Mehr als nur eine leidenschaftliche Affäre?

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Wut, Trauer … und gefährlich heißes Verlangen: Nora verspürt widerstreitende Gefühle, als plötzlich ihre ehemalige große Liebe, der brasilianische Milliardär Duarte Avelar, vor ihr steht. Am liebsten würde sie fliehen. Doch dann begreift sie, dass Duarte sie für eine Fremde hält. Nach einer Kopfverletzung hat er das Gedächtnis verloren, er erinnert sich weder an ihre leidenschaftliche Affäre, noch an das jähe Ende. Und als es wieder sinnlich zwischen ihnen knistert, gibt sich Nora ihm gegen jede Vernunft erneut hin …


  • Erscheinungstag 07.09.2021
  • Bandnummer 2509
  • ISBN / Artikelnummer 9783733718985
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Regungslos stand Duarte Avelar auf dem verschlafenen englischen Dorffriedhof vor der eleganten Familiengruft. Hier hatten er und seine Zwillingsschwester vor sieben Jahren ihre geliebten Eltern zur Ruhe gebettet. Nun stand ein dritter Name auf der Marmortafel.

Sein eigener.

Getrocknete Kränze und Blumengestecke säumten die Ruhestätte. Man hatte ihm gesagt, sein Gedenkgottesdienst sei eine großartige Angelegenheit gewesen. Der Geldadel Europas sei zusammengekommen, um einem ihrer Lieblingsplayboys die letzte Ehre zu erweisen.

Er stellte sich vor, wie seine Schwester Dani genau an dieser Stelle die Mitleidsbekundungen entgegennahm und zusah, wie ein leerer Sarg in die Erde hinabgelassen wurde. Ihm graute bei dem Gedanken, welches Leid sie hatte durchmachen müssen. Hastig wandte er sich ab.

Vor den Toren des Friedhofs wartete eine schwarze Limousine auf ihn. Der junge Chauffeur mied seinen Blick, während er die Tür geöffnet hielt.

Einst war Duarte stolz darauf gewesen, dass er von seinem Personal als unkomplizierter und verlässlicher Arbeitgeber geschätzt wurde. Doch seit seiner überraschenden Rückkehr vor zwei Wochen hatte er sich wie ein Ausgestoßener gefühlt. Alle schienen sein unberechenbar gewordenes Temperament zu fürchten und ihm aus dem Weg gehen zu wollen.

Dennoch ertappte er sie immer wieder dabei, wie sie auf seine dicke Narbe starrten, die sich von der Mitte seiner linken Augenbraue bis zum Ohr zog. Er bemerkte ihre verlegenen Blicke, wenn sie die Wundmale an seinem Oberkörper sahen, den er zweimal täglich beim Schwimmen entblößte.

Aus dem Mann, der als Vorsitzender einen ganzen Sitzungssaal beherrschen konnte, war einer geworden, der seinen eigenen Angestellten auswich, um sie nicht noch nervöser zu machen.

Mit einer zweiwöchigen Nachrichtensperre hatte seine Schwester die Medien bändigen können, die sich wie die Geier auf den Totgeglaubten stürzen wollten. Sie hatte gespürt, dass er noch nicht bereit war, sich den sensationslüsternen Fragen zu stellen.

Die Boulevardpresse hatte ihn den Mann genannt, der von den Toten zurückgekehrt war, und ihn als eine Art Held dargestellt. Niemand schien zu verstehen, dass er für sein Überleben nicht gefeiert werden wollte, da seine ertragenen Qualen ganz und gar selbst verschuldet waren. Von Rechts wegen müsste er tot sein.

Schwer atmend setzte er sich in die Limousine und fuhr mit der Hand über die lange Narbe, die die eine Seite seines Kopfes zeichnete. Rückblickend war der Genesungsprozess nach der Schusswunde am Kopf ein Kinderspiel verglichen mit dem Versuch, sich wieder in die Welt einzufügen, aus der Duarte Avelar verschwunden war.

Jetzt sah er die Sonne über dem malerischen Weiler aufsteigen, den seine Familie nach dem Umzug aus Brasilien zu ihrer Heimat erkoren hatte. Als Zehnjähriger war er darüber wütend gewesen und hatte vor Heimweh geheult, aber inzwischen war dieser ruhige Ort auch sein Zuhause geworden. Selbst zu Zeiten, in denen er sich Häuser in allen Ecken der Welt leisten konnte, war nichts vergleichbar mit diesem kleinen Stück Paradies.

Jetzt allerdings fühlte er sich nirgendwo mehr zu Hause. Alles war falsch. Er selbst war falsch. Er sah es in den Blicken, die seine Schwester mit Valerio, seinem Geschäftspartner und besten Freund, austauschte. Sie waren Zeugen seiner wechselnden Stimmungen, seiner Konzentrationsschwäche und seines unberechenbaren Zorns über die Kopfschmerzen, die jeden Moment auftreten konnten.

Erst vor zwei Wochen hatten sie erfahren, dass er auf wundersame Weise überlebt hatte. Natürlich waren sie sofort in die kleine private Klinik auf einer entlegenen Insel geeilt, in der man ihn zur Rehabilitation vor der Welt verborgen hatte. Er hatte große Gedächtnislücken, aber mit Danis Hilfe hatte er einige Erinnerungen wiedererlangt. Die Rückkehr nach England war ihre Idee gewesen. Sie hatte gehofft, dass er hier zu seinem früheren Selbst zurückfinden würde.

Bis zu einem gewissen Grad hatte es funktioniert. Nach und nach hatte er die Lücken in seinem Gedächtnis füllen können, und dennoch fühlte er sich von dieser fremden Welt, in die er zurückgekehrt war, seltsam ausgeschlossen.

In seiner Abwesenheit hatte sich so viel verändert. Jeder neue Tag machte ihm deutlich, dass die Menschen sich weiterentwickelt hatten und über die Lücke, die er hinterlassen hatte, hinausgewachsen waren.

Manche waren in der Zwischenzeit auch zusammengewachsen. Seine Schwester und sein bester Freund hatten sich während seiner Abwesenheit verliebt und waren nun verheiratet … auch wenn die Ehe zu Anfang nur dazu gedient hatte, Dani vor den korrupten Kräften zu schützen, die hinter seiner Entführung standen.

Er gönnte ihnen ihr Glück, aber ihn hatten sie zu Grabe getragen. Sie hatten ihn beweint, aber dann ihr Leben weitergelebt, während er allein in seiner Hölle gefangen war. Sein Zorn war ständig präsent und beschämte ihn. Sie hatten nichts falsch gemacht. Niemand hatte ahnen können, dass er noch am Leben war.

Dani hatte mehrfach behutsam nachgefragt, wann er sich bereit fühlen würde, wieder an die Arbeit zu gehen. Velamar, ihre Firma für die Vercharterung von Luxusjachten, stand kurz vor der Eröffnung einer neuen Niederlassung in den USA und in der Karibik. Darauf hatten er und Valerio lange hingearbeitet. Jetzt aber war er Danis Fragen ausgewichen und hatte Ausreden vorgeschoben.

Nach der Pressekonferenz am Morgen hatte er den beiden eröffnet, dass er für eine Weile nach Rio zurückkehren werde. Die Stiftung der Familie Avelar förderte sozialen Wohnungsbau in Rio de Janeiro. Das war der Auslöser für den ganzen Ärger gewesen, den er in ihr Leben gebracht hatte.

Natürlich war die Wohltätigkeitsorganisation nur einer der Gründe, warum er nach Rio zurückkehrte, aber das hatte er ihnen nicht gesagt. Er hätte sonst seinen eigenen Anteil an den Geschehnissen eingestehen müssen, die zu seiner und Valerios Entführung und zu seinem vermeintlichen Tod geführt hatten.

Dani war von seiner Ankündigung schockiert gewesen und hatte ihn entrüstet ohne ein weiteres Wort stehen gelassen. Er wusste, dass er seine Schwester durch seine abweisende Haltung verletzte, aber er konnte den Anblick ihres offensichtlichen Glücks mit Valerio und ihre ständigen Fragen nach den geheimnisvollen Ereignissen nicht länger ertragen. Er wollte nicht darüber reden. Wollte sich nicht an die Schmerzen erinnern, die er in den Händen seiner Peiniger erlitten hatte. Wollte nicht an die Qualen der Rehabilitation denken, in der er wieder laufen lernte und seinen geschundenen Körper bis an seine Grenzen brachte. Jedenfalls nicht, solange er damit beschäftigt war, die Kriminellen zur Strecke zu bringen, die hinter alldem steckten. Er wollte sichergehen, dass sie für ihre Verbrechen bezahlten.

Das beharrliche Klingeln seines Telefons erregte seine Aufmerksamkeit. Auf dem Bildschirm erschien eine Textnachricht. Die Nummer des Absenders war unterdrückt.

Wir haben sie gefunden …

Duarte erstarrte. Dann tippte er einen Code in sein Telefon, um den Zugang zu einem verschlüsselten Server zu öffnen. Sein Team von privaten Ermittlern hatte Fotos von ihm aus dem vergangenen Jahr zusammengestellt, um damit ein Bewegungsprofil zu erzeugen. Die zuletzt hinzugefügten Bilder waren bei einer politischen Veranstaltung gemacht worden, an der er unmittelbar vor seiner Entführung teilgenommen hatte. Drei davon waren extra markiert. Sie zeigten ihn neben einer Frau an der Rückseite des großen Saales. Der Blick auf die langen roten Haare ließ ihn unwillkürlich aufstöhnen. Das war sie! Er hatte sie endlich gefunden!

Als er im Krankenhaus aus dem künstlichen Koma erwachte, war seine einzige klare Erinnerung, dass sie ihn hielt, während er verblutete. Er war sich nicht sicher, ob ihm seine Fantasie einen Streich spielte oder ob es sich wirklich so zugetragen hatte.

Sie hatte seinen Körper mit ihrem gewärmt, hatte seine Hand gehalten und seinen Namen ganz zärtlich ausgesprochen. Ihre leuchtenden Augen waren mit Tränen gefüllt gewesen, und der Duft von Lavendel hatte ihn eingehüllt, während sie versuchte, den Blutfluss zu stoppen.

„Duarte, bitte stirb nicht!“, hatte sie geschluchzt, um gleich darauf kräftig auf Portugiesisch zu fluchen.

Ihre Worte waren wie ein Mantra in seinem Kopf geblieben:„Du musst für uns beide am Leben bleiben!“

Diese Stimme hatte ihn während seines Genesungsprozesses angetrieben. Er wurde das Gefühl nicht los, dass diese Frau irgendwie … wichtig war. Aber trotz aller Zeugen, die Angelus Fiero in den letzten Monaten aufgespürt hatte, war niemals eine Frau in der Nähe des Tatortes erwähnt worden.

Doch jetzt, mit diesem Foto auf dem Display seines Telefons, wusste er, dass sie kein Traumgespinst war. Sie war in dieser Nacht sein Schutzengel gewesen, hatte ihm das Leben gerettet und war dann verschwunden, bevor sie jemand gesehen hatte.

Warum?

Darüber würde er später nachdenken. Erst einmal musste er sie finden. Diese Frau war die einzige Verbindung zu dem, was in jener Nacht geschehen war.

Duarte strich sich mit der Hand über das Kinn und versuchte, nicht an die Abschiedsworte seiner Schwester zu denken. Sie hatte ihn angefleht, die Angelegenheit von der Polizei weiter bearbeiten zu lassen und sich selbst darauf zu konzentrieren, wieder in ein normales Leben zurückzukehren. Doch nachdem er nun wusste, dass es die Rothaarige wirklich gab, bekam sein Handeln wieder einen Sinn.

Nora Beckett warf einen letzten Blick zurück in ihre winzige Wohnung und fühlte, wie ihr die bevorstehende Ungewissheit die Kehle zuschnürte. Sie wollte nicht weinen. Das hatte sie in den letzten sechseinhalb Monaten genug für ein ganzes Leben getan. Ein letztes Mal blickte sie auf die Liste der unbeantworteten Anrufe in ihrem Handy. Jedes Mal „papai“. Dass ein so unschuldiges Wort so viel Abscheu hervorrufen konnte!

Sie legte das Telefon in eine der Kisten, wohlwissend, dass sie es nicht mitnehmen konnte. Soweit es sie betraf, hatte sie keinen Vater. Nicht mehr.

Ihr mächtiger, krimineller Vater hatte sich monatelang irgendwo außerhalb Brasiliens verborgen gehalten. Diese Zeit hatte Nora genutzt, um ihr Studium an der Universität abzuschließen. Sie hatte gerade die Abschlussprüfungen hinter sich gebracht, als die ersten Anrufe kamen. Lockende, einschmeichelnde zuerst, dann immer wütendere und schließlich boshaft drohende. Da war ihr klar geworden, dass sie Rio verlassen musste.

Auf dem Weg zur Straße hinunter umfasste sie die Schwellung ihres Bauches mit beiden Händen, aus Sorge, die darin befindliche kostbare Fracht könnte irgendwo anstoßen und Schaden nehmen.

Wegen ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft hatte sie gezögert, den vierstündigen Flug nach Manaus zu buchen, aber die Schwester im Krankenhaus hatte sie überzeugt, dass eine dreitägige Busreise viel riskanter sei.

Die Vorbereitung ihrer raschen Flucht hatte ihr viel Stress, ständige Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit eingebracht. Wenn sie einmal Schlaf fand, träumte sie davon, ihrer Mutter in der abgelegenen Station am Ufer des Amazonas in die Arme zu sinken. Sie konnte nur hoffen, dass Maureen Beckett ihrer Tochter die letzten fünf Jahre des Schweigens vergeben würde.

Immer wenn sie an die letzten Worte dachte, die sie miteinander gewechselt hatten, empfand sie brennende Scham. Sie hatte nicht einmal den Mut aufgebracht, anzurufen, aber wenigstens einen Brief hatte sie geschickt. Es tue ihr leid, hatte sie geschrieben, und dass sie eine naive Achtzehnjährige gewesen sei, die auf die Versprechungen ihres Vaters hereingefallen war.

Sie hatte nie eine Antwort bekommen. Tief im Inneren aber hoffte sie, dass ihre Mutter ihr verzeihen würde.

Es war Anfang Mai, eigentlich der Beginn der Trockenzeit, doch der sintflutartige Regenguss, der gerade über Rio de Janeiro niederging, wirkte wie aus einem Katastrophenfilm.

Nora versuchte, unter dem schmalen Dachüberstand trocken zu bleiben, während sie prüfend nach links und rechts die Straße entlangsah. Die Glocken der nahe gelegenen Kathedrale begannen wie üblich zur Mittagszeit zu läuten. Wie Nora gehofft hatte, war keine Spur von dem dunkelblauen Auto zu sehen, das die ganze Woche in der Gasse geparkt hatte. Sogar kriminelle Schergen schienen vorhersehbare Pausen zu machen.

Obwohl Lionel Cabo sich nicht selbst in Rio aufhielt, schien er Gefallen daran zu finden, seiner einzigen Tochter das Leben zur Hölle zu machen. Sie ständig beobachten zu lassen, war nur eine der vielen Möglichkeiten, ihr seine Macht zu zeigen. Als sie seine Anrufe weiterhin ignorierte, hatte er Druck auf ihren Vermieter ausgeübt, damit der sie aus der Wohnung warf.

Er wusste, dass sie es nicht wagen würde, zur Polizei zu gehen. Zu viele vom Staat schlecht bezahlte Polizisten standen auf seiner Gehaltsliste. Sie war ganz allein auf sich gestellt.

Ein Stück vor ihr trat eine kleine Gruppe Jugendlicher aus der schützenden Türöffnung, weil ein eleganter Sportwagen die schmale Gasse entlangkam und kurz vor ihnen stehen blieb. Die Jungen drängten sich um den Wagen und schauten neugierig in die Fenster.

Noras Sinne gerieten in höchste Alarmbereitschaft. Gewöhnlich hielten sich die wohlhabenden Bewohner Rios von diesem gefährlichen Teil der Stadt fern. Ungewohnt scheu traten die jungen Burschen zurück, als eine große Gestalt aus dem teuren Fahrzeug stieg. Der Regen tränkte seinen dunklen Mantel sofort, und als der Mann aufblickte, leuchteten bernsteinfarbene Augen aus einem gut aussehenden Gesicht.

Nora glaubte, ein Gespenst zu sehen. Entweder spielte ihr das Gehirn einen Streich, oder sie träumte wieder einmal denselben Traum, der seit sechs Monaten ihr ständiger Begleiter war.

Der Mann trat langsam und mit seltsam steifen Bewegungen zu Nora unter das Vordach. Sie schnappte nach Luft, ihre Kopfschmerzen stachen, und ihr Herzschlag dröhnte, während sie darauf wartete, dass er sie ansprach.

„Nora Beckett?“, fragte er.

In seiner Stimme lag ein leichter englischer Akzent. Er streckte ihr höflich die Hand entgegen. „Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich Sie gesucht und offenbar auch gefunden habe.“

Nora sah ihn fassungslos an. Sie kam sich vor wie in einem schlechten Film. Als sähe sie Nora Beckett und einen Mann mit Duartes Gesicht und Duartes Stimme. Nach einem Moment ließ er seine Hand sinken und blickte stirnrunzelnd zurück zu der Stelle, an der die Jungen noch immer sein Auto umringten.

„Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern.“ Er sprach hastig. „Mein Name ist Duarte Avelar. Vor etwa sechs Monaten war ich …“

„Duarte Avelar ist tot!“ Nora hörte die Hysterie in ihrer eigenen Stimme. Konnte es eine logische Erklärung für diesen Wahnsinn geben?

„Wie Sie sehen, bin ich ziemlich lebendig.“

Nora bemerkte die dicke, dunkelbraune Narbe, die an seiner Schläfe begann. Sie konnte deutlich die winzigen Flecken erkennen, wo Stiche einst eine Wunde verschlossen hatten. Das war genau die Stelle, an der sie versucht hatte, den Blutfluss mit ihren eigenen Händen einzudämmen.

Sie schluckte, um die schrecklichen Erinnerungen zu vertreiben, und konzentrierte sich auf den Mann vor sich. Wie in Trance trat sie vor und legte eine Hand auf seine Brust. Sie wagte kaum zu hoffen.

Fast wie von selbst strich ihre Hand über die harten Muskeln unter seinem Hemd hinauf bis zu der Stelle, an der sie den Puls an seinem Hals spüren konnte. Lebendig! Sie schloss die Augen, und die Angst, dass sich diese Vision als nicht real erweisen würde, schnürte ihr die Kehle zu. Dass es wieder nur einer ihrer lebhaften Träume war, aus denen sie nachts schweißgebadet aufwachte, in der Erwartung, ihn neben sich liegen zu sehen.

Tränen füllten ihre Augen. Sie musste sie wegwischen, um ihn genauer ansehen zu können. Seine Haut hatte immer noch dieses satte, karamellfarbene Braun, ganz anders als die tödliche Blässe in jener schrecklichen Nacht.

Mit zitternder Stimme flüsterte sie: „Duarte … das ist unmöglich!“

„Dasselbe habe ich in den letzten Monaten gedacht, glauben Sie mir.“ Sein Mund verzog sich zu dem halbspöttischen Lächeln, an das sie sich so gut erinnerte. „Aber hier bin ich.“

„Du bist tatsächlich hier. Du lebst …“ Ihre Worte waren nur noch ein gehauchtes Flüstern, als sich die lange hoffnungslose Sehnsucht in ihr Bahn brach. Bevor sie sich bremsen konnte, warf sie sich ihm in die Arme und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust.

Er erstarrte einen Moment, und sie fürchtete, er würde sie von sich stoßen. Sie könnte es ihm nicht einmal verübeln, da sie im Wesentlichen der Grund dafür war, dass er seine Narben überhaupt bekommen hatte.

Sie wappnete sich innerlich für die Zurückweisung, doch dann spürte sie, wie seine starken Arme sie umfingen. Augenblicklich war sie in seinen warmen, würzigen Duft gehüllt und spürte den pochenden Rhythmus seines Herzens.

Von dem Moment an, als sie ihn vor fast einem Jahr zum ersten Mal in einem überfüllten Sambaclub gesehen hatte, war sie ihm verfallen gewesen. Niemals zuvor hatte sie auf einen anderen Mann mit solchem Verlangen reagiert, und er hatte ihr gestanden, dass es ihm genauso ging. „Du bringst das Tier in mir zum Vorschein, querida“, hatte er ihr vor ihrem ersten Kuss ins Ohr geflüstert. Jetzt spürte sie wieder dasselbe Verlangen, nur weil sie in seinen Armen lag.

Sie lehnte sich ein wenig zurück, blickte auf und erwartete, eine Spiegelung ihrer Gefühle in seiner Miene zu sehen. Stattdessen wirkte sein Gesicht so verwirrt, als wäre er mit Eiswasser übergossen worden.

Irgendetwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht!

Plötzlich spürte sie einen winzigen Tritt im Leib. Nur widerstrebend löste sie sich aus der Umarmung und atmete tief durch, um ihre Fassung wiederzugewinnen.

Langsam drang die Realität zu ihr durch. Wenn dies kein Traum war, dann war es ein lebendiger Albtraum. Es stand außer Frage, dass dieser Mann Duarte war. Das bedeutete, dass ihr Leben gerade noch komplizierter geworden war.

Sie raffte ihren Regenmantel noch enger um sich und hielt sich die Handtasche vor den Bauch. Wenn Duarte hier gesehen wurde, waren sie beide in Gefahr. Vorsichtig sah sie sich auf der Straße um und betete, dass das blaue Auto nicht zurückgekehrt war.

„Wie …?“, hauchte sie. „Wie kommt es, dass du lebst?“

„Das ist eine sehr lange Geschichte.“ Er fuhr mit der Hand über sein frisch rasiertes Kinn. „Eine Geschichte, in der viel medizinische Kunst und lange Monate schmerzhafter Rehabilitierung vorkommen. Sagen wir einfach, ich bin nicht leicht umzubringen.“

Sie kämpfte mit dem Drang, sich wieder an ihn zu klammern, ihn nie mehr loszulassen. Weit hinten in ihrem Kopf aber schrie eine kleine Stimme, es sei besser, schnell wegzulaufen und so zu tun, als hätte sie ihn nie gesehen. Dabei würde Weglaufen jetzt noch schmerzhafter sein als beim ersten Mal.

Es war zu viel! Sie bekam kaum Luft!

„Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich Sie aufgespürt habe“, sagte er so seltsam höflich, dass es ihr Unbehagen bereitete. „Sie waren bei mir in der Nacht, in der ich erschossen wurde.“

„Ja, ich war dort.“ Ihr Eingeständnis schien ihn zu erleichtern. Er lächelte, und sofort schlug ihr Herz bei diesem Anblick höher.

„Ihre Fürsorge war das Erste, woran ich mich beim Aufwachen erinnerte.“ Sein Blick wurde einen Moment weicher. Dann räusperte er sich. „Es gibt ein paar Dinge, die ich gern fragen würde, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

„Du weißt gar nicht mehr, wer ich bin.“ Sie sprach halb zu sich selbst und versuchte, die höfliche Distanz in seinem Auftreten zu begreifen. Als ob sie Fremde wären! Er schien nicht mehr zu wissen, was sie einander einst bedeutet hatten.

„Meine Kopfverletzung hat einen Gedächtnisverlust verursacht. Die Erinnerung wiederzufinden, ist ein langer Prozess, und ich hoffe, dass Sie mir dabei helfen können.“ Er steckte die Hände in die Taschen und sah sie eindringlich an. „Können wir irgendwo ungestört reden?“

Jede andere Frau würde seine scheinbar offenherzige Art beruhigen. Aber Nora wusste es besser. Zwar erinnerte er sich nicht mehr an sie und ihre gemeinsame Geschichte, aber wenn es ihm wieder einfiel, konnte es gefährlich werden.

Er hatte ihr langes Zögern bemerkt, und seine Lippen wurden schmal. Sie merkte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Er hatte es geschafft, sie aufzuspüren wie ein Raubtier auf der Jagd. Sie kam sich vor wie ein Kaninchen, das geradewegs auf seinen Jäger zusteuerte. Als sie die Straße hinaufblickte, entdeckte sie ihren Bus, der gerade um die Ecke kam.

„Es tut mir leid. Ich muss jetzt gehen und einen Flug erwischen.“ Sie zwang die Worte über ihre Lippen und versuchte, die Tränen zu verbergen, die jeden Augenblick zu fließen drohten.

„Ich kann Sie zum Flughafen fahren“, bot er an. „Ich möchte nur reden.“

Nora blickte starr in das Gesicht des Mannes, den sie einst geliebt hatte. Von dem ich dachte, dass ich ihn liebe, korrigierte sie sich.

