Mein zärtlicher Rebell

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Als die junge Mary 1899 ins ferne Afrika reist, will sie ihren Mann Cameron, der sie vor vier Jahren verließ, um die Scheidung bitten. Aber dann schlägt das Schicksal in der glühenden Wüste erbarmungslos zu: Ihre kleine Tochter wird entführt! Und plötzlich ist Cameron wieder an ihrer Seite - und ihr so nahe wie einst ...


  • Erscheinungstag 01.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733764999
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

17. Oktober 1894, Darlmoor, Schottland

Ein Sperling hatte sich durch ein offenes Fenster in das Gotteshaus verflogen und flatterte auf der Suche nach einem Weg, wieder ins Freie zu gelangen, aufgeregt über die Kirchenbänke. Die meisten Mitglieder der ernst blickenden kleinen Hochzeitsgesellschaft beachteten ihn jedoch nicht.

Cameron beobachtete ihn aus dem Augenwinkel und bedauerte ihn, denn er konnte sich vorstellen, wie das arme Geschöpf sich fühlen musste. Ihm erging es ganz ähnlich. Auch er kam sich wie in einer Falle vor und konnte nichts daran ändern. Der wollene Kilt des Vaters kratzte ihn an den bloßen Beinen. Die traditionelle Tracht war erst eine Stunde vor der Zeremonie aus dem Schrank geholt worden und roch noch nach Mottenkugeln. Cameron meinte, er müsse darin aussehen wie das herausgeputzte Äffchen eines Leierkastenmannes. Die Jacke spannte über den Schultern; das alte Leinenhemd war vergilbt, und die Felltasche erweckte den Anschein, als hätten Mäuse daran genagt. Da indes in den vergangenen sechzig Jahren alle Männer in dieser Tracht getraut worden waren, hatten Camerons Einwände nichts gefruchtet. Nicht einmal die Mutter hatte ihm Gehör geschenkt und erklärt, es sei eine Ehre, das Nationalkostüm zu tragen, ganz besonders für ihn, da er nur dem Namen nach ein MacKenna war.

Seine wie ein Häufchen Unglück wirkende Braut Mary Margaret Owen stand eine Armeslänge von ihm entfernt, und von ihrem durch einen hässlichen Schleier verhüllten Gesicht war nur die Nasenspitze zu erkennen. Die kleine, noch nicht einmal siebzehn Jahre alte Mary war zu bedauern, dass ihr das widerfuhr.

Mit dreiundzwanzig Jahren hätte Cameron eigentlich wissen müssen, was er tat. Der zufälligen Begegnung mit ihr waren leidenschaftliche Umarmungen gefolgt, ehe Mary und er vollends begriffen hatten, was mit ihnen geschah. Und nun trug sie, die verhätschelte einzige Tochter des Richters, sein Kind unter dem Herzen.

Erschöpft hatte der Spatz sich auf einem Sims niedergelassen. Cameron warf ihm noch einen mitfühlenden Blick zu und richtete die Aufmerksamkeit dann auf den betagten, tattrigen Vikar, der sich geräuspert hatte und mit der feierlichen Handlung begann.

„Verehrte Anwesende, wir sind hier vor dem Angesicht Gottes und der Trauzeugen versammelt …“

Ja, die verdammten Zeugen. Cameron spürte förmlich, wie ihre Blicke sich ihm in den Rücken bohrten, und wusste, dass sie wütend auf ihn waren und ihn verachteten. Zum einen war da Richter John Owen, der ihn für die Schmach, den Ruf seiner Tochter ruiniert zu haben, am liebsten an den Galgen gebracht hätte. „Sie geben meinem Enkelkind höchstens Ihren Familiennamen, mehr nicht“, hatte er getobt. „Sobald die Ehe geschlossen ist, verschwinden Sie von hier! Mary kann bei mir leben und das Kind allein aufziehen. Ich will nicht, dass Sie in der Stadt bleiben und ihr mit Ihrem liederlichen Verhalten noch mehr Kummer bereiten.“

Zum anderen befand sich Jock MacKenna unter den Hochzeitsgästen. Noch immer hallten Cameron die verbitterten Äußerungen des Stiefvaters in den Ohren wider. „Ich habe mich bemüht“, hatte Jock gesagt, „dich zu einem anständigen Menschen zu erziehen, wie meine eigenen Söhne. Aber alles war vergebens. Nun hast du zum letzten Male Schande über mich und meine Familie gebracht, Cameron! Du hast mich oft gebeten, dich nach Afrika reisen zu lassen, damit du dir Arbeit bei der Eisenbahngesellschaft suchen kannst. Also gut, ich bin einverstanden und gebe dir das Geld für die Hinfahrt auf dem Dampfschiff, vorausgesetzt, du heiratest diese elende Miss Owen und sorgst dafür, dass ich Ruhe vor ihrem Vater habe. Dann kannst du dich meinetwegen zum Teufel scheren! Ich lege keinen Wert darauf, dich je wiederzusehen!“

Cameron nahm das salbungsvolle Gemurmel des Vikars, der in die überlieferten Worte der Trauungszeremonie der Bibel entnommene Beispiele über eheliche Liebe und Treue als Lebensweisheiten einflocht, wie das Summen einer dicken Hummel wahr. Unbehaglich trat er von einem Bein auf das andere, denn der gesteifte Leinenkragen beengte ihn.

Die älteren Stiefbrüder, alle drei stramme Kerle, denen nur an den Ländereien und den darauf weidenden blökenden Schafen gelegen war, standen hinter ihm und würden ihn gewiss nicht vermissen. Wiewohl er bei der Hochzeit seiner Mutter mit dem Stiefvater noch ein kleiner Bub gewesen war, hatten dessen Söhne aus erster Ehe ihn bis heute nicht als einen der ihren akzeptiert und für sein Bedürfnis, sich möglichst viel Wissen anzueignen, nie Verständnis aufgebracht. Für sie würde er auch in Zukunft ein Außenseiter sein. Nur von der Mutter, einer hübschen, