Mein skandalöser Viscount

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Nie wieder soll ein Mann mir das Herz brechen! Das hat Lady Victoria sich geschworen, nachdem ihr geliebter Jonathan ohne ein Wort der Erklärung nach Venedig entschwand. Nun ist der attraktive Viscount zurück und hält um ihre Hand an. Empört weist Victoria ihn ab - obwohl seine Nähe ihre Haut sinnlich prickeln lässt … Jonathon Pierce Thatcher, Viscount Remington, hat den finanziellen Ruin seiner Familie abgewendet. Als vermögender Mann darf er endlich um die begehrenswerte Victoria werben! Aber wird sie ihm vergeben, wenn sie erfährt, auf welch skandalöse Weise er in der Lagunenstadt sein Geld verdient hat?


  • Erscheinungstag 20.09.2013
  • Bandnummer 0049
  • ISBN / Artikelnummer 9783954467594
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Ein wahrer Gentleman wird sich im Hinblick auf eine Eheschließung erklären, während ein Herzensbrecher nicht vor einem Skandal zurückschreckt. Eine Dame mag zwar der Meinung sein, zwischen einem Gentleman und einem Herzensbrecher unterscheiden zu können, doch das könnte sich als Trugschluss erweisen.

Wie vermeidet man einen Skandal, Autor unbekannt

Später Nachmittag

Bath, England, 21. August 1824

Landsitz der Linfords

Obgleich Jonathan Pierce Thatcher, Viscount Remington mit neunzehn Jahren in den Augen der Gesellschaft als erwachsener Mann galt, war er im Grunde seines Herzens ein verträumter Zwölfjähriger geblieben, der an ritterliche Liebe, Magie und die Macht des Schicksals glaubte. Er wusste zwar, dass Magie und Schicksalsmacht, wie sie in der realen Welt definiert wurden, im Denken eines Mannes nichts verloren hatten, doch für ihn bedeuteten Magie und Schicksal lediglich anderslautende Worte für Hoffnung und Zuversicht. Und niemand würde ihn je davon überzeugen, dass Hoffnungen sich nicht erfüllten.

Denn in diesem Augenblick, in der verblühenden Blütenpracht des weitläufigen Gartens im Schein der Nachmittagssonne, raunte die Hoffnung ihm inbrünstig zu, dass seine Zeit der Liebe endlich gekommen sei. Sie flüsterte ihm zu, die blondgelockte junge Dame im duftig weißen Kleid, die gelangweilt an der Seite ihrer Gouvernante einen gerüschten Sonnenschirm über ihr entzückendes Haupt hielt, werde sein Leben für immer verändern, wenn er sie nur davon überzeugen könnte.

Jonathan hütete sich, Lady Victorias Namen andächtig auszusprechen oder sie in der Menge der sich artig miteinander unterhaltenden Hausgäste unbotmäßig anzustarren. Aber er hätte Grayson am liebsten die Füße geküsst, der ihn zum Gartenfest der Linfords eingeladen hatte.

Da er in den kommenden zwei Wochen Victorias Nähe genießen durfte, spürte er mit untrüglicher Gewissheit, dass sie endlich die Seine werden würde, mit Herz und Namen. Es galt lediglich darauf zu achten, nicht das Missfallen des Gastgebers, ihres Herrn Vaters, zu erregen. Der stets finster dreinblickende Earl of Linford, ein reizbarer Mensch, ließ sich nämlich auch bei geringfügigen Anlässen zu brüllenden Tobsuchtsanfällen hinreißen. Zum Glück hatte der hitzköpfige Earl ein Faible für Jonathan und betonte immer wieder, er habe ihn wie einen Sohn ins Herz geschlossen.

Abgesehen von der Tatsache, dass Jonathan Victoria seit einigen Jahren kannte, fühlte er sich magisch von ihr angezogen. In ihren jadegrünen Augen wähnte er eine für eine Siebzehnjährige höchst erstaunliche, unergründliche Tiefe. Sie plauderte geistreich und schnippisch mit ihm, und ihr selbstbewusstes Auftreten gab ihm zu verstehen, dass sie vor niemandem Respekt hatte, schon gar nicht vor ihm, allerdings hatte sie ihn noch nie ernstlich brüskiert. Tief in seinem Innern spürte er, dass sie ebenso romantisch veranlagt war wie er, was sie freilich geleugnet hätte.

Jonathan bahnte sich seinen Weg durch die Menge der Gäste, die sich an den Silberplatten mit Früchten, Petit Fours und Kuchen auf weiß gedeckten Tafeln im Garten gütlich taten, und näherte sich seinem Freund Grayson.

„Wann soll ich mich ihr erklären?“, fragte er. „Vor meiner Abreise? Oder nach meinen Rückkehr aus Venedig?“

Grayson nahm das letzte Stück Banbury Cake vom Teller und schob es sich in den Mund. Während er es sich schmecken ließ, schüttelte er seinen dunkelblonden Kopf und hielt Ausschau nach Victoria. „Ich rate zwar vor einem überstürzten Schritt ab“, erklärte er kauend, „aber in deinem Fall würde ich nicht warten. Allein wegen der Mitgift meiner Cousine stehen die Freier aus halb Europa bereits Schlange vor der Tür meines Onkels.“

Jonathan nickte knapp, sein Magen krampfte sich bei dem Gedanken zusammen. „Ich hoffe nur, sie erwidert meine Gefühle.“

Grayson stellte seufzend den leeren Kuchenteller ab. „Was immer du tust, Remington, sei kein Schlappschwanz und sag ihr bloß nicht, dass du sie liebst.“

Jonathan straffte die Schultern und senkte die Stimme. „Und warum nicht? Genau diese Gefühle hege ich für sie.“

„Es geht nicht darum, was du für sie empfindest. Victoria ist eine Linford der schlimmsten Sorte. Sobald du das Wort Liebe in den Mund nimmst, wird sie dich der Heuchelei bezichtigen.“

„Heuchelei? Wenn ich ihr sage …“

„Ja. Wenn du es ihr sagst. Falls es dir entgangen sein sollte, sie ist ihrem Vater in vieler Hinsicht sehr ähnlich, bis auf den Griesgram und die Wutausbrüche. Aber kann man es ihr verdenken, nach allem, was sie durchmachen musste? Die Sterne strahlen nicht, wenn der Himmel bewölkt ist. Das hat nichts mit dir persönlich zu tun, es ist nur ihre Art. Deshalb rate ich dir, dich in den nächsten zwei Wochen diplomatisch zu verhalten. Überfordere sie nicht mit albernen Schwärmereien, sonst ergreift sie die Flucht, egal, was sie für dich fühlen mag.“

Jonathan atmete tief durch, wollte nur auf seine innere Stimme hören. Und diese Stimme sagte ihm, dass er seine Angebetete nicht mit Diplomatie gewinnen konnte. „Tu mir den Gefallen und lenke ihre Gouvernante ab. Ich muss mit ihr reden.“

„Jetzt?“, fragte Grayson mürrisch.

„Ja. Jetzt. Geh. Sei so gut.“

Grayson knurrte: „Ich habe dich nicht eingeladen, um mir anzusehen, wie du dir dein eigenes Grab schaufelst. Du musst gewitzt und achtsam sein. Dich ihr hier im Beisein meines Onkels und der Hälfte der vornehmen Gesellschaft zu erklären ist nicht empfehlenswert.“

Jonathan verdrehte die Augen. „Ich habe nicht vor, sie hier und jetzt um ihre Hand zu bitten. Ich will nur ein paar Minuten mit ihr allein sein, ohne ihren Zuchtmeister. Du weißt genau, was Mrs Lambert von mir hält. Die Hexe würde mich am liebsten zum Teufel jagen.“

„Weil du eine Gefahr für die Ware darstellst, von der sie sich erhofft, sie an einen Duke verschachern zu können. Und so sehr es mir missfällt, die traurige Tatsache zu erwähnen, Remington, du bist kein Duke. Auch kein Marquis oder Earl. Oder …“

„Es reicht.“ Jonathan sah ihn finster an. „Tust du mir den Gefallen oder nicht?“

„Vergiss es. Ich habe bereits mehr als genug für dich getan. Zum Dank sollte jedes deiner Kinder einmal meinen Namen tragen. Egal, ob Knabe oder Mädchen.“ Jonathan trat einen Schritt näher, um hervorzuheben, dass er einen ganzen Kopf größer und auch breitschultriger war als Grayson. „Wenn ich daran denke, wie oft ich dir mit meinen Fäusten aus der Bredouille geholfen habe, schuldest du mir diesen Gefallen und noch weit mehr.“

Grayson schnaubte verächtlich. „Was zum Henker erwartest du? Soll ich Mrs Lambert fesseln und knebeln und in eine Besenkammer sperren, während alle Welt zusieht, wie du den Romeo mimst?“

„Ja. Genau das erwarte ich von dir. Mir bleiben nur zwei Wochen, um eine Zusage von Victoria zu erhalten. Zwei lächerliche Wochen. Ich brauche jede Minute mit ihr, die ich kriegen kann.“

Grayson tippte mit einem Zeigefinger gegen die Krawatte seines Freundes. „Dein Leben liegt vor dir. Dein ganzes Leben. Wieso willst du die Dinge überstürzen? Hmm? Wie man hört, versetzen venezianische Frauen ihre Liebhaber derart in Verzückung, dass sie den ganzen folgenden Tag noch benommen sind. Genieße doch diese Freuden, ehe du dich endgültig bindest.“

Jonathan stöhnte enerviert. Es ging ihm nicht um ein Liebesabenteuer mit einer Frau. Ihm ging es darum, seine Angebetete zu erobern und ein ganzes Leben in Leidenschaft mit ihr zu verbringen. „Fünfzehn Minuten.“

Bedächtig wiegte Grayson den Kopf von einer Seite zur andern. „Warum musst du dir ständig nicht nur dein Leben, sondern auch das meine schwer machen? Wieso?“

„Ach ja? Du findest, ich mache dir das Leben schwer?“ Jonathan dämpfte die Stimme. „Mir käme es nicht in den Sinn, heimlich Geld zu entwenden, um es an Frauen zu vergeuden, bei denen man sich über kurz oder lang eine Krankheit holt.“

Grayson blies die Backen auf und stieß den Atem hörbar aus. „Ich brauche nicht noch einen Vater, der mir ständig Vorhaltungen macht.“

Jonathan hätte ihm am liebsten einen Nasenstüber verpasst. „Ein Vater reicht offenbar nicht aus, um dich zur Raison zu bringen. Gott weiß, sechs Väter würden das nicht schaffen. Du kritisierst meinen Lebenswandel und ich den deinen. Einigen wir uns darauf, dass wir uns nicht einig sind. Also, hilfst du mir jetzt oder nicht?“

Seufzend blickte Grayson zur Gartengesellschaft. „Ich gebe dir fünfzehn Minuten, wenn du mir versprichst, meinem Vater nichts von dem Geld zu sagen.“

Jonathan stieß ihm feixend in die Rippen. „Abgemacht.“

Grayson erwiderte den Rippenstoß. „Bleib hier. Ich schicke dir Victoria und lenke Mrs Lambert ab.“

„Du bist ein guter Freund.“

„Ein besserer, als du je verdient hast.“ Grayson zwinkerte ihm zu und entfernte sich.

Jonathan zog an den Manschetten seines Gehrocks und trat an die lange Tafel, die beladen war mit Silberplatten voller Backwerk und Früchten. Er beugte sich über eine leer gegessene Platte, um sein Aussehen im spiegelblank polierten Silber zu prüfen, strich sich eine schwarze Locke nach hinten, die ihm der Sommerwind in die Stirn geweht hatte, richtete sich wieder auf und blickte Grayson hinterher.

Lady Somerville schlenderte am Arm ihres ergrauten Gemahls zum plätschernden Springbrunnen. Im Vorübergehen maß sie Jonathan mit glutvollen Blicken ihrer dunklen Augen und schenkte ihm ein laszives Lächeln ihrer bemalten Lippen.

Jonathan überlief ein Frösteln bei ihrer schamlosen Koketterie. Wieso fanden ihn immer nur verheiratete Frauen attraktiv? Als stünde auf seiner Stirn geschrieben: Spiel mit mir, wenn du älter bist als dreißig. Er könnte ihr Sohn sein, verdammt noch mal!

Jonathan drehte sich weg und sah, dass eine anmutige Gestalt im bestickten Kleid aus weißem Musselin sich der anderen Seite des Buffets näherte. Sein Pulsschlag dröhnte ihm in den Ohren, während Victoria den Griff ihres Sonnenschirms aus Organza spielerisch über der Schulter drehte und die Köstlichkeiten auf den Silberplatten begutachtete.

Gott segne dich, Grayson, dachte Jonathan erleichtert, holte tief Luft, schnappte sich einen Kuchenteller vom Stapel und umrundete die Tafel, trat neben seine Angebetete und bot ihr den leeren Teller an. Es drängte ihn, ihr seine tiefsten Gefühle zu gestehen. Er brachte indes kein Wort über die Lippen, hielt ihr nur stumm den Teller hin und wartete darauf, dass sie ihn entgegennahm.

Sie wandte sich ihm zu, und ihre wehenden Röcke streiften seine Schenkel. Jonathans Herz machte einen Satz beim Anblick ihrer schönen grünen Augen, ihrer rosigen, halb geöffneten Lippen. Sie wich einen Schritt zurück, um sittsamen Abstand bestrebt, ohne den Blick von ihm zu lösen.

Einen endlos langen Moment schwiegen beide.

Noch immer hielt er ihr tölpelhaft den Teller entgegen, den sie geflissentlich übersah. Sie richtete kein Wort an ihn, blickte ihn nur aus heiter blitzenden Augen an, und ihm war klar, dass sie die einstudierte Rolle der sittsamen Dame spielte, die sich der neugierigen Augen und gespitzten Ohren der Gesellschaft bewusst war.

„Die Banbury Cakes verdienen höchstes Lob“, begann er im Plauderton und hob den Teller ein wenig höher. „Vielleicht probieren Sie ein Stück, ehe ich Ihnen zuvorkomme und alles aufesse.“

Wieder drehte sie den Sonnenschirm an ihrer Schulter und zog eine blonde Braue hoch. „Sind Sie tatsächlich so unersättlich, um alle vier Kuchen zu vertilgen?“

Jonathan lachte und sah erst jetzt, dass tatsächlich noch vier Banbury Cakes auf der Silberplatte lagen. Er räusperte sich und deutete auf den leeren Teller in seiner Hand. „Ich wollte lediglich Konversation machen.“

„Konversation über Kuchen? Aha.“ Sie warf ihm ein spöttisches Lächeln zu und schritt an der Tafel entlang. „Wie auch immer, Mylord, sprechen Sie bitte nicht über das Wetter. In der letzten Stunde wurde ich von sechs Herren darauf hingewiesen, dass kein Wölkchen den blauen Himmel trübt. Ich wünschte mir, ein Regenguss würde Anlass zu einer kultivierteren Konversation geben.“

Er lachte und sagte dann leise: „Von mir haben Sie keine seichte Konversation zu befürchten. Ehrlich gestanden, ist mir das Wetter gar nicht aufgefallen. Nicht bei Ihrem Anblick. Gestatten Sie mir die Bemerkung, wie atemberaubend schön Sie in diesem Kleid aussehen? Eine Engelsgestalt. Schade, dass kein Wölkchen den Himmel trübt, auf dem Sie thronen könnten.“

Sie schüttelte lachend den Kopf. „Wie kommt es, Mylord, dass Sie bei unserer letzten Begegnung weit intelligentere Dinge verlauten ließen?“

Bei unserer letzten Begegnung wusste ich nicht, dass ich England verlasse.

Er verdrängte diesen Gedanken und bemühte sich um eine feinsinnige Entgegnung. Feinsinnig, feinsinnig. „Wie lange dauert es noch, bis Sie in die Gesellschaft eingeführt werden?“, fragte er, obgleich er die Antwort längst kannte.

Victoria seufzte. „Sieben Monate. Mrs Lambert sorgt dafür, dass ich es nicht vergesse. Ebenso mein Vater.“

Sieben Monate. In all diesen sieben Monaten wäre er abwesend, vielleicht sogar acht oder zehn Monate, je nachdem, wie lange es dauerte, bis seine Stiefschwester sich in ihrem neuen Leben zurechtgefunden hatte. Und dann gab es auch noch seine Stiefmutter, von der er inständig hoffte, sie würde den Rest ihrer Tage in Venedig verbringen.

Jonathan begegnete Victorias Blick mit der bangen Gewissheit, dass er, wenn er mit seinem Geständnis wartete, es mit einer Schar Konkurrenten um ihre Gunst zu tun haben würde, die allesamt reicher und ranghöher waren als er. Ihm standen nur zweitausend Pfund im Jahr zur Verfügung, eine Summe, die ihm zwar ein sorgenfreies Leben garantierte, um das ihn viele beneideten. Aber mit dieser Summe konnte er sich lediglich den Unterhalt eines einzigen Landsitzes leisten. Ihr Vater hingegen besaß fünf Landgüter.

Victoria musterte ihn stumm, als erwartete sie, er würde irgendetwas Bestimmtes tun oder sagen, statt sie nur schweigend anzuschwärmen.

Jonathan wünschte sich sehnlichst, sie in die Arme zu schließen und zu küssen, und ihr auf diese Weise mitzuteilen, wie groß seine Gefühle für sie waren, ja, dass er sie liebte. „Ich reise nach Venedig“, platzte er heraus und betrachtete verlegen den leeren Teller in den Händen.

Sie nickte knapp, und die blonden Löckchen ihrer Hochfrisur wippten an ihren Wangen. „Ich weiß, Grayson sagte es mir.“ Ein Seufzer entfloh ihren Lippen. „Ich würde auch wahnsinnig gerne reisen. Leider ist Papa strikt dagegen.“

Galt ihr sehnsüchtiger Ton ihm? Oder den Reisen? „Darf ich Ihnen schreiben und über meine Reiseerlebnisse berichten?“

Ihre grünen Augen leuchteten. „Aber natürlich. Wer könnte mir die Langeweile vertreiben, wenn nicht Sie?“

Dieses Gespräch führte zu nichts. Es war die gleiche alte Geschichte. Man redete und redete und sagte nichts. Mit klugen Worten und Diplomatie konnte er ihre Gunst nicht gewinnen, was immer Grayson auch denken mochte. In Wahrheit bestand Graysons Vorstellung davon, wie man eine Frau umwarb, ja auch darin, ihr unter die Röcke zu schauen und anerkennend zu pfeifen.

Jonathan trat einen Schritt näher in der Befürchtung, von den fünfzehn Minuten mit ihr sei ihm nur noch eine einzige Minute gegönnt. Er hob ihr wieder den leeren Teller entgegen und hatte Mühe, von dem betörenden Lavendelduft, der sie umwehte, nicht aus der Fassung gebracht zu werden.

„Victoria“, flüsterte er, fasziniert vom Schwung ihrer blonden Brauen, ihrem magnolienweißen Antlitz im schwindenden Licht der sinkenden Sonne. „Nehmen Sie den Teller, wenn Sie mich lieben.“

Ihre Augen weiteten sich. Sie wich einen Schritt zurück und ließ den Blick unstet in die Ferne schweifen. Mit einer Drehung des Handgelenks brachte sie den Sonnenschirm so in Position, dass er sie vor den Blicken der übrigen Gäste schützte, und schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Verliebter denn je, wie ich sehe.“

„Verzeihen Sie, aber es gibt Zeiten, in denen ein Mann nicht anders kann.“

„Oh? Und was sind das für Zeiten? Das Ende aller Tage?“

„Ich brauche die Zusicherung Ihrer Zuneigung.“

Sie kicherte. „Indem Sie mir einen leeren Teller anbieten?“

Ich biete dir mein ganzes Leben. „Dieser Teller ist lediglich eine Metapher dessen, was ich bin. Unschuldig. Sauber. Feinsinnig. Fähig, alles zu präsentieren, zu halten und zu ertragen, was Sie darauf legen, um Ihnen Freude zu bereiten, Sie zu ergötzen und auf Händen zu tragen. Aber dieses unschuldige Porzellan ist sehr spröde, wenn es zu Boden fällt, zerbricht es in tausend Scherben und ist wertlos. Ich würde gern noch viel mehr sagen, aber wir haben Publikum, und ich darf nicht deutlicher werden, darf Sie nicht in meine Arme schließen.“

Verdutzt blickte sie ihn an, bevor sie wispernd entgegnete: „Wenn ich also diesen Teller nehme, nehme ich damit auch Ihr Herz? Ist es das, was Sie mir sagen wollen, Mylord?“

Jonathan holte stockend Atem. „Ja. Genau das ist es.“

„Verblüffend.“ Lächelnd strich sie mit einem weiß behandschuhten Finger über den goldenen Tellerrand. „Bewahren Sie das gute Stück sorgfältig auf für mein Debüt. Es wird sich gewiss ein Platz an meiner Tafel dafür finden. In der Zwischenzeit essen Sie davon so viele Banbury Cakes, wie Sie vertragen. Nun muss ich gehen, bevor Mrs Lambert begreift, dass Grayson nur als Ablenkungsmanöver dient.“ Sie warf ihm einen koketten Blick zu, schwang ihren Sonnenschirm in einem kecken Wirbel und entschwand.

Zur Hölle! Das war weder ein Ja noch ein Nein gewesen.

Jonathan stieß den Atem aus und stellte den Teller ab. Dann wandte er sich um und blickte ihrer anmutigen Gestalt nach, dem entzückenden Schwung ihrer Hüften unter den weißen Wolken ihrer Röcke. Sie schien über dem Rasen zu schweben, vorbei an den Gästen, die parlierend dem Springbrunnen zustrebten.

Ihm blieben zwei Wochen, um sie davon zu überzeugen, dass sein Herz nur für sie schlug. Zwei kurze Wochen. Wenn er England verließ, ohne ihr Eheversprechen von ihren Lippen gehört zu haben, würde sie bei seiner Rückkehr mit einem anderen Glückspilz verheiratet sein, und sein Herz würde nicht aufhören zu bluten vor Kummer und Schmerz.

SKANDAL 1

Eine Dame gibt einem Gentleman keinerlei Zusagen ohne die Zustimmung ihres Vormunds. Ein solcher Schritt würde eine höchst kompromittierende Situation heraufbeschwören.

Wie vermeidet man einen Skandal, Autor unbekannt

Zwei Wochen später, nach Mitternacht

Landsitz der Linfords

Ein gewaltiger Donnerschlag riss Lady Victoria Jane Emerson jäh aus dem Schlaf. Ihre Lider flatterten auf. Regen prasselte gegen die hohen Fenster des dunklen Zimmers, das ihr fremd erschien.

Dann stöhnte sie auf. Sie befand sich im Landhaus ihrer Familie.

Wie sehr wünschte sie sich, ihr Vater hätte ihr gestattet, in London zu bleiben. Sie liebte zwar den Kurort Bath mit seinen eleganten Villen und breiten Promenaden, wo die vornehme Gesellschaft die heißen Sommermonate verbrachte. Aber sie verabscheute den Familiensitz, dieses riesige uralte Herrenhaus am Rande der Stadt, das ihr vorkam wie ein Mausoleum, in dem Generationen von Linfords gelebt haben und gestorben waren. Auf dem nahe gelegenen Friedhof, der sich die sanfte Anhöhe auf der anderen Seite der Hauptstraße hinaufzog, befanden sich die Grabstätten sowohl der angesehenen Angehörigen als auch der schwarzen Schafe des Geschlechts der Linfords. Dort ruhte auch ihre vor vier Jahren verstorbene Mutter neben ihrem Zwillingsbruder, den sie vor nahezu zwei Jahren verloren hatte.

Ein Blitz durchzuckte den nächtlichen Himmel und tauchte den mannshohen Marmorkamin einen kurzen Moment in gleißende Helligkeit. Victoria kroch tiefer unter die Bettdecke und suchte die Wärme des kleinen Hundes, der ihrem Bruder gehört hatte. Doch statt das tröstliche weiche Hundefell zu streicheln, ertastete sie nur kühles Leinen.

Sie tätschelte den leeren Platz neben sich.

„Flint?“ Mit einem Ruck richtete sie sich auf und schob die Bettdecke beiseite. Unheimliches Donnergrollen verstärkte ihre Angst über das Verschwinden des Hundes.

„Flint?“ Sie kletterte aus dem Bett und bemerkte, dass die Tür einen Spalt offen stand, durch den schwacher Lichtschein aus dem Korridor fiel.

Nicht schon wieder. Der kleine Terrier war offenbar wieder ausgebüxt und auf Wanderschaft gegangen. Sie eilte mit wehendem Nachthemd durchs Zimmer, öffnete die Tür weiter und spähte in den Flur. Die flackernden Kerzen im Kandelaber auf einem nahe stehenden Tisch warfen gespenstische Schatten über die Porträts längst verblichener Vorfahren an den Wänden.

Nacktes Grauen kroch ihr mit kalten Spinnenfingern über den Rücken. Keiner der Dienstboten war noch wach, um ihr bei der Suche zu helfen. Wenn Flint allerdings zu bellen anfing, würde er das ganze Haus aufwecken, einschließlich der zwanzig Gäste, die aufgescheucht aus ihren Zimmern gelaufen kämen. Und ihr Vater würde wieder einmal eine seiner Strafpredigten vom Stapel lassen über die Sinnlosigkeit, einen nutzlosen Köter zu halten, der nicht einmal für die Fuchsjagd taugte.

„Flint!“, zischte sie in das Halbdunkel. „Flint!“

Nichts, keine Antwort. Was bedeutete, dass der Hund sich nicht in Hörweite befand.

Verflixt! Sie scheute sich, ihr Zimmer zu verlassen. Aber sie hatte ihrem Bruder ein Versprechen gegeben. Auf seinem Sterbebett hatte Victor ihr ans Herz gelegt, auf Flint aufzupassen, sich seiner anzunehmen und ihn zu beschützen. Vorwiegend deshalb, weil Flint ein ausgesprochen dummer Hund war, der wahllos alles fraß und sich irgendwann vergiften und sterben könnte, wenn man ihn nicht beaufsichtigte. Vermutlich war der dämliche Hund gerade damit beschäftigt, irgendetwas Verbotenes in Fetzen zu reißen, vielleicht sogar die Spitzendecke ihrer Urgroßmutter im blauen Salon, an der er sich schon einmal vergriffen hatte.

Gütiger Himmel, nein. Ihr Vater würde den Unglücksraben augenblicklich erschießen lassen.

Victoria stürmte den Korridor entlang, rutschte in ihren Wollstrümpfen auf dem polierten Parkett aus, kam schlitternd zum Stehen, suchte an der Wand Halt, bog in einen Seitenflur und prallte gegen einen breiten Körper.

Sie schrie spitz auf, als kräftige Hände sie an den Schultern packten. Ein würziger Duft nach Nelkenpfeffer wehte sie an. Im Halbdunkel starrte sie beklommen auf ein offenes Leinenhemd, das den Blick auf eine muskulöse, mit flaumigem Haar bedeckte Männerbrust freigab. Hastig entwand sie sich dem Griff und wusste, wen sie vor sich hatte: Viscount Remington.

„Entweder bin ich zu groß für Sie, liebste Victoria, oder Sie sind zu zierlich für mich. Wie man’s nimmt.“ Er stützte einen Arm an der Wand ab, versperrte ihr dadurch den Weg und neigte sich ihr zu, wobei ihm eine Locke seines etwas zu langen Haares über die Augen fiel.

Durch seine Haltung klaffte das Hemd noch weiter auf, entblößte nicht nur seinen Brustkorb, sondern auch einen Teil seines flachen Bauchs.

Victoria presste die Lippen aufeinander. Sie durfte sich nicht an seiner Erscheinung stören, war sie doch selbst nicht sittsam gekleidet im zerknitterten Nachthemd ohne Schlafrock, mit zur Nacht geflochtenem Zopf. Es war höchst unschicklich, sich mit ihm auf ein Gespräch einzulassen, doch sein jungenhaftes Lächeln im schwachen Kerzenschein flößte ihr Vertrauen ein.

Sie hatte Remington schon immer gern gehabt. Mehr als das, wenn sie ehrlich war. In seiner Gegenwart fühlte sie sich … glücklich. Selbst wenn sie nicht glücklich war.

Sein Lächeln vertiefte die Grübchen in seinen glatt rasierten Wangen. „Ich glaube zu träumen. Eben dachte ich an Sie, und nun stehen Sie leibhaftig vor mir.“

Ein spöttisches „Pah!“ entfuhr ihr. „Wenn ich an all die Damen denke, die Ihnen schmachtende Blicke zuwerfen, seit Sie dieses Haus betreten haben, kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie Zeit hatten, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen.“

„Eifersüchtig, wie ich sehe.“ Er lachte leise.

„Eifersüchtig? Keineswegs. Ich bin höchstens neidisch auf die Pariser Modellkleider der Damen.“

Er verzog das Gesicht. „Völlig grundlos. Ihre Schönheit übertrifft selbst die der Marmorgöttinnen im Garten Ihres Vaters.“

Victoria konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. „Mag sein. Haben Sie Ihren Aufenthalt mit Papa und mir genossen?“

Er seufzte. „Nein. Nicht wirklich. Ich hatte mir mehr Zeit mit Ihnen erhofft, aber Ihre lästige Gouvernante ließ Sie ja keine Sekunde aus den Augen. Heute Morgen übergab ich ihr eine höfliche Nachricht mit der Bitte, sie Ihnen auszuhändigen. Aber dieser Zerberus zerriss das Billet vor meinen Augen und behauptete, Sie seien bereits einem gewissen Lord Moreland versprochen. Grayson dementierte, aber ich finde keinen Frieden, ehe ich das aus Ihrem Mund gehört habe. Wer ist dieser Moreland, und wie lange kennen Sie ihn schon?“

Kopfschüttelnd winkte sie ab. „Lord Moreland ist ein Freund der Familie. Mehr nicht. Mrs Lambert ist lediglich fürsorglich wie immer. Sie hat hochfliegende Pläne für mich. So hochfliegend, dass sie sich zu der Überzeugung versteigt, ich habe mich mit keinem Geringeren als einem Duke zu begnügen. Da jeder Duke, den ich kenne, das fünfzigste Lebensjahr bereits überschritten hat, steht zu befürchten, dass ich nie heiraten werde.“

Remington musterte sie belustigt. „Das können wir keineswegs zulassen. Würden Sie sich denn mit einem einfachen Viscount begnügen? Ich verfüge über zweitausend Pfund im Jahr, besitze ein Landgut in West Sussex und bin zur Vermählung bereit, wann immer Sie es sind.“

Nie zuvor hatte ihr ein Herr ein freimütigeres Angebot gemacht. Sie fand zwar Gefallen an den scherzhaften Wortgefechten mit Remington, denn er war charmant und gut aussehend, aber sie kannte auch die Spiele der Männer. Er wäre nicht der Erste, der ihr schmeichelte, um seine Interessen zu verfolgen. Auch nicht der Letzte.

Sie wies mit einem Zeigefinger auf seine nackte Brust. „Ich muss Sie enttäuschen, ich heirate keinen Mann, der nachts mit offenem Hemd wie ein Pirat durch mein Haus wandert. Captain Blauauge, wir befinden uns nicht auf hoher See, und ich bin keine Meerjungfrau.“

Er stieß sich von der Wand ab, richtete sich zu seiner vollen Größe auf, mit der er ihre zierliche Gestalt um wenigstens zwei Köpfe überragte, und steckte sich das Hemd in den Hosenbund. „Ich bin“, erklärte er gekränkt, „der vollkommenste Gentleman, dem Sie je begegnet sind.“

Wieso hielten alle Männer Frauen für einfältige Geschöpfe? Sie verdrehte die Augen. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen, ich muss mich um wichtigere Dinge kümmern.“

„Ach, ist das so?“ Er trat so dicht zu ihr, dass sie seine Körperwärme in beängstigender Weise spürte. „Hoffentlich sind Sie nicht unterwegs in die Küche, um von Mrs Davidsons Banbury Cakes zu naschen, denn von dort komme ich gerade und habe sie bis auf den letzten Krümel aufgegessen.“

Victoria kicherte. „Was finden Sie nur so köstlich an Banbury Cakes?“

Er zuckte die Achseln. „Wie Sie wissen, reise ich morgen ab. Und was man so hört, isst man in Venedig nur Zitrusfrüchte, Gemüsesuppen und Teigwaren. Also habe ich die letzte Chance genutzt und mir die Banbury Cakes einverleibt.“ Er zog eine dunkle Braue hoch. „Und was treibt Sie mitten in der Nacht um? Sollte ich mir Sorgen machen?“

Victoria machte einen Schritt zurück und hob das Kinn, um ihn darauf hinzuweisen, er habe sich ihr gegenüber angemessen zu verhalten, auch wenn sie nur ein Nachthemd trug. „Ich suche lediglich meinen Hund Flint.“

„Aha. Ihren Hund.“ Mit eleganten Bewegungen begann er, die Perlmuttknöpfe an seinem Hemd zu schließen. „Nun, Captain Blauauge ist gerne bereit, Ihnen bei der Suche zu helfen.“

„Das ist nicht nötig. Ich …“ Der nächste Donnerschlag ließ sie erschrocken zusammenfahren. Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen und spähte angestrengt in die Finsternis. „Es ist schrecklich dunkel, Mylord. Und da Sie ein Graubart sind, ersuche ich Sie höflich, vorauszugehen.“

„Graubart?“ Er lachte. „Seit wann? Und hören Sie bitte mit diesem Mylord – Unsinn auf und nennen mich Remington. Wir kennen uns doch lange genug.“

Davor hatte Mrs Lambert sie gewarnt. Männer überschritten die Grenzen höflicher Umgangsformen, ehe sie zudringlich wurden. Victoria warf ihren blonden Zopf über die Schulter und wünschte, sie hätte ihre Nachthaube nicht im Schlafzimmer gelassen. „Ich ziehe höfliche Etikette vor und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das respektieren.“

„Höfliche Etikette?“ Ungläubig sah er sie an. „Wollen Sie mir damit etwa sagen, Victoria, dass zwischen uns absolut nichts ist als oberflächliche Höflichkeit?“

Sie wollte sich nicht auf dieses Spiel auf Kosten ihres guten Rufes einlassen. Obwohl sie mehr Sympathien für ihn empfand als für jeden anderen Mann, musste er sich wie alle Bewerber in die Warteschlange einreihen. „Zwischen uns kann nichts sein, Mylord, bis zu meinem Gesellschaftsdebüt. Das werden Sie ‚als der vollkommenste Gentleman, der mir je begegnet ist‘, gewiss verstehen.“

Er beobachtete sie scharf mit zusammengepressten Lippen, seufzte leise und strich prüfend über das zugeknöpfte Hemd. „Ich sollte mich besser auf die Suche nach Ihrem Hund machen“, murmelte er. „Heute Nacht finde ich ohnehin keinen Schlaf mehr.“ Mit einem knappen Nicken machte er kehrt und entfernte sich den langen Korridor zur breiten Treppe, die ins Erdgeschoss führte.

Victoria schaute ihm besorgt nach. Hinter dem trüben Schein der flackernden Kerzen lauerten schwarze Schatten.

Sie schluckte gegen ihre Angst an und machte sich ebenfalls auf den Weg. Auf der Treppe suchte sie Halt an der Mahagonibrüstung und verharrte atemlos an der letzten Stufe. Als sie Remingtons verklingende Schritte hörte, hastete sie weiter, bog in den dunklen Korridor ein, hinter ihm her.

Als sie seiner hohen Gestalt ansichtig wurde, verlangsamte sie ihre Schritte und folgte ihm durch die Bibliothek in den Kuppelsaal, durch den blauen Salon und den Tapisseriesalon. Während Remington und sie die Räume durchstreiften, riefen sie abwechselnd Flints Namen, pfiffen und klatschten in die Hände. Nichts. Flint gab keinen Laut von sich, und das bedeutete, dass er nicht im Haus war. So dumm der Hund auch sein mochte, er kam stets freudig angeschwänzelt, wenn man ihn rief.

