

Das wollte Selene nicht, zumindest nicht heute Abend. „Gibt es einen Dachboden, wo ich alte Dokumente finden könnte, vielleicht Originalbaupläne?“

Ella nahm ihren und Selenes Teller und stand auf. „Ja, es gibt einen Boden. Die Tür befindet sich am Ende des Flurs hinter Adriens Büro. Sie können sich dort gern umsehen.“ Der Blick, den Ella Selene dabei zuwarf, besagte: „Falls Sie es wagen.“

„Ich denke, ich werde in den nächsten Tagen einmal hinaufgehen.“ Bei Tageslicht, beschloss Selene, denn sie wollte auf keinen Fall in der Dunkelheit auf dem Dachboden sein, falls es dort doch etwas gab, was zu den seltsamen Gerüchten geführt hatte.

Selene stand ebenfalls auf und bot an, den Abwasch zu machen.

„Falls Sie es noch nicht bemerkt haben, wir haben keinen Geschirrspüler.“

„Ich weiß. Ich habe kein Problem damit, meine Hände zu gebrauchen.“

„Dann nehme ich Ihr Angebot gern an. Ich muss ohnehin noch mit Adrien reden, ehe ich mich zurückziehe.“

Bestimmt, um ihm über die neue Angestellte zu berichten, dachte Selene. Aber bisher hatte sie ja nichts falsch gemacht, außer den Namen Chloe zu erwähnen. Und sie hatte den Verdacht, dass Ella mehr zu diesem Thema wusste, als sie bereit war zuzugeben. Ein Geheimnis, das womöglich immer eines bleiben würde, es sei denn, sie, Selene, bemühte sich bewusst – oder unterbewusst – darum, es aufzudecken.

Nein. Sie würde nicht in die Gedanken eines Menschen eindringen, um Informationen zu erhalten. Sie hatte das ein Mal getan und hatte dafür büßen müssen. Diese Information musste ihr jemand freiwillig geben. Sie bezweifelte sehr, dass Adrien Morrell dieser Freiwillige sein würde, auch wenn ihr klar war, dass er den Schlüssel zu dem Geheimnis besaß. Aber vielleicht wollte sie auch gar nicht dahinterkommen.

Adrien sah nicht von seiner Zeitung auf, als Ella ihm sein Essen servierte. „Wenn es kalt ist, gib mir nicht die Schuld. Du solltest zum Essen hinuntergehen.“

„Es wird schon schmecken.“

Ella blieb stehen. „Willst du gar nicht wissen, was unser neuer Hausgast heute so gemacht hat?“

Er wusste nur zu gut, was sie gemacht hatte – ihn die ganze Zeit daran denken lassen, wie er sie langsam verführte. Er vertiefte sich wieder in die Zeitung und hoffte, Ella würde den Wink verstehen und gehen. „Ich habe dir doch gesagt, dass mich ihre Pläne nicht interessieren.“ Sie hingegen interessierte ihn sehr.

„Sie hat sich nach der Geschichte des Hauses erkundigt“, fuhr Ella unbeirrt fort. „Ich dachte, du könntest dich ihr da zur Verfügung stellen.“

Adrien wollte sich ihr nur in einer Hinsicht zur Verfügung stellen, und das hatte nichts mit der Vergangenheit zu tun. An der unmittelbaren Zukunft hatte er weitaus mehr Interesse. Er legte die Zeitung weg. „Was schlägst du also vor?“

„Zuerst einmal braucht sie einen Satz Baupläne.“

Er nahm eine Papprolle aus einer Schublade und reichte sie Ella. „Hier.“

„Nein, gib du sie ihr. Es wird dich nicht umbringen, nett zu ihr zu sein.“

Wenn Ella wüsste, wie leidenschaftlich gern er nett zu Selene sein wollte, dann würde sie ihr die Pläne lieber selbst geben. „Ich werde darüber nachdenken. Aber im Moment habe ich zu tun. Noch irgendetwas, worum ich mich kümmern sollte?“

„Ja, mein Lieber. Deine Manieren.“

Damit drehte Ella sich um und war zur Tür hinaus, noch ehe Adrien ihr eine gute Nacht hätte wünschen können. Er erwartete, nicht gut zu schlafen. Das hatte er in den vergangenen zwei Jahren nur selten. Frieden hatte er in den letzten Monaten genauso wenig gefunden, und die letzte Nacht bildete da keine Ausnahme. Es hatte nichts genützt, dass er einer Frau begegnet war, die so gar nicht seinen Erwartungen entsprach. Einer Frau, die einen Funken in ihm entzündet hatte, der schnell zu einem lodernden Feuer geworden war.

Vielleicht wollte Selene heute Abend ein wenig Zeit mit ihm verbringen. Wenn sie die Geschichte des Hauses erforschen wollte, konnte er ihr weiterhelfen. Er würde sie zu gern auf eine andere Entdeckungsreise mitnehmen, wenn sie ihm nur irgendeinen Hinweis geben würde, dass ihr seine Aufmerksamkeit willkommen war. Er hatte allerdings keinen Grund zu glauben, dass ihr seine Gesellschaft angenehm war.

Aber davon würde er sich nicht abhalten lassen. Im Geschäftsleben hätte er nie etwas erreicht, wenn er Herausforderungen gemieden hätte. Nun musste er Selene Winston davon überzeugen, dass sie nichts von ihm zu fürchten hatte, solange sie nicht die Wahrheit erfuhr.

3. KAPITEL

Als Selene auf dem Weg in ihr Zimmer die Rotunde mit den aufgemalten Engeln durchquerte, veranlasste sie ein unheimliches Gefühl, ihre Schritte zu verlangsamen. Als sie in den düsteren Korridor abbog, klopfte ihr Herz augenblicklich schneller. Adrien stand regungslos im Flur, eine Schulter gegen die Wand gelehnt, die Hände tief in den Taschen seiner schwarzen Hose vergraben, zu der er ein stahlgraues Hemd trug.

Selene wollte ihm höflich eine Gute Nacht wünschen und in ihrem Zimmer verschwinden. Doch ehe sie auch nur ein Wort herausbrachte, fragte er: „Gehen Sie schon zu Bett?“

Seine Stimme klang provozierend und spiegelte sein ganzes beunruhigendes Wesen wider. Ein mürrischer Fremder im Schatten. Im gedämpften Licht konnte sie nun wenigstens Details eines Gesichts erkennen, das die Engelchen, die in der Nähe Wache hielten, modelliert haben könnten. Er hatte ein Gesicht, wie man es nicht alle Tage sah, und besonders eindrucksvoll waren die Augen, die sie unverwandt anstarrten.

Endlich fasste sich Selene. „Ich hatte einen anstrengenden Tag. Ich bin müde.“

Er stieß sich von der Wand ab. „Zu müde für ein kleines Abenteuer?“

„Was für ein Abenteuer?“

„Ella sagte mir, dass Sie etwas über die Geschichte des Hauses wissen möchten. Ich habe etwas, was Sie sehr interessieren könnte.“

Der seltsame Unterton in seiner Stimme verwirrte sie. „Und was genau wäre das?“

„Ich könnte es Ihnen sagen, würde es Ihnen jedoch lieber zeigen.“

Selene sah auf ihre Uhr, wenn auch mehr aus Nervosität. Obwohl es erst kurz nach neun war, sagte sie: „Es ist schon recht spät.“

„Sie werden es nicht bereuen.“

Seine Stimme jagte Selene einen wohligen Schauer über den Rücken. „Wohin genau würden wir für dieses Abenteuer gehen?“

Er machte eine Kopfbewegung zum anderen Ende des Korridors. „In mein Büro.“

Ein Büro wäre wahrscheinlich sicher genug, aber konnte sie in seiner Nähe wirklich sicher sein? Sie hatte zwei Möglichkeiten – sie konnte ihm vertrauen oder ihre Gabe einsetzen und seine Gedanken lesen. Sie entschied sich für die zweite Möglichkeit, empfing aber nichts. Keine Visionen, wie er sie als Geisel hielt oder ihr etwas antat. Zumindest noch nicht.

„Gehen Sie voran.“ Wenn sie für ihn arbeiten wollte, dann musste sie ihm ein gewisses Vertrauen schenken, es sei denn, es erwies sich, dass er es nicht verdiente. Und dann war es hoffentlich nicht zu spät für einen Rückzieher.

Sie folgte ihm in den Flügel, den Ella ihr auf der Besichtigungstour zwar beschrieben, den sie jedoch noch nicht betreten hatte. Sie kamen an der Tür des ehemaligen Kinderzimmers vorbei, und gleich daneben lag sein Büro.

Es war geräumig und ganz modern eingerichtet, angefangen vom Schreibtisch aus massiver Eiche, auf dem eine einzelne Lampe brannte, bis hin zum Computer auf einem Tisch in der Ecke. Einige Aktenordner standen ordentlich nebeneinander aufgereiht, und ein silberner Behälter enthielt verschiedene Stifte. Alles war an seinem Platz und ganz anders, als Selene es erwartet hatte. Dank eines Klimageräts war es angenehm kühl im Raum.

Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, wäre sie beinah in Panik geraten. Sie saß in der Falle. Er konnte mit ihr machen, was er wollte, und sie bezweifelte, dass Ella einen einzigen Hilferuf hören würde.

Aber sie empfing keine seltsamen Schwingungen und hatte keine dunklen Vorahnungen. Als sie sich zu Adrien umdrehte, lächelte er sie an, das erste Mal überhaupt, seit sie hier war. „Was wollen Sie mir denn zeigen?“

Er vergrub die Hände erneut in den Hosentaschen und sah sehr viel entspannter aus, als sie sich fühlte. „Ein Tagebuch.“

Selene wusste, dass nichts wertvoller war, um die Vergangenheit zu rekonstruieren, als persönliche Aufzeichnungen. „Wo ist es?“, fragte sie, und ihr Ton verriet ihre Begeisterung.

Adrien öffnete eine Tür und machte Licht. „Hier oben.“

Selene sah eine schwach erleuchtete, schmale Treppe. Bei dem Gedanken daran, Adrien in einen entlegenen Teil des Hauses zu begleiten, schreckte sie innerlich zurück. „Sieht aus, als ob es dort oben die eine oder andere Fledermaus geben könnte“, sagte sie, um ihre Angst zu überspielen.

Er deutete erneut ein Lächeln an. „Keine Fledermäuse, aber vielleicht ein paar Spinnen.“

„Entzückend.“

„Haben Sie etwa Angst vor Spinnen, Selene?“

„Eigentlich nicht. Solange sie auf Distanz bleiben.“

„Haben Sie Angst vor mir?“

Eine sehr gute Frage. „Hätte ich denn Grund dazu?“

„Ganz und gar nicht.“

Das klang überzeugend, doch konnte sie ihm wirklich glauben? Auf ihren Instinkt konnte sie sich jedenfalls verlassen, und der sagte ihr, dass Adrien nicht vorhatte, sie zu verletzen.

Sie machte eine Geste die Treppe hinauf. „Nach Ihnen.“

Er ging vor, und als sie zögerte, reichte er ihr die Hand. „Ich helfe Ihnen, damit Sie nicht fallen.“

Was Selene wirklich beunruhigte, war die Vorstellung, Adrien erneut zu berühren, da sie Angst vor einer weiteren Vision hatte. Doch statt darauf zu beharren, es allein zu schaffen, ergriff sie einfach seine ausgestreckte Hand. Diesmal jagte die Berührung eine Hitzewelle durch ihren Körper. Das Gefühl war überwältigend, und es wurde intensiver, je weiter sie die Treppe hochstieg. Oben angekommen, war es Selene sehr warm, selbst als er ihre Hand losließ.

Sie befanden sich in einem kleinen Raum mit einem schmalen Regal voller alter Bücher. In der Ecke standen ein Schreibtisch aus Mahagoni und ein einzelner Stuhl mit hoher Lehne, der mit rotem Satin bezogen war. Überall lag Staub, an der Decke hingen Spinnweben, aber abgesehen davon wirkte der Raum überhaupt nicht bedrohlich.

„Das hier war einmal die Junggesellenbude“, erklärte Adrien. „Einer der früheren Besitzer hat sie vermutlich benutzt.“

Aber Adrien benutzt sie offenbar nicht, dachte Selene. „Ihr Großvater?“

„Nein. Giles war nicht der Typ, der sehr lange an einem Ort verweilte. Er war ständig unterwegs. Diese Reiselust habe ich von ihm geerbt.“

Sie lächelte ihn an. „Sie reisen also gern.“

„Seit einiger Zeit nicht mehr.“ Er ging zum Bücherregal, dann sah er sie wieder an. „Ich habe die ganze Welt bereist. Europa. Afrika. Mittelamerika. Meistens abseits der ausgetretenen Touristenpfade. Spanien ist eines meiner Lieblingsländer.“

Sie lehnte sich an den Schreibtisch. „Sagen Sie bloß, Sie sind mit den Stieren in Pamplona gerannt.“

„Nein. Ich neige eher dazu, die Stiere anzufeuern, weil ich glaube, dass Tiere manchmal mehr leisten als die Menschen.“

Ein Punkt für ihn. „Sie suchen also den besonderen Kick, solange keine Grausamkeit gegen Tiere im Spiel ist.“

„Es gab eine Gelegenheit, da war das anders.“

Das schien er nachträglich zu bedauern, und das weckte Selenes Interesse erst recht. „Ich war ein paarmal in Europa“, sagte sie. Hauptsächlich war ich in London. Ich habe die üblichen Touristenattraktionen besucht.“

„Waren Sie je zum Klippenspringen in Mexiko?“

Sie lachte. „Ich mache mir nichts aus solchen Attraktionen.“

„Haben Sie je an einem einsamen Strand gestanden, splitternackt, und beobachtet, wie die Sonne aufgeht?“

„Ich fürchte, nein.“

„Das sollten Sie einmal erleben.“

Auch wenn er es nicht wusste, fühlte sie sich durch seine Frage an den Strand aus seinen Erinnerungen versetzt. Sie sah Bilder, die so stark waren, dass sie sie nicht aus ihren Gedanken heraushalten konnte. Sie spürte die salzige Brise auf ihrer nackten Haut und die Sonne auf ihrem Gesicht, nahm die Gerüche des Meeres wahr, fühlte seine Hände auf ihrer Taille, wie sie über ihren Bauch glitten und tiefer …

Abrupt löste sie sich aus seinen Fantasien und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Bücherregal zu. „Ich habe mich oft gefragt, wie es gewesen sein mochte, früher zu leben, als die Zeiten weniger kompliziert waren und die heutigen Annehmlichkeiten unbekannt.“

„Ich war an Orten, an denen man sich einzig und allein auf die Natur verlassen musste. Das ist aufregend.“

„Ich bin zu alt und zu bequem, um allzu primitiv zu leben.“

„Wie alt sind Sie, Ende zwanzig?“

„Zweiunddreißig. Und Sie?“

„Fünfunddreißig. Wie alt waren Sie, als Sie geheiratet haben?“

Offenbar wusste er sehr viel mehr über sie als sie über ihn. „Vierundzwanzig. Ich bin seit einem Jahr geschieden.“

Er begann, hin und her zu gehen. „Also das sprichwörtliche verflixte siebte Jahr.“

„Genauso ist es.“

Adrien blieb stehen und lehnte sich gegen das Regal. „Hatten Sie beide Grund zur Scheidung?“

So gern sie Adrien näher kennenlernen wollte, Selene wurde die Unterhaltung immer unangenehmer. Alles, was ihre Vergangenheit berührte, war jedes Mal unerfreulich für sie. „Vielleicht könnten Sie mir jetzt das Tagebuch zeigen.“

„Wenn es das ist, was Sie wollen.“

Langsam ging er direkt auf sie zu, und Selenes Blick blieb sofort an seinem Mund hängen. Seine weichen Lippen bildeten einen krassen Gegensatz zu seinem markanten Kinn. Zu spät merkte sie, dass er ihr Interesse bemerkt hatte, denn er lächelte wissend.

Als er an ihr vorbeiging, hielt Selene den Atem an. Er zog die Schreibtischschublade auf, nahm ein kleines schwarzes Tagebuch heraus und reichte es ihr.

„Ich habe die Stelle markiert, die Sie vielleicht interessiert.“

Sie schlug die durch ein zartrosa Satinband markierte Seite auf. Ganz oben stand das Datum – Juli 1875. Doch ehe sie den verblassten Eintrag überfliegen konnte, sagte Adrien: „Lesen Sie vor.“

„Sie haben es noch nicht gelesen?“

„Doch, aber ich möchte Ihre Stimme hören.“

Seine Stimme klang derart sinnlich, dass Selene kein einziges Gegenargument einfiel. Sie legte das Tagebuch geöffnet auf den Tisch, während Adrien erneut auf und ab zu gehen begann. Nach einem kurzen Räuspern begann sie zu lesen.

„‚Heute Nachmittag habe ich Z. wieder in der verlassenen Pächterhütte am Sumpf auf seiner Plantage getroffen. Sollte mein Vater entdecken, dass ich Umgang mit seinem Feind habe, wäre er außer sich. Wenn er wüsste, was ich getan habe, würde er ihn sicher umbringen.‘“

Selene merkte, dass Adrien dicht hinter ihr stehen geblieben war. „Wer hat das geschrieben?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe es zufällig vor ein paar Monaten gefunden.“

„Vielleicht gehörte das Tagebuch Grace, der Frau auf dem Porträt neben der Treppe.“

„Das ist gut möglich. Lesen Sie weiter.“

„‚Ich habe Z. freizügig meine Zuneigung geschenkt, habe mich von ihm küssen lassen. Er hat darüber gesprochen, was ein Mann und eine Frau miteinander tun, und mir Dinge erzählt, die für eine sittsame Lady nie infrage kämen. Doch ich habe ihm zugehört und ihn dann gebeten, es mir zu zeigen.‘“

Wieder warf Selene Adrien einen Blick zu, nur um festzustellen, dass er noch näher gekommen war. „Ich komme mir ein wenig wie ein Voyeur vor.“

„Die Zeilen werfen ein interessantes Licht auf die Sitten der Vergangenheit. Aber wenn es Ihnen unangenehm ist, kann ich ja weiterlesen.“

Ihr entging sein herausfordernder Unterton nicht, und sie beschloss, darauf einzugehen. Schließlich waren sie beide erwachsen, und sie bezweifelte sehr, dass das, was in dem Tagebuch stand, sich mit dem vergleichen ließ, was sich in der modernen Literatur in Bezug auf Erotik fand. „Ich lese weiter.“

Tief durchatmend wandte sie sich wieder dem Tagebucheintrag zu. „‚In Z.’s Armen bin ich ein liederliches Frauenzimmer. Ich erkenne mich selbst kaum wieder. Ich habe ihm erlaubt, mein Leibchen zu öffnen und meine Brüste zu berühren. Nie zuvor habe ich solche Lust empfunden. Nie zuvor war ich so offen oder so frei. Ich wollte mehr. Ich wollte alles, was er mir geben konnte.‘“

Selene stockte, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Adriens Hand. Als er mit den Fingerspitzen sacht über ihren nackten Arm strich, versuchte sie, es einfach zu ignorieren und nicht auf das wohlige Kribbeln zu achten, das seine Berührung in ihr auslöste. „Lies weiter“, flüsterte er. „Es wird noch besser.“

Selenes Verstand setzte aus, und ihre Entschlossenheit, ihre Selbstbeherrschung nicht zu verlieren, war ebenfalls wie weggeblasen. „‚Er hob meinen Rock hoch und schob seine Hand unter mein Höschen. Er berührte mich auf eine Art und Weise, wie ich es mir nie vorgestellt hatte. Mein Körper gehörte nicht länger mir. Er gehörte ihm …‘“

Adrien ließ seine Hand über Selenes Hüfte gleiten und ließ sie dann auf ihrem Bauch liegen. Seine gebräunte Hand bildete einen scharfen Kontrast zum Weiß ihrer Hose. Er trat noch eine Schritt näher und lehnte sich mit seiner breiten Brust gegen ihren Rücken.

Sie hatte gerade noch genug Kraft, um das Tagebuch zu schließen. „Das reicht für heute.“ Aber sie stieß nicht seine Hand weg. Sie wies ihn nicht zurecht, sie verharrte einfach regungslos.

„Ich finde nicht, dass das reicht.“

Langsam drehte er sie zu sich um. Sie wusste genau, was er vorhatte. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, was passieren würde, noch bevor er den Kopf neigte.

In der Sekunde, als Adriens Mund ihren Mund berührte, fühlte sie seinen Duft, schmeckte den schwachen Geschmack von Scotch auf seinen Lippen, spürte das verführerische Spiel seiner Zunge. Und plötzlich war ihr, als sei sie mit seinem Körper verschmolzen, mehr noch, mit seiner Seele, weil sie seine Lust genauso erlebte wie ihre eigene. Sie erkannte, dass er mehr von ihr brauchte, mehr von ihr wollte.

Noch immer hatte sie nicht den Wunsch, vor ihm zu fliehen oder sich gegen ihn zu wehren. Sie sah keinen Grund, seine Schultern, die sie fest umklammert hatte, loszulassen. Doch dann löste er sich von ihr und fuhr sich mit einer Hand übers Kinn.

„Entschuldigung. Ich hatte mich für einen Moment nicht in der Gewalt.“

Das sah Selene ein wenig anders. Der Kuss gehörte zu einer sorgfältig geplanten Verführung, und sie war geradewegs in seine Falle getappt.

Sie nahm das Tagebuch vom Schreibtisch. „Ich werde den Rest später lesen, und wir werden vergessen, was gerade eben passiert ist.“

Er wich ein paar Schritte zurück, die Hände wieder in den Hosentaschen vergraben. „Nur zu, versuch es zu vergessen.“

Ich werde das nicht

Messerscharf nahm Selene seinen Gedanken wahr. Dass er beim Du geblieben war, registrierte sie dagegen erst nach einem Augenblick. „Wir sollten es bei einer beruflichen Beziehung belassen.“

Sein vielsagendes Grinsen ließ ihre Entschlossenheit schwinden. „Dafür ist es ein bisschen spät.“

Ihrem Selbsterhaltungstrieb folgend, eilte sie zur Treppe, das Tagebuch fest an sich gedrückt. „Ich gehe jetzt in mein Zimmer.“

„Noch eine Sache, Selene.“

Die Art und Weise, wie er ihren Namen aussprach, wirkte wie ein Magnet auf Selene, und sie wandte sich zu Adrien um. Er hielt ihr eine Papprolle hin.

„Was ist das?“

„Die Pläne für das Haus.“

Sie nahm sie an sich. „Danke.“

„Und lass mich etwas klarstellen. Ich habe dich nicht angestellt. Das war Ella. Du arbeitest also für sie, nicht für mich. Was bedeutet, wir haben keine berufliche Beziehung. Ehrlich gesagt, wenn es nach mir gegangen wäre, wärst du längst weg.“

Selene war im ersten Moment so sprachlos, dass es eine Weile dauerte, bis sie etwas erwidern konnte. „Ist das Sinn und Zweck des Ganzen? Du versuchst, mich zu vergraulen?“

„Am Anfang ja. Aber jetzt nicht mehr. Ich habe entschieden, dass ich dich gern hier habe.“

Ohne zu antworten, eilte Selene die schmale Stiege hinunter bis in ihr sicheres Zimmer. Doch sie fürchtete, dass sie nie mehr sicher sein würde, solange sie mit ihm unter einem Dach lebte.

Während sie sich fürs Bett fertig machte, dachte sie immer wieder an das absolute Hochgefühl, das sie in seinen Armen erlebt hatte. Zu viele Jahre waren vergangen, seit ein Mann sie so berührt oder so fordernd geküsst hatte.

Als sie im Bett lag, schlug Selene das Tagebuch an der Stelle auf, an der sie zu lesen aufgehört hatte.

Wir trafen uns heute erneut in der Hütte, obwohl ich wusste, wie riskant das war. Doch ich musste Z. einfach sehen. Er küsste mich immer wieder, und ich zitterte vor Lust. Ich verzehrte mich nach seiner Berührung. Dann nahm er meine Hand und legte sie auf seine Hose, wo ich seine Härte fühlte. Er sagte, wenn er sich sicher sei, dass ich bereit sei, würde er seinen Körper mit meinem vereinigen. Ich bestand darauf, dass ich bereit sei, ich flehte ihn an, es mir zu zeigen. Zuerst schlug er es mir ab, doch als ich meine Arme für ihn öffnete, war es, als hätte ich etwas Wildes in ihm entfesselt, meinem süßen, sanften Z. Er riss sich seine Kleider vom Leib und zog mir meine aus, ehe er mich auf die Pritsche legte und meinen Körper in Besitz nahm. Ich spürte einen Schmerz, genau wie er gesagt hatte, aber das war nichts im Vergleich zur Lust, die ich fühlte.

In diesen Augenblicken wusste ich, dass ich für immer sein war. Und ich wusste, egal, was die Zukunft brachte, er würde immer mein sein. Aber ich fürchte, unsere Zeit könnte nach dem heutigen Tag schrecklich enden, denn als ich die Hütte verließ, sah ich einen der Feldarbeiter meines Vaters im Sumpf auf der Lauer liegen. Da war mir klar, dass ich ertappt worden bin. Ich habe keine Ahnung, welches Schicksal mich und meinen Geliebten erwartet, wenn mein Vater morgen aus Savannah zurückkehrt. Ich weiß nur, dass, egal, was passiert, jeder Moment in Z.s Armen es wert war. Er ist mein Ein und Alles. Meine einzige wahre Liebe.

Enttäuscht, dass das Tagebuch mit diesem Eintrag endete, schaltete Selene das Licht aus. Sie fragte sich, wie ein Mann solche Macht über eine Frau haben konnte, dass sie sogar ihr Leben riskierte, um mit ihm zusammen zu sein.

Kein Zweifel, Adrien Morrell hatte sie, Selene, in seinen Bann gezogen. Jetzt lag es an ihr, sich zu befreien, ehe auch sie sich ihrer Besessenheit hingab und ihm erlaubte zu tun, was ihm beliebte.

Es war erstaunlich, wie schnell er von Selene besessen wurde.

Adrien kannte sich aus mit Besessenheit. Mit dem Willen, etwas zu besitzen. Wenn er einmal einen Plan in Angriff nahm, sei es geschäftlich oder privat, dann verfolgte er ihn mit hartnäckiger Entschlossenheit, bis er erreichte, was er wollte. Und er wollte sie.

Heute Abend hatte er den ersten Schritt getan. Er hatte erwartet, dass sie ihm ein wenig mehr widerstehen würde, stattdessen hatte sie seinen Kuss mit überraschender Begeisterung erwidert. Leider hatte selbst dieser minimale Kontakt ihn sofort heftig entflammt.

Nachdem er sich ausgezogen hatte, trank er seinen Scotch aus und ging zu der Tür, die sich zur Veranda öffnete. Er spähte hinaus, um zu sehen, ob Selene draußen stand, so wie sie es letzte Nacht getan hatte. Doch auf der Veranda war niemand, und er empfand die Leere in seiner Seele umso stärker.

Er löschte das Licht, streckte sich dann auf dem Bett aus und ließ eine Hand träge über seinen Bauch gleiten. Zu wissen, dass Selene nur ein paar Schritte entfernt war, erregte ihn. Er biss die Zähne zusammen, fest entschlossen, nicht zu ihr zu gehen. Ohne Einladung würde er das nicht tun. Und dass diese bald folgen würde, dessen war er sich sicher.

Im Moment würde er tun, was zu tun war, um sein Verlangen nach ihr zu zügeln – bis die Zeit gekommen war.

Adrien saß reglos auf dem Korbsofa, auf dem Selene ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Der Vollmond hüllte seinen Körper in silbriges Licht, doch seine Gesichtszüge und seinen Blick vermochte es nicht weicher zu machen.

Vollkommen verzaubert stand Selene da, sah ihn an und wartete darauf, dass er etwas sagte, sich bewegte. Ihren Namen aussprach.

Doch er rief sie allein mit seinem Blick und einem leichten Nicken. Leichtfüßig ging sie zu ihm hinüber, ihr Verstand war wie benebelt. Es herrschte absolute Stille – kein Blätterrascheln, kein Geräusch aus dem Sumpf, nicht einmal das Zirpen einer Grille war zu hören. Obwohl sie das seltsam fand, ging sie weiter, bis sie vor ihm stand. Sie sah, dass er völlig nackt war – und erregt.

Auch wenn er kein Wort sagte, wusste sie genau, was er wollte. Als habe sie keinen eigenen Willen mehr, zog sie sich ihr Nachthemd über den Kopf und ließ es auf den Boden fallen. Ohne im Geringsten zu zögern, ergriff sie seine ausgestreckte Hand und gestattete ihm, sie auf seinen Schoß zu ziehen. Sie seufzte, als er sie hochhob und in sie eindrang. Das Gefühl war überwältigend, unbeschreiblich. Sie wollte mehr. Sie brauchte ihn, um all die Jahre der Enttäuschung auszulöschen. Doch als er reglos verharrte, wusste sie, dass er wollte, dass sie sich zuerst bewegte. Sie verfiel in einen gleichmäßigen Rhythmus, und in diesem Moment wurde sie zu einer Frau, die sie nicht kannte. Eine zügellose Frau, die alles daransetzte, ihm un sich selbst Lust zu bereiten.

Noch immer war nichts zu hören, kein atemloses Keuchen, kein lustvolles Stöhnen. Selene spürte ihren Herzschlag, ihren rasenden Puls, als sie sich dem Höhepunkt näherte. Dann hielt Adrien inne und barg das Gesicht zwischen ihren Brüsten.

Sie wollte ihn fragen, warum er aufgehört hatte, aber sie konnte nicht sprechen. Sie konnte nur seinen Kopf anheben und ihn zwingen, sie anzuschauen. Wieder sah sie seinen tiefen Schmerz, ehe sein Gesicht zu verschwimmen begann und dann ganz verschwand, gefolgt von einem weißen Lichtblitz, der sie blendete.

Mit aufgerissenen Augen fuhr Selene hoch. Sie war nicht auf der Veranda. Sie war im Bett.

Hastig sah sie sich im dunklen Zimmer um, nur um festzustellen, dass sie allein war. Offenbar hatte sie geträumt. Einen sehr detaillierten Traum, der ihr sehr, sehr echt vorgekommen war.

Dann kam ihr eine Erkenntnis. Nein, das war kein Traum. Es war eine Fantasie.

Seine Fantasie.

Selene sank auf die Matratze zurück. Adrien war unwissentlich in ihre Gedanken eingedrungen, hatte erotische Bilder mitgebracht, die sie so bald nicht vergessen würde. Sie verstand nicht, warum sie so empfänglich für seine Gedanken war oder warum diese Gedanken so stark waren, dass sie ihren Schlaf störten. Es war erstaunlich, dass er sie für eine derart zügellose Frau hielt. Wenn er wüsste, dass sie normalerweise nicht so war, würde er sie immer noch begehren? Ihr war klar, was er getan hatte, denn durch diese wundersame Verbindung hatte sie all seine Lustgefühle miterlebt. Doch irgendetwas hatte ihn innehalten lassen, ehe er die Erfüllung fand, die er offenbar gesucht hatte.

Ein weiterer greller Lichtblitz lenkte Selenes Aufmerksamkeit auf die Fenster und eine schattenhafte Gestalt, die über die Veranda ging. Ein Gewitter zog auf, und jemand stand vor ihrem Zimmer. Sie ahnte, wer dieser Jemand war. Doch sie musste sich überzeugen, ehe sie schlafen konnte.

Auf Zehenspitzen schlich sie zu den Fenstern hinüber. Sie sah ihn nur wenige Meter entfernt am Geländer stehen und in die Ferne starren. Ein gelegentlicher Blitz enthüllte seine ihr halb im Profil zugewandte Gestalt – in ihrer ganzen herrlichen Nacktheit ein atemberaubender Anblick. Es begann zu regnen, doch er blieb reglos stehen. Wassertropfen sammelten sich auf seiner Haut und rannen über seinen Körper – über seine muskulösen Oberarme, seine Wirbelsäule und seinen wohlgeformten Hintern. Er blieb stehen, hob das Gesicht und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, als sei es ein Reinigungsritual.

Selene war wie gebannt von dem Bild … bis er sich zu ihr umdrehte und ein weiterer Blitz sein Gesicht erhellte.

In diesem Moment sah sie tiefes Bedauern in seinem schönen Gesicht. Sie sah auch das Verlangen in seinen Augen. Und Selene befürchtete, sie sah noch etwas anderes, was ihr womöglich gar nicht gefiel: ihr Schicksal.

4. KAPITEL

An den beiden letzten Tagen hatte Selene morgens mit dem Aufstehen gewartet, bis sie Adrien sein Zimmer verlassen hörte. Sie wollte sicher sein, dass sie ihn nicht auf dem Weg ins Bad traf. Seit dem Intermezzo in seinem Büro hatte sie ihn überhaupt nicht gesehen, und das war momentan wohl auch das Beste.

Da Ella bis zum Abend in der Stadt sein würde, nutzte Selene die Gelegenheit, um einen überfälligen Anruf zu erledigen. Vom kleinen Büro neben der Küche aus rief sie ihre Schwester an.

„Ich bin’s, Hannah.“

„Wird aber auch Zeit, dass du dich meldest. Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht.“

„Tut mir leid. Ich war beschäftigt. Fühlst du dich gut?“

„Außer, dass ich inzwischen noch zehn Pfund zugenommen habe, es immer noch mehrere Wochen dauert, bis ich dieses Kind bekomme und Mutter immer noch dagegen ist, dass ich es zu Hause zur Welt bringe, geht’s mir gut. Wo zum Teufel steckst du, Selene?“

„In Louisiana. Ich habe einen Job auf einer Plantage.“

„Als was? Als Versenderin von Partyeinladungen?“

Hannah sagte das, um ihre Schwester ein wenig aufzuziehen, deshalb war Selene ihr nicht böse. „Sehr lustig. Ich beaufsichtige die Restaurierung des Hauses.“

Weil Hannah eine Weile schwieg, fragte Selene nach, ob sie noch da sei.

Autor

Michelle Celmer
<p>Michelle Celmer wurde in Metro, Detroit geboren. Schon als junges Mädchen entdeckte sie ihre Liebe zum Lesen und Schreiben. Sie schrieb Gedichte, Geschichten und machte selbst dramatische Musik mit ihren Freunden. In der Junior High veröffentlichten sie eine Daily Soap Opera. Ungeachtet all dessen, war ihr Wunsch immer Kosmetikerin zu...
Mehr erfahren
Kristi Gold
Mehr erfahren