Mein sexy Retter

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Auf Liebe, Romantik und Sex verzichtet Anna gern, denn sie lebt nur für ihre Karriere. Doch dann hat sie ein halbes Jahr Urlaub und keine Ahnung, was sie damit anfangen soll. Bis sie Sam begegnet, der ihr mit einem heißen Kuss zeigt, dass es noch etwas anderes als Arbeit gibt ...


  • Erscheinungstag 22.04.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751522304
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Ich brauche das Protokoll bis morgen!“, rief Anna Simmons ihrer Assistentin über die Schulter zu und verließ den Konferenzraum. Sie hörte noch, wie Jennifer die Papiere zusammenschob und … ja, tatsächlich, leise fluchte. „Wir sollten Aurora eine Flasche Champagner schicken und …“ Anna lief mit klackenden Absätzen durch den Flur von Arsenal Advertising. „Und einen Strauß Margeriten.“ Sie bog nach links in die Kreativabteilung und steuerte auf ihr Büro zu. „Haben Sie das, Jen?“

„Ja.“ Jennifer, die hinter ihr lief, versuchte nicht einmal, ihren Frust zu verhehlen. Vielleicht war es an der Zeit, mal ein ernstes Wort mit ihr zu reden.

Anna spazierte an Jennifers Tisch vorbei und riss die Tür zu ihrem Büro auf. „Die Kreativabteilung muss informiert werden und …“ Sie brach ab. Sie konnte Jennifers Schritte nicht mehr hinter sich hören. Und auch das Murren hatte aufgehört. Als Anna sich umdrehte, war Jen nicht da. Sie lief zurück zur Tür.

Jennifer hatte sich auf ihrem Stuhl ausgestreckt, den Kopf zurückgelegt, die Arme ausgebreitet, die Augen geschlossen, als ob sie schliefe oder tot wäre.

Ihre sehr eleganten und unbequem aussehenden Stöckelschuhe hatte sie in den Flur gekickt.

„Jen?“, rief Anna überrascht. Nie zuvor hatte sie Jennifer so … erledigt gesehen.

„Anna?“, murmelte Jen, ihre Lippen bewegten sich kaum. „Ist Ihnen aufgefallen, dass wir die einzigen Menschen hier sind?“

„Ja, es ist ziemlich ruhig.“ Anna blickte zu den dunklen Büros mit den leeren Stühlen und ausgeschalteten Computern. „Wo sind denn alle?“ Es war noch so viel zu tun.

„Es ist neunzehn Uhr an einem Mittwochabend, Anna …“

„Sie haben recht, wir sollten uns was bestellen.“ Anna lehnte sich an den Türrahmen. In der Hitze des Gefechts vergaß sie schon mal zu essen.

„Nein, Anna.“ Jen richtete sich auf. „Ich gehe.“

„Sie gehen?“

„Ja, und zwar nach Hause. Ins Bett. Um zu schlafen.“ Sie griff nach ihrer Tasche.

„Aber Jen, wir haben noch eine Menge zu tun. Wir …“

„Ich habe die Nacht durchgearbeitet.“ Jens braune Augen durchbohrten sie, und Anna trat einen Schritt zurück. „Letzte Woche war ich jeden Tag bis Mitternacht hier.“

Anna war sich des Terminplanes durchaus bewusst. Sie rieb sich den Nacken, vermutlich hatten die Nächte auf der Couch in ihrem Büro bereits bleibende Schäden hinterlassen.

„Sie können mich rauswerfen, Anna, aber ich gehe jetzt nach Hause.“

„Sie rauswerfen?“, fragte Anna schockiert. „Jen, ich würde Sie nie rauswerfen.“

„Ich wünschte, Sie würden es“, murmelte Jennifer

„Gehen Sie nach Hause. Und nehmen Sie sich den Rest der Woche frei.“ Jen starrte Anna entgeistert an „Wirklich, Jen. Sie haben heute fantastische Arbeit geleistet. Ohne Sie hätte ich das nie geschafft.“ Jens Mund klappte auf, und Anna war irgendwie beschämt. War sie so eine schlechte Chefin, dass ein wenig Lob ihre Mitarbeiterin derart aus der Fassung bringen konnte?

„Wird auch Zeit, dass Ihnen das auffällt.“ Jen grinste, wenn auch etwas schief, und Anna verspürte einen Stich der Zuneigung.

„Lassen Sie uns was trinken gehen“, sagte sie, von sich selbst überrascht. „Zur Feier des Tages.“

„Etwas trinken?“, fragte Jen.

„Klar.“ Anna nickte entschlossen.

„Sie … äh … Sie und ich?“ Anna sah, wie sich Entsetzen auf dem Gesicht des Mädchens ausbreitete, und da fiel ihr wieder ein, dass sie bei Arsenal nicht gerade die beliebteste Mitarbeiterin war. „Also …“

„Schon gut.“ Anna wollte ihr ersparen, sich irgendeine Notlüge ausdenken zu müssen. „Gehen Sie nach Hause, wir sehen uns dann am Montag.“

„Sie sollten auch nach Hause gehen“, meinte Jennifer leise.

Obwohl sie nichts dergleichen vorhatte, nickte Anna und schloss die Bürotür hinter sich. Dann lehnte sie sich dagegen. Sie war sehr, sehr müde.

„Anna Simmons“, flüsterte sie lächelnd. „Auf dem Gipfel des Erfolgs.“

Am liebsten wäre sie durchs Zimmer getanzt und hätte gejubelt. Sie wollte ihre Schuhe wegschleudern und auf der dunklen Ledercouch herumhopsen. Sie hatte es geschafft. Mal wieder. Goddess Sportswear hatte gerade einen Vertrag unterschrieben und würde Arsenal Advertising ein Vermögen für die Herbstkampagne bezahlen.

Aber sie war zu erschöpft. Doch zumindest hüpfte sie kurz in die Höhe, während sie auf ihren Mahagonitisch zulief und leise „Dancing Queen“ von Abba sang. Sie setzte sich, zog die Schublade auf und nahm eine Familienpackung Erdnussbutterpralinen heraus, die sie für solche Anlässe dort aufbewahrte.

Sie schwang mit dem Stuhl herum, zog die Schuhe aus, legte die Füße auf den Tisch und schaute aus dem riesigen Fenster auf die San Francisco Bay. Die Häuser auf den Hügeln von Sausalito schimmerten pastellfarben wie Ostereier, während die Golden-Gate-Brücke blutrot im letzten Sonnenlicht erstrahlte.

Sie kicherte zufrieden.

Am meisten mochte sie die Vögel. Sie sahen aus wie hunderte weiße Taschentücher, die im Wind flatterten.

Es klopfte. Sie drehte sich zur Tür, und Camilla Lockhart, ihre Chefin und Freundin, streckte den Kopf herein.

„Camilla!“, rief Anna. „Komm rein.“ Erfreut, dass Camilla vorbeigekommen war, um ihr zu gratulieren, hielt sie ihr die Schachtel hin. „Eine Erdnussbutterpraline vielleicht? Zur Feier des Tages?“

„Danke.“ Camilla grinste breit. Sie stellte ihre Aktentasche auf die Couch. „Ich möchte etwas mit dir besprechen.“ Camilla setzte sich in einen der tiefen, grünen Sessel und schlug ihre langen Beine übereinander. Anna staunte mal wieder darüber, wie unglaublich schön sie war. Sie hatte langes silberfarbenes Haar und Augen so klar und blau wie der Himmel vor dem Fenster. Camilla war um die sechzig, wirkte aber zwanzig Jahre jünger.

„Gut.“ Anna lehnte sich zurück und glättete ihr schwarzes Jackett. Sie hatte die letzten fünf Stunden mit harten Verhandlungen im Konferenzraum verbracht und sah bestimmt aus, als wäre sie gerade aus einem Schützengraben gekrochen. Sie fasste sich in ihr schwarzes Haar, erleichtert, dass es noch immer in dem Knoten zusammengefasst war, den sie vor zwölf Stunden geschlungen hatte.

Annas Laune war viel zu gut, um sich von Camillas faltenfreiem Kostüm einschüchtern zu lassen. Sie nahm sich noch eine Praline. „Lass uns darüber reden, wie unglaublich gut dieser Tag gelaufen ist.“

Es hatte ein paar Jahre gedauert, bis Aurora Milan mit ihrer Sportswearfirma ihre Kundin geworden war, aber die Mühe hatte sich gelohnt. Goddess stand kurz davor, im ganzen Land wie eine Bombe einzuschlagen, dessen war Anna sich sicher. Zwar handelte es sich nicht um den größten Auftrag in der Geschichte von Arsenal, aber mit Sicherheit um den wichtigsten. „Es ist ein tolles Produkt, hinter dem eine gute Philosophie steckt. Es braucht nur noch ein wenig Hilfe von unserer Seite“, meinte sie.

„Und da trittst du auf den Plan.“ Camilla lächelte.

Anna schüttelte den Kopf. „Nein, da tritt Arsenal auf den Plan.“

„Du warst fantastisch. Ich bin sehr stolz auf dich.“

Anna versuchte zu überspielen, wie ungeheuer erfreut sie über dieses Lob war. In ihrer Brust brodelte es, als ob dort ein Lachen gefangen wäre. „Nun, ich habe nur das getan, was du mir beigebracht hast.“

Camilla kicherte. „Honey, selbst in meinen besten Tagen hätte ich so einen Abschluss nicht hinbekommen …“

„Stimmt nicht“, unterbrach Anna sie. Sie wusste alles über Camillas große Triumphe. „Norway Vodka“, sagte sie und nannte damit den Namen eines ihrer größten Kunden, der vor langer Zeit eine nie zuvor da gewesene Summe für eine Kampagne gezahlt hatte. Camilla hatte aus diesem beinahe unbekannten Produkt den erfolgreichsten Wodka der Welt gemacht.

„Tja.“ Camilla wischte einen nicht vorhandenen Fussel von ihrem roten Kostüm. „Das war gut.“

„Siehst du, ich habe einfach von der Besten gelernt.“

Camilla schob sich eine Strähne ihres silbergrauen Haars aus der Stirn und atmete tief durch. „Aber Anna, keiner außer dir hat die letzten beiden Wochen auf dieser Couch hier geschlafen.“

„Was du nicht sagst.“ Anna lachte. „Ich glaube, das ist die unbequemste Couch der Welt.“

Camilla betrachtete sie einen langen Augenblick, und Anna spürte, dass noch etwas in der Luft lag. Eigentlich wäre jetzt die richtige Zeit zum Lachen und Schulterklopfen, aber Camilla schien überhaupt nicht nach Lachen zu sein.

„Was ist los?“ Anna legte die Pralinenschachtel weg.

„Nun, ich wollte es eigentlich erst in ein paar Wochen offiziell machen, aber nun glaube ich, dass es nicht länger warten kann.“ Camilla stand auf und lief zum Fenster.

„Oh mein Gott.“ Anna stand auf. Wie immer ging sie vom Schlimmsten aus. „Du bist krank.“

„Nein“, entgegnete Camilla rasch. „Ich bin gesund, meine Familie ist gesund …“

„Aber?“

„Ich werde mich im neuen Jahr zur Ruhe setzen.“

Anna sank auf ihren Stuhl. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Camilla hatte Arsenal vor fünfundzwanzig Jahren gegründet und daraus eine der größten Werbeagenturen der Stadt gemacht. Nun wollte sie aufhören. Anna konnte es nicht fassen.

„Anna!“, rief Camilla. „Das ist nicht das Ende der Welt.“

„Ich weiß.“ Sie versuchte sich zusammenzureißen. „Es ist einfach eine Überraschung. Aber … warum gehst du? Du spielst doch ganz oben mit.“

„Nein, Sweetheart, du spielst ganz oben mit. Ich bin müde.“ Camilla kicherte leise, aber Anna konnte nichts Witziges an der Situation finden.

„Was …“ Anna blickte auf ihre Fingernägel und hätte nichts lieber getan, als an ihnen zu kauen. „Was wird aus Arsenal?“

Camilla zuckte mit den Schultern. Sie schaute wieder aus dem Fenster; ihr Profil zeichnete sich vor dem dunkler werdenden kalifornischen Himmel ab. „Ich bin sicher, du wirst dich gut darum kümmern.“

„Ich?“ Anna war platt.

„Du.“ Camilla drehte sich wieder um, und Anna hatte das Gefühl, als würde etwas in ihrem Kopf explodieren. Feuerwerk und Kanonenschüsse.

Gütiger Himmel! Anna Simmons, Generaldirektorin von Arsenal Advertising. Ein Traum, der auf wundersame Weise wahr wurde!

Anna sprang auf, packte Camilla um die Hüfte und riss sie begeistert in die Höhe. „Das … oh mein Gott … ich …“ Sie stotterte und lachte und weinte gleichzeitig. Das alles war einfach zu viel.

Dieser Tag. Goddess. Und jetzt: Chefin von Arsenal.

„Darauf müssen wir etwas trinken!“, rief sie lachend. „Cosmopolitans für alle.“

„Schön, dass du so begeistert bist, aber zuerst müssen wir etwas besprechen.“ Camilla legte eine kühle Hand an Annas errötete Wange und zwang sie, sie anzusehen. Richtig anzusehen.

„In Ordnung.“ Furcht stieg in ihr auf. Camilla wirkte so besorgt. Nervös und traurig.

Oje.

„Setz dich bitte hin.“ Camilla deutete mit einer anmutigen Geste auf den Stuhl, von dem Anna vor wenigen Minuten aufgesprungen war. Anna setzte sich, während Camilla sich auf eine Ecke der Schreibtischplatte hockte.

„Was ist los, Camilla? Mein Herz hält so viel Aufregung auf einmal nicht aus.“

„Ich freue mich sehr, dir Arsenal zu überlassen. Ich glaube an dich und vertraue dir …“

Diese Pause. Anna spürte Panik in sich aufsteigen. Warum macht sie eine Pause? Sie glaubt doch an mich. Vertraut mir. Keine Pause, bitte!

„Aber …“

„Nein, Camilla, kein Aber …“

„Aber“, fuhr Camilla ungerührt fort, „ich kann dir die Firma nicht guten Gewissens überlassen, solange du in dieser Verfassung bist.“

Anna richtete sich verblüfft auf. „Was soll das heißen? In was für einer Verfassung?“

„Das heißt, dass du dich für die Firma zugrunde richtest, und wenn ich dir Arsenal überlasse, wirst du keine vierzig werden.“

„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“ Die harte Arbeit, die Nächte auf der Couch, der Stress der letzten fünf Stunden und jetzt das … Anna spürte, wie ihr Kopf zu schmerzen begann.

„Das ist mir klar.“ Camilla beugte sich nach vorne. „Seit Monaten versuche ich dich dazu zu bringen, eine Pause zu machen. Urlaub …“

„Das werde ich doch bald.“ Anna seufzte erleichtert. Hier ging es nur um Urlaub. „Morgen. Ich verspreche es. Ich werde eine Reise buchen. Oder zwei. Aber erst musste ich diesen Auftrag bekommen …“

„Sweetheart, es ist immer etwas zu tun.“

„Gut, also …?“

„Also habe ich das selbst übernommen.“

„Du hast eine Reise für mich gebucht?“, fragte Anna verwirrt.

„Nein, wobei das keine schlechte Idee ist.“ Camilla schien kurz darüber nachzudenken. Dann holte sie tief Luft. „Bis ich mich in sechs Monaten zur Ruhe setze, bist du gefeuert.“

Anna blinzelte. Ihr Mund klappte auf, Worte schossen durch ihren Kopf. Und nicht gerade die nettesten. „Soll das ein Witz sein?“ Sie lachte ungläubig. „Ich muss schon sagen, der ist nicht schlecht. Wirklich. Beinahe wäre ich drauf reingefallen.“ Sie drohte Camilla mit dem Finger.

„Das ist kein Witz.“

„Dann träume ich wohl. Denn du kannst doch auf keinen Fall, auf keinen Fall, die Frau feuern, die dieser Firma gerade die Zukunft gesichert hat!“

„Anna, setz dich wieder.“

„Sag mir, dass das nicht wahr ist, Camilla. Bitte.“

Camilla stand auf. „Es ist sogar sehr wahr, und es ist zu deinem Besten.“

Annas Auge begann unkontrollierbar zu zucken.

„Hör zu“, begann Camilla, „du hast ein halbes Jahr Zeit. Eine Art Sabbatical.“

„Ich will kein Sabbatical“, zischte Anna.

„Nun, das ist zu schade, Sweetheart, denn du brauchst es.“

„Brauche ich nicht!“

Camilla schürzte die Lippen. „Anna, gestern hast du Andrew angedroht, ihm seine Essstäbchen in die Nase zu schieben.“

Na gut. Anna rutschte auf ihrem Stuhl umher. Sie war gestresst gewesen, und Andrew, die kleine Ratte, hatte die Reste ihres Mittagessens einfach weggeworfen. Vielleicht war es ein wenig zu viel des Guten gewesen, ihn mit den Essstäbchen zu bedrohen, aber …

„Gut, das war zu heftig“, räumte Anna ein. „Aber das heißt noch lange nicht, dass ich ein halbes Jahr lang Urlaub brauche. Das ist doch verrückt.“

„Sechs Monate. Dann kommst du zurück, und Arsenal gehört dir. Du wirst Generaldirektorin, wie besprochen.“

„Und wenn ich mich weigere?“ Anna zog die Brauen zusammen, die Kopfschmerzen wurden beinahe unerträglich. Das musste ein Albtraum sein.

„Dann werfe ich dich wirklich raus“, erwiderte Camilla todernst, und Anna spürte, wie ihr Herz einen Moment aussetzte. „Du brauchst diese sechs Monate, um wieder richtig zu leben.“

„Aber ich lebe doch!“, protestierte Anna hitzig.

„Wirklich?“ Camillas mitleidiger Blick ließ Anna hochschießen. Ihr Stuhl donnerte gegen die Fensterscheibe.

„Ja, wirklich. Diese Firma ist mein Leben.“ Anna knallte die Pralinenschachtel auf den Tisch. „Ich habe alles geopfert für Arsenal, einfach alles …“

„Genau das ist das Problem, Sweetheart.“ Camilla erhob sich ebenfalls.

„Warum sollte das ein Problem sein?“ Anna war es egal, dass sie schrie. „In dieser Branche wird solche Hingabe normalerweise honoriert. Hat das hier irgendetwas mit meiner Arbeit zu tun?“

„Nein.“ Camilla seufzte. „Deine Arbeit ist hervorragend.“

„Hervorragend, du sagst es. Nicht nur gut, sondern hervorragend.“ Annas berührte mit dem Zeigefinger beinahe Camillas Nase. Sie war exzellent, sie achtete auf die Details. Sie liebte Perfektion.

Wie konnte man eine Perfektionistin feuern?

„So hervorragend sogar, dass …“

„Anna.“ Camilla verschränkte die Arme, was andeutete, dass sie langsam die Geduld verlor. „Wie oft bin ich morgens in dein Büro gekommen, nur um festzustellen, dass du mal wieder die Nacht auf der Couch verbracht hast?“

„Was hat das denn damit zu tun?“, kreischte Anna.

„Wie oft?“, fragte Camilla mit schneidender Stimme.

„Ein paar Mal.“ Anna warf die Hände in die Luft.

„Dreihundertzweiundsechzig Mal.“

„Na und?“

„Wann warst du zum letzten Mal im Theater? In einem Konzert oder im Kino?“

„Ich habe gerade erst den neuen Film mit Leonardo DiCaprio gesehen.“ Anna versuchte, nicht zu triumphierend zu klingen.

„Leonardo DiCaprio hat in den letzten zwei Jahren in gar keinem Film mitgespielt“, entgegnete Anna.

„Leonardo DiCaprio hat auch überhaupt nichts mit meinem Job zu tun!“, brüllte Anna. Dann schüttelte sie den Kopf. „Merkst du nicht, wie verrückt das ist?“

„Wie viele Verabredungen hattest du in den letzten beiden Jahren?“, fuhr Camilla unerbittlich fort.

„Ein paar.“ Diese Frage war ein wenig persönlich. Und um ehrlich zu sein, ihr Liebesleben war ziemlich … nun, es existierte im Grunde nicht. Aber das hatte doch wohl kaum etwas mit ihrem Job zu tun. „Ich bin mit einem Mann zu Jeanie und Johns Hochzeit gegangen.“

„Du hast doch deinen Nachbarn mitgenommen, und der ist schwul!“

„Ich verstehe nicht …“

„Von Jim einmal abgesehen, gab es jemals einen Mann in deinem Leben, mit dem du länger als einen Abend zusammen warst?“

Jim Bellows. Camilla holte nun wirklich sehr weit aus. Mit ihm war Anna ganz zu Anfang ihrer Zeit bei Arsenal zusammen gewesen. Sie hatten sich getrennt, als Anna das erste Mal befördert worden war.

„Wann hast du zum letzten Mal irgendetwas Schönes unternommen?“

„Ich unternehme permanent schöne Dinge.“ Schon während sie antwortete, wusste sie, dass sie log und damit nur Öl ins Feuer goss.

„Anna.“ Camillas Stimme wurde weich, woraufhin sich Anna sofort versteifte.

„Gut, du kannst es haben. Ich verschwinde.“ Sie richtete einen Finger auf Camilla. „Ich will nichts mit einer Firma zu tun haben, die ihre besten Mitarbeiter derart behandelt.“

Camilla zog schweigend eine Augenbraue hoch.

„Ich bekomme jederzeit überall einen Job!“, schrie Anna, und nun hob sich Camillas andere Augenbraue ebenfalls. „Keine Spielchen mit mir, Camilla.“

„Ich weiß, dass Mernick und Simons alles dafür geben würden, wenn du …“

„Ganz genau. Mernick und Simon und ein Dutzend weitere Agenturen!“

„Ist es das, was du willst?“, fragte Camilla sanft.

„Du lässt mir ja keine andere Wahl.“ Anna konnte nicht glauben, dass dieses Gespräch wirklich stattfand.

„Sieh mal, ich gebe dir sechs Monate. Wenn du in eine andere Agentur gehen möchtest, schön. Wenn du all die Arbeit, die du in diese Firma gesteckt hast, wegwerfen willst, tu das. Andrew wird deine Kunden übernehmen. Und du kannst dich von Goddess Sportswear verabschieden.“

Autsch. Camilla wusste genau, wo man hintreten musste, wenn der andere sowieso schon am Boden lag. Goddess Sportswear war Annas Kind. Sie ließ einen Moment lang den Kopf hängen, überwältigt von dieser plötzlichen Veränderung, die Camilla ihr aufzwang.

„Oder du kannst dir sechs Monate freinehmen, und danach gehört alles dir.“ Camilla deutete auf die Aussicht und das Büro und das ganze Königreich, das sie Anna zu Füßen legen wollte. Nach einem halben Jahr. „Ich spiele keine Spielchen.“

Camilla machte vorsichtig einen Schritt auf sie zu. Anna rührte sich nicht. „Ich versuche, dich zu retten, Anna. Wenn du so weitermachst, wirst du niemals mehr die Zeit haben, das Leben zu genießen. Du wirst dich ins Grab arbeiten und nichts anderes vorzuweisen haben als ein paar Werbekampagnen für Sport-BHs und Wodka.“ Camilla kam mutig noch einen Schritt näher, und Anna, die sich eingeengt fühlte, knurrte leise. „Sweethart, willst du denn keine Familie?“

Anna spürte einen Stich in der Brust, den sie zu ignorieren versuchte. Wie schon so oft, und inzwischen war sie meisterhaft in der Lage, so zu tun, als ob sie keine biologische Uhr hätte, die tickte. Sie hatte den Teil ihres Gehirns abgeschaltet, der begonnen hatte, die vorbeifliegenden Jahre zu zählen.

„Du musst mir vertrauen“, sagte Camilla. „Es ist nur zu deinem eigenen Besten.“

Anna drehte sich weg und blickte durch das Fenster auf den Hafen und die Berge dahinter. Die Vögel. Sie kannte jedes Detail auswendig. Aus diesem Fenster hatte sie über fünf Jahre lang vierzehn Stunden am Tag oder mehr geschaut.

Es hatte viele lange Jahre gedauert, um von der Rezeption hinter diesen Schreibtisch zu kommen.

Zehn Jahre habe ich dieser Frau und dieser Firma gedient, und das ist der Dank dafür. Anna schüttelte den Kopf.

Sie fühlte sich leer und verloren. Das hier war ihr Leben. Ihr ganzes Leben.

„Ich hasse dich“, stieß Anna hervor, wickelte eine weitere Praline aus und steckte sie in den Mund. „Wirklich, ich glaube, ich hasse dich.“

„Das habe ich erwartet.“ Camilla öffnete ihre Aktentasche und holte einige Papiere heraus.

„Wie kannst du mein ganzes Leben ruinieren und dabei so gut aussehen wie ein Modell für eine Make-up-Reklame? Das ist nicht richtig, Camilla. Um genau zu sein, es ist krank. Wie konnte es nur so weit kommen?“

„Ich bin dreißig Jahre älter als du, und eine Zeit lang habe ich genauso hart gearbeitet wie du jetzt. Aber ich hatte immer einen Mann an meiner Seite, der mich unterstützte.“ Sie bezog sich auf Michael, den Vater ihrer drei Kinder. „Das Wichtigste im Leben ist, dass dich jemand liebt und sich um dich kümmert.“

Anna biss in eine weitere Praline.

„Als du gekommen bist, musste ich nicht mehr so viel arbeiten, weil du die Arbeit für zwei erledigt hast.“

„Verdammt richtig“, sagte Anna mit vollem Mund.

„Und deswegen fühle ich mich auch dafür verantwortlich, wie dein Leben verlaufen ist.“

„Ich mag es, wie mein Leben verlaufen ist!“, rief Anna, und dass dabei Schokoladenstückchen aus ihrem Mund sprühten, interessierte sie nicht mal.

„Wir werden sehen.“ Camilla blickte auf ihre Uhr. „Es ist acht. Du solltest deine Sachen zusammenpacken.“

Anna seufzte laut. Sie stellte die Pralinenschachtel ab, ihr war bereits ein wenig schlecht, und zog ihre Aktenmappe hervor. Als sie beginnen wollte, Unterlagen einzupacken, hielt Camilla sie auf.

„Keine Arbeit“, verkündete sie.

„Und wer soll sich um Goddes kümmern?“

„Andrew.“

Anna sah rot. „Du willst Goddess ausgerechnet Andrew überlassen?“

„Ich werde ihm helfen.“

„Und was ist eigentlich mit Bluetech und Norway Vodka und Frederick’s?“

„Das bekommen Andrew und ich schon hin. Mach weiter.“

Anna starrte Camilla einen Moment lang zutiefst ungläubig an und begann dann leise murrend, ihren Organizer, das Handy und den Pager einzupacken.