Vermutlich hatte ein Dienstbote ihn ins Freie gelassen und vergessen, ihn wieder ins Haus zu holen. Bei diesem Unwetter konnte ihm weiß Gott was zugestoßen sein, vielleicht war er ertrunken oder von einem hungrigen Fuchs aufgefressen worden. Victorias Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Sie hatte jämmerlich versagt, war nicht einmal fähig, auf den Hund ihres geliebten Bruders aufzupassen.

Blind vor Sorge rannte sie an Remington vorbei, stieß in der Dunkelheit gegen Möbelstücke, eilte in die nördliche Eingangshalle, entriegelte die hohen Portaltüren, riss sie auf und stürzte in die Nacht hinaus, vorbei an den Gaslaternen, die den von wildem Wein überwucherten Vorbau erhellten.

Der Kies der Auffahrt stach ihr wie Nadelspitzen in die bestrumpften Fußsohlen. Der Sturm schlug ihr kalte Regenschauer ins Gesicht. Blinzelnd spähte sie in die Nacht, bevor sie auf das Rasenrondell lief. Der Regen durchnässte im Nu ihr dünnes Nachthemd und lief ihr in Strömen über das Gesicht.

„Flint!“, rief sie verzweifelt in das Brausen von Wind und Regen. „Flint! Wo …“

Gellend schrie sie auf, als sie bis zu den Knöcheln in eine eiskalte Pfütze trat und im Schlamm stecken blieb. Schlimmer konnte es kaum noch kommen.

„Victoria!“ Die dröhnende Männerstimme hinter ihr ließ sie zusammenzucken. „Was zum Teufel fällt Ihnen ein?“

Sie wirbelte zu Remington herum, der im Schein der Lampen in der Auffahrt stand. Das nasse Haar hing ihm in die Stirn, das vom strömenden Regen durchsichtige Hemd klebte an seiner breiten Brust und seinen muskulösen Armen.

Auch ihr Nachthemd, unter dem sie nur ein dünnes Unterhemd trug, klebte wie eine zweite Haut an ihr. Obgleich sie weniger pralle Brüste vorzuweisen hatte als die meisten ihrer Altersgenossinnen, trieb es ihr die Schamröte ins Gesicht.

Hastig verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Sie sollten ins Haus gehen. Sie werden nass.“

„Wir beide werden nass.“ Er zeigte zu den offenen Eichentüren unter dem Portikus. „Kommen Sie. Die Töle hat sich vermutlich irgendwo im Haus verkrochen.“

Sie wischte sich den ununterbrochen niederprasselnden Regen aus den Augen. „Nein. Flint versteckt sich nicht und kommt immer, wenn ich ihn rufe. Er muss irgendwo hier draußen sein.“

Remington näherte sich ihr. „In dem Regen und Sturmgeheul hört er unser Rufen nicht. Beruhigen Sie sich und kommen ins Haus. Ich hatte gehofft, wir könnten miteinander reden.“

War er noch ganz bei Trost? Reden? Mitten in der Nacht?

Victoria wandte sich ab, wölbte die Hände vor den Mund und schrie aus Leibeskräften gegen den Sturm an. „Flint! Wo bist du?“

„Wir werden beide bis auf die Haut nass.“

„Hören Sie endlich auf damit! Das weiß ich selbst“, entgegnete sie aufbrausend, holte tief Luft und schrie erneut aus Leibeskräften: „Flint!“ Wie zum Hohn ergoss sich der sintflutartige Regen noch stärker über sie, der Sturm wehte noch eisiger.

„Victoria, ich flehe Sie an. Das ist doch absurd. Flint ist ein Hund, sein Fell schützt ihn vor Regen und Sturm. Sie hingegen …“

„Flint! Fliiiint!“ Ihre Stimme überschlug sich vor Verzweiflung. Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Wo konnte er nur sein? Wieso reagierte er nicht? Flint entfernte sich nie weit vom Haus. Niemals.

Sie drehte sich in alle Richtungen, überlegte fieberhaft, wo sie ihn suchen könnte. Aber dieses Unwetter machte es ihr unmöglich, auch nur zwei Schritte weit zu sehen.

„Victoria.“ Remington griff nach ihrem Arm. „Ich verspreche, Ihnen morgen früh bei der Suche zu helfen. Aber kommen Sie jetzt bitte ins Haus.“

Sie entriss ihm ihren Arm und stapfte los, auf das Weideland zu. Ihre Strümpfe waren bis zu den Knöcheln heruntergerutscht, hatten sich mit Lehm vollgesaugt und machten ihr das Gehen schwer. „Nein. Ich kann ihn nicht die ganze Nacht hier draußen lassen. Das wäre unverzeihlich! Flint ist ein verhätscheltes Schoßhündchen und kommt allein nicht zurecht.“

„Ähnlich wie sein Frauchen.“ Remington beeilte sich, ihr zu folgen. „Ich bitte um Verzeihung, aber mir bleibt keine andere Wahl.“ Große warme Hände umfingen ihre Mitte, hoben sie hoch, zogen ihre Füße aus dem Schlamm, in dem ihre Strümpfe verschwanden.

Victoria stieß einen wütenden Schrei aus, als er sie mit einem Schwung bäuchlings über seine breite Schulter legte wie einen Sack Gerste. Ihre nackten schmutzigen Füße baumelten vor ihm, ihre Arme und ihr langer Zopf hingen ihm über den Rücken. Er hielt sie mit eisernem Griff um die Hüften fest, während er sie mit langen Schritten zum Portikus trug.

„Was erlauben Sie sich?“, empörte sie sich, strampelte mit den Beinen und schlug mit den Fäusten gegen seine festen Gesäßbacken, ehe sie erschrocken innehielt. Sie durfte ihn nicht berühren, am allerwenigsten an diesem Körperteil. Dennoch versuchte sie weiterhin, sich zappelnd zu befreien. „Meine Strümpfe! Ich … das ist ungebührlich! Ich bin nur im Nachthemd!“

„Das ist mir nicht entgangen“, entgegnete er und steuerte ungerührt auf das Haus zu.

Victoria gab ihren Kampf auf und sann auf Rache.

In der Eingangshalle stellte Remington sie ab, der glatte Marmor fühlte sich kalt unter ihren bloßen Füßen an.

Er schlug das schwere Eichenportal zu, schob den Eisenriegel vor und lehnte sich keuchend mit dem Rücken dagegen. Wasser tropfte aus seinen Haaren, lief ihm über Gesicht und Kleidung und bildete Pfützen auf dem Boden. „Ist Ihnen eigentlich klar, dass Ihr Vater und Ihr Cousin mich zur Rechenschaft ziehen würden, wenn Ihnen bei diesem Unwetter da draußen etwas zugestoßen wäre?“

„Ich denke nicht daran, Flint in diesem Sturm im Stich zu lassen.“ Sie versuchte, ihn wegzudrücken, um an die Türen zu gelangen … vergeblich.

Wütend stemmte sie sich gegen seinen kräftigen Körper.

„Ich weiche nicht“, knurrte er.