Schuldgefühl und Wut mischten sich zu einem Strudel von Gefühlen. Sie hatte ihre eigenen Fehler gemacht, aber er hatte dafür gesorgt, dass sie dafür bestraft wurde. Er hatte ihr Vertrauen missbraucht und ihr törichtes Herz gebrochen.

Sie hatte um ihn getrauert und um den Vater geweint, den ihr Kind nie haben würde. Aber ein kleiner Dämon in ihrem Kopf hatte ihr zugeflüstert, dass sie zumindest durch seinen Tod vor seinem Zorn sicher sein würde.

Sie musste von hier verschwinden, und zwar schnell!

Wenn sie von ihrem Vater, dem Verbrecher, etwas geerbt hatte, dann war es der Überlebenswille. Sie verschloss ihr Herz vor dem Glücksgefühl über seine wundersame Rückkehr und rief sich stattdessen die schlimmsten Momente in Erinnerung, die sie zusammen verbracht hatten.

Reflexartig legte sie die Hand auf ihren Bauch, als könnte sie damit ihr ungeborenes Kind vor der drohenden Gefahr schützen. Das war es, was Duarte Avelar für sie war, erinnerte sie sich. Gefährlich.

Nora öffnete gerade den Mund, um sein Angebot abzulehnen, als plötzlich ein stechender Schmerz durch ihren Unterleib zuckte. Sie schnappte nach Luft und ließ achtlos ihre Tasche auf den Boden fallen.

„Sind Sie okay?“

Er war jetzt ganz nah bei ihr und stützte sie mit seinem Arm. Sie schob ihn von sich, unfähig, ihm ins Gesicht zu sehen. Sie musste in diesen Bus steigen, bevor die Männer ihres Vaters zurückkehrten! Heute noch musste sie Rio verlassen, aber sie konnte kaum noch klar denken.

„Bei Gott, Sie sind schwanger!“ Er sprach auf einmal mit starkem Akzent. „Sie sind wirklich schwanger.“

„Gut beobachtet“, zischte Nora.

„Müssen Sie in ein Krankenhaus?“

„Nein, nein! Ich habe nur zu viele schwere Kartons gehoben. Ich will heute die Stadt verlassen.“

Sie atmete bewusst langsam durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Wahrscheinlich war es nur der Schock über sein überraschendes Auftauchen, der ihren Körper in Aufruhr brachte.

Im Hintergrund hörte sie den Bus näher kommen. Sie musste los!

„Es geht mir gut“, sagte sie hastig. „Ich muss zum Flughafen, sonst verpasse ich meinen Flug.“

Sie trat einen Schritt an ihm vorbei und streckte den Arm aus, um den Bus anzuhalten. Dann spürte sie, wie sich ihr Bauch in einer weiteren Welle von Schmerzen verkrampfte.

Mit einem Aufschrei klammerte sie sich an den nächstgelegenen festen Gegenstand … einen sehr muskulösen, männlichen Arm. Sie drückte fest zu und betete, dass nicht gerade jetzt ihr Kind geboren wurde.

Noch während dieser Gedanke in ihrem Kopf entstand, fühlte sie ein feuchtes Rinnen an ihrem Bein entlang.

Das konnte nicht sein!

Mit fest geschlossenen Augen versuchte sie sich gegen die schmerzhaften Wellen in ihrem Leib zu stemmen.

„Ich glaube, meine Fruchtblase ist gerade geplatzt.“

2. KAPITEL

Nur vage nahm Nora das Geräusch eines lauten Motors neben sich wahr. Die Frage des Busfahrers, ob sie Hilfe brauche, hörte sie kaum.

„Não obrigado!“, dröhnte Duartes Stimme mit voller Autorität.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit verging, bis sie wieder die Augen öffnete und feststellte, dass der Bus abgefahren war. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sie an Duarte hing wie eine Klette. Eigentlich sollte ihr das peinlich sein, aber es war ihr unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen.

„Kann ich jemanden für Sie anrufen?“, fragte Duarte besorgt. „Den Vater des Babys vielleicht?“

Sie unterdrückte ihr Schluchzen, schüttelte den Kopf und schloss die Augen wieder, als ihr der Ernst ihrer Situation bewusst wurde.

Autor

Amanda Cinelli
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