Maskierte Leidenschaft

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Verkleidet schleicht Claire sich in ein Herrenhaus, in dem die High Society ihre frivolsten Fantasien auslebt. Sie sucht eine Vermisste - und ahnt nicht, dass ein sexy FBI-Agent sie beschattet. Bis beide beweisen müssen, dass sie zum geheimen Club der Lust dazugehören …


  • Erscheinungstag 03.10.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733728014
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Keine Bewegung“, flüsterte eine Männerstimme hinter ihr. Gleichzeitig legte sich eine Männerhand mit festem Griff um ihren Hals. „Dich habe ich schon gesucht.“ Claire spürte das kalte Leder des Handschuhs an ihrer Kehle, und ihr Herz fing an zu rasen. Sie bot all ihre Willenskraft auf, um sich nichts anmerken zu lassen. Ihre Tarnung durfte unter keinen Umständen auffliegen.

Als sie versuchte, sich langsam umzudrehen, packte die Hand fester zu.

„Du befolgst wohl nicht gerne Anweisungen“, sagte der Mann hinter ihr.

Hatte der eine Ahnung.

Trotz des enormen Adrenalinstoßes hatte Claire sich so weit unter Kontrolle, dass ihre Stimme weich und beschwingt klang, ganz wie es zu ihrer Rolle passte. Deshalb war sie jetzt auch nicht Privatdetektivin, die nach einer vermissten Person suchte, sondern eine Südstaatenschönheit auf der Suche nach ihrem Geliebten.

„Aber die Nacht ist doch noch jung“, sagte sie verführerisch. „Noch ist nicht entschieden, wer mit wem die Nacht verbringen wird.“

Zweihundert Jahre waren seit dem ersten Ball dieser Art vergangen. Claire wusste selbst erst seit zwei Wochen, dass eine Gruppe, die sich „Nouvelle Placage“ nannte, auf einer gemieteten ehemaligen Plantage, eine knappe Autostunde vom French Quarter entfernt, die Traditionen des alten New Orleans wieder aufleben ließ. Sie zelebrierten nicht nur den Pomp der großen Bälle, sondern auch ein strenges System gesellschaftlicher Regeln, das es damals reichen weißen Männern ermöglichte, sich Damen aus dem kreolischen Teil der Bevölkerung für Affären auszusuchen.

In der heutigen Version zahlten die männlichen Ballgäste exorbitant hohe Eintrittspreise, um Frauen zu begegnen, die ihnen jeden sexuellen Wunsch erfüllten. Männer und Frauen kamen aus dem ganzen Land für ein Wochenende voller tabulosem, anonymem Sex. Vorherrschend waren elegante Abendkleidung und lockere Moralvorstellungen, zu der unter anderem die romantische Verklärung von Dominanz und Unterwerfung gehörte.

Früher hatten die jungen Kreolinnen von ihren Liebhabern ein elegantes Haus gefordert, schöne Kleider und eine gute Ausbildung für die Kinder, die im Verlauf dieser Affären zur Welt kamen. Heutzutage war es nicht mehr so einfach, und die „Affären“ dauerten jeweils nur ein Wochenende – was bedeutete, dass Claire auch nur so lange Zeit hatte, um Josslyn Granger zu finden.

Genau genommen war Josslyn gar nicht verschwunden, auch wenn ihr Aufenthaltsort seit vier Jahren unbekannt war. Laut der Aussage ihres Exmanns hatte sie eines Tages beschlossen, ihr Leben als Vorstadthausfrau aufzugeben, die Scheidung beantragt und war verschwunden. Ihrem verblüfften Ehemann waren alle für die Scheidung notwendigen Papiere mit der Post zugeschickt worden – leider fehlte dabei jedoch die offizielle Verzichtserklärung, die das Sorgerecht für die beiden Kinder betraf.

Seitdem hatte Robert Granger etwa ein Dutzend Privatdetektive angeheuert, um seine verschwundene Exfrau ausfindig zu machen, die sie ihren diversen Partnern durch die Sexklubs des Landes folgte. Niemandem war es bis jetzt gelungen, Josslyn aufzuspüren.

