Mein Offizier und Gentleman

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Lucy schwebt mit Captain Jack Harcourt über das Parkett und gleichzeitig im siebten Himmel. An seinen leuchtenden Augen erkennt sie, dass der langjährige Freund der Familie endlich nicht mehr nur das kleine Mädchen in ihr sieht. Auch wenn der attraktive Offizier um einiges älter ist als sie: Lucy folgt ihrem Herzen - und Jack auf seinen herrlichen Landsitz. Dass sie sich dort gegen böse Intrigen wehren muss, lässt sie nicht an ihrer Entscheidung zweifeln. Doch dann werden ihr schlimme Gerüchte über Jacks Vergangenheit zugetragen …


  • Erscheinungstag 05.10.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769192
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG
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David Middleton betrat seinen Club und warf einen Blick in die Runde der Anwesenden. Als er einen ihm äußerst unsympathischen Herrn entdeckte, überlegte er kurz, ob er sich wieder zurückziehen sollte, denn der bewusste Sir Frederic Collingwood entstammte zwar einer guten Familie, doch galt er, sofern man den Gerüchten trauen konnte, als gesinnungsloser Schuft, der längst aus der Gesellschaft hätte ausgeschlossen werden müssen. So dachte wenigstens David, sah jedoch seinerseits keine Möglichkeit dazu, solange der Mann noch weitgehend akzeptiert wurde.

„Middleton, komm her, mach ein Spielchen mit uns“, rief ihm Sir Henry James zu. David runzelte die Stirn. Die Aufforderung konnte er kaum ablehnen, da er mit Sir Henry befreundet war. Außerdem hatte er vor ein paar Tagen einen größeren Betrag von ihm gewonnen, also wäre es nur anständig, ihm Revanche zu geben. Wohl oder übel nahm er bei den Herren Platz, obwohl es bedeutete, ausgerechnet mit Collingwood an einem Tisch sitzen zu müssen. Er beschloss, sich nach ein paar Runden mit einer Entschuldigung zurückzuziehen.

Collingwood nickte ihm zu und begann auszuteilen; ein Einsatz wurde festgesetzt, und David nahm die ihm zugeteilten Karten auf.

„Sie tragen da einen recht ungewöhnlichen Ring“, sagte Collingwood. „Würden Sie ihn nicht gegen mich setzen wollen?“

„Nein, sicher nicht. Er ist ein Geschenk …“ Ungewollt hatte David tief bewegt gesprochen. Als er aufblickte, sah er Collingwoods Blick durchdringend und spöttisch auf sich ruhen, so, als ob es dem Mann bekannt wäre.

„Von einer Dame vermutlich?“

„Das soll Sie nicht interessieren.“

„Also ist sie verheiratet.“ Collingwood grinste höhnisch. „Lassen Sie mich raten – es ist …“

„Zur Hölle, Sir! Schweigen Sie!“ David stieß seinen Stuhl zurück, nahe daran, sich zu entfernen.

„Setz dich wieder, Middleton, du kannst jetzt nicht gehen“, mischte sich Sir Henry ein. „Die Karten sind ausgeteilt. Es sollte nur ein Scherz sein, nicht wahr, Collingwood?“

Über den Tisch hinweg sah David seinem Gegner in die Augen. Eine warnende Stimme riet ihm, aufzustehen und unverzüglich zu gehen, doch in diesem Moment erklärte sein Freund, wie erfreut er über die Möglichkeit sei, seine Verluste ausgleichen zu können. Also war es zu spät; er würde spielen müssen. Doch ein sechster Sinn mahnte ihn, dass er der Spinne ins Netz gegangen sei.

1. KAPITEL
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Jack Harcourt, einst dem Dragonerregiment seiner Majestät angehörig und ein paar Jahre lang Geheimagent und Adjutant Wellingtons, saß in der Bibliothek seines Londoner Stadthauses und starrte trübsinnig in sein leeres Weinglas. Hatte das Leben nur dies noch zu bieten, diese innere Leere, die sich nur ertragen ließ, indem er trank, bis er den Schmerz nicht mehr fühlte?

Als Offizier hatte er geholfen, Napoleon Bonaparte zu besiegen, hatte gegen Spione und Staatsfeinde gekämpft; ungleich schwerer zu bekämpfen waren jedoch die Bitterkeit und Trostlosigkeit, die seit Kurzem auf ihm lasteten. Er gehörte zum Hochadel, war wohlhabend genug, um sich mehr als nur seine Bedürfnisse zu erfüllen, erfreute sich bester Gesundheit und war attraktiv – doch er hatte manchen Wermutstropfen gekostet und wünschte sich gerade in diesem Augenblick, er wäre auf dem blutigen Schlachtfeld Waterloos geblieben. Stattdessen hatte man ihn mit Lob und Ehren überhäuft, er hatte eine Privataudienz beim Prinzregenten erhalten, der ihn als Stütze Englands bezeichnete und ausdrücklich betonte, wie stolz er war, ihm die Hand schütteln zu dürfen. Nichts hatte Jacks tiefen Gram lindern können.

„Warum war ich nicht hier, als du mich brauchtest, David?“, sprach er laut vor sich hin. „Warum hörte ich dich nicht, als du allein und ohne Freunde im Straßengraben dein Leben aushauchtest?“

Wahre Freundschaft erlebte ein Mann wahrscheinlich im Laufe seines Lebens nicht öfter, als man an einer Hand abzählen konnte. Jack hatte Freunde, Männer, die er sehr schätzte, doch dass David Middletons Tod ihn so tief traf, hatte einen besonderen Grund. Sein bester Freund erlitt nämlich das grausame Geschick, am Straßenrand sterben zu müssen, seines kostbarsten persönlichen Besitzes beraubt, ein Opfer von Wegelagerern. Tag und Nacht verfolgte Jack dieses Bild, er konnte es einfach nicht vertreiben, und ständig schien ihm Davids Stimme im Ohr zu klingen, die nach Gerechtigkeit verlangte.

Allerdings war die Tat schon vor einigen Monaten begangen worden, während er noch in Frankreich für sein Vaterland kämpfte. Jack hatte erst bei seiner Rückkehr davon erfahren. Zurzeit hatte er keinerlei Hinweis, keinen Anhaltspunkt, aus dem sich das wirkliche Geschehen ableiten ließ. Diese Hilflosigkeit, zusammen mit dem Wissen, wie viel Schmerz Davids Tod einer gewissen anderen Person bereitet haben musste, versetzte ihn in eine zwiespältige Gemütsverfassung.

Eben wollte er abermals nach der Weinflasche greifen, als der Butler ins Zimmer trat.

„Verzeihen Sie die Störung, Mylord, hier ist ein Brief für Sie.“

„Zu dieser Zeit? Wer brachte ihn?“ Jack hob erstaunt die Augenbrauen.

„Das ist nicht bekannt, Sir. Jemand übergab ihn Rose, der Küchenhilfe, als sie gerade draußen beim Milchmädchen ein paar Eier erstand.“

„Danke, es ist gut, Henshaw.“ Mit einer Handbewegung entließ Jack den Butler. „Ich werde ihn später lesen …“

„Man sagte Rose, es sei dringend, Sir.“

„Tatsächlich?“ Jack nahm das Papier, das nicht gesiegelt, sondern nur mit einem Tropfen Wachs verschlossen war, riss es auf und entfaltete es. „Guter Gott“, rief er, nachdem er ein paar Zeilen gelesen hatte, sprang auf und schritt zum Fenster. Doch die Straße draußen war nur schwach beleuchtet, sodass er außerhalb des Lichtkreises, den die Lampe am Portal warf, nichts erkennen konnte. Er wandte sich dem Butler zu. „Schicken Sie mir Rose herein, ich möchte etwas über den Boten erfahren.“

Während der Butler tat, wie ihm geheißen, wandte Jack sich wieder dem Brief zu. Stirnrunzelnd las er:

„Wenn ich persönlich zu Ihnen käme, würden Sie mich nicht empfangen – ich weiß jedoch, dass David Middleton ein Freund war, der Ihnen viel bedeutete. Fragen Sie sich, wer ihn ermordete, brauchen Sie nicht lange zu suchen – sein Mörder ist Sir Frederic Collingwood. Er ist ein Falschspieler, und Middleton fand das heraus, nachdem er gegen ihn verloren hatte. Letzteres steht fest und ist allgemein bekannt. Für das Erstere habe ich leider keine Beweise, bin indes von Collingwoods Schuld überzeugt. Der Sache mag ein tieferes Motiv zugrunde liegen, doch zurzeit weiß ich nur, dass Collingwood der Täter war. Alles andere liegt bei Ihnen, Harcourt. Diese Nachricht schreibt jemand, der einmal stolz war, Ihr Freund zu sein.“

Der Brief, der keine Unterschrift trug, mochte reiner Bosheit entspringen, doch Jack spürte, dass dem nicht so war. Sein Freund wäre nie und nimmer mit eingezogenem Schwanz davongeschlichen, wenn er jemanden beim Falschspiel ertappt hätte, sondern hätte den Betrüger öffentlich zur Rede gestellt. David mochte durchaus ermordet worden sein, um eben das zu verhindern … jedoch deutete der Brief noch mehr an – einen weit übleren Grund für den Mord. Das war es! Jack hatte die offizielle Version vom Tod seines Freundes nicht akzeptieren können, und dieser Brief hier bestätigte ihm, dass sein Argwohn zu Recht bestand. Er sprang auf, von Tatendrang erfasst. Die trübe, niedergedrückte Stimmung fiel so rasch von ihm ab, wie sie ihn an diesem Abend überkommen hatte.

Fort mit dem falschen Trost, den die Weinflasche bot! Hier in seiner Hand war, was er brauchte, und wenn das Schreiben der Wahrheit entsprach, würde er den Mörder suchen und ihn seiner gerechten Strafe zuführen! Er fragte sich, von wem der Brief stammte … es konnte kein sehr enger Freund sein, denn der Schreiber hatte behauptet, man würde ihn nicht empfangen.

Jack runzelte die Stirn. Natürlich könnte er auf einer völlig falschen Fährte sein, aber etwas sagte ihm, dass dem nicht so war. Möglicherweise war der Schreiber jemand, der glaubte, Jack etwas zu schulden … jemand, dem er einmal einen Dienst erwiesen hatte. Es spielte keine Rolle! Erst einmal würde er erforschen, weswegen sein Freund tatsächlich sterben musste, und anschließend herauszufinden versuchen, wer der mysteriöse Briefschreiber war.

„Mama! Ein Brief für dich.“ Lucy Horne eilte in den Salon, wo ihre Mutter und ihre Großtante über einer Stickerei saßen. „Von Marianne!“

„Oh, darauf wartete ich schon.“ Liebevoll betrachtete Mrs. Horne ihre jüngste Tochter. Lucy war nun achtzehn und ein hübsches, liebenswürdiges Mädchen, das am liebsten im Kreise seiner Familie weilte. Sie nahm den Brief und brach das eindrucksvolle Siegel, das zu nutzen ihrer Tochter Marianne als Marchioness of Marlbeck zustand. Nachdem sie ein paar Sätze gelesen hatte, rief sie: „Wie ich mir dachte, Lucy: Deine Schwester ist auch der Ansicht, du müsstest endlich debütieren. Sie schlägt vor, dass wir alle zu Klein Andreas Taufe kommen. Anschließend sollen wir dann sie und Drew nach London begleiten und für ein paar Wochen bei ihnen bleiben.“

„Ach, wird meine süße kleine Nichte getauft?“ Lucy strahlte auf. Diese eine Neuigkeit war ihr am wichtigsten.

„Wie schön! Mir kommt es vor, als hätte ich meine Schwestern seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.“

„Du weißt doch, unmittelbar nach der Geburt mochte Marianne nicht reisen. Aber es ist ja erst sechs Monate her, seit wir dort waren, und vor kaum fünf Wochen hat Jo uns besucht.“

„Mir scheint es länger“, sagte Lucy und beugte sich nieder, um ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange zu drücken. Sie lebte gern mit ihrer Mutter bei der Tante und hatte hier viele Freunde gefunden, doch am glücklichsten war sie stets, wenn sie mit ihren Schwestern zusammen sein konnte. „Wie lieb von Marianne, an uns zu denken.“

Mrs. Horne nickte. „Ich hatte ihren Rat erbeten, weil ich dachte, du könntest in Bath debütieren, doch Marianne findet, dass es London sein muss, Liebes.“

„Ja …“ Lucy war mehrmals mit Mama und Tante Bertha in Bath gewesen. Öffentliche Tanzvergnügen waren dort für sie natürlich nicht infrage gekommen, sondern nur unterschiedlichste Veranstaltungen bei nahen Freunden, aber dadurch hatte sie Erfahrung im gesellschaftlichen Umgang gewonnen. Sie stand ihrem Debüt ein wenig zwiespältig gegenüber, denn sie wusste ja, es wurde für Mädchen allgemein als die Chance betrachtet, einen Gatten zu finden. „Mit Marianne wird es viel netter sein“, meinte sie.

„Nun müssen wir deine Garderobe vervollständigen, Lucy“, sagte Mrs. Horne. „Aber vielleicht sollten wir damit warten, bis wir bei Marianne sind. Sie hat einen exzellenten Geschmack und weiß, was junge Mädchen in dieser Saison tragen.“

Lucy war ans Fenster getreten, sie hörte kaum zu. Nicht, dass sie keine hübschen Kleider mochte, doch ihre Gedanken waren gerade bei einer bestimmten Person … es war ein Herr, den sie auf Mariannes Hochzeit kennengelernt hatte. Das schien so lange her, und doch waren es erst drei Jahre. So viel war seither geschehen. Marianne war mit ihrem Marquis glücklich, und Jo hatte Hal Beverley geheiratet.

Immer noch erinnerte Lucy sich ganz deutlich an Captain Harcourts Lächeln und seine Neckereien. Natürlich war er eigentlich Lord Harcourt, aber diesen Titel, der ihm nach dem Tode seines Vaters zugefallen war, führte er erst, seitdem er nach Napoleons Niederlage den Dienst quittiert hatte.

Lucy strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Ihr Haar war nicht goldblond, sondern silbrig wie das Mondlicht, wodurch sie sich von den üblichen Blondinen vorteilhaft unterschied, und ihr zart cremiger, rosig überhauchter Teint betonte ihre ätherische Schönheit. Ihre Augen, blau wie der Sommerhimmel, verdunkelten sich, wenn sie ärgerlich war. Da das jedoch nur selten vorkam, wirkte sie auf den ersten Blick freundlich, sanft und verträumt, vielleicht gar ein wenig zu ruhig. Dieser Eindruck trog allerdings; sie besaß Mut und Durchsetzungsvermögen und zeigte Temperament, wenn sie aufgebracht war. Darin ähnelte sie ihrem Vater, der ein nachsichtiger, bedächtiger und überaus gütiger Mann gewesen war, ruhig und friedliebend – außer eine Ungerechtigkeit erregte seinen Zorn. Als er starb und sie die Pfarrei verlassen mussten, war sie zutiefst bekümmert gewesen. Das alles lag nun hinter ihnen, und vor ihr erstreckte sich eine Zukunft, der Lucy freudig entgegensah, und sie würde nicht so närrisch sein, sich durch kindische Träumereien die Freude an der Saison in London zu verderben.

Sich lächelnd zu ihrer Mutter umwendend, sagte sie: „Ich glaube, ich hätte gern eine gelbe Robe, Mama. Ich sah letztens einen sehr passenden Stoff für ein Ballkleid.“

„Du wirst mehr als ein Kleid benötigen, Lucy, und dank deiner Tante und deinen Schwestern wirst du die passende Garderobe bekommen.“

Jack kam von der Straße herein und warf Hut und Handschuhe auf einen Tisch in der Halle, auf dem auch das Silbertablett mit der eingegangenen Post stand. Stirnrunzelnd nahm er zwei Briefe an sich und begab sich in die Bibliothek.

Der eine kam von Lady Staunton – Amelia, seine einzige Schwester, die er sehr liebte. Im Moment allerdings waren andere als ihre Probleme vorrangig.

Er hatte an diesem Tag nach Sir Frederic Collingwood Ausschau gehalten, der aber wohl, wie man hörte, in Newmarket sein sollte. Nun überlegte Jack, ob er ihm folgen und die Angelegenheit sofort klären oder sich ein wenig Bedenkzeit gönnen sollte. Er öffnete den Brief seiner Schwester, die ihm ihre Rückkehr nach England mitteilte. Vor einem Monat schon war sie ohne ihren Gatten aus Indien heimgekehrt, da ihr kleiner Sohn David das heiße Klima nicht vertrug.

Kein Wort in ihrem Schreiben sprach davon, wie unglücklich sie war, nur der Ton bewies, dass sich nichts geändert hatte. Dass Staunton ihr überhaupt erlaubt hatte, Indien zu verlassen, lag einzig in seiner Furcht begründet, andernfalls seinen Erben zu verlieren.

Fluchend ließ Jack den Brief sinken. Wenn es nach ihm ginge, würde Amelia ihren Gatten auf der Stelle und für immer verlassen. Der Mann war ein brutales Scheusal, und wenn es gerecht zuginge, würde Amelia sich scheiden lassen können, ohne ihm das Kind überlassen zu müssen, aber die Gesetze waren auf Stauntons Seite.

Obwohl Jack wusste, wie todunglücklich Amelia war, konnte er nichts tun, solange sie sich weigerte, seinen Ratschlägen zu folgen.

Jack öffnete den zweiten Brief und lächelte. Sein Freund Drew lud ihn zur Taufe seines Töchterchens ein. Jack schätzte ihn wie nur wenige Männer seiner Bekanntschaft, und er wusste, wie stolz Drew auf die Kleine war. Als einer der reichsten Männer Englands und Besitzer eines stolzen Titels hätte man ihm verziehen, wenn er sich enttäuscht geäußert hätte, weil sein erstes Kind ein Mädchen war, doch er betete das kleine Wesen für jedermann sichtbar förmlich an – ebenso wie er die Liebe zu seiner Gattin offen zur Schau stellte.

Mit einem Lächeln erinnerte Jack sich an die Hochzeit der beiden. Danach waren nur einige wenige Besuche bei dem Paar erfolgt, da er sich bis vor Kurzem noch Staatsangelegenheiten hatte widmen müssen, die keine Zeit für persönliche Vergnügungen ließen. Und als er diese Dinge endlich hinter sich lassen konnte, übermannte ihn der Kummer über den sinnlosen Tod David Middletons und raubte ihm jede Lebensfreude.

Nun endlich, in dem Gefühl, der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen zu können, hatte er diesen Anfall von Verzweiflung abgeworfen. Er würde nicht ruhen und rasten, bis Collingwood im wohlverdienten Kerker schmachtete, falls der Mann sich tatsächlich als Betrüger und Mörder entpuppte.

Leider waren ihm die Hände gebunden, solange sein Verdächtiger sich nicht in der Stadt zeigte, deshalb beschloss Jack, zuerst einmal der Taufe beizuwohnen, die auf Marlbecks Landsitz stattfinden sollte.

Die Tochter des Marquis of Marlbeck war in der schönen alten Kirche getauft worden, deren Pfarrer Lucys Vater einst gewesen war. Nun strömten die Gäste wieder zurück nach Marlbeck Place, wo der Empfang abgehalten wurde, und das Herrenhaus wimmelte von Besuchern. Lucy nutzte die erste beste Gelegenheit, um zu entwischen, denn so wunderschön das Haus auch war, sie hielt sich lieber im Freien auf, besonders bei so angenehmem Wetter – es war warm, aber nicht drückend. Wenn man die weite Rasenfläche vor dem Haus überquerte, lockten am Rande des großen Parks ein paar mächtige alte Bäume, die Lucy schon früher erkundet hatte. Eine ehrwürdige Eiche mit tiefhängenden Ästen war ihr bevorzugter Platz. Aus deren hoher Krone hatte man einen herrlichen Ausblick, ohne selbst gesehen zu werden. Rasch raffte Lucy die Röcke ihres weißen Musselinkleides und begann ihren Aufstieg. Weit oben richtete sie sich auf einem dicken Ast inmitten des grünen Blätterdaches häuslich ein und konnte von diesem erhöhten Sitz sogar die rückwärtige Seite des Hauses sehen. Ein paar Damen wandelten dort auf der Terrasse einher, von zierlichen Schirmchen vor der Sonne geschützt. Vage ging Lucy durch den Kopf, wie sehr ihre Mutter sie oft schalt, weil sie trotz ihrer Neigung zu Sommersprossen ohne Kopfbedeckung aus dem Hause ging. Mama hatte ihr sogar schon eine Lotion zum Bleichen der ungeliebten kleinen Tupfen besorgt, doch vergebens, mit dem Sommer fanden sie sich stets aufs Neue auf ihrer Nase ein.

In Träumerei versunken, bemerkte sie den Hund erst, als er wild bellend unter dem Baum stand. Missmutig betrachtete sie das große schwarze Tier, das nun ein tiefes Knurren ausstieß und sich mit den Vorderpfoten an dem Baumstamm hochreckte.

„Geh fort!“, rief Lucy. „Und hör auf zu knurren, du grässliches Ding. Wo kommst du überhaupt her? Ich kenne dich nicht. Geh weg.“

Doch der Hund bellte nun noch lauter. Er wirkte mit seinen kräftigen Kiefern und scharfen Zähnen wie ein Jagdhund, der aufs Zuschnappen getrimmt war.

Unruhig betrachtete Lucy ihn; sie wusste, sie würde sich nicht hinuntertrauen, solange der Hund dort unten stand. Zwar fürchtete sie Hunde nicht generell, doch dieser wirkte recht gefährlich, und da sie ihn nicht kannte, konnte sie seine Reaktion nicht einschätzen.

„Lucy, wo bist du? Mama sucht dich!“ Drüben auf der Terrasse rief Marianne nach ihr, ging jedoch wieder ins Haus zurück, ehe Lucy sich bemerkbar machen konnte.

Ein Blick nach unten zeigte ihr, dass der Hund immer noch da war, und als sie sich ein wenig regte, begann er gleich wieder lauthals zu bellen.

„Ach, geh doch, du grässliches Tier! Ich will hinabsteigen.“

„Das können Sie unbesorgt, Brutus wird Ihnen nichts tun“, hörte sie jemanden sagen. Sich von ihrem erhöhten Platz umsehend, entdeckte sie, dass ein Reiter sich genähert hatte und nun nahe ihrem Baum anhielt.

„Hierher, Bursche! Platz, hörst du! Platz!“, befahl der Mann, und der Hund gehorchte sofort und setzte sich seinem Herrn zu Füßen, wobei er jedoch Lucy, die nun vorsichtig ihren hohen Sitz verließ, im Auge behielt.

„Ich war ein wenig ängstlich“, erklärte sie, während sie ihre Röcke zurechtrückte. Himmel, der Mann musste während ihres Abstiegs ihre Beine gesehen haben! Wenn er nicht gar einen Blick auf ihre Strumpfbänder erhascht hatte! „Der Hund wirkt recht wild.“

„Ich fürchte, sein Äußeres spricht nicht für ihn“, antwortete der Herr lächelnd. Er hatte gerade eine Aussicht genossen, wie sie eine wohlerzogene junge Dame nur äußerst selten gestattete. Dass sie eine Dame war, daran zweifelte er nicht, trotz der Tatsache, dass sie in dem Baum gehockt hatte. „Aber er hat einen sehr sanften Biss, denn er ist darauf trainiert, Jagdbeute zu apportieren. Und üblicherweise verhält er sich einer Dame gegenüber nicht so ungalant. Sicher glaubte er, Sie hätten dort oben nichts Gutes im Sinn.“ Er sah zu dem Ast auf, auf dem Lucy gesessen hatte. „Sie müssen zugeben, es ist ein ungewöhnlicher Sitzplatz für eine Dame.“

„Ja …“ Lucys Wangen glühten feuerrot. Sie war sich ihres ungehörigen Betragens überaus bewusst. „Mama würde mich schelten, wenn sie davon erführe. Oft genug hat sie mir schon untersagt, auf Bäume zu klettern – obwohl ich es als Kind noch durfte. Eigentlich bin ich nun zu alt für solche Albernheiten.“

„Tatsächlich?“ Er betrachtete sie nachsichtig, offensichtlich hielt er sie auch jetzt noch für ein Kind. „Wie alt sind Sie? Sechzehn?“

„Ich bin vor zwei Wochen achtzehn geworden“, sagte Lucy betont, wagte aber kaum, ihn anzusehen. Er würde sie für einen Wildfang halten, und das war sie ja auch wirklich. „In wenigen Wochen wird Mama mich nach London bringen, für meine erste Saison.“

„Sie machen mich staunen. Ich hätte Sie für jünger gehalten. Wenn Sie erst in die Londoner Gesellschaft eingeführt sind, werden Sie Ihren Drang, auf Bäume zu klettern, zügeln müssen, junge Dame, sonst erregen Sie das Missfallen diverser Gastgeberinnen, und das wäre ein Jammer. Wie schade, wenn Sie in der Gesellschaft nicht den Ihnen gebührenden Erfolg hätten.“ Er wandte sich dem Hund zu. „Brutus, mir nach!“, rief er, trieb sein Pferd sanft an und trabte davon, auf die Stallgebäude zu, die rechterhand hinter dem Herrenhaus lagen.

Erleichtert atmete Lucy auf, als der Hund gehorsam hinter seinem Herrn hertrottete, dann floh sie förmlich über den weiten Rasen in die Sicherheit des Hauses.

Sie glaubte zu wissen, wer der Gentleman war, obwohl sie ihn seit Mariannes Hochzeit nicht mehr gesehen hatte. Ihr Puls raste. Sie hatte nicht erwartet, dass Lord Harcourt zur Taufe der kleinen Andrea kommen würde. Natürlich war er Drews bester Freund, aber da er ihr bei keinem ihrer früheren Besuche auf Marlbeck Place begegnet war, hatte sie ihn auch jetzt nicht unter den Gästen erwartet.

Ach, warum musste ausgerechnet er sie da oben erwischen? Lucy biss sich wütend auf die Lippe; sie wusste genau, das Intermezzo hatte ihn sehr amüsiert. Tatsächlich war sie ja auch sehr töricht gewesen. Hätte sie doch nur nicht in einer so unwürdigen Situation gesteckt! Er musste sie für ein dummes kleines Mädchen halten – und genau so hatte sie sich betragen! Mit heißen Wangen rannte sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer, um sich zu vergewissern, ob ihr Kleid beschmutzt oder zerrissen war, ehe sie sich wieder unter die Gäste mischte. Doch sie fürchtete, ihr Ansehen hatte unwiderruflich Schaden erlitten.

Lucy sah Lord Harcourt erst am Abend vor dem Dinner wieder. In seinem hervorragend geschnittenen Abendanzug machte er eine beeindruckende Figur, und sein blütenweißes Hemd wetteiferte mit seinem schneeweißen, elegant geschlungenen Krawattentuch. Als er zu ihr hinüberschaute, wurde sie unsicher, ließ sich jedoch nicht anmerken, dass sie sich zuvor schon getroffen hatten. Er unterhielt sich mit Drew und Marianne, mit denen er auf sehr vertrautem Fuße stand, und lachte gerade über eine Äußerung Mariannes.

Lucy zögerte noch, sich ihnen zuzugesellen, als ihre Mutter zu ihr trat.

„Ah, da bist du ja, mein Liebes“, sagte Mrs. Horne lächelnd. „Hat man dich Lord Harcourt schon vorgestellt? Für den Taufgottesdienst kam er zu spät, aber Marianne sagte, er war so großzügig! Er hat der kleinen Andrea ein wunderschönes Perlenhalsband geschenkt, das ihr, wenn sie sechzehn wird, ausgehändigt werden soll, und außerdem überreichte er auch Marianne selbst eine großzügige Gabe. Ist das nicht lieb von ihm?“

„Ja, wahrhaftig“, entgegnete Lucy ruhig, doch innerlich bebte sie. Unauffällig beobachtete sie den Mann, der sich gerade von Drew trennte und sich einigen anderen Gästen zuwandte. Offensichtlich trog ihr Gedächtnis sie nicht, er sah sehr gut aus. Nein! Das stimmte nicht ganz. Er war hochgewachsen und kraftvoll gebaut, mit dunklem, nach der neuesten Mode geschnittenem Haar. Seine Züge waren klassisch, wenn auch ein wenig herb, und die Nase war edel geformt. Nein, nicht unbedingt, was man schön nannte, aber außerordentlich attraktiv. Woran es lag, dass sie ihn seit der ersten Begegnung nicht hatte vergessen können, wusste sie nicht, bis er sie unerwartet mit seinen ernst blickenden grauen Augen ansah und ihr Herz einen kleinen Sprung machte. „Ja, wirklich sehr lieb, Mama“, murmelte sie abwesend.

„Komm, begrüße ihn, Kind“, drängte ihre Mutter. „Lord Harcourt soll nicht den Eindruck bekommen, wir ließen es an Höflichkeit fehlen. Drew hat eine hohe Meinung von ihm.“

„Ja, ich weiß; sowohl Drew als auch Hal hat er ja mehrfach gute Dienste geleistet.“ Von ihren Schwestern hatte sie gehört, dass Captain Manton, wie er sich damals noch nannte, ein kühner, kluger Mann war, der sich während des Krieges nicht gescheut hatte, unter anderem Namen als Geheimagent dem Lande zu dienen.

Innerlich bebend folgte Lucy ihrer Mutter zu der kleinen Gruppe. Alle Damen bedachten ihn mit strahlendem Blick, und besonders Miss Angela Tremaine, eine wahre Schönheit mit feurig rotem Haar, die ein reiches Erbe zu erwarten hatte, tat sich dabei hervor und schien sehr von Lord Harcourt eingenommen.

Während ihre Mutter die Vorstellung übernahm, verharrte Lucy schweigend, mit leicht geröteten Wangen. Wegen ihres silberblonden Haars und ihrer azurblauen Augen galt sie allgemein als außerordentlich hübsch, doch gegenüber der flammenden Miss Tremaine fühlte sie sich im Hintertreffen. Musste er sie nicht angesichts einer solch hinreißenden Schönheit für ein langweiliges Kind halten?

„Miss Lucy Horne?“ Lord Harcourt lächelte. „Mir scheint, wir trafen uns auf Drews Hochzeit. Besorgten Sie mir nicht ein Stück von der Hochzeitstorte und vertilgten es dann selbst?“

Zwar errötete Lucy, sah ihn aber indigniert an. „Sir, Sie drängten es mir auf, da Sie angeblich kein Freund von Süßem sind!“

„Ja, richtig.“ Jack lachte ein wenig kehlig, was einen leichten Schauer durch Lucys Körper rinnen ließ. „Essen Sie immer noch zwei Portionen Torte, Miss Horne? Dann müsste ich mich fragen, wo das alles bleibt, da Sie zart wie eine Elfe sind – und bildhübsch.“

Lucy nahm das Kompliment lächelnd entgegen, obwohl sie enttäuscht war, denn er sprach mit ihr, wie wohl ein nachsichtiger Onkel mit seiner kleinen Nichte sprechen mochte. Offensichtlich sah er in ihr immer noch das Mädchen und nicht die junge Dame, die kurz vor ihrem Debüt stand. Es verletzte sie, denn wenn er auch um einiges älter war als sie, musste er sie deshalb doch nicht wie ein kleines Kind behandeln – und nur, weil sie auf einen Baum geklettert war!

Zum Glück blieb ihr eine Antwort erspart, da das Dinner angekündigt wurde. Lord Harcourt bot Miss Tremaine seinen Arm. Lucy, die ihrer Mutter in den Speisesaal folgte, musste einen kleinen, missgünstigen Stich unterdrücken, als sie sah, wie aufmerksam Lord Harcourt sich seiner Tischdame annahm.

Lucy fand sich an der Tafel den beiden gegenüber zwischen zwei älteren Herren platziert, Freunden von Drew, die sich große Mühe gaben, sie zu unterhalten, sodass sie bald ihre Verlegenheit vergaß und lachend, mit funkelndem Blick, auf deren Neckereien einging. Sie ahnte nicht, wie bezaubernd sie aussah, noch dachte sie daran, dass Lord Harcourt sie von seinem Platz aus genau im Blickfeld hatte.

Als von der anderen Seite der Tafel ein Heiterkeitsausbruch an sein Ohr drang, sah Jack auf und betrachtete Lucy. Zuvor war sie in seinen Augen ein unbeholfenes Kind gewesen, doch nun sprühte sie vor Leben und wirkte außerordentlich charmant, wie sie da mit blitzenden Augen auf die Scherze der Herren einging. Jack wurde ein wenig an seine Schwester erinnert, die in ihrer frühen Jugend ein süßes, unschuldiges Mädchen voller Lebensfreude gewesen war. Inzwischen war Amelia ihre Lebenslust völlig abhanden gekommen. Bei diesem Gedanken verdüsterte sich seine Miene, sodass er sehr streng aussah.

Diesen Augenblick wählte Lucy, um zu ihm hinüberzuschauen, und deutete seinen düsteren Ausdruck als Missbilligung. Die Wangen wurden ihr heiß. Was hatte sie getan, dass er sie derart ansah? Sie hatte ihn von Mariannes Hochzeit her als charmant und freundlich in Erinnerung, doch nun wirkte er, als könnte er sie nicht leiden. Ihr Stolz half ihr, sich zu fassen. Natürlich war ihr Verhalten im Garten tadelnswert gewesen; bei ihrer Kletterei hatte sie mehr enthüllt, als schicklich war – aber gewiss hatte sie doch nicht derart feindliche Blicke verdient? Entschlossen, nicht zu zeigen, wie gekränkt sie war, wandte sie sich wieder ihrem Tischherrn zu, der eben ihre Meinung über Byrons Gedichte hören wollte.

Wie dumm von ihr, all die Zeit Lord Harcourts Bild in ihrem Herzen getragen zu haben! Er war ihr Held, ihr Traumprinz aus den Märchen ihrer Kindheit gewesen. Nun erwies er sich, wie sie fand, als kalt und hochmütig, und sie beschloss, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen.

Nachdem Lucy geraume Zeit vergeblich auf den Schlaf gewartet hatte, stieß sie die Bettdecke fort und stand auf. Wenn sie schon nicht schlafen konnte, wollte sie das Buch holen, das sie am Nachmittag unten in dem kleinen Salon hatte liegen lassen. Rasch warf sie ihren Morgenmantel aus schwerer Seide über und schlüpfte in ihre Pantöffelchen, dann nahm sie die Kerze und huschte die Treppe hinab zu dem besagten Raum. Beim Eintreten wehte ihr ein kühler Luftzug entgegen. Erstaunt stellte sie fest, dass die hohen Fenster zur Terrasse offen standen. Ein Versäumnis der Dienerschaft? Eben wollte sie die beiden Flügel schließen, als unversehens aus dem Dunkel drohend eine männliche Gestalt vor ihr auftauchte und sie erschreckt zurückzucken ließ.

„Lord Harcourt!“, rief sie, als er über die Schwelle ins Licht trat und sie ihn erkannte. „Sie sind es! Ich dachte schon, ein Fremder wäre eingedrungen.“

Kritisch musterte er ihren Aufzug. „Was machen Sie hier, Miss Horne? Ich dachte, Sie hätten sich längst zurückgezogen?“

„So war es auch, aber da ich nicht schlafen konnte, kam ich noch einmal hinunter, um mein Buch zu holen.“

„Dann ging es Ihnen wie mir“, sagte er. „Auch ich konnte nicht schlafen, deshalb beschloss ich, draußen eine Zigarre zu rauchen.“ Er hielt den Blick auf ihr Gesicht gerichtet. „Welch glückliche Fügung, dass Sie bei ihrem nächtlichen Ausflug auf mich trafen … andernfalls hätte es für Sie recht peinlich werden können – gelinde ausgedrückt.“

„Oh …“ Lucy errötete, als ihr dämmerte, dass sie sich gerade, höchst unziemlich bekleidet, mit einem Herrn unterhielt, den sie kaum kannte. „Ich muss zurück, Sir. Eine gute Nacht wünsche ich.“ Damit wandte sie sich um und hastete, das Buch an sich gepresst, mit heftig pochendem Herzen hinaus.

„Gute Nacht, Lucy …“ Seine Stimme schien sie die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer zu verfolgen. Wieder hatte sie das Gefühl, Lord Harcourt müsse sie für ein törichtes junges Ding halten.

Jack Harcourt ging in die Halle hinaus, wo der Nachtpförtner in seinem Stuhl eingeschlummert war, und nahm eine der dort bereitstehenden brennenden Kerzen an sich. Auf dem Weg zu seinem Zimmer dachte er an die vorherige Episode. Das Treffen mit Miss Horne, nur in ihren Nachtgewändern, hatte ihn ziemlich verblüfft. Er wanderte häufig am späten Abend noch umher, vor allem, wenn er über etwas nachgrübelte. Vielleicht war er ein wenig hart mit ihr gewesen, aber es war wirklich unklug von ihr, zu dieser Stunde nur unvollständig bekleidet durchs Haus zu gehen, vor allem, da auch männliche Gäste auf Marlbeck weilten, von denen der eine oder andere womöglich dreist genug war, sich einen verstohlenen Kuss zu rauben – oder gar mehr!

So wenig es ihr bewusst sein mochte, Lucy war ein entzückendes junges Mädchen, und der Anblick ihrer hübschen schlanken Beine, als sie von dem Baum kletterte, war verführerisch. Für ihn war sie ein zauberhaftes Kind, vielleicht ein wenig scheu noch und ganz unschuldsvoll – wie seine Schwester einst! Als er an Amelia dachte, flog ein Schatten über sein Gesicht, denn Amelia in ihrer Unschuld war missbraucht worden und lebte heute in Unglück und Verzweifelung. Rasch verdrängte er den Gedanken. Es hatte keinen Sinn, über die Vergangenheit zu grübeln, außerdem beschäftigten ihn zurzeit andere Dinge.

Jack besaß viele Freunde und Bekannte, doch niemand hatte ihm je so nahegestanden wie David Middleton. Sie waren zusammen aufgewachsen, hatten Abenteuer und Träume geteilt, waren mehr Brüder als Freunde gewesen. Davids Tod hatte ihn schwer getroffen und eine verheerende Wirkung auf ihn gehabt.

Nach der Ankunft dieses mysteriösen Briefes hatte er jedoch Nachforschungen angestellt und glaubte mittlerweile, dass David einem Pack von Halsabschneidern und professionellen Glücksspielern in die Hände geraten war. David hätte sich niemals um sein Vermögen bringen lassen, ohne sich zur Wehr zu setzen – ein Grund für die Schurken, ihn zu ermorden und seine Leiche im Straßengraben verschwinden zu lassen. Ob Collingwood etwas damit zu tun hatte, blieb noch zu beweisen, obwohl feststand, dass er zu den Leuten gehörte, mit denen David in den Wochen vor seinem Tod am Spieltisch gesessen hatte. Offiziell hieß es auf jeden Fall, Straßenräuber hätten David aufgelauert, ihn ermordet und ausgeraubt.

Jack fragte sich grimmig, ob sein Freund wirklich eines Glücksspiels wegen ermordet worden war, oder ob mehr dahintersteckte. Noch schwankte er, war jedoch fest entschlossen, dem Geheimnis auf den Grund zu kommen. Eher würde er keine Ruhe haben. Selbst hier, von Freunden umgeben, war er rastlos, und tief drinnen quälte ihn das Gefühl, der Sache müsste eine vorhergegangene Affäre zugrunde liegen. Stimmte die Vermutung, war diese Glücksspielgeschichte nur vorgeschoben.

Ach, zum Teufel damit! Das Problem musste warten, bis er wieder in London war. Im Augenblick konnte er sowieso nichts tun. Er war hergekommen, um die Gesellschaft seiner Freunde zu genießen.

Als ihm Lucy Horne wieder einfiel, musste er lächeln. Früher, bevor er hart und illusionslos geworden war, hätte er sie sicher unwiderstehlich gefunden, doch diese Zeit war längst vorbei. Seiner Familie zuliebe würde er natürlich irgendwann heiraten müssen, bevorzugt eine reifere Frau, vielleicht eine junge Witwe, die nicht mehr den Himmel auf Erden erwartete. Er brauchte einen Erben für seine Güter, aber er hatte sich daran gewöhnt, allein zu leben, und glaubte, das Ehe- und Familienleben würde ihm nicht behagen. Natürlich hatte er eine Mätresse, die aufzusuchen es ihn jedoch nicht allzu oft verlangte, da er bisher von Pflichten überladen gewesen war. Bis vor Kurzem hatte er an Heirat sowieso keinen Gedanken verschwendet, und auch jetzt fand er, er wäre als Junggeselle besser dran, selbst wenn ihm hin und wieder etwas zu fehlen schien. Allein, ein sanftes, süßes Mädchen zu ehelichen stand gar nicht zur Debatte! Verrückt, überhaupt nur daran zu denken! So charmant Miss Horne zweifellos war, für ihn war sie nichts.

Energisch vertrieb er Lucy aus seinen Gedanken und begab sich auf sein Zimmer. Wie versprochen würde er drei Tage bleiben und dann wieder nach London zurückkehren und sich dem Mann an die Fersen hängen, den er für Davids Tod verantwortlich machte.

Lucy erwachte schon früh am Morgen. Die helle Sonne, die in ihr Fenster schien, lockte sie hinaus, denn noch konnte sie einen Spaziergang machen, ohne von anderen gestört zu werden.

Nachdem sie sich angekleidet hatte, ging sie bis hinunter zum See, der im morgendlichen Sonnenlicht glitzerte, verlockend und geheimnisvoll. In der Mitte der Wasserfläche gab es ein kleines Eiland mit einem Tempelchen darauf, das wie aus einem Märchen hierher versetzt schien. Lucy sah sehnsüchtig hinüber; zu gern hätte sie den Ort erkundet, auch wenn dort wohl kaum Geheimnisse lauerten. In ihrer Vorstellung jedoch war das kleine Sommerhaus ein Palast, in dem ein verzauberter Prinz darauf wartete, von ihr erlöst zu werden.

Mit einem Seufzer drehte sie sich um und wollte zum Haus zurückkehren, als sie Lord Harcourt bemerkte, der ein kleines Stück entfernt stand und gedankenverloren über den See schaute.

Sie atmete einmal tief ein, dann näherte sie sich ihm ein paar Schritte. „Guten Morgen, Sir. Ich glaube, der Tag heute wird sehr warm werden, vielleicht gerade recht für einen Ausflug auf dieses Inselchen. Meinen Sie nicht?“

„Ja, vielleicht“, entgegnete Jack, während er sich ihr zuwandte. „Das Wasser könnte dazu verlocken – besonders, wenn der Tag heiß wird.“

Lucy lächelte ihn schüchtern an. „Finden Sie nicht, dass die Insel wie verzaubert aussieht? Als gäbe es dort einen schlafenden Prinzen, der nur darauf wartet, geweckt zu werden – oder eine Prinzessin?“

„Sie albernes Kind“, sagte Jack nachsichtig, „offensichtlich haben Sie zu viele Märchen gelesen. Ich fürchte, Sie werden bald feststellen, wie anders das echte Leben ist. Sind Sie wirklich schon achtzehn? Ihre Mama sollte sich noch einmal überlegen, ob sie Sie debütieren lassen will, besonders in London. Ich finde, Sie sind noch zu arglos für den manchmal wenig feinen Umgang, der Ihnen dort zweifellos unterkommen wird.“

„Ich weiß, dass das Leben nicht nur heiter ist“, antwortete Lucy und hob stolz das Kinn, denn sein Ton verstimmte sie. „Ich habe nämlich oft genug bei Veranstaltungen zur Unterstützung der Armen geholfen. Mein Vater lehrte uns Kinder, nicht die zu vergessen, denen es schlechter geht als uns, und die Nachteile der Armut sind mir wohl bekannt.“

Autor

Anne Herries
Anne Herries ist die Tochter einer Lehrerin und eines Damen Friseurs. Nachdem sie mit 15 von der High School abging, arbeitete sie bis zu ihrer Hochzeit bei ihrem Vater im Laden. Dann führte sie ihren eigenen Friseur Salon, welchen sie jedoch aufgab, um sich dem Schreiben zu widmen und ihrem...
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