Mein begehrenswerter Baron

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Eine gefährliche Mission im Schatten des Inferno-Clubs!Schottland, 1816. "Sie werden mir gehorchen. Haben Sie das verstanden?" Entschlossen betrachtet Virginia, Lady Burke den halbnackten Mann hinter den Gitterstäben. Seit sechs Monaten sitzt Nick, Baron Forrester in diesem Verlies, als Strafe für seinen Betrug am Inferno-Club. Aber Virginia hat ihn aufgesucht, um ihm einen Vorschlag zu machen: Er kommt frei - wenn er ihr dabei hilft, einen grausamen Mädchenhändler zu überführen. Doch um jeden Preis muss Virginia die Oberhand über diesen berüchtigten Verführer mit dem muskulösen Körper, dem sinnlichen Mund und der geschundenen Seele behalten! Sonst droht ihr selbst größte Gefahr …


  • Erscheinungstag 21.04.2017
  • Bandnummer 94
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768157
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Schottland, 1816

Die Schlüssel klapperten, als der stämmige, in einen Kilt gekleidete Wachmann die eiserne Tür vor ihr öffnete. Der Mann war bis an die Zähne bewaffnet, und er trat beiseite, um sie in das geheime Verlies eintreten zu lassen, in dem der Orden seine wertvollsten Gefangenen einzusperren pflegte.

„Hier entlang, Mylady.“

Sie befolgte seine Aufforderung, nicht ohne zuvor einen kurzen Blick auf den von Alter gezeichneten steinernen Torbogen über ihren Köpfen geworfen zu haben. Fast rechnete sie damit, Dantes berühmtes Zitat dort eingemeißelt zu sehen, mit dem bei ihm die Besucher in der Hölle begrüßt wurden: „Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren“.

Der Inferno Club eben, dachte sie.

Dann ließ sie das graue, trübe Zwielicht dieses Mittags im November hinter sich und schritt über die Schwelle in die Finsternis, die den Mann verschluckt hatte, den zu retten sie hierhergekommen war.

Ein gefallener Held. Für manche auch ein hoffnungsloser Fall.

Sie wagte zu behaupten, dass sie es besser wusste.

Der stämmige Wachmann nahm eine Fackel von der Wand und ging weiter, um sie durch den steinernen Gang zu geleiten, und stieg die alten Stufen hinunter, die in den Sandstein geschlagen worden waren. Sie hob den Saum ihres dunklen Kleides ein wenig an, aber ihre Schritte waren fest und sicher, als sie dem Mann folgte.

Immer tiefer führte der Wachmann sie in das Innere des Berges, unterhalb der St. Michael’s Abbey und der alten Schule des Ordens, wo Jungen aus guter Familie allmählich in tödliche Krieger verwandelt wurden.

So wie der Mann unten in der Zelle.

Nur er konnte ihr jetzt noch helfen. Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, hätte sie die nur zu gern in Betracht gezogen.

Aber die Situation war schwierig. Ihr blieb nicht genügend Zeit, um über weniger gefährliche Möglichkeiten nachzudenken.

Dennoch schüttelte sie den Kopf bei dem Gedanken, dass einer der besten Krieger ihres Vaters da unten in dem Verlies wie ein wildes Tier eingesperrt war.

„Wie lange ist er schon da drin?“

„Seit sechs Monaten, Madam. Im Mai ist er zu uns gekommen. Das ist nur ein Viertel seiner Haftstrafe, glaube ich.“

Sie erschauerte leicht.

Natürlich waren zwei Jahre in einem Käfig nur ein Klacks für einen Mann, der dafür ausgebildet war, feindliche Foltermethoden auszuhalten. Aber diese Bestrafung war von seinen eigenen Vorgesetzten über ihn verhängt worden – eine interne Disziplinarmaßnahme, die von den Graubärten ergriffen worden war, die den Orden leiteten. Und das wohl auch zu Recht, soweit sie darüber Bescheid wusste.

Dennoch war es ein hartes Urteil gegen einen Mann, der erst kürzlich den Prinzregenten vor einer Kugel bewahrt hatte, indem er sie selbst mit seinem Körper abfing. Unglücklicherweise hatte Nick, Baron Forrester, die eine, einzige unverzeihliche Sünde begangen.

Er hatte versucht, den Orden zu verlassen, und das war nicht erlaubt. Wenn die Organisation eine Art von Familie darstellte, die durch Geheimnisse und Blutsbande verbunden war, so war er in dieser Familie das schwarze Schaf.

„Wie steht es um seine Gesundheit?“, fragte sie, nachdem sie bemerkt hatte, wie feucht es hier unten war.

„Gut, soweit ich weiß. Ach, der Mann ist beinahe unzerstörbar. Tatsächlich, Mylady …“ Der Wachmann blieb auf den alten Stufen stehen und drehte sich zu ihr um. Dabei zuckte das Licht seiner Fackel über die Felswände. „Tatsächlich würde ich Ihnen raten, nicht zu nahe an das Gitter heranzugehen, zu Ihrer eigenen Sicherheit.“

Sie sah ihn überrascht an.

„Ich kann gut auf mich selbst aufpassen, vielen Dank“, sagte sie dann etwas steif.

Unter ihrem kühlen, ruhigen Blick zog er die buschigen Brauen hoch.

„Ich wollte Sie nicht beleidigen, Madam. Ich will sie nur warnen, denn er hat seit Monaten keine Frau mehr gesehen. Niemand weiß, was er tun könnte, wenn Sie ihm zu nahe kommen. Wenn Sie mich fragen, so ist er halb verrückt.“

„ Ich habe Sie aber nicht gefragt“, erklärte sie. Er mag ein verdammter Bastard sein, aber er ist immer noch ein Dutzend von deiner Sorte wert. Mit einer Kopfbewegung in Richtung auf den von Fackeln erhellten Tunnel, der noch tiefer in den Berg hinein führte, bemerkte sie kühl: „Sollen wir?“

Er blinzelte vor Empörung, aber er gehorchte. Er wandte sich wieder ab und fügte ganz leise, aber in spöttischem Tonfall hinzu: „Aye, sie ist eben Gin, Virgils Tochter, also gut.“

Sie zog hinter ihm eine Grimasse, während sie zusammen weitergingen. Gleich darauf hatten sie den Fuß der Treppe erreicht und gingen an einigen leeren Zellen vorbei, die an diesem Gang lagen. Zwischen den steinernen Mauern hatte jede Zelle nur die Größe einer Pferdebox.

Aber dann runzelte sie die Stirn, als sie lauten, rhythmischen Atem hörte, ein Geräusch, das aus der letzten Zelle im Gang drang.

Vor ihr blieb der Wachmann stehen und schlug mit seinem Knüppel gegen die Gitterstäbe.

„Aufstehen, Abschaum!“

„Ich bin beschäftigt, Arschloch, wie Sie sehen. Was wollen Sie?“, fragte eine tiefe Stimme, die heiser war von der Anstrengung.

Sie trat näher, wobei sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, bis der Gefangene in Sichtweite kam.

Unten auf dem kalten Steinfußboden machte ein großer Mann, der kein Hemd trug, Liegestütze mit einem Arm. Das Licht der Fackel spielte auf seinem sehnigen nackten Rücken.

Oh weh, oh weh.

Gin sah zu und war gegen ihren Willen beeindruckt, als er, ohne aus dem Takt zu geraten, von einem Arm auf den anderen wechselte und seine Übung mit unermüdlichem Schwung fortsetzte, wobei er den Wachmann auf unhöfliche Art und Weise ignorierte.

„Ziehen Sie um Himmels willen ein Hemd an, Mann“, murrte der Wachmann. „Es ist eine Dame anwesend.“

„Eine was?“

Mitten in der Bewegung erstarrte der Gefangene und spähte durch die wild zerzauste schwarze Mähne, die ihm ins Gesicht hing, nach oben. Sein Blick fiel auf sie.

„Verdammt will ich sein“, murmelte er.

Mit einer anmutigen Bewegung sprang er auf die Füße, hoch gewachsen und muskulös. Auf seiner nackten Brust glitzerten Schweißperlen.

Voll unverhohlener Bewunderung sah sie, wie seine Brust sich hob und senkte.

Manchmal konnte ein Mann ganz reizend aussehen.

„Und wer bitte sind Sie?“, stieß er schwer atmend hervor und wischte sich mit einer schroffen Bewegung seines muskelbepackten Unterarms den Schweiß vom Gesicht.

Dabei lächelte er sie auf dieselbe Art an, die sie schon als Siebzehnjährige hatte erschauern lassen.

Ihn so zu sehen, halb nackt, die Haut gerötet von den anstrengenden Übungen, die Muskeln fest und hart, war der Grund dafür, dass sie etwas mehr Zeit als üblich benötigte, um ihre Gedanken zu sammeln und sich selbst daran zu erinnern, dass sie kein kleines Mädchen mehr war. Dass er jetzt ein Agent war, der in Ungnade gefallen war, weil er sich falsch verhalten hatte, ganz zu schweigen davon, dass er ein ausgebildeter Attentäter war mit einer überdurchschnittlich hohen Erfolgsrate.

Wie er so dastand, sie anlächelte, die nachtblauen Augen voller Charme, Misstrauen und Geheimnissen, war er genauso gefährlich wie immer.

Das hätte ihr eigentlich klar sein müssen. Schließlich hatte ihr eigener Vater ihn ausgebildet.

Und obwohl sie vor keinem Mann Angst hatte, musste sie sich sehr beherrschen, um nicht einen Schritt zurückzuweichen, als der schwer atmende Lord Forrester näher kam und nur von den Gitterstäben daran gehindert wurde, sie zu berühren.

Sie durfte nicht zurückweichen. Nicht, wenn sie auf ihn aufpassen sollte.

Es war wichtig, ihm von Anfang an zu zeigen, wer hier das Sagen hatte. Hinter ihm auf dem kleinen schäbigen Tisch, der bedeckt war von Büchern, Karten und Papieren, brannte eine Kerze, und vor ihrem Licht wirkte sein Umriss dunkel, mächtig, bedrohlich und stark.

Und er gehörte ihr, mit voller Erlaubnis der Graubärte. Ihr, damit sie ihn für ihre eigenen Zwecke benutzte.

Wenn sie ihn kontrollieren konnte.

Und wenn nicht, wenn dieser unberechenbare Agent ihr irgendwelche Schwierigkeiten bereitete, dann hatte sie die volle Erlaubnis, ihm eine Kugel in seinen schönen Kopf zu jagen. Aber als sie ihren Blick über seinen edel gebauten Körper gleiten ließ, musste sie zugeben, dass das wirklich sehr, sehr schade wäre.

Wenn ein Mann ein paar Monate lang in Einzelhaft untergebracht wird, dann kann der Verstand ihm schon einmal Streiche spielen, und so war Nick nicht ganz davon überzeugt, dass dies hier kein Traum war.

Man konnte da nie ganz sicher sein.

Er hatte geglaubt, den Hauch eines betörenden Parfüms zu spüren, der durch die feuchte Luft im Verlies auf ihn zuschwebte, dass er das schwache Rascheln von Satinröcken und leichte, zarte Schritte hinter den schweren, donnernden Schritten des Wachmanns gehört hätte.

Aber er hatte diese verführerischen Andeutungen von Schönheit ignoriert, war seiner eigenen Träume müde und hasste die schreckliche Einsamkeit, die sie hervorbrachten.

Dann hatte sich zu seinem Erstaunen herausgestellt, dass er recht gehabt hatte.

Eine wunderschöne blasse geheimnisvolle Frau war in sein Blickfeld getreten, und vielleicht träumte er tatsächlich, denn sie sah aus wie ein Traum.

Aber andererseits – so viel Fantasie hatte er eigentlich nicht. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten sah er überhaupt eine Frau, und diese hier war – einfach hinreißend.

Er konnte den Blick nicht abwenden.

Sie schien ganz wirklich zu sein. Natürlich wäre die einzige Möglichkeit, sich tatsächlich von ihrer Echtheit zu überzeugen, durch die Gitterstäbe zu greifen und sie zu berühren, aber das wagte er nicht, aus Furcht, sie zu erschrecken, sie zu vertreiben und wieder allein zu bleiben für wer-weiß-wie-lange.

Daher versuchte er, sich stattdessen auf die naheliegendste Frage zu konzentrieren: Was machte sie hier?

Die Frau sah sich in seinem käfigartigen Quartier um – es war ein finsterer Raum, wirklich, vor allem für einen Adeligen, wie leer seine Schatullen auch sein mochten.

Von seiner Seele ganz zu schweigen.

„Sehr gemütlich haben Sie es hier“, sagte sie.

„Ja, nicht wahr?“, gab er zurück. „Ich würde Ihnen ja einen Drink anbieten, aber der Service hier ist wirklich schlecht.“

Sie warf Nick einen Blick zu. Sie hatte blaue Augen und schenkte ihm die Andeutung eines Lächelns, bei dessen Anblick ihm schwindelig wurde.

Ross, der schottische Wachmann, charmant wie immer, schätzte seine verhaltene Flirttechnik gar nicht. Er schlug wieder gegen die Gitterstäbe, sodass das Metall ebenso vibrierte wie Nicks Körper es tat als Reaktion auf ihre Gegenwart.

„Ziehen Sie sich ein Hemd an, Mann. Ich werde Ihnen das nicht noch einmal sagen. Sie befinden sich in Gegenwart einer Dame.“

„Ach, das macht mir nichts aus“, meinte die Lady selbstsicher. Sie musterte Nicks muskulösen Bauch in unverhohlener Bewunderung.

Er grinste und war froh, die Zeit im Gefängnis dazu genutzt zu haben, seinen Körper zu trainieren. Viel mehr hatte er hier nicht zu tun. Das, und außerdem noch die Zeit, sein Leben zu überdenken und sich mit der Maus anzufreunden, die in einer Ecke wohnte, und, natürlich, zu lesen. Mochte Gott seinen Freund und Teamkameraden Lord Trevor Montgomery segnen, der seinen Verstand gerettet hatte, indem er ihm Bücher geschickt hatte.

Nick nahm an, dass seine Sehfähigkeit wohl ruiniert sein würde, wenn er hier herauskam, was nicht gut wäre für einen ausgezeichneten Scharfschützen. Eine Kerze konnte kaum die allumfassende Dunkelheit an diesem Ort mit Licht erfüllen. Aber er hatte etwas gebraucht, irgendetwas, das seine Gedanken aus diesem Raum hinausführte.

Also hatte er sich widerstrebend darauf eingelassen, eine Lesebrille zu tragen. Wirklich niederschmetternd. Nur ein weiteres Beispiel für seine vergeudete Jugend.

Fünfmal hatte er eines der Bücher von Trevor gelesen, bis er es fast auswendig konnte. Der erste veröffentlichte Reisebericht über die amerikanische Wildnis von den Herren Lewis und Clark.

Unter den gegebenen Umständen wusste Nick die totale Freiheit dieser unzivilisierten Gegend besonders zu schätzen. Sobald er endlich hier heraus war, würde er dorthin gehen, hatte er beschlossen.

Er hatte seine Reise schon bis zum Rand dieser Karte geplant. Und er konnte es kaum erwarten, die Begrenzung des kartographierten Gebiets zu verlassen und ins Unbekannte zu reisen, mit nichts als einem Gewehr auf dem Rücken und einem Rucksack mit Vorräten.

Zum Teufel mit der Zivilisation. Offenbar war er dafür nicht geschaffen. Er hatte alle ihre Reize getestet und war nun in mehr als einer Beziehung zugrunde gerichtet, völlig erschöpft.

Bären, Indianer, giftige Schlangen.

Nach den Feinden, denen er schon entgegengetreten war, machten ihm diese hier keine Sorgen mehr. Nein, wirklich, er würde es genießen. Auf der anderen Seite des Ozeans wartete unentdecktes, unberührtes Land darauf, erforscht zu werden von einem Mann, der wusste, was er tat.

In der Zwischenzeit lockten ihn die Rundungen und Grübchen der Frau, die außerhalb seiner Reichweite auf der anderen Seite des Gitters stand, die seine animalischen Instinkte ansprach und gleichzeitig zu verspotten schien.

Er musterte sie von Kopf bis Fuß, vielleicht ein wenig ungehobelt, aber das erschien ihm nur fair, schließlich machte sie dasselbe mit ihm.

Nick machte das nichts aus. Er lehnte sich gegen die Gitterstäbe und ließ sie mit Vergnügen alles sehen, was sie sehen wollte, während er dasselbe tat und dabei hoffte, nein wünschte, vermutlich vergebens, dass sie eine edle Dirne war, die ihm großzügigerweise geschickt worden war von seinem etwas kühneren Waffenbruder Sebastian, Viscount Beauchamp.

Trevor, gerade frisch vermählt mit einer Pfarrerstochter, würde ihm Bücher und Essen und andere sinnvolle Dinge schicken, um seine sündhafte Seele zu retten.

Beau dagegen, ein Frauenheld, bevor auch er vor den Altar getreten war, hatte sicher eine weitaus vergnüglichere Vorstellung davon, was Nick nach sechs Monaten in Haft brauchen würde.

Als er den Blick tiefer gleiten ließ, bis hinunter zu ihrem Ausschnitt, der unter dem weißen Hemd und dem dunklen Stoff ihres Kleides gerade so viel von ihrer Brust sehen ließ, dass die Rundungen unter ihrer zarten Haut angedeutet wurden, verfluchte er die eisernen Gitter und umklammerte sie fast verzweifelt, während er sie mit unverhohlener Gier anlächelte.

„Meine Liebe, würden Sie wohl die Freundlichkeit haben, hereinzukommen und mir für eine Weile Gesellschaft zu leisten?“, meinte er mit einem breiten Lächeln.

Seine schöne, herrlich duftende Besucherin zog nur spöttisch eine Braue hoch und beantwortete seine Lüsternheit mit einem amüsierten Blick.

Leider deutete die Art, wie sie das Kinn reckte und ihn mit ihren blauen Augen durchdringend ansah, darauf hin, dass diese vornehme Gestalt vermutlich niemals für Geld zu haben gewesen war.

Kenne ich sie von irgendwoher? überlegte er. Sie erschien ihm irgendwie vertraut. Dabei war er sicher, dass er sich erinnern würde, wenn er eine so faszinierende Frau schon einmal getroffen hätte. Dieser Gedanke verflog auch sogleich wieder.

Er war aber auch abgelenkt und zu sehr damit beschäftigt, sich daran zu erfreuen, wie das Kerzenlicht goldene und rubinrote Glanzlichter in ihr kastanienbraunes Haar zauberte. Sie hatte lange, samtige Wimpern. Volle, sinnliche Lippen …

„Wenn Sie dann aufhören könnten, Stielaugen zu machen, Lord Forrester, dann können wir uns vielleicht um das Geschäftliche kümmern.“

Er erwachte aus seiner lustvollen Benommenheit und gab zurück: „Das Gleiche gilt für Sie, Madam.“

Ross schlug noch einmal mit dem Knüppel gegen die Gitterstäbe.

„Denken Sie an Ihre Manieren, Sie Schurke.“

Nick warf ihm einen finsteren Blick zu.

„Sie sind eine ganz reizende Anstandsdame, alter Junge, aber ich wage zu behaupten, dass die Lady und ich alt genug sind, um allein gelassen zu werden.“

„Das möchten Sie wohl“, gab der Mann zurück.

„Es ist schon richtig, Sergeant. Lassen Sie uns allein“, befahl sie.

„Aber Madam! Es ist nicht sicher, wenn Sie allein bleiben mit diesem Kerl“, sagte er und rollte dabei das „R“ mit seinem schottischen Akzent.

„Machen Sie sich keine Sorgen. Ich weiß, wie ich mit so einem umgehe“, sagte sie belustigt. Als der Wachmann zögerte, sprach sie in schärferem Ton weiter: „Danke, das ist alles.“

Ross gefiel das nicht, aber offenbar hatte er die Anweisung erhalten, ihr zu gehorchen.

So, so, dachte Nick, der jetzt auch amüsiert war. Ihre Hoheit musste also jemand Wichtiges sein.

Ross murmelte etwas Gehorsames, verneigte sich und zog sich zurück, während Nick die geheimnisvolle Frau mit widerwilliger Bewunderung musterte.

Sie entschied sich, es mit ihrer offenbar Wunder bewirkenden Macht nicht zu übertreiben. Nachdem Ross gegangen war, drehte sie sich einfach zu ihm um, mit einem etwas traurigen Lächeln und so etwas wie Mitleid im Blick.

„Ich glaube nicht, dass er Sie mag.“

„Ja, seltsam, nicht wahr? Dabei bin ich doch so liebenswert“, sagte Nick. „Also, wo waren wir stehengeblieben? Ach ja. Sie wollten mir sagen, wer Sie sind und was Sie von mir wollen“, begann er herausfordernd.

Nicht, dass er in der Position war, Forderungen zu stellen.

Sie musterte ihn aufmerksam, als wäre er entweder ein Pferd, das zum Verkauf stand, oder irgendein unglückliches Tier, das für ein wissenschaftliches Experiment benötigt wurde.

Keine der beiden Möglichkeiten gefiel ihm besonders.

Aber vielleicht, nur vielleicht, wollte sie etwas anderes. Bei der Art und Weise, wie sie seinen Körper anstarrte, musste er unwillkürlich an die römischen Gladiatoren der Antike denken, die von verheirateten Edeldamen besucht wurden, die entweder eine Nacht voll wilder Lust erleben oder ihre Bäuche mit dem Samen starker Krieger füllen lassen wollten.

Das ist vermutlich alles, was ich jetzt noch geben könnte, dachte er voller Bitterkeit. Aber der Gedanke, dass sie ihn auf diese Art benutzen wollte, verletzte seinen Stolz genug, um seine Lust abzukühlen. Nun, da wäre sie nicht die Erste.

Aber er hatte so wenig Macht in diesem Käfig und das Einzige, was er tun konnte, bestand darin, sich gegen ihre Musterung zu wehren.

Ganz plötzlich fühlte er sich verlegen, wandte sich ab und ging quer durch die Zelle, um sich ein Hemd anzuziehen, wie es ihm befohlen worden war.

„Ich bin Lady Burke“, erklärte sie ihm. „Und ich bin hier, um Ihnen einen Vorschlag zu machen.“

Sofort hielt er inne, mitten in der Bewegung, als er sich gerade das Hemd über den Kopf ziehen wollte.

„Wenn Sie sich mit meinem Vorschlag einverstanden erklären“, fuhr sie mit kühlem Blick fort, „und schwören, mir unbedingt und ohne Fragen Gehorsam zu leisten …“

Er lachte.

„Dann kann ich Sie hier herausholen. Heute noch.“

Abrupt hörte Nick auf zu lachen.

Stattdessen drehte er sich um und sah sie zweifelnd an, fest davon überzeugt, dass er sie falsch verstanden hatte oder dass das ein sehr grausamer Trick war. Er kniff die Augen zusammen und musterte die Frau prüfend, auf der Suche nach irgendeinem Anzeichen für eine Lüge. Er fand keines.

„Was Sie nicht sagen“, murmelte er skeptisch und war schon in Abwehrhaltung, um sich vor der sicheren Enttäuschung zu schützen.

Sie nickte bestätigend.

Und sein Herz begann, wild zu schlagen. Nun, also – konnte sie ihn wirklich befreien? Es schien unmöglich, wo er doch ein so böser Junge gewesen war.

Außer – nun, das konnte zwei verschiedene Dinge bedeuten. Entweder hatte diese Frau unglaublich gute Beziehungen, oder sie brauchte ihn für etwas, bei dem er aller Wahrscheinlichkeit nach sein Leben verlieren würde.

Nick wog diese beiden Möglichkeiten gerade mal zwei Sekunden lang gegeneinander ab, ehe er einen Entschluss fasste. Alles war besser, als hier in diesem Loch gefangen zu sein. Er steckte sich das Hemd in die Hose und näherte sich wachsam dem Gitter.

„Ich höre.“

„Vielleicht es ist am besten, wenn ich ganz von vorne anfange.“

„Das ist üblicherweise das Beste.“

„Also schön.“ Sie lehnte sich mit der Schulter an das Gitter seiner Zelle und begann, sich die Handschuhe auszuziehen. „Vor einem Monat habe ich den Fall einer Person übernommen, die in der Stadt vermisst wurde. Ein achtzehnjähriges Mädchen, Susannah Perkins, war verschwunden. Die Mutter hat mich aufgesucht und mich um meine Hilfe gebeten. Der Stiefvater hat behauptet, sie wäre mit einem Jungen durchgebrannt, aber die Mutter hat darauf beharrt, dass ihre Tochter so etwas niemals tun würde, ohne wenigstens ihren Freundinnen …“

„Warten Sie. Verzeihen Sie bitte, Lady Burke, aber ich kann Ihnen nicht folgen. Sie haben einen Fall übernommen? Wie ist es dazu gekommen?“

Überrascht zog sie die Brauen hoch, dabei spielte ein spöttisches Lächeln um ihre Lippen.

„Ah ja, ich vergaß. Es verwirrt das starke Geschlecht immer sehr, einer Frau zu begegnen, die Verstand besitzt und einer Beschäftigung nachgeht. Dann will ich Sie aufklären. Vor ein paar Jahren, nach dem Tod meines Ehemannes, habe ich festgestellt, dass ich nun die Freiheit besaß, meinen eigenen Interessen so nachzugehen, wie es mir beliebte.“

Eine Witwe, dachte Nick und hörte kaum alles Übrige. Welch ein Glück.

„Weil, und das mag Sie schockieren, Lord Forrester“, fuhr sie fort, „das Leben für eine intelligente Frau meines Standes sehr schnell außerordentlich langweilig werden kann.“

„Und deswegen ist Ehebruch der Lieblingszeitvertreib im ton“, gab er lächelnd zurück. „So hat man mir jedenfalls gesagt.“

Sie zuckte die Achseln.

„Manche Damen füllen ihre Zeit mit Stickereien aus, andere widmen sich ganz der Wohltätigkeit. Oder sie arbeiten im Garten oder betrachten den Klatsch als ihr Steckenpferd. Was mich betrifft …“ Sie sah ihn aufmerksam an. „In mir ist das Interesse erwacht, Menschen zu helfen, die Opfer eines Verbrechens wurden oder sonst irgendeine Ungerechtigkeit erleiden mussten. Ich finde es unterhaltsam, die Tatsachen hinter verschiedenen Unglücksfällen zu erforschen und, wenn möglich, die Verantwortlichen zu ermitteln und dann diese Informationen den Behörden zu melden.“

Er runzelte die Stirn und starrte sie an. Er war neugierig geworden.

„Und was bedeutet das? Dass Sie so etwas sind wie ein – weiblicher Detektiv?“

Davon hatte er nie zuvor gehört, aber diese Bezeichnung schien ihr zu gefallen.

„Ja, ich denke, das bin ich wohl. Sehen Sie mich nicht so erschrocken an“, schalt sie ihn und nahm eine etwas abweisende Haltung ein, indem sie den Kopf reckte. „Mit meiner Zeit und meinem Geld kann ich machen, was ich will. Wer sonst könnte den einfacheren Leuten helfen, wenn ihnen ein Unrecht widerfährt und sie zu große Angst haben, um laut darüber zu sprechen? Oder, was Gott verhüten möge, eine Frau, die Fragen hat, die ihren Ehemann betreffen. Ich helfe ihnen allen. Diskret natürlich. Jenen, die sonst niemanden haben, an den sie sich wenden könnten.“

Nick entschied auf der Stelle, dass er sie bewunderte. Er spottete jetzt nicht mehr über ihre kleinen kriminalistischen Unternehmungen.

„Und wo genau komme ich dabei ins Spiel?“

„Wegen Ihrer Arbeit der kriminellen Unterwelt in London und im Ausland vermute ich, dass Sie eine Reihe von besonderen Fähigkeiten entwickelt haben.“

Woher zum Teufel wusste sie das?

Er war allerdings nicht so dumm, unverschämte Fragen zu stellen, wenn es wirklich eine Chance gab, dass sie ihn hier herausholen konnte.

„Das stimmt.“

In der kriminellen Unterwelt war er Jonathan Black, ein bezahlter Mörder und ein sehr böser Mann.

„Sie haben das Vertrauen von Menschen gewonnen, die niemandem trauen“, fuhr sie fort. „Ich brauche Sie, um diese Verbindungen für mich zu nutzen.“

„Welche Verbindungen? Können Sie da etwas genauer werden?“

„Nicht jetzt.“

„Na gut.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und dachte darüber nach. „Ich vermute also, dass Ihr Fall mit der vermissten Person eine sehr unerwartete Wendung genommen hat?“

„Ja.“

„Sie müssen sehr besorgt sein, sonst hätten Sie die Informationen einfach den Burschen in der Bow Street geliefert.“

„Das würde nicht ausreichen.“ Sie zögerte. „Lord Forrester, ich habe einen Ring entdeckt, der junge Mädchen entführt und nach Übersee verkauft. Miss Perkins ist nicht das einzige junge Mädchen, das in den letzten Wochen verschwunden ist. Es ist mir gelungen herauszufinden, dass der Kopf des Ringes unter dem Decknamen Rotgut bekannt ist. Sein wahrer Name ist unbekannt. Er ist Engländer, und er ist Kapitän auf einem Schiff, das Black Jest heißt. Das ist alles, was ich über ihn weiß, abgesehen von einem weiteren Punkt. Dass er im Moment vorhat, seine derzeitigen Gefangenen auf einer Auktion in der Unterwelt zu verkaufen, die Bacchus Bazaar genannt wird. Ich habe gehört, dass Ihnen diese Auktion bekannt ist.“

Nick fluchte leise.

Sie zog eine Braue hoch als Zeichen ihrer Zustimmung.

Der Bacchus Bazaar war eine geheime Auktion der Unterwelt, die in jedem zweiten Jahr abgehalten wurde, zu der die wichtigsten Händler aller Arten von illegalen Waren zusammenkamen, um Handel zu treiben, zu tauschen, zu verhandeln und Allianzen zu bilden.

„Wir haben viel Arbeit vor uns, wenn Sie sich entscheiden, mir zu helfen“, fuhr sie fort. „Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Der Auktionstermin ist für die erste Hälfte des Dezembers geplant.“

„Ist es Ihnen schon gelungen, eine Zugangsberechtigung zu bekommen?“

„Ja, das schon, aber hier liegt das Problem. Sie ist verschwunden, zusammen mit meinem Assistenten John Carr. Er wird seit einer Woche vermisst. Wenn ich bedenke, mit welcher Art von Menschen wir hier zu tun haben, dann bin ich nicht sehr optimistisch.“

„Sie denken, er wurde ermordet?“

„Oder er ist bei den Gefangenen, um verkauft zu werden.“ Sie hielt inne. „Er ist ein sehr schöner junger Mann.“

„Ich verstehe“, meinte er, und das tat er wirklich, vielleicht besser, als es ihr lieb war. Vor allem, dass die weltgewandte Witwe sich nicht nur damit amüsierte, in Kriminalfällen zu ermitteln, sondern auch die Dienste eines jungen und hübschen Kavaliers genoss. Der auf irgendeine Weise verschwunden war und damit all ihre Fortschritte zunichte gemacht hatte.

Wenn sie ihm wirklich alles erzählt hatte.

Was sie offenbar nicht getan hatte.

Also gut.

Nick wusste nicht, warum es ihn so ärgerte, von ihrem Liebhaber zu hören, aber es half ihm, sich ein wenig von ihrer Schönheit abzulenken und über alles etwas ruhiger nachzudenken. Und seine eigenen Interessen dabei nicht aus den Augen zu verlieren.

„Ohne eine Zugangserlaubnis sind mir die Hände gebunden“, sagte sie und seufzte tief, wobei sie sich abwandte. „Ich bin von der nächsten Runde ausgeschlossen und kann keinen Schritt machen. Ich weiß, dass der Treffpunkt in Paris ist, aber wenn ich dort eintreffe und keine Teilnahmeberechtigung habe, wird mir niemand sagen, wo der Veranstaltungsort für den Bacchus Bazaar ist.“

„Sie könnten Sie außerdem auch umbringen“, meinte er trocken. „Sie können da nicht hingehen und sich wie eine Eingeweihte benehmen, ohne einen Beweis dabei zu haben.“

„Deswegen brauche ich Sie. Sie haben, nach allem, was ich gehört habe, an dieser Auktion schon teilgenommen. Zeit ist ein wichtiger Faktor. Für diese Mädchen besteht keine Hoffnung, wenn wir nicht handeln. Werden Sie mir also helfen?“

Nick beobachtete sie aufmerksam und kämpfte im Angesicht seiner eigenen unangenehmen Situation gegen den angeborenen Drang, einer Dame in Not zu Hilfe zu eilen. Stattdessen sagte er nur: „Was ist für mich dabei drin?“

Sie lächelte spöttisch.

„Ich dachte schon, Sie würden das nie fragen.“ Dann stieß sie sich von den Gitterstäben ab und ging langsam vor seiner Zelle auf und ab.

Nick beobachtete sie aufmerksam.

„Sie können heute noch diesen Käfig verlassen, wie ich gesagt habe, Lord Forrester. Und wenn Sie ein ganz braver Junge sind, müssen Sie nie mehr hierher zurück.“

„Wirklich nicht?“ Er war so erschrocken, dass er die Luft anhielt.

„Der Orden hat sich damit einverstanden erklärt, Ihnen die Freiheit zu schenken, wenn wir unsere Mission zu Ende gebracht haben. Natürlich unter gewissen Bedingungen. Sie verlassen sich auf Ihr Ehrenwort, um genau zu sein.“

„Wie um alles in der Welt haben Sie das geschafft?“

„Nun, es hat sich gezeigt, dass ich nicht die Einzige bin, die Sie gern in Freiheit sehen würde. Ich habe gehört, dass die Graubärte schon seit Monaten von Ihren Mitagenten unter Druck gesetzt werden. Besonders Lord Beauchamp und Lord Montgomery sind hinter den Kulissen unermüdlich damit beschäftigt, eine vorzeitige Entlassung für Sie zu erwirken.“

Das zu hören, erstaunte ihn über die Maßen. Das hatten sie ihm nicht gesagt. Sie wollten ihm wohl keine falschen Hoffnungen machen.

„Und Sie haben die Kugel für den Prinzregenten abgefangen“, fügte sie hinzu.

„Verdammt“, sagte er, noch immer fassungslos. Nachdem er seinen Bluteid gebrochen und schändlich versagt hatte, war Nick davon ausgegangen, dass seine Mitagenten der Meinung wären, er hätte nur das bekommen, was er verdiente, als er in dieser Zelle landete. Aber sie wollten ihn freibekommen?

Nach allem, was er getan hatte?

Er war gerührt – und ein wenig nachdenklich –, als er das hörte. Aber vielleicht hätte er ein wenig mehr auf ihre Loyalität ihm gegenüber vertrauen sollen, auch nachdem er selbst genau daran gescheitert war.

Es war kaum zu übersehen, dass er mit seinem Ausbruch im vergangenen Jahr nicht vorgehabt hatte, sie zu verletzen, und natürlich auch nicht, sein verdammtes Land zu verraten. Er hatte es einfach nur nicht mehr aushalten können.

Ein Söldner zu werden, war ganz einfach eine Möglichkeit gewesen, etwas Geld zu verdienen, damit er sich dann auf irgendeine schöne Insel zurückziehen konnte. Vielleicht auf die Westindischen Inseln. Kein Töten mehr, kein Betrug mehr. Keine dunklen Schachspiele mehr in fremden Ländern und nicht mehr die Art Leben führen, bei der er ständig nachsehen musste, was hinter seinem Rücken geschah.

Alles, was er wollte, war, in Ruhe gelassen zu werden.

Aber nichts war wirklich einfach.

Stattdessen hatte er sich wie ein Dummkopf, ein Narr, unwissentlich in einen Plan hineinziehen lassen, bei dem der Orden es mit einem Anschlag auf den Premierminister zu tun bekam.

Natürlich hatte das nicht funktioniert. Lord Liverpool war noch am Leben, es ging ihm gut zu Hause, selbst jetzt. Vermutlich isst er gerade einen Braten und denkt sich neue Methoden aus, um den durchschnittlichen Engländer zu unterdrücken, dachte Nick spöttisch.

Dankenswerterweise hatte Beauchamp den Plan durchschaut, sogar noch ehe Nick überhaupt nur eine Ahnung davon gehabt hatte, dass er benutzt worden war. Sein Freund hatte es geschafft, ihn aus der misslichen Lage zu befreien, in die er sich unwissentlich gebracht hatte. Zu ihrer aller Erleichterung war das heimtückische Vorhaben gescheitert.

Aber im letzten Moment, als den Verschwörern klar geworden war, dass ihr Plan nicht gelingen würde, hatte einer von ihnen eine Pistole gezogen und auf den Prinzregenten gezielt. Nick hatte nur die Waffe gesehen und automatisch gehandelt. So kam es zu der Kugel in seinem Bauch und der landesweiten Würdigung.

Der Ruhm, den er für seine „edle Tat“ erntete, beschämte ihn umso mehr, weil die Öffentlichkeit keine Ahnung hatte vom Rest der Geschichte.

Allerdings hatte ihn die Kugel vor dem vollen Zorn seiner Vorgesetzten bewahrt. Andernfalls hätten die Graubärte ihn möglicherweise vor ein Erschießungskommando gestellt.

Agenten mussten den höchsten Anforderungen genügen, und der Orden bestrafte seine Mitglieder vermutlich noch härter, als er seine Feinde bestrafte.

Natürlich hätte Nick den verdammten Premierminister für niemanden ermordet – hätte er nur vorher gewusst, wer sein Zielobjekt war. Doch die Art von Klienten, die Attentäter engagierten, um andere Menschen umbringen zu lassen, waren grundsätzlich nicht besonders offen im Umgang. Informationen wurden erst nach und nach herausgegeben. So war er nach London geschickt worden, um dort auf weitere Anweisungen zu warten.

Zum Glück hatte Beau nach ihm gesucht und ihn gewarnt, ihm gesagt, dass er getäuscht wurde, sodass der finstere Plan niemals ausgeführt wurde. Aber Nick wusste, dass er sich der Pflichtvergessenheit schuldig gemacht hatte.

Und eines schlechten Urteilsvermögens.

Und vermutlich der Faulheit, außerdem, neben einer ganzen Reihe anderer Sünden, Schwächen und Fehler.

Tatsächlich war das Schlimmste an dem Umstand, dass er hier eingeschlossen war, die Tatsache, dass er keine Möglichkeit hatte, sich selbst zu entfliehen. Einem Mann, vor dem er jeglichen Respekt verloren hatte.

Lady Burke fuhr währenddessen mit ihren Erklärungen fort.

„Meine Bitte um Ihre Hilfe in dieser Angelegenheit war einfach der letzte Strohhalm, so sehen es die Graubärte zumindest.“

Nick runzelte die Stirn und fragte sich, woher sie eigentlich den heimlichen Beinamen der Ordensältesten kannte.

„Offensichtlich sehen sie, dass dies für eine gute Sache geschieht, nämlich, um diese unglücklichen Mädchen zu retten“, fuhr sie fort. „Daher haben sich die Ältesten einverstanden erklärt, Sie meiner Obhut zu übergeben. Sie bekommen die Gelegenheit, sich zu bewähren, Mylord. Ich schlage vor, dass Sie diese Chance wirklich gut nutzen.“

Er senkte den Blick, ein wenig überwältigt von dieser unerwarteten Möglichkeit zur Wiedergutmachung. Dann schüttelte er den Kopf.

„Ich verstehe das noch immer nicht. Warum sollten sie Ihnen zuhören?“ Er warf ihr einen scharfen Blick zu. „Woher wissen Sie von den Kontakten, die ich im Feld geschlossen habe? Wer sind Sie überhaupt?“, fragte er mit leiser Stimme.

Sie sah ihn einen Moment lang an mit einer seltsamen Mischung aus Mitleid und Misstrauen, ließ ihn dann aber erneut im Dunkeln.

„Wenn Sie sich einverstanden erklären, diese Mission zu übernehmen, Lord Forrester – und ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das ablehnen, in Anbetracht Ihrer Möglichkeiten –, dann müssen Sie zuerst und vor allem anderen begreifen, dass Sie Ihre Befehle von einer Frau entgegennehmen. Das heißt, von mir. Ich gehe davon aus, dass das für Sie kein Problem sein wird?“

Er schüttelte nur den Kopf. Es wäre nicht das erste Mal, dachte er bei sich. Die Herrin der Söldnerarmee, mit der er sich eingelassen hatte, war schließlich auch eine Frau gewesen.

Allerdings war das natürlich nicht gut ausgegangen.

„Wie lautet also Ihre Entscheidung?“, fragte sie mit gedämpfter Stimme. „Denken Sie daran“, unterbrach sie ihn schon, ehe er überhaupt nur ansetzen konnte, „ich werde keinen Unsinn erlauben. Ich will offen sein, Lord Forrester – darf ich Sie Nick nennen? Ich habe Nachforschungen über Sie angestellt, und ich kenne alle Ihre Tricks.“

Oh, das bezweifle ich.

„Denken Sie also nicht einmal daran, mich zu hintergehen“, fuhr sie fort. „Alles in allem sollten wir gut miteinander klarkommen, denke ich, solange Sie ein braver Junge sind und genau das machen, was ich Ihnen sage.“

„Sonst passiert was?“, fragte er herausfordernd. Denn solche Anweisungen waren ihm zutiefst zuwider.

„Dann verpasse ich Ihnen einen Schuss in den Kopf“, erwiderte sie ohne auch nur die geringste Andeutung von Humor.

Gegen seinen Willen war Nick fasziniert, traute ihr aber nicht über den Weg.

„Wer genau sind Sie?“

„Das habe ich Ihnen schon gesagt. Mein Name ist Virginia Stokes, Baroness Burke. Meine Freunde nennen mich Gin.“

„Baron Burke – Ihr Ehemann“, murmelte er und durchforschte sein Gedächtnis. „Ich habe den Namen schon gehört, aber ich glaube nicht, dass ich ihn jemals getroffen habe.“

Sie spitzte die Lippen, als müsste sie sich bemühen, eine Bemerkung zu unterdrücken.

Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen wäre es etwas gewesen im Sinne von: Da haben Sie nicht viel verpasst.

Als sie begriff, dass er ihre Miene richtig gedeutet hatte, wandte die geheimnisvolle Lady Burke sich ab.

„War er nicht ein Nabob?“ Nick wusste, dass der Orden auch in Indien ein paar Männer hatte. „War er ein Agent? Einer von uns?“

„Himmel, nein!“

„Gehören Sie dazu?“, fragte er beharrlich weiter und lehnte die Stirn gegen das Gitter.

Ihr Lächeln wirkte etwas sonderbar, als sie ihn ansah.

„Sie wissen, dass der Orden es Frauen nicht erlaubt, auf diesem Gebiet zu arbeiten, Mylord.“

„Wer zum Teufel sind Sie dann?“, rief er aus, trat zurück und schlug frustriert gegen das Gitter. „Antworten Sie mir! Ich sehe doch, dass es vieles gibt, das Sie mir nicht sagen …“

„Sie werden die Informationen bekommen, wenn sie erforderlich sind, Lord Forrester.“

Er sah sie an und war wütend, während er sich bemühte, sie zu durchschauen. So wie er die Sache sah, konnte dies leicht eine neue Falle sein.

Er hatte da draußen wahrlich viele Feinde. Oder vielleicht prüfte der Orden auch nur seine Loyalität. Er wäre ein Narr, wenn er bei diesem Köder anbiss.

„Es tut mir leid, ich verstehe nur nicht, was hier vor sich geht.“

„Nein, ich glaube auch nicht, dass Sie das tun. Sie werden mir einfach vertrauen müssen, nehme ich an.“

„Und warum sollten Sie mir vertrauen?“, gab er zurück. „Sie sehen, wo ich bin. Ich leugne nicht, dass ich hierher gehöre, nach allem, was ich getan habe.“

„Was haben Sie denn getan?“, wiederholte sie verständnislos, und in ihren blauen Augen blitzte ganz kurz der Zorn auf. „Sie haben dieser Organisation und der Krone gedient, seit Sie jünger waren als John Carr. Und dies ist der Dank, den Sie bekommen? Ein verdammter Käfig?“

Nick war verblüfft, als er zum ersten Mal begriff, dass sie nicht auf ihn böse war, sondern um seinetwillen.

Er wusste nicht genau, was er darauf sagen sollte.

„Ich verdiene es.“

„Weil Sie aufhören wollten? Weil Sie das alles satt hatten?“, gab sie zu seiner Überraschung voller Leidenschaft zurück. „Weil Ihnen viel zu oft das Herz gebrochen wurde, weil Sie so viel Böses gesehen haben, von dem die meisten Menschen nicht einmal wissen, dass es das gibt? Ach, Nick.“ Sie sah ihn an und schüttelte beinahe zärtlich den Kopf. Und er wurde beinahe verrückt bei seinen Bemühungen, herauszufinden, woher er sie kannte.

Dann verriet sie es ihm, mit leiser Stimme.

„Nick, Nick, Nicholas.“

Bei diesem Satz zuckte er zusammen, und all seine Abwehrmechanismen waren sofort alarmiert.

Nur ein Mensch hatte das immer zu ihm gesagt, in einem Tonfall väterlicher Zuneigung.

Die einzige Vaterfigur, die er je gekannt hatte. Der erste und vermutlich auch der letzte Mensch, der jemals an ihn geglaubt hatte.

Sein Vorgesetzter.

Ach, wie sehr hatte er den alten Mann doch im Stich gelassen.

Er umklammerte mit aller Kraft die Gitterstäbe und starrte sie an.

„Wer sind Sie?“, fragte er flüsternd, aber energisch. „Entweder, Sie sagen mir das jetzt, oder Sie begeben sich nach draußen. Hören Sie auf, Spielchen zu spielen.“

Sie zeigte sich ungerührt.

„Wollen Sie wissen, warum ich Ihnen diese Chance gebe? Ja, ich brauche Sie, um bei diesem Spiel dabei zu sein. Aber der Grund, warum ich bereit bin, Ihnen zu vertrauen, liegt darin, dass mein Vater es auch tat. Ausdrücklich.“

„Ihr Vater?“ Er schluckte schwer, während sein Verstand sich weigerte, diese Enthüllung zu akzeptieren.

Endlich gab sie nach und ließ die Maske der kühlen Kontrolle wenigstens ein bisschen sinken.

„Meine Mutter ist die Countess of Ashton, und obwohl ich als Abkömmling ihres Mannes, des Earls, anerkannt wurde, nahm meine Mutter sich in Wahrheit vor dreißig Jahren einen Agenten des Ordens zum Liebhaber, der mich zeugte. Mein leiblicher Vater ist Ihr Vorgesetzter, Nick. Virgil Banks.“

Er starrte sie mit offenem Mund an.

Virgils Tochter? Das also war der Grund, warum sie so viel wusste.

„Und jetzt zum letzten Mal: Werden Sie mit mir zusammenarbeiten oder nicht?“, fragte sie in strengem Tonfall – der ihm ganz plötzlich so selbstverständlich erschien.

Gütiger Himmel! Sprachlos stand Nick da und konnte sie nur anstarren. Vor seinem frühen Tod war Virgil Banks im Orden eine Legende gewesen. Der schweigsame Schotte war für all „seine Jungs“ wie ein Vater gewesen – für diese Burschen aus den besten Familien, handverlesen von ihm selbst, um sie auszubilden und zu Agenten zu machen. Der gerissene Meisterspion hatte sie alles gelehrt, was sie wussten. Aber …

Virgil hatte eine Tochter?

„Das hat er uns nie gesagt!“, platzte Nick heraus. „Wir waren für ihn wie Söhne. Ich meine, ich dachte, er würde nur in Bezug auf die Missionen Geheimnisse vor uns haben. Er hat uns nie auch nur ein Wort darüber gesagt!“

Sie lächelte ein wenig schief.

„Hätten Sie das getan? Denken Sie darüber nach. Wenn Sie eine Tochter hätten, würden Sie sie jemandem wie Ihnen vorstellen?“

„Verdammt, nein“, erwiderte Nick, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.

„Also?“ Sie lachte leise.

Er lachte ebenfalls kurz auf und konnte sich kaum von seiner Überraschung erholen.

„Nun, ich würde alles tun für den alten Mann.“ Dazu gehört es auch zu verhindern, dass seine Tochter sich in Lebensgefahr bringt. „Natürlich biete ich Ihnen meine Hilfe an.“

So klug sie auch sein mochte, er bezweifelte, dass dieser weibliche Detektiv wirklich eine Ahnung davon hatte, mit welcher Art von Menschen sie sich da einlassen würde. Nur die Schlimmsten der Schlimmen nahmen an dem Bacchus Bazaar teil.

Aber wenn er noch diese eine Chance hatte, etwas Gutes zu tun, vielleicht sogar seine Seele zu retten, dann würde er für ihre Sicherheit sorgen. Dann würde er sie so weit wie möglich aus ihren eigenen Ermittlungen heraushalten.

In der Zwischenzeit sah sie ihm unentwegt in die Augen, dabei färbten ihre Wangen sich allmählich rosig, und in ihren blauen Augen erschien ein Ausdruck der Erleichterung.

„Oh, vielen Dank! Ich habe so sehr gehofft, dass Sie das sagen würden. Es ist sehr schwierig, das alles allein machen zu müssen.“

„Ich weiß“, sagte er leise.

„Ich werde gehen und den Wachmann holen“, sagte sie. „Und dann gehen wir hier fort, nicht wahr?“

Er nickte. Als sie sich abwandte, sah Nick ihr nach, noch immer vollkommen verblüfft.

Nun, so viel zu dem Gedanken daran, mit ihr vielleicht ins Bett zu gehen, dachte er gleich darauf. Er hatte schon genug Probleme, ohne dass der zornige Geist ihres Vaters ihn noch aus dem Grab heraus verfolgte.

Wie schade.

2. KAPITEL

Sie kehrte mit Ross zurück, der Nick zur Warnung finster ansah und ihm dann sagte, er sollte seine Sachen packen – er würde abreisen.

Nick fühlte sich etwas unbehaglich, während er gehorchte, noch immer hatte er das Gefühl, dass das alles unwirklich war. Ein Teil von ihm fürchtete, dass das alles nur ein schlechter Scherz war und er nur zu bald die Wahrheit erfahren würde, aber er holte die Kiste hervor, mit der er angekommen war, und legte die paar Dinge hinein, die er hatte behalten dürfen, und dazu die verschiedenen kleinen Dinge, die seine Freunde ihm geschickt hatten. Er nahm die Landkarte von Amerika von der Wand, faltete sie ordentlich zusammen und verstaute sie ebenfalls in der Kiste, in der sich nun alle seine Sachen befanden.

Dann schloss Ross die Zellentür auf, nicht, um ihm die eine Stunde an der frischen Luft zu erlauben, die ihm pro Woche zustand, sondern um ihn in die Obhut der reizenden Lady Burke zu übergeben.

Seine Hand- und Fußgelenke waren gefesselt, als Nick zu einem letzten Treffen mit den Graubärten begleitet wurde. Es gab Papiere zu unterzeichnen, eine kurze, aber intensive Befragung, ernsthafte Warnungen wurden ausgesprochen.

Dies, so erklärte man ihm, war seine einzige Chance, um zu beweisen, dass man ihm noch vertrauen durfte. Eine Chance, neu anzufangen. Gütiger Himmel, dachte er, während der Vortrag der Ältesten an ihm vorbeizog, was genau will diese Frau eigentlich von mir?

Es musste weitaus schlimmer sein, als irgendjemand bereit war, ihm gegenüber zuzugeben, wenn sie ihm tatsächlich erlaubten zu gehen. Also gut. Wenn es um Virgil ging, dann war er dabei.

In jedem Fall war das Letzte, was die Graubärte taten, ehe er fortging, ihm seinen Siegelring zurückzugeben. Er fühlte sich schon etwas benommen und starrte den Ring für einen Augenblick an, als hätte er sein Familienwappen nie zuvor gesehen: ein schwarzer Wolf auf scharlachrotem Grund.

Trotz der hinderlichen Fesseln an seinen Handgelenken gelang es ihm, den Ring auf seinen kleinen Finger zu schieben, und damit wurde er wieder ein Baron.

Der Erbe einer alten, wenn auch fast bankrotten Familie.

Nicht gerade eine Familie, auf der ein Fluch lag, aber doch eine verdammt unglückliche Linie – die außerdem von einem Hang zur Selbstzerstörung heimgesucht wurde.

Lady Burke sah ihn an.

„Brauchen Sie sonst noch etwas, ehe wir gehen?“

Nick schüttelte den Kopf, wortlos und überwältigt. Das Einzige, was er noch wollte, war jetzt, von hier wegzukommen.

Ehe diese Bastarde ihre Meinung änderten.

„Dann hier entlang. Kommen Sie mit mir.“ Angesichts seines verlorenen Gesichtsausdrucks sah sie ihn besorgt an und deutete auf die vierspännige Kutsche, die auf dem Vorplatz stand.

Er trat hinaus und blinzelte ins Licht.

Er war noch nicht so weit von allem entfernt, dass er nicht in seinem Stolz verletzt war, als er vor den Augen all der jungen Schüler zu ihrer Kutsche gehen musste, mit klirrenden Handschellen. Also, Schüler, seht her. Hier ist ein Beispiel für das, was ihr nicht in eurem Leben tun solltet. Befolgt immer eure Befehle, denkt nicht selbstständig, sonst werdet ihr so wie ich enden.

Er hielt den Kopf hoch erhoben und stieg in die Kutsche seiner neuen Herrin. Dann setzte er sich, die Schultern gestrafft und den Blick stur geradeaus gerichtet, ins Nichts.

Lady Burke verabschiedete sich von den Graubärten und murmelte dabei etwas in der Art, dass sie in Verbindung bleiben würden. Er sah, wie Ross (wie sehr er ihn vermissen würde …) ihr die Schlüssel zu seinen Handschellen gab, aber als sie zu ihm in die Kutsche stieg, befreite sie ihn nicht von den Fesseln. Nicht, dass er ihr deswegen einen Vorwurf machen könnte.

Er hätte sich selbst auch nicht vertraut. Selbst jetzt gingen ihm niedere Gedanken durch den Kopf, wie er bei der ersten Gelegenheit entkommen könnte. Natürlich schob er diese Gedanken beiseite. Dies hier war Virgils Tochter. Er konnte sie ebensowenig betrügen, wie er der Lust nachgeben durfte, die er ihr gegenüber empfand.

Bei jeder anderen Frau auf der Welt hätte er ohne Weiteres versucht, seine lange aufgestauten Bedürfnisse zu befriedigen. Aber dies hier war Virgils kleines Mädchen. Nein, sagte er seiner ausgehungerten Libido. Er würde sie so keusch behandeln, als wäre sie eine Nonne. Wenigstens würde er sich nach Kräften darum bemühen.

Schließlich könnte sie ihn zurückschicken ins Gefängnis, wenn er auch nur eine Bewegung machte, die ihr nicht gefiel. Zum vermutlich ersten Mal in seinem Leben beschloss Nick, ein Engel zu sein.

Die geheimnisvolle Baroness klopfte an das Kutschendach und befahl dem Fahrer, sich zu beeilen. Im nächsten Moment setzte der Wagen sich in Bewegung.

Sie waren unterwegs.

Viel Vergnügen, dachte Nick.

Gin, die ihn aufmerksam beobachtete, fragte sich, wie er sich wohl fühlte. Ob er nun ein geschickter Attentäter war oder nicht, er hatte eine sehr menschliche Seite, und der Mann, der neben ihr saß, schien davon überwältigt zu sein, die Freiheit wieder zu kosten – jedenfalls beinahe, wenn sie bedachte, dass er noch immer gefesselt war.

Der Gestank des Gefängnisses haftete ihm noch immer an. Er brauchte eine Wäsche, frische Kleidung, eine gute, sättigende Mahlzeit, und der Himmel allein mochte wissen, was sonst noch alles.

Wenn sie an all das dachte, was er durchgemacht hatte, dann wurde ihr klar, dass er vermutlich realistischerweise ein oder zwei Tage brauchen würde, bis er bereit war, ihre Mission zu beginnen.

Nun, sie war nicht aus Stein. Sie war schließlich eine Mutter und verfügte über einen gewissen mütterlichen Instinkt. Außerdem musste er bei Kräften sein für die Herausforderungen, die vor ihnen lagen.

Körperlich war er offensichtlich mehr als fit, aber mental und emotional ließ sich das schwer beurteilen.

Ja, sie könnte einen oder zwei Tage erübrigen, um es ihm zu ermöglichen, sich zu erholen und sich wieder etwas zu fassen. Gin dachte darüber nach, während sie ihn diskret dabei beobachtete, wie er aus dem Fenster sah.

Er war vollkommen darauf konzentriert, die trostlose Novemberlandschaft zu beobachten, und obwohl Gin sein Gesicht nur im Profil sehen konnte, wirkte er erstaunt, die Augen weit geöffnet, die wohlgeformten Lippen leicht offen.

Sie neigte den Kopf ein wenig, um die Tatsache zu verbergen, dass sie ihn mit wachsender Besorgnis musterte. Vielleicht sollte sie ihn einfach in Ruhe lassen, aber wie konnte sie seinen Schmerz ignorieren? Dieser Mann wirkte sehr beunruhigt.

„Geht es – geht es Ihnen gut?“, fragte sie so taktvoll wie möglich.

Er starrte weiterhin aus dem Fenster.

„Alles ist viel schöner, als ich es in Erinnerung habe“, antwortete er mit erstickter Stimme.

„Ah.“ Gin war es peinlich, dass sie ihn gestört hatte. Sie wandte sich ab und erinnerte sich selbst daran, dass dies das erste Mal seit Monaten war, dass dieser Mann den engen Mauern seines Gefängnisses entkommen war.

Als er noch eine Weile so sitzen blieb, noch immer nachdenklich, versuchte sie, die Stimmung aufzulockern.

„Sie haben einen interessanten Geschmack, wenn sie diesen Tag schön finden. Warten Sie, bis die Sonne endlich herauskommt. Der Tag heute ist vollkommen bedeckt. Die Felder sind so braun, der Himmel ist grau …“

„Der Himmel. Genau“, wiederholte er. Dann drehte er sich zu ihr um, und die Andeutung eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht, ein Lächeln, das ihr fast den Atem raubte.

Gin sah ihn an und verstand plötzlich, aber sie wollte nicht zugeben, nicht einmal sich selbst gegenüber, dass seine Verwundbarkeit in diesem Augenblick etwas von dem Eispanzer schmelzen ließ, den sie so sorgfältig um ihr Herz errichtet hatte.

Einen Schutzpanzer der Gleichgültigkeit.

„Nun“, brachte sie schließlich mit leiser Stimme heraus. „Es heißt, die Schönheit liegt im Auge des Betrachters.“

Er lächelte sie an, dann sah er wieder aus dem Fenster und sog gierig alles in sich auf, was er nur entdecken konnte.

Die Kutsche rollte weiter.

Nach einer Weile musste ihr Gefangener genug gesehen haben. Er streckte die langen Beine aus, so gut es eben möglich war in der engen Kutsche, legte die gefesselten Hände auf den Schoß, lehnte den Kopf zurück und schloss endlich die Augen.

Bis jetzt war er ausgesprochen wach gewesen, aber das rhythmische Schaukeln der Kutsche musste ihn endlich in einen Zustand der Entspannung versetzt haben. Oder vielleicht schonte er auch nur seine Kräfte, um später gegen sie zu kämpfen.

Sie war klug genug, ihm nicht zu vertrauen, natürlich nicht. Aber andererseits konnte sie auch nicht aufhören, ihn anzustarren, mit einem seltsamen Gefühl von so etwas wie Besitzerstolz …

Du gehörst jetzt ganz mir, jedenfalls im Augenblick, dachte sie amüsiert.

Sie konnte nicht anders, als ihn weiterhin zu betrachten, diese neue Errungenschaft. Der Problemfall ihres Vaters. Der Unberechenbare.

Er trug keine Krawatte, natürlich nicht, und schnell war sie fasziniert von dem eleganten Schwung seines Halses und der Form seines Adamsapfels. Sie ließ den Blick über die glatten Wellen seines schmutzigen Haares gleiten, das dringend einer Wäsche bedurfte.

Die tintenschwarzen Wimpern.

Die wohlgeformten Lippen.

Die Narbe, die von den dunklen Bartstoppeln nicht ganz verborgen war. Nun, er sah sogar aus wie ein Halsabschneider und Verbrecher, und das war er vermutlich auch, aber sie konnte nicht leugnen, dass er ein schöner Mann war.

Älter, klüger, zweifellos gezeichnet von der Welt, aber er war noch immer genauso anziehend wie damals, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, nur auf eine andere Art. Damals war sie siebzehn gewesen.

Als sie ihn im Schlaf beobachtete, wanderten ihre Gedanken zurück zu dem Tag vor vielen Jahren, als sie ihren Vater zu dem Fechtboden in London begleitet hatte, um einen ersten Blick auf „Virgils Jungs“ zu werfen.

Nachdem sie gehört hatte, wie ihr Vater, ihr bester Freund und Vertrauter, die neue Gruppe von Agenten, die er trainierte, in den höchsten Tönen gelobt hatte (auch wenn er ihnen das niemals gesagt hätte), als sie die Wärme und den Stolz in seiner Stimme gehört hatte, wenn er von ihnen sprach, den Respekt, den er für diese tapferen jungen Kämpfer empfand, die wie Söhne für ihn geworden waren, während sie doch nur seine Tochter war, hatte sie Eifersucht und Ablehnung empfunden.

Wer waren diese Fremden, die ihr so viel von der Zeit ihres Vaters wegnahmen? Sie fürchtete sogar, dass er diese Jungen vielleicht mehr liebte, als er sie liebte, seine illegitime Tochter.

Virgil hatte offenbar nicht gewusst, wie sehr sie seine Aufmerksamkeit an diesem Punkt in ihrem Leben brauchte. In der Hoffnung, dass sie vielleicht ein Teil dieses Bereichs in dem geheimen Leben ihres Vaters werden könnte, hatte sie ihn gebeten, ihr diese vollendeten Kavaliere vorzustellen.

Er hatte es abgelehnt. Er wollte sie nicht in der Nähe dieser Kämpfer wissen, aus einer ganzen Reihe verschiedener Gründe. So enttäuscht sie auch war, ein Meisterspion war kein Vater, dem sich eine Tochter einfach so widersetzte, so rebellisch sie auch sein mochte.

Dennoch, sie hatte von ihm ein gewisses Talent in der Heimlichtuerei geerbt, und in ihrer Eifersucht hatte sie beschlossen, selbst loszugehen, um „Virgils Jungs“ mit eigenen Augen zu sehen. Den Spionen nachzuspionieren, sozusagen, ein einziges Mal – sodass sie sie sehen und sich selbst beweisen konnte, dass sie am Ende gar nicht so großartig waren.

Dass auch sie so geschickt wie diese Jungen werden könnte, wenn ihr Vater ihr nur die Gelegenheit dazu gäbe.

Denn Virgil hatte auch das abgelehnt, abgesehen von einem gewissen Training in der Selbstverteidigung und darin, Menschen zu beurteilen.

Frauen waren im Orden nicht zugelassen. Sie hatte gehofft, die erste werden zu können, aber auch davon wollte er nichts hören.

Endlich, nachdem sie ihrem Vater zu einem Fechtboden in London gefolgt war, wo die Jungen an einem Nachmittag eine leichte Übungsstunde absolvierten, war es ihr gelungen, die Gruppe zu sehen. Alle waren sie Anfang zwanzig und einer schöner als der andere.

Sie kämpften bei der Übung wie Dämonen gegeneinander, dann lachten sie und rauften heiter wie Brüder zwischen den Runden miteinander.

So viel männliche Schönheit hatte ihr den Atem geraubt, aber die herzliche Vertrautheit, mit der sie miteinander umgingen, traf sie wie ein Stich in ihr Mädchenherz.

Denn dies, so viel verstand sie, war die wirkliche Familie ihres Vaters, und sie war hier genauso ausgeschlossen wie in der Familie, in der sie lebte.

Das schlossartige Haus des Earl of Ashton war ein kühler Ort für den Rotschopf, der nicht die leibliche Tochter des Lords war.

Gin senkte den Kopf und unterdrückte den Schmerz, der sie überkam bei der Erinnerung an diese Lektion, es tat noch immer weh. Jedenfalls erinnerte sie sich von jenem Tag am lebhaftesten an Nick, den jungen Lord Forrester, der allein an einer Säule gelehnt und seine Klinge geschärft hatte.

Sie war auf ihn aufmerksam geworden, als einer der anderen seinen Namen gerufen hatte. Er hatte aufgeblickt, und sie hatte sein Gesicht gesehen: Diesen Namen kannte sie.

Jetzt konnte sie dem einen, der ihren Vater zur Verzweiflung trieb, ein Gesicht zuordnen.

„Infamer Nick“, nannten seine Waffenkameraden ihn, und er bereitete ihrem Vater die meisten Kopfschmerzen.

Der junge gut aussehende schwarzhaarige Ordensritter war ein hervorragender Kämpfer, ohne Zweifel. Aber Teams wurden im Orden dazu ausgebildet, als eine Einheit zu arbeiten, und Nick war immer so etwas wie ein einsamer Wolf gewesen.

Offenbar hatte sein eigensinniges Streben nach Unabhängigkeit ihn am Ende ins Gefängnis des Ordens gebracht.

Wie gut sie das verstehen konnte.

Denn tatsächlich hatte ihre eigene Neigung zu Eigensinn und Unabhängigkeit sie selbst in so etwas wie ein Gefängnis gebracht, für eine ganze Reihe von Jahren: die Ehe.

Aber diesen Fehler würde sie nicht noch einmal begehen.

Sie schob die Vergangenheit in ihren Gedanken beiseite, schloss die Augen und lehnte sich neben ihm zurück, während die Kutsche weiterfuhr.

Nach drei Stunden Fahrt war es nötig, anzuhalten und die Pferde zu wechseln. Sie bogen in den gepflasterten Hof eines belebten Gasthauses mit Pferdestation namens The Owl ein.

Im Erdgeschoss gab es einen Pub, darüber waren Gästezimmer, auf der Rückseite befand sich ein Pferdestall.

Nick richtete sich auf und sah aufmerksam durch das Fenster auf das lebhafte Treiben des normalen Alltagslebens. Reisende stiegen aus gerade angekommenen Postkutschen, andere stiegen in Kutschen, die zur Abfahrt bereitstanden, während ins Horn gestoßen wurde.

Gin sah ihren Gefangenen an, als sie beide den Duft nach Essen wahrnahmen, der aus dem Pub wehte. Sie hörte, wie sein Magen daraufhin laut knurrte, und verzog mitfühlend das Gesicht.

Sie wünschte, es wäre möglich, ihm die Fesseln abzunehmen, sodass er mit ihnen hineingehen könnte – das würde ihm vermutlich guttun – aber das wagte sie nicht. Nicht hier, an diesem Reiseknotenpunkt.

Wenn es ihm in den Sinn kam zu fliehen, dann gab es hier für ihn zu viele Möglichkeiten, sich ein Pferd zu schnappen und loszureiten. Sie würde ihn nie mehr wiedersehen. Und dann wäre sie den Graubärten gegenüber verantwortlich.

„Möchten Sie aussteigen und sich etwas ausstrecken?“, bot sie ihm an.

Er schüttelte den Kopf. Er sah sie spöttisch an, als er begriff, dass sie ihm die Fesseln nicht abnehmen würde. Aber sein Stolz war stärker als alles andere.

„Nein danke, ich warte“, sagte er mit stoischer Miene.

„Wie Sie wollen.“ Sie gab den beiden Dienern, die mit ihr reisten, den strikten Befehl, ihn zu bewachen. Der eine nickte und legte seine Hand an die Pistole, dann stellten sich die beiden Männer zu beiden Seiten der Kutschentür auf.

Gin betrat The Owl, um die Pferde versorgen zu lassen und etwas zum Essen zu bestellen.

Drinnen hielt sie sich nahe am Fenster auf, um sicherzugehen, dass ihr wertvoller Gefangener nicht versuchte, seine Wachen zu überwältigen und zu fliehen. In der Zwischenzeit schirrte der Kutscher die Pferde der Kutsche ab und tauschte sie gegen frische ein.

Es dauerte nicht lange, und das Essen war fertig. Sie trug es nach draußen und teilte die Portionen an ihre Männer aus, ehe sie wieder in die Kusche stieg.

„Rinderstew oder Hühnchen-Pie?“, fragte sie ihren Gefangenen, als sie sich wieder gesetzt hatte.

Er sah sie an, erstaunt über die Frage, und platzte heraus: „Ich darf wählen?“

Gin hielt inne und spürte einen weiteren unerwarteten Anflug von Mitleid.

„Warum nehmen Sie nicht einfach beides?“, meinte sie dann. „Ich habe heute keinen besonderen Appetit.“

Als der Wagen sich wieder in Bewegung setzte, fragte Nick, ob er mit dem Stew anfangen könnte. Sie griff in die Box, die der Wirt vorbereitet hatte, und reichte ihm die Schale mit dem Stew und einen Löffel. Seine Ketten klirrten, als er die kostbaren Gegenstände in die Hände nahm.

„Das gehört dazu.“ Sie reichte ihm ein leichtes, locker gebackenes Brötchen. Er nahm es andächtig, und sie sah erstaunt zu, wie er es an die Nase hielt und den Duft nach Butter einatmete, als wäre das ein seltenes Parfüm.

Sanft drückte er das Brötchen zwischen seinen Fingern und erforschte die Konsistenz.

Gin lächelte und wünschte, sie hätte mehr davon gekauft. Der arme Mann. Langsam drehte er ihr den Kopf zu, und in seinen dunklen, ausdrucksvollen Augen sah sie einen stummen Dank. Sie hielt seinem Blick stand, er musste das nicht laut aussprechen. Dann wandte sie sich ab, damit der ausgehungerte einsame Wolf in Ruhe essen konnte.

Unglücklicherweise wurde es schnell klar, dass es für ihn schwer war, in einer fahrenden Kutsche zu essen, wenn er dabei schwere eiserne Handfesseln trug.

Gin wagte es nicht, seinen Stolz zu verletzen, indem sie ihm ihre Hilfe anbot, aber als das Schicksal zuschlug und ein besonders großes Schlagloch ihm das Brötchen aus der Hand riss, fluchte er laut.

Sie zog eine Braue hoch.

Er murmelte: „Verzeihung.“

Sie hob eine Hand und zeigte ihm, dass sie das Brötchen gefangen hatte, ehe es den Boden berührte. Sie gab es ihm zurück und entschied dann, etwas näher zu rücken und nahm neben ihm Platz, nicht mehr ihm gegenüber.

„Warum lassen Sie mich nicht …“

Er beobachtete jede ihrer Bewegungen, als sie ihm erst die Schüssel abnahm und dann auch den Löffel.

„Sie könnten meine Ketten öffnen“, meinte er leise.

Sie sah ihn nur an. Dann füllte sie den Löffel und fütterte ihm einen Mundvoll von dem Stew. Er akzeptierte es und sah ihr dabei die ganze Zeit über in die Augen. Sie fütterte ihn weiter.

Aber die Intimität dieser Situation machte sie schon bald unruhig und ließ sie nach einer Möglichkeit suchen, die Spannung, die sich zwischen ihnen einstellte, zu lösen.

„Also“, begann sie in beiläufigem Tonfall. „Wie war das mit der Kugel, die sie für den Prinzregenten abgefangen haben?“

Er schnaubte.

„Ach ja. Ich bin ja so ein verdammter Held.“

Sie sah ihn überrascht an.

„Welche Ausdrucksweise in Gegenwart einer Lady.“

„Sind Sie das denn?“, fragte er herausfordernd und mit einem besonderen Glanz in den Augen. „In ein Verlies zu spazieren, um einen Verräter freizukaufen, ist nicht gerade ein besonders damenhaftes Benehmen.“

„Sie sind kein Verräter.“

„Nun, sie haben mich nicht in eine Zelle gesperrt, weil ich ein Heiliger bin, meine Liebe. Und Sie hatten keine Anstandsdame bei sich.“

„Wenn wir dies hier außer Acht lassen.“ Sie zog den Saum ihres Kleides gerade weit genug hoch, um ihre Pistole aus dem Halfter zu ziehen. Dann küsste sie den schwarzen Lauf der Waffe.

Nick grinste.

„Ich glaube, ich bin verliebt.“

Sie sah ihn gespielt finster an und blinzelte.

„Verärgern Sie mich nicht, sonst finde ich bestimmt eine andere Zelle, in der ich Sie unterbringen kann.“ Er starrte ihre bestrumpften Beine an, als sie die Waffe zurücksteckte. „In dem Zwinger, in dem ich meine Hunde untergebracht habe, ist immer Platz, und wenn die keinen Platz machen wollen, dann werden wir bestimmt einen Verschlag im Hühnerstall finden.“

„Lady, man hat mir schon viele Namen gegeben, aber ich bin noch nie als Huhn bezeichnet worden.“

„Offenbar nicht. Sie haben quasi dem gesamten Orden eine Ohrfeige verpasst und haben sich dann einer Kugel in den Weg gestellt, um das Leben eines Mannes zu retten, den Sie, das möchte ich wetten, nicht einmal respektieren. Warum?“, fragte sie in vertraulichem Tonfall und sah ihm in die Augen. „Warum haben Sie die Kugel für den Regenten abgefangen?“

„Wie kommen Sie darauf, dass ich das für ihn getan habe? Ich bin ein selbstsüchtiger Bastard. Haben Sie das nicht in meiner Akte gelesen? Ich habe das natürlich getan, um meinen eigenen Hals zu retten. Um mir wieder die Gunst des Ordens zu sichern.“

Sie dachte einen Moment lang über diese Antwort nach, dann schüttelte sie den Kopf.

„Nein. Sie können mit diesem Mund Besseres anfangen, als Lügen zu erzählen.“ Sie fütterte ihn mit noch einem Löffel voll Stew und beugte sich näher zu ihm.

Als sie das tat, spürte sie, wie er auf sie reagierte und wie auch ihr eigenes Herz schneller schlug.

Er schluckte den Mundvoll Stew und leckte sich dann die Lippen.

„Köstlich“, bemerkte er mit einem Blick, bei dem sie sich fragte, ob er tatsächlich über das Essen redete. Sie wandte sich ab, spürte aber, dass er sie beobachtete. „Sie sind an der Reihe, mir eine Frage zu beantworten, denke ich.“

„Sie sind nicht in der Position, Fragen zu stellen“, schalt sie, obwohl es ihr gefiel, dass er sich für sie interessierte.

„Wie ist Ihr Ehemann gestorben?“, fragte er geradeheraus und musterte sie, während er auf ihre Antwort wartete.

Die Frage erschreckte sie.

„Im Krieg.“

„Eine Schlacht?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ein Fieber grassierte im Lager.“

Er musste etwas anderes, Dunkleres in ihrem Verhalten entdeckt haben als nur die Trauer einer Ehefrau. Sein Blick wurde aufmerksamer.

„Was noch?“, fragte er.

Gin erinnerte sich plötzlich daran, dass Agenten des Ordens dazu ausgebildet wurden, Menschen einzuschätzen, und in diesem Augenblick durchschaute er sie.

Das gefiel ihr nicht.

Ihr Vater pflegte das zu tun, erforschte sie, als wollte er jede ihrer Stimmungen erkennen.

Es war schwer, vor diesen Männern irgendetwas zu verbergen.

„Nichts.“ Sie verabreichte ihm noch einen Löffel voll Essen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sie konnte ihm ja nicht sagen, dass sie für den Tod ihres Mannes verantwortlich war. Indirekt jedenfalls. Wie konnte sie jemals einem Menschen erzählen, dass sie schuld war an seinem Tod?

Zumindest fühlte sie sich dafür verantwortlich.

Aber das war eine Angelegenheit, die nur sie anging, ihren verstorbenen Ehemann und ihren Schöpfer. Eines Tages, in der anderen Welt, würde sie sich vor ihm rechtfertigen müssen, falls sie Burke jemals wieder begegnete.

Bis dahin verbarg sie ihre Schuld.

Nick sah, dass sie darüber nicht reden wollte, und zuckte mit den Schultern.

„Wie Sie wünschen.“

Als er das Stew aufgegessen hatte, gab sie ihm das Hühnchen-Pie. Das ließ sich einfacher essen, er konnte es allein schaffen. Daher nahm sie wieder ihren früheren Platz ein, lehnte sich zurück und sah aus dem Fenster.

Nachdem eine weitere Stunde vergangen war, griff sie gelangweilt nach ihrer Zeitung.

„Sie haben in Ihrer Zelle etwas gelesen. Wollen Sie Ihr Buch haben?“

Er zuckte die Achseln.

„Warum nicht?“

Da die Ketten ihn behinderten, holte sie es für ihn. Der Diener hatte die Kiste mit Nicks Sachen in dem Fach unter dem gegenüberliegenden Sitz verstaut. Sie hob den Deckel und öffnete das Fach. Das Buch, in dem er gelesen hatte, entdeckte sie sofort. Es lag ganz oben in der Kiste.

Sie nahm es und las den Titel. „A Journal of theVoyages and Travels of a Corps of Discovery, by Sergeant Patrick Gass, 1807“. Als sie sah, worum es sich handelte, reichte sie es ihm mit einem schiefen Lächeln. Der gefangene Krieger hatte offenbar in den Monaten, in denen er in seiner Zelle eingesperrt gewesen war, von der absoluten Freiheit geträumt.

„Sie finden die Wahl meines Lesestoffs amüsant, Lady Burke?“

„Ganz und gar nicht. Ich frage mich nur, wo Präsident Jefferson die Männer gefunden hat, die verrückt genug waren, um in diese Wildnis hinauszuziehen.“

„Ich würde gehen“, sagte er.

Sie lachte.

„Natürlich würden Sie das. Ich nicht, vielen Dank auch.“

„Ach, kommen Sie. Verlockt es Sie nicht ein bisschen? Fragen Sie sich nicht, was da draußen wohl alles wartet …“

„Nicht im Geringsten“, versicherte sie ihm und lächelte. „Ich bin ein Geschöpf der Zivilisation. Ich gönne den Amerikanern ihre Wildnis. Ich dagegen freue mich auf Paris, sobald wir unsere Eintrittskarte haben.“

Er lachte nur.

„Spießbürgerin“, neckte er sie.

Sie lächelte ihn an.

„Barbar“, entgegnete sie.

Dann lehnten sie sich beide zurück und lasen nebeneinander sitzend in relativer Zufriedenheit.

Immer mal wieder warf Nick über den Rand seines Lewis-und-Clark-Buchs hinweg einen Blick hin zu ihr.

„Wohin übrigens – äh – fahren wir?“, fragte er hastig, als sie bemerkte, wie er sie ansah.

„Nach Deepwood, meinem Anwesen im Norden. Es ist jetzt nicht mehr weit.“

„Ah, Yorkshire. Der Norden hat mir immer gefallen“, bemerkte er. „Gute Leute da. Die sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.“

„Und woher stammen Sie?“, fragte sie und sah ihn an.

„Aber Mylady, das wissen Sie doch inzwischen sicher. Sie scheinen alles über mich zu wissen.“ Er zog eine Braue hoch und wartete darauf, dass sie ihm sagte, woher sie so viele Einzelheiten kannte.

Zweifellos hatte Virgil ihr nicht alle Lebensgeschichten beiläufig beim Tee erzählt.

Aber die Baroness sah ihn nur an und wollte offensichtlich ihre Quellen nicht preisgeben. Dann nahm sie wieder ihre Zeitung auf und blätterte die Seite um.

Nick schnaubte leise und wandte sich ab, um wieder durch das Fenster die Landschaft zu betrachten. Bald vergaß er alles andere um sich herum, seine Seele hungerte nach der herbstlichen Schönheit, die sich vor seinem Auge entfaltete.

Sonnenstrahlen fielen durch die Wolken am Himmel und hellten die grünen Täler auf, in denen hier und da wollige weiße Schafe grasten.

Die Wälder am Rande des Tales trugen alle Farben des Herbstes: die Eschen Gold, die Eichen Braun, die Haselnüsse strahlendes Orange, und auf dem nächsten Hügel in der Ferne sahen sie die traurigen Ruinen einer mittelalterlichen Abtei mit ihren verstreuten alten Grabsteinen, die herumlagen wie abgebrochene Zähne.

Die Kutsche rumpelte weiter auf dem Weg, der sich durch ein ruhiges kleines Dorf wand. Sie fuhren durch den Schatten eines vom Wetter gezeichneten steinernen Wegzeichens an der Kreuzung, dann auf der anderen Seite wieder aus dem kleinen Dorf heraus, weiter über die Landstraße.

Die Straße folgte dem Hügel, den er zuvor aus der Ferne gesehen hatte, immer weiter hinaus aufs Land. Von dort aus fuhren sie den Hügel hinauf. Die müden Pferde gingen jetzt langsamer.

„Wir sind da“, sagte Lady Burke, als die Kutsche endlich abbog und durch ein Paar hoher schmiedeeiserner Torflügel fuhr und weiter über einen mit Holzbohlen ausgelegten Weg zu dem repräsentativen Herrenhaus am Ende des Weges.

Ihr Anwesen erschien ihm außerordentlich schön.

Wohin er auch blickte, schien die Natur nur angelegt zu sein, um das Auge zu entzücken und die Seele zu erfreuen. Entweder hatte Brown hier sein Meisterstück gefertigt, oder Nick war einfach zu lange eingesperrt gewesen.

Dann runzelte er die Stirn und rümpfte die Nase.

„Verdammt, das stinkt hier ja noch schlimmer, als ich selbst rieche. Mir scheint, Sie haben irgendwo im Park einen toten Hirsch liegen.“

„Nein, das ist der Geruch, der von den heißen Quellen auf dem Anwesen kommt. Sie sind in der Sandsteinhöhle da hinten.“ Sie deutete auf eine moosbewachsene, sehr geheimnisvoll wirkende Höhlenöffnung an einem baumbewachsenen Hügel, während sie daran vorbeifuhren. „Mir wurde gesagt, dass das Wasser Schwefel enthält, Eisen und Magnesium. Darin zu baden soll bei allen möglichen Krankheiten helfen. Es lindert alles, von Gicht bis zur Unfruchtbarkeit.“

„Tatsächlich?“, meinte er überrascht, während der Eingang zur Höhle wieder hinter den Bäumen verschwand. „Fast wie die Wasser in Bath, oder?“

Sie nickte.

„Es gibt mehrere solcher Quellen hier in der Gegend. Ich habe nur das Glück, dass sich eine davon auf meinem Anwesen befindet.“

„Abgesehen von dem Geruch.“

„Daran gewöhnen Sie sich. Für mich riecht es nach Zuhause.“ Als er sie zweifelnd ansah, lachte sie leise. „Die Vorfahren meines Mannes haben sie im späten sechzehnten Jahrhundert entdeckt. Sie sind herzlich eingeladen, das Wasser zu testen, wenn Sie möchten, ehe wir zu unserer Mission aufbrechen.“

„Nicht, wenn ich danach so rieche.“

„Ich wage zu behaupten, dass wäre eine Verbesserung zu dem, wie Sie im Moment riechen, Mylord.“

Er sah sie finster an.

Sie lachte.

„Sie sollten es versuchen. Es wird Ihnen guttun. Und außerdem fühlt es sich wundervoll an.“

„Ich verstehe.“ Er betrachtete sie amüsiert. „Sie haben mich also aus dem Verlies geholt, damit ich ein Gesundheitsbad nehme. Nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht.“

Sie fuhren weiter zum Haus.

Nick freute es zu sehen, dass die Vorfahren ihres Mannes dankenswerterweise so umsichtig waren, das Haus weit genug entfernt von den Gerüchen der heilsamen Schwefelquellen errichten zu lassen.

Als der Kutscher die erschöpften Pferde vor dem Haus halten ließ, wandte sich Lady Burke mit ernster Miene an Nick.

Autor

Gaelen Foley
Gaelen Foley studierte Englische Literatur und Philosophie. Herrlich unverfroren, spritzig, süchtig machend – so beschreiben Literaturkritiker ihre mittlerweile vierzehn Regency-Liebesromane, die es alle auf die New York Times-Bestsellerliste schafften. Die preisgekrönte Autorin lebt mit ihrem Ehemann und ihrem Hund "Mr. Bingley" bei Pittsburgh. Nach dem College ging sie durch die...
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