Als ihr Exmann erfuhr, dass sie zu diesem „Nouvelle-Placage“-Event nach New Orleans kommen würde, hatte er Claire beauftragt. Er selbst hatte inzwischen wieder geheiratet, und sein neuer Job erforderte häufige Reisen nach Übersee. Deshalb wollte er, dass seine neue Frau Josslyns Kinder adoptierte. Das wiederum setzte voraus, dass Josslyn sich damit einverstanden erklärte. Also sollte Claire sie finden und überreden, die Verzichtserklärung zu unterschreiben.

Es war eine willkommene Abwechslung im Vergleich zu ihren sonstigen Fällen, in denen es meist darum ging, untreue Ehepartner auszuspionieren. Claire liebte es, dort Erfolg zu haben, wo andere versagt hatten. Und sie liebte es, verdeckt zu ermitteln und dabei ihre eigenen Grenzen immer wieder neu auszutesten.

Was sie jedoch überhaupt nicht mochte, war, von einem Mann herumkommandiert zu werden. Möglicherweise handelte es sich sogar um den Stalker, vor dem das FBI sie gewarnt hatte.

„Dass du mit mir kommst, ist schon entschieden“, sagte er ruhig.

Sie zwang sich zu einem schulmädchenhaften Kichern. Falls er der Stalker war, würde sie ihn damit vielleicht verunsichern können. Ein naives junges Ding auf der Suche nach einem Beschützer wäre dann bestimmt das Letzte, was er erwartete. Sie war in jeder Hinsicht das absolute Gegenteil.

„Tatsächlich?“, erwiderte Claire heiter. „Aber Sie haben noch gar nicht über die Bedingungen meines Einverständnisses verhandelt. Kennen Sie denn nicht die Regeln?“

Um sie herum stolzierten Männer in maßgeschneiderten Fräcken und Kniehosen und begutachteten ihre potenzielle, nur allzu willige Beute. Die Damen, in kostbaren Roben im Empirestil, wedelten mit ihren kunstvoll bemalten Fächern und flirteten voll heißer Erwartung mit den Herren, von denen sie erhofften, dass einer sie bald mit ungebremster Gier nehmen und sich hinterher entsprechend großzügig erweisen würde.

Mit dem intensiven Duft nach Kerzenwachs und der lebhaften Quadrille auf der Tanzfläche hätte man das Ganze noch für einen gewöhnlichen Maskenball halten können. Doch das war es nicht. Es war der schillernde Vorhof zu einer anderen, zu einer dunkleren Welt. Claire hatte sich sprichwörtlich den Hintern aufgerissen, um hier reinzukommen, und sie würde sich jetzt nicht von irgendeinem Typen aus der Spur bringen lassen. Vielleicht war er einfach nur ein Gast, der die Einführungsveranstaltung verpasst hatte. Vielleicht aber war er besagter Stalker.

Wie auch immer, Claire hatte keine Zeit für solche Spielchen. Sie musste ihren Fall abschließen.

„Vielleicht sollte ich Monsieur Masterson rufen, damit er Sie an die Gepflogenheiten hier erinnert?“ Leider war der Mann, der die Abläufe regelte, nirgends zu sehen.

„Ich kenne die Regeln, Ms Lécuyer“, versicherte der Unbekannte. „Aber genau wie Sie bin ich der Meinung, dass manche Regeln besser umgangen werden.“

Sie lachte in der Hoffnung, damit ihre Angst abzuschütteln. „Solche Überheblichkeit kommt hier nicht besonders gut an, Sir. Aber wenn Sie mich unbedingt haben wollen, dann sollten Sie mir vielleicht zum Anfang etwas über sich …“

Er brachte sie zum Schweigen, indem er den Druck seiner Hand verstärkte.

„Du dachtest wohl, hier findet dich niemand, was?“ Sein Griff war so fest wie ein Schraubstock. Mit der freien Hand fuhr er über die Rückenschnürung ihres Kleides, als ob er es kaum erwarten könne, sie zu lösen. „Und natürlich dachtest du, du könntest auf dich selbst aufpassen.“

Überrascht stellte Claire fest, dass sein Atem nach Minze roch und ein wenig nach Café au Lait.

„Sie haben bis jetzt noch nicht das Gegenteil bewiesen“, erwiderte sie flüsternd.

Trotz ihrer Angst klang ihre Stimme sicher. Über den Stalker, der sie verfolgte, wusste sie kaum etwas. Die Männer vom örtlichen FBI-Büro hatten sie gewarnt und ihr geraten, sich an einem sicheren Ort zu verstecken, um dort auf Anweisungen des die Ermittlung leitenden Agenten zu warten, der aus Kalifornien erwartet wurde. Aber sie hatte nun einmal nur dieses eine Wochenende, um Josslyn Granger zu finden. Da niemand etwas über ihren Verfolger wusste, schien es ihr auf diesem Ball genauso sicher oder unsicher wie anderswo.

Claire hatte einige Gefallen aus ihrer Zeit bei der Sitte einfordern müssen, um hier hereinzukommen. Darüber hinaus hatte sie die Aufnahmegebühr bezahlen, das Kleid kaufen und die Einführungsveranstaltung über sich ergehen lassen müssen. Und das alles nur, um eine Frau zu finden. Dass ein Geisteskranker, der zuletzt in Kalifornien gesehen worden war, sich die Mühe machen würde, sie bis hierher zu verfolgen, damit hatte Claire nicht gerechnet.

Aber vielleicht irrte sie sich auch, und der Mann war gar nicht ihr Stalker.

Vorsichtig drehte sie den Kopf, gerade weit genug, um einen kurzen Blick auf den Mann zu werfen, der sie festhielt. Unvermittelt sah sie in erstaunlich schöne blaue Augen, die sich, als sie ihren Blick einfingen, für einen Moment weiteten. Doch dann wurde ihr Ausdruck hart, und er zwang Claire, wieder nach vorne zu schauen.

„Du bist wirklich sehr ungehorsam“, tadelte er.

„Das ist einer meiner besonderen Vorzüge.“

Sie merkte, dass er schmunzelte, und es schien, als sei er tatsächlich belustigt.

„Wer sind Sie?“, fragte sie, mutig geworden.

„Sagen wir, ein Mann, der dich im Griff hat.“

Er lockerte seinen Griff, strich mit der Hand über ihre Kehle und drückte dann, wenn auch nur leicht, auf ihre Schlagader.

Der Atem stockte ihr.

Verdammt, verdammt, verdammt.

Warum hatte sie den FBI-Leuten nicht besser zugehört? Sie erinnerte sich kaum an die Details. Eine Sondereinheit hatte ihren Namen auf eine Liste potenzieller Opfer gesetzt. Es ging um einen Verrückten, der Frauen kidnappte. Er trug Maske und Cape, beides in Schwarz und benutzte K.-O.-Tropfen, um sich seine Opfer gefügig zu machen. Claire hatte diesen Warnungen keine große Bedeutung beigemessen, sie war viel zu sehr mit ihrem Fall beschäftigt gewesen.

Aber dann hatte plötzlich ein schwarzer Seidenschal mit einem aufgestickten roten Z vor ihrer Tür gelegen. Sie hatte ihn sofort zu den Leuten vom FBI gebracht, den angebotenen Personenschutz jedoch ausgeschlagen.

Was vielleicht ein Fehler gewesen war.

Die stählernen Finger des Mannes pressten sich noch fester in ihren Hals. „Wenn ich jetzt zudrücke, bist du sofort ohnmächtig. War das bei den jungen Damen im frühen neunzehnten Jahrhundert nicht en vogue? Niemand würde etwas dabei finden, wenn ich dich zu einem Stelldichein bei Vollmond einfach hinaustrage.“

Er versuchte ihr Angst zu machen.

Und es war ihm gelungen.

Ihr schwindelte etwas, doch so leicht würde sie nicht aufgeben. Sie winkelte die Ellenbogen an, aber der Mann verstärkte sofort seinen Griff.

„Keine Bewegung!“, warnte er.

Claire unterdrückte einen Fluch. Auf keinen Fall durfte sie ihre Tarnung aufgeben. Die Frauen, die hierher kamen, wollten herumkommandiert werden. Wenn sie jetzt zu sehr wie eine moderne, emanzipierte Frau reagierte, dann würde das nur auffallen. Womöglich würde man sie hinauswerfen.

„Lassen Sie mich los“, sagte sie in schmollendem Ton, doch er lockerte seinen Griff nur minimal.

„Sie haben Glück. Ich bin nicht hier, um Ihnen wehzutun.“

Etwas an seinem Ton – und die Tatsache, dass er seinen Griff gelockert hatte – ließ sie aufhorchen. Vielleicht war er gar nicht der Mann, der ihr den Schal geschickt hatte. Vielleicht hatte er mit dem Fall, an dem das FBI arbeitete, gar nichts zu tun.

Sie setzte ein einfältiges Lächeln auf und drehte sich zu dem Mann um.

Sie kannte ihn nicht, und dennoch hatte sie das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben.

Er war ihr bereits aufgefallen, als sie den Ballsaal betreten hatte. Unter all den abschätzigen Blicken der Männer waren seine saphirblauen Augen und sein intensiver Blick hervorgestochen. Er sah gut aus. Kantiges Kinn, muskulöser Oberkörper. Ein Footballtrikot würde besser zu ihm passen als Frack und Kniehosen. Bereits beim ersten Anblick war ihr ein heißer Schauer über den Rücken gelaufen. Es war ihr klar, was das zu bedeuten hatte. Sie begehrte diesen Mann.

Diese Gedanken hatte sie jedoch sofort wieder beiseitegeschoben. Für alle anderen Anwesenden mochte es hier um Sex gehen, sie jedoch hatte einen Job zu erledigen.

Was wirklich schade war, jetzt, da sie das Gesicht des Mannes von Nahem betrachten konnte.

„Natürlich werden Sie mir nicht wehtun“, sagte sie mit einem sexy Augenaufschlag. „Es sei denn, ich möchte es, non?“

Claire bemerkte ein kleines, amüsiertes Zucken in einem seiner Mundwinkel. Nun, er würde schon sehen. Falls er vorhatte, sie an diesem Abend zu seiner Gespielin zu machen, so hatte er keine Chance. Sie beabsichtigte nicht, sich einen Liebhaber zu nehmen – ganz gleich, was für eine hypnotische Wirkung diese blauen Augen haben mochten.

„Wir sollten uns an einem ruhigeren Ort darüber unterhalten, was wir voneinander erwarten, finden Sie nicht?“

Claire senkte vertraulich die Stimme. „Ich weiß ja noch nicht einmal Ihren Namen“.

„Noch nicht, ma chère“, erwiderte er heiser. „Aber haben Sie Geduld. Bald werden Sie noch viel mehr als nur meinen Namen über mich wissen.“

Claire machte einen Schritt rückwärts, sodass sich seine Hand, wenn auch nur für eine Sekunde, von ihr löste. Sofort hatte er sie wieder im Griff.

„Sie können mich jetzt loslassen, Sir.“

„Das wäre nicht klug.“

Sein Lächeln war umwerfend. Aber das war doch lächerlich. Warum reagierte sie so extrem auf diesen Mann?

„Tatsächlich? Und wieso nicht?“

Er beugte sich vor. Als er weiterredete, berührten seine Lippen ihr Haar, doch seine Stimme, die noch vor ein paar Sekunden rau und sexy gewesen war, klang jetzt so schneidend und kalt.

„Weil Sie in Gefahr sind, Ms Lécuyer, und ich hier bin, um Sie zu beschützen.“

2. KAPITEL

Special Agent Michael Murrieta ließ seiner Gefangenen eine Minute Zeit, um die Nachricht zu verdauen. Als sie die Lider verengte und aufhörte zu lächeln, ließ er sie endlich los. Er hatte ihre Akte gelesen und sofort gewusst, dass er seine Probleme mit ihr haben würde. Doch er hatte nicht damit gerechnet, dass er quer durch die Vereinigten Staaten reisen, eine verrückte Kostümierung anlegen und sich zehntausend Dollar von seinem Bruder leihen müsse, um sie zu finden.

Er drehte sich mit ihr zusammen um, sodass sie beide der Menge den Rücken zuwandten. Dann zog er eine Marke aus der Tasche, die ihn als FBI-Agent auswies.

Sie riss die Augen auf. „Nicht hier“, flehte sie.

Wieder machte sie einen Schritt rückwärts, doch er griff nach ihrer Hand. „Wenn nicht hier, wo dann, ma chère?“

Sein perfekter kreolischer Akzent verblüffte sie. Tja, sie selbst war nicht schlecht – aber er war besser. Special Agent Michael Murrieta arbeitete schon seit vielen Jahren beim FBI, und seine Partnerin stammte aus Louisiana. Sie hatte ihm geholfen, sich diesen Akzent anzueignen, bevor er sich auf die Suche nach Claire Lécuyer machte, um sie vor dem Vergewaltiger zu beschützen.

Und sie hatte es ihm nicht gerade leicht gemacht. Nur ein paar Stunden nachdem sie das FBI über den Schal vor ihrer Wohnungstür informiert hatte, war sie bereits vom Radar seiner Kollegen verschwunden und in diese sexuelle Unterwelt eingetaucht. Er hatte Vorkehrungen treffen müssen, um es ihr gleichzutun und die strengen Sicherheitsvorkehrungen zu überwinden. Überraschenderweise war es nicht sonderlich schwer gewesen, eine angemessene Kostümierung in New Orleans aufzutreiben. Das Geld für die sagenhaft hohen Eintrittspreise hatte er sich von seinem Bruder Alex geliehen. Er war zwar autorisiert, Claire Lécuyer in Schutzhaft zu nehmen, doch bezweifelte er, dass seine Vorgesetzten damit einverstanden gewesen wären, dass er so viel Geld ausgab, um sie in einem Sexklub zu suchen.

Der Fall hatte für das FBI bis jetzt keine besondere Priorität. Man hatte genug mit Serienmördern und einheimischen Terroristen zu tun. Michael wurde nur deshalb mit diesem Fall betraut, weil eine düstere Verbindung zwischen ihm und dem Vergewaltiger existierte. Das gleiche Familiengeheimnis war auch der Grund, warum Michael so entschlossen war, diesen Irren einzufangen, bevor er ein weiteres Opfer in seine Gewalt bringen konnte. Um das zu bewerkstelligen, hatte er die Spezialeinheit für Verhaltensanalyse in Quantico konsultiert sowie die Erlaubnis erhalten, Ruby, ein Mitglied seines Teams in San Francisco, als Partnerin mitzunehmen. Darüber hinaus könnte er natürlich jederzeit Unterstützung vom örtlichen FBI-Büro anfordern.

Ansonsten war er auf sich allein gestellt.

Es war nicht leicht gewesen, Claire zu finden. Doch er hatte es geschafft, ziemlich schnell, und das trotz begrenzter Mittel. Es gab also keinen Grund anzunehmen, dass der Stalker, der bereits vier Frauen gekidnappt und gequält hatte, sie nicht auch finden würde.

Aber wenn es so weit war, würde Michael ihn festnehmen.

„Jetzt haben Sie mich also“. Claire hatte sich gefangen und spielte jetzt wieder ganz die Rolle der flirtenden Südstaatenschönheit. „Was werden Sie mit mir anstellen?“

Er unterdrückte ein Grinsen. Diese Frau hatte etwas, das einem Mann den Verstand rauben konnte. Er war ein ziemlich großes Risiko ein, indem er sie hier aufspürte und festsetzte. Trotz mehrfacher Warnungen war sie einfach auf eigene Faust losgezogen. In ihrer Akte fanden sich zahllose Fälle, bei denen sie ihre Ermittlungen wichtiger genommen hatte als ihre eigene Sicherheit. Sie hatte ihren Job verloren, weil sie mehrfach die Anweisungen ihrer Vorgesetzten missachtet hatte, um einen Mordverdächtigen weiter zu verfolgen. Am Ende war es zu einer medienwirksamen Verurteilung gekommen.

Doch Michael imponierte das nicht allzu sehr. Hätte sie sich an die Regeln gehalten, wäre sie vielleicht zum selben Resultat gekommen, ohne ihre Marke abgeben zu müssen. Er jedenfalls war überzeugt, dass die Regeln des FBI gerechtfertigt und im Sinne aller Beteiligten waren.