„Das wirst du alles nicht brauchen“, meinte Camilla.

„Was darf ich mitnehmen?“ Anna hob verzweifelt die Arme.

„Wie wäre es eigentlich mit diesen Orangen und den Erdnussbutterpralinen? Du wirst zu Hause vermutlich sowieso nichts Essbares haben.“

„Weißt du, je länger ich darüber nachdenke, desto besser finde ich die Idee. Ein halbes Jahr lang nicht mehr von dir Befehle zu erhalten, wird herrlich sein.“ Anna lief zu dem kleinen Schrank und nahm ein paar schwarze, sehr teure Kostüme heraus.

„Davon bin ich überzeugt.“ Camilla lächelte noch immer. „Aber wir werden uns sehen.“

„Bestimmt nicht“, entgegnete Anna und nahm ihre Toiletteutensilien aus dem Schrank. „Vermutlich bin ich zu sehr damit beschäftigt, zu heiraten, Kinder zu bekommen und Stricken zu lernen.“ Sie zog ihre Sporttasche, einen Föhn, Kontaktlinsen, Gläser und einen Wecker heraus.

„Also, ehrlich gesagt …“ Camilla betrachtete die Unterlagen in ihrer Hand. „Da ich mir dachte, dass du nicht die geringste Idee hast, was du mit deiner freien Zeit anstellen sollst, habe ich dich bei einigen Kursen, die ich selbst besuche, angemeldet.“ Sie blätterte durch die Papiere. „Und ich habe eine Liste aufgestellt …“

„Eine Liste?“ Das war verrückt. Und da warf Camilla ihr vor, kein Privatleben zu haben.

„Eine kleine, versteht sich, nur ein paar Dinge, die du tun solltest …“

„Vielleicht brauchst du ja eine Auszeit“, meckerte Anna.

„Es geht am Montag mit einem Picknick anlässlich des Memorial Day und Megs Geburtstag los.“ Damit meinte Camilla ihre älteste Enkelin. Bisher hatte Anna vor lauter Arbeit diesen Geburtstag immer verpasst.

Dieses Jahr offenbar nicht.

„Du bist schlimmer als meine Mutter.“ Und das war eine ernste Beleidigung. Aber Camilla zuckte nicht einmal zusammen. „Die hat mich zumindest nie rausgeworfen.“

Anna packte Kissen und Decke in ihre Sporttasche und warf sie zusammen mit der anderen Tasche über die Schulter. Doch das Gewicht war zu viel, die Taschen rutschten über ihren Ellbogen und schnürten ihr die Blutzirkulation ab. Ihre Pantoffeln fielen heraus, sie bückte sich und nahm sie in die Hand. „Das beweist überhaupt nichts“, zischte sie, als sie Camilla lachen sah. Sie riss ihr die Listen aus der Hand und stopfte sie in die Pantoffeln.

„Wir sehen uns!“, rief Camilla ihr nach.

Anna antwortete nicht. Mit hoch erhobenem Kopf verließ sie den Ort, den sie in den letzten zehn Jahren als ihre Heimat betrachtet hatte.

2. KAPITEL

Anna tunkte ein Stück Brot in die Soße. Es war ihr egal, dass die scharfe rote Soße auf den Küchentresen und ihren teuren Hosenanzug von Donna Karan tropfte. Sie zuckte nur mit den Schultern und aß das Brot mit einem Bissen auf. Ein paar Stunden waren vergangen, aber so recht konnte sie noch immer nicht begreifen, was eigentlich geschehen war.

„Schwesterlein.“ Marie lehnte mit verschränkten Armen an der Ofentür. „Mach mal langsam. Du schmeckst diese Dips ja nicht einmal. Ich finde, du übertreibst.“

Autor

Molly Okeefe
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