„Gehen Sie zur Seite.“

„Nein.“

„Gehen Sie zur Seite.“

„Nein. Ich lasse Sie nicht wieder in diesen Sturm hinaus.“

Sie stemmte sich wieder mit aller Kraft gegen ihn, um an den Türknauf zu gelangen, aber sie rutschte auf dem glatten Stein aus. In blinder Wut schlug sie wieder mit den Fäusten auf ihn ein.

Remington wusste sich nicht anders zu helfen: Grob packte er sie an den Armen, riss sie herum und presste ihren Rücken an seine Brust, damit sie nicht länger auf ihn einschlagen konnte, schlang seine Arme um sie und hielt sie gefangen. Victoria erkannte zu ihrem maßlosen Ärger, dass sie ihm hilflos ausgeliefert war.

Remington hielt sie unerbittlich fest. „Hören Sie auf, sich wie ein ungezogenes Kind aufzuführen“, forderte er, und sein warmer Atem streifte ihre kalte Wange. „Flint passiert nichts. Aber Sie holen sich den Tod, wenn Sie sich noch einmal in dieses Unwetter hinauswagen.“

Victoria zitterte in seinen Armen, die Kälte kroch ihr bis in die Knochen. „Er ist alles, was mir von Victor geblieben ist. Und wenn mich das zu einem Kind macht, ist mir das auch egal. Nun lassen Sie mich los. Lassen Sie mich endlich los!“

Remington löste seine Umklammerung, legte ihr nur die Hände an die Schultern, drehte sie zu sich um und zog sie sanft näher. Die heruntergebrannten Kerzen in den Wandhaltern erhellten schwach sein regennasses Gesicht. Er streichelte ihre Schultern. „Verzeihen Sie. Grayson hat mir oft gesagt, wie nah Sie und Ihr Bruder einander standen.“

Victoria wandte das Gesicht ab, weigerte sich, eine sinnlose Gefühlsaufwallung zuzulassen. Nichts würde ändern können, dass ihr Zwillingsbruder nicht mehr lebte, von Pocken dahingerafft. Eine tödliche Seuche, mit der er sich bei einer Magd angesteckt hatte. Wie oft hatte sie sich gewünscht, es hätte sie getroffen und nicht ihn.

Sanft verstärkte Remington den Druck seiner Finger an ihren Schultern, um sie wissen zu lassen, dass sie nicht allein war. Aber sie wollte und brauchte sein Mitleid nicht, stieß seine Arme heftig von sich und strich sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht.

„Victoria.“

Unwirsch nickte sie. „Ja?“

„Ich … reise morgen nach Venedig.“

Sie seufzte, und es gelang ihr nicht, die Wehmut zu verbergen, die sie bei seinen Worten überkam. „Ja, ich weiß.“

„Unter Umständen ist es mir nicht möglich, bis zu Ihrem Debüt wieder in England zu sein. Deshalb hegte ich die Hoffnung, Sie könnten …“ Er zögerte.

Beunruhigt sah sie ihn an. „Worauf hofften Sie?“

Er zuckte die Achseln und lächelte vorsichtig. „Ich … wollte Ihnen etwas geben, mehr nicht. Etwas, das …“

„Sie werden ja wohl nicht die Absicht haben, mir einen Kuss zu geben, Remington. Weil ich das nicht gestatten werde.“

Er räusperte sich kopfschüttelnd und straffte die Schultern. „Nein. Ich … ehrlich gestanden, wollte ich Ihnen etwas geben, das Ihnen hilft, Flint wiederzufinden.“

Sie seufzte. „Eine Hundepfeife wäre sinnlos. Dieser Hund hasst Pfeifen.“

„Es ist keine Hundepfeife.“ Er schob eine Hand in die Tasche seiner durchnässten Hose, zog sie wieder heraus und hielt einen zierlichen Goldring mit einem Rubin zwischen zwei Fingern hoch. Sein nasses Haar glänzte schwarz wie die Nacht. „Hier. Nehmen Sie ihn.“

Männer erwiesen sich gelegentlich als Einfaltspinsel. „Ich fürchte, Sie beleidigen meine Intelligenz, Mylord. Wie sollte ein Ring mir meinen Hund zurückbringen?“

Remington lachte trocken, umfasste ihre kalte nasse Hand, drehte sie nach außen, legte den Ring in ihre Handfläche und schloss ihre Finger darum. Von seinen Hemdsärmeln lief Regenwasser in Rinnsalen auf ihre Haut und ließ sie noch mehr frösteln.

„Meine Mutter“, erklärte er mit gedämpfter Stimme, „gab ihn mir kurz vor ihrem Tod vor acht Jahren. Soviel ich weiß, hat ihr eine Zigeunerin diesen Ring geschenkt, der eine große Zauberkraft besitzt. Glauben Sie daran, und Ihre Wünsche werden in Erfüllung gehen.“

Victoria öffnete die Hand und blickte fassungslos auf den schmalen Goldreif. Dann sah sie Remington erneut an. „Sie scherzen.“

„Ich scherze nicht.“

„Sie sind ein erwachsener Mann. Sie glauben doch nicht wirklich an Zauberei, oder?“

„Auch als Erwachsener sollte man sich die Hoffnung bewahren, nur dann kann Magie sich entfalten.“ Er tätschelte ihre Hand, ohne den Blick von Victoria zu lösen. „Stecken Sie den Ring an, flüstern Sie dem Rubin Ihren innigsten Wunsch zu, und er wird in Erfüllung gehen. Das verspreche ich Ihnen.“

Verächtlich lachte sie auf. „Sie wollen mir wohl einen Bären aufbinden. Zauberringe gibt es nur im Märchen.“

Er beugte sich vor und streichelte behutsam ihre Wange. „Woher wollen Sie das wissen?“, raunte er und starrte wie gebannt auf ihren Mund. „Haben Sie schon einmal Ihre geheimsten Wünsche einem Ring zugeflüstert?“

„Nein, aber ich …“ Seine Nähe machte sie beklommen.

Abrupt wich sie zurück, glitt mit bloßen Füßen auf dem nassen Marmor aus. Wenn ihr Vater sie in dieser ungebührlich intimen Situation ertappen würde, wäre die Hölle los.

Im Halbdunkel ergriff sie die Flucht und lief zur geschwungenen Freitreppe. Ihre Hand, mit der sie den Ring umklammerte, zitterte, allerdings nicht vor Kälte.

„Victoria. Bitte. Gehen Sie nicht. Noch nicht. Vielleicht sehe ich Sie erst in zehn Monaten wieder.“ In seiner Stimme schwang ein zärtlich flehender Ton, der sie vor Sehnsucht schmelzen ließ. Eine Sehnsucht, die sie für keinen anderen Mann je verspürt hatte. Und auch nicht verspüren wollte. Nicht nach den schmerzlichen Verlusten, die sie erlitten hatte.

Sie blieb zwar stehen, aber ihr Stolz verbot ihr, sich umzudrehen und sich ihm in die Arme zu werfen wie ein verlassenes Kind.

Er räusperte sich. „Es ist nicht meine Art, Frauen zu verführen, falls Sie das befürchten. Fragen Sie Grayson. Mein Vater war ein vollendeter Gentleman bis zu seinem letzten Atemzug, und seit seinem Tod ehre ich sein Andenken. So sehr, dass ich mir nicht einmal erlaubt habe, eine Frau zu küssen.“

Sie fuhr herum und begegnete seinem Blick. „Sie haben noch nie eine Frau geküsst? In Ihrem Alter?“

„Sagen Sie bitte nicht, Sie haben schon einen Mann geküsst, sonst jage ich mir eine Kugel durch den Kopf.“

Sie unterdrückte ein Lachen, da sie spürte, wie ernst es ihm war, und schüttelte den Kopf. Ihr nasser Zopf klebte an ihrer Schulter. „Natürlich habe ich noch keinen Mann geküsst.“

„Gottlob. Denn ich teile nicht mit anderen.“

Sie schloss ihre Finger fest um den Ring, bis der Stein in ihre Handfläche drückte. „Ich würde mir keine Sorgen um andere Männer machen. Es ist mir nicht einmal erlaubt, mich allein mit einem Mann zu unterhalten, der kein Verwandter ist. Das wissen Sie. Selbst das gilt als höchst …“

Er trat näher. „Als höchst was?“

„Unschicklich.“

Er zog seine dunklen Brauen zusammen. „Ehrliche Absichten können niemals unschicklich sein. Ich schwöre bei meiner Ehre, ich habe noch keiner Frau den Hof gemacht, wie ich Ihnen den Hof mache. Aber das … Sie … wir … wir sind für einander bestimmt. Das fühle ich.“

„Sie fühlen es?“, fragte sie gedehnt. „Du meine Güte. Das kann nicht gut sein. Sie sollten einen Arzt aufsuchen.“

Er starrte sie an. „Ich meine es sehr ernst.“

Sie kicherte. „Ja. Offenkundig etwas zu ernst.“

„Victoria.“ Er kam noch näher und sprach leise weiter: „Ich bin kein Heuchler. Ich vertraue Ihnen lediglich meine tiefsten Gefühle an, die ich schon immer für Sie empfunden habe. Das Schicksal flüstert mir Ihren Namen zu, seit ich Sie zum ersten Mal sah. Ich kann nicht anders. Ich kann Sie nicht gehen lassen, ohne Ihnen meine Liebe zu gestehen. Würde ich das tun, würde ich mein Herz mit Füßen treten.“

Erstaunt blickte Victoria ihn an. Offenbar glaubte er an all diese Lächerlichkeiten, die doch nur in Romanen existierten. Törichte Dinge wie Zauberringe und schicksalhafte ritterliche Minne, die alles besiegte. Grundgütiger, an diesen Unsinn glaubte sie nicht mehr seit sie … dreizehn war. Seit ihre Mutter gestorben war, deren Tod nicht nur das Leben ihres Vaters zerrüttet hatte, sondern auch das ihre. Und als Victor sterben musste, starb auch ihr letzter Hoffnungsschimmer auf Glück. Liebe konnte viel erreichen, aber den Tod konnte auch die tiefste Liebe nicht besiegen. Und deshalb wollte und durfte sie sich nicht von Gefühlen besiegen lassen.

„Wie könnte das Schicksal Ihnen etwas über mich zuflüstern?“, entgegnete sie herausfordernd. „Sie wissen doch nichts über mich, abgesehen von unseren gelegentlichen seichten Neckereien.“

„Ich weiß sehr viel über Sie.“

„Sie wissen nichts.“

„Meine Teuerste, ich habe gründliche Erkundigungen über Sie eingeholt. Möglicherweise kenne ich Sie besser als mich selbst.“

„Ach, ist das so?“

„Ja, genau so.“

„Dann sprechen Sie. Wann und wo bin ich geboren?“

Vorsichtig nahm er ihren nassen Zopf und legte ihn ihr auf den Rücken. Seine Berührung ließ ihr Herz schneller schlagen.

„Diese Frage ist mir zu einfach, Victoria.“

„Sie wissen es also nicht.“

„Ich weiß es sehr wohl.“

Sie stieß mit einem Zeigefinger gegen seine nasse Hemdbrust. „Dann antworten Sie.“

Er griff nach ihrer Hand und hob sie lächelnd an seinen Mund.

Weiche warme Lippen strichen über ihre klamme Haut, ein Prickeln durchströmte ihren ganzen Körper. Wonneschauer, die ihr den Atem raubten und ihren Puls beschleunigten.

Er blickte ihr tief in die Augen, streichelte ihre Hand und antwortete geduldig: „Sie und Victor wurden am 9. April des Jahres 1807 im Ostflügel dieses Hauses geboren. Sie kamen zuerst zur Welt, und Victor kurz darauf. Sie waren ein kräftiger, gesunder Säugling, Victor aber war sehr schwach. Die Ärzte hatten keine große Hoffnung, dass er das erste Lebensjahr erreichen würde, aber er schaffte es, und Ihre Eltern waren sehr fürsorglich mit ihm. Später allerdings waren Sie es, die Victor hütete wie Ihren Augapfel und ihn bemutterte.“

Sie entzog ihm ihre Hand. Das war unschicklich und zu vertraulich. „Wer hat Ihnen das alles gesagt?“

„Grayson. Ich zwang ihn, mir alles über Sie zu erzählen. Und ich meine wirklich alles.“

„Alles?“, wiederholte sie.

„Alles.“

„Sie können nicht alles über mich wissen.“

„Oh, doch, ich kann. Stellen Sie mir eine andere Frage.“

„Moment.“ Sie drehte den Ring in ihrer Hand, betrachtete sinnend die gedrechselte Mahagonibrüstung und überlegte sich eine Frage. „Mein Lieblingsautor?“

„Daniel Defoe. Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe ist Ihr Lieblingsroman. Sie haben zwar Grayson immer wieder darum gebeten, Ihnen ein Exemplar des Romans Glück und Unglück der berühmten Moll Flanders zu besorgen, aber Ihr Cousin hält Sie für zu jung für eine derart frivole Lektüre.“

Victoria bekam große Augen. Na warte, dafür würde Grayson büßen! „Was hat mein Cousin Ihnen sonst noch über mich erzählt?“

„Dinge, die Sie vermutlich abstreiten würden, die ich allerdings ausgesprochen liebenswert finde.“ Er ließ den Blick auf ihrem Mund verweilen. Sein warmer Atem strich über ihre Wange – er duftete schwach nach Nelkenpfeffer, vermischt mit dem Geruch von frischem Regen. „Ich wünsche mir einen Kuss von Ihnen, verzehre mich danach. Denn in diesem Moment sagt mir das Schicksal, dass sich unser beider Leben mit diesem Kuss verändern wird.“

Sie atmete scharf ein. Tief in ihrem Herzen wollte sie diesen romantischen Unsinn glauben. Sie wollte glauben, wenn sie ihn küsste und das annahm, was er ihr anbot, würde ihr Leben sich verändern, und all ihre Zweifel über Menschen, Liebe, Leben und Tod würden sich auflösen oder sich in Rosenblätter verwandeln, die vom Himmel rieselten. Könnte ein Kuss wie ein Zauberstab wieder Sonnenschein und Glück in ihr Leben bringen? Es käme auf einen Versuch an.

Autor

Delilah Marvelle
<p>Delilah Marvelle ist in Chicago geboren und aufgewachsen. Bereits mit vier Jahren war Delilah ein Theaterfan, spielte mit zehn Jahren ausgezeichnet Klavier und nahm fünf Jahre lang Ballettunterricht. Mittlerweile lebt sie mit ihrem Mann in Oregon. Da es dort sehr viel regnet, fühlt sie sich gezwungen, drinnen zu bleiben und...
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