Andererseits, hätte er heute Abend nicht zum Teil auf Claire Lécuyers Methoden zurückgegriffen, hätte er sie vielleicht nicht rechtzeitig gefunden.

„Wir beide zusammen wären ein unschlagbares Team, ma chère“, erwiderte er, „aber nicht hier.“ Er blickte sich um. „Vielleicht könnten wir uns ja irgendwo ein intimeres Plätzchen suchen?“

Sie schien ernsthaft darüber nachzudenken. Zweifellos wollte sie ihn so schnell wie möglich loswerden, um sich um ihren Fall kümmern zu können.

Claire zeigte mit dem Fächer zum Foyer und hakte sich dann bei ihm unter. „Da entlang, Sir“, sagte sie einladend. „Wenn Sie mich mitnehmen möchten, müssen Sie erst Maman um Erlaubnis fragen.“

„Natürlich“, erwiderte er trocken.

Claire war vielleicht manchmal leichtsinnig, aber nicht dumm. Sie hatte sich für heute Abend Unterstützung geholt. Ihre Tante spielte die „Maman“, und als solche musste sie sich einverstanden erklären mit den Arrangements, die für ihre „Tochter“ getroffen wurden. Mit anderen Worten, sie war ihr Zuhälter. Claire war sich absolut sicher, dass ihre Tante jedes Angebot, das Michael machen würde, ablehnen würde.

Nun, sie würde schon sehen, dass sie nicht die Einzige war, die so klug war, gewisse Vorbereitungen zu treffen.

In dem weitläufigen Foyer hatte man mit Kandelabern und kostbaren Wandbehängen dafür gesorgt, dass nichts von dem leicht feuchten Geruch und dem abblätternden Putz der alten Villa zu bemerken war. Michael konnte nicht umhin, die Organisatoren zu bewundern. Man befand sich hier tatsächlich in einer anderen Welt, einer anderen Zeit. In der Zeit, als New Orleans noch von den Franzosen beherrscht wurde.

Manchen Texten, die Michael als Vorbereitung für diesen Abend gelesen hatte, war zu entnehmen gewesen, dass die weißen Männer, die sich hier eine Frau kauften, tatsächlich aus echter Zuneigung heraus handelten. Wenn er Claire so anschaute, mit ihrem makellosen karamellfarbenem Teint und ihren faszinierenden grünen Augen, dann konnte er sich durchaus vorstellen, einer solchen Frau zu verfallen.

Eine exotische Schönheit mit untadeligen Manieren. Welcher Mann wäre nicht bereit, sein gesamtes Erbe einzusetzen, um sie zu besitzen, selbst wenn es nur für eine Nacht war?

Michael nahm Claires Hand. Gemeinsam schritten sie auf eine Gruppe älterer Damen zu.

Claire atmete erleichtert auf, als sie ihre Tante Clarice entdeckte. Sie saß auf einem Stuhl und nippte an ihrem Cocktail.

„Das ist meine Maman“, sagte Claire triumphierend.

Michael verbeugte sich galant, nahm Clarices Hand und deutete einen Kuss auf den Spitzenhandschuh an.

„Madame“, begrüßte er sie. Dann entnahm er der Innentasche seines Jacketts einen Umschlag, den er für genau diesen Augenblick vorbereitet hatte, und überreichte ihn.

Clarice nippte noch einmal an ihrem Glas, öffnete den Brief und überflog den Inhalt. Dann musterte sie Michael von Kopf bis Fuß und nickte zustimmend.

„Maman!“, protestierte Claire.

Michael unterdrückte ein Schmunzeln, nahm sie beim Ellenbogen und senkte vertraulich den Kopf. „Sie weiß, wer ich bin, und sie weiß, warum ich hier bin. Jetzt zeigen Sie mir einen Ort, wo wir ungestört reden können, oder ich zerre Sie mit Gewalt hinaus. Und dann können Sie Ihren Fall vergessen.“

Claire warf ihrer Tante einen erbosten Blick zu, doch diese lächelte nur wohlwollend. „Der Mann macht ein faires Angebot, mein Schätzchen. Geh mit ihm. Hör dir an, was er zu sagen hat.“

Claire wollte sich damit nicht zufriedengeben und sah ihrer Tante eindringlich in die Augen. Clarice hielt dem Blick ihrer Nichte unnachgiebig stand.

Fasziniert beobachtete Michael diesen stummen Machtkampf. Er hatte Claires „Beschützerin“ gleich zu Anfang des Balls auf seine Seite gezogen und ihr erklärt, weshalb er gekommen war.

Claire hatte ihrer Tante zwar von dem Serienvergewaltiger erzählt, ihn allerdings als relativ harmlosen Stalker dargestellt. Als Michael ihrer Tante erklärte, worum es tatsächlich ging, hatte sie sich sofort bereit erklärt, ihn als Geliebten für ihre Nichte zu akzeptieren. Wenn er erst einmal mit Claire allein wäre, konnte er sie – so hoffte er – überreden, diesen Ort zu verlassen.

Sie würde ihm bezüglich ihrer Sicherheit, und auch ihres Falls, vertrauen müssen.

Claire stieß einen sehr undamenhaften Fluch aus.

„Hier entlang, Monsieur“, zischte sie.

Als sie die gewundene Treppe hinaufschritten, verdrängte Claire ihren Zorn. Es kam selten etwas Gutes dabei heraus, wenn man zu emotional reagierte. Sie musste sich auf ihren Job konzentrieren. Dieser FBI-Agent – wie hieß er doch gleich? – hatte sich wirklich viel Mühe gegeben, damit ihre Tarnung nicht aufflog. Sie würde sich zumindest anhören müssen, was er zu sagen hatte.

Claire hatte das Anwesen im Voraus nur flüchtig erkunden können, doch sie wusste, dass es im oberen Stockwerk ein Zimmer für Paare gab, die ein traditionelles Ambiente der eher exotischen Ausstattung der übrigen Zimmer vorzogen. Dort wären sie hoffentlich ungestört.

Sie bedauerte, die Bundespolizei über die Sache mit dem Schal informiert zu haben. Aber sie hatte auch nicht damit gerechnet, dass man dort so schnell reagieren würde, zumal ihr ja bis jetzt nichts passiert war. Vielleicht würde der Mann sie ja in Ruhe ihren Job machen lassen, bis sie Josslyn gefunden und deren Unterschrift bekommen hätte.

Aber vielleicht war ihre Tarnung auch schon geplatzt, weil sie so früh mit einem Mann nach oben ging. Der Ball hatte gerade erst angefangen, keine der anderen Frauen hatte bisher die Tanzfläche verlassen.

Auf dem zweiten Treppenabsatz wartete eine dunkelhäutige Frau in einem einfachen schwarzen Kleid. Sie führte sie zu einem Zimmer am Ende des Flures. Wortlos öffnete sie die Tür und wartete mit gesenktem Blick, dass sie den Raum betraten. Claire hatte die Frau zuvor zusammen mit Masterson gesehen. War sie nur eine Angestellte, oder gehörte sie zu den Organisatoren? Es war unmöglich, bei diesem Spiel alle Mitspieler zu kennen.

Claire hörte, wie die Tür leise hinter ihnen geschlossen wurde.

Sie wollte etwas sagen, doch ihr Begleiter bedeutete ihr, zu schweigen. Aufmerksam sah er sich in dem spärlich beleuchteten Raum um.

Das Zimmer enthielt nicht viele Möbel. Ein breites Bett mit einer weichen Tagesdecke und mehreren Kissen. Ein mit Seide bespannter Paravent. Eine Chaiselongue, ein kleiner Tisch, auf dem eine Karaffe mit Brandy und zwei Gläser standen. Drei Stehlampen und ein offener Kamin, in dem, da ihn im Sommer niemand brauchen würde, eine Vase mit duftenden roten Blumen stand. Ein Boudoir, das schlicht möbliert aber absolut geeignet war, die gewünschte Atmosphäre für das zu erzeugen, worum es hier ging: Sex.

Als Michaels Blick auf die Öffnung eines Lüftungsschachts fiel, hielt er für einen Moment inne, dann drehte er sich mit einer galanten Verbeugung zu Claire um und streckte die Hand aus.

„Ma chère, möchten Sie tanzen?“

Er spielte seine Rolle weiter, also tat sie es auch. Mit kokett gesenktem Blick trat sie auf ihn zu. Der Lichtstreifen unter der Tür bildete keine durchgehende Linie. Es stand also jemand draußen und lauschte. Man hatte sie gewarnt, dass bei solchen Events manche der Besucher sich ihre Befriedigung nur durch das Beobachten und Belauschen anderer holten.

Als sie dem Mann vom FBI ihre Hand reichte, warf sie einen flüchtigen Blick in die Öffnung des Belüftungsschachts.

Hinter dem schmiedeeisernen Gitter war eine Kamera versteckt.

Und dem winzigen grünen Licht nach zu schließen, war sie eingeschaltet.

„Ja, sehr gern, Sir“, erwiderte sie, „aber wir haben ja keine Musik hier.“

„Ich bin sicher, dagegen lässt sich etwas tun.“

Er ging leise zur Tür und öffnete sie abrupt. Die Frau im schwarzen Kleid hatte sie offenbar durch das Schlüsselloch beobachtet, erschrocken fuhr sie auf.

„Du!“, befahl er, als wäre er Rhett Butler höchstpersönlich. „Wir wollen Musik. Beeil dich.“

Keine zwei Minuten später brachte sie auf einem rollenden Tisch ein Gerät herein, das von außen aussah wie ein Grammofon, jedoch einen modernen CD-Player enthielt. Der Agent scheuchte die Frau unsanft hinaus, verriegelte die Tür und streifte dann langsam seine Handschuhe ab.

Claire tat es ihm nach, doch er brauchte länger als sie, da sein rechter Handschuh an dem großen Smaragd seines Rings hängen blieb. Sie wollte gerade eine Bemerkung über die außergewöhnliche Größe des Steins machen, da drehte er die Lautstärke des melodischen Walzers auf, weiter als nötig.

Er verbeugte sich leicht. Seine Augen blitzten schelmisch, und das hatte ganz sicher nichts mit seinem Job als FBI-Agent zu tun.

Wer war dieser Mann?

Sie knickste, wie sie es als Teenager gelernt hatte, bevor sie aus dem Tanzkurs geflogen war, und ergriff seine Hand.

„Ich dachte, man hätte Sie instruiert, möglichst nicht auszugehen, bis ich da bin“, sagte er, während sie sich beim süßen Klang der Geigen wiegten.

„Ich weiß ja nicht einmal, wer Sie sind.“

„Special Agent Michael Murrieta.“

„Psst“, warnte sie. „Wenn es hier eine Kamera gibt, dann bestimmt auch Wanzen.“

„Diese Freaks sind nicht die einzigen, die technisch gut ausgerüstet sind. Ich habe einen Verstärker an das Grammofon gesteckt. Alles, was diese Wanzen aufnehmen werden, ist Mozart.“

Sie lächelte mild. „Ehrlich gesagt ist es Strauß.“

„Eine tolle Erfindung“, sagte er. „Sie werden uns sehen können, aber kein Wort hören.“

Er war wirklich gut vorbereitet. Claire war beeindruckt. Und seine jungenhafte Begeisterung für elektronisches Spielzeug war irgendwie charmant.

„Warum sind Sie hier?“, fragte sie.

„Ich bin für Ihren Fall zuständig.“

„Ich bin kein Fall, Special Agent. Ich bin einfach nur eine Bürgerin, die ordnungsgemäß Beweismittel übergeben hat. Aber ich bin auch Privatdetektivin und habe meinen eigenen Fall zu bearbeiten. Und ich würde gerne damit weitermachen, bevor Sie mir die Sache noch total vermasseln.“

Er legte seinen Kopf ein wenig zurück, gerade genug, dass sie sein selbstsicheres Grinsen sehen konnte. „Sehe ich aus, wie jemand, der irgendetwas vermasselt?“

Claire wandte ihren Blick ab. Sie war nicht bereit zuzugestehen, dass Special Agent Murrieta tatsächlich einen sehr kompetenten Eindruck machte – in jeder Hinsicht.

Seine Kostümierung war perfekt, er wirkte so lässig und charmant wie Clark Gable, und sein Charme war entwaffnend.

Autor

Julie Leto
Auch als Julie Elizabeth Leto bekannt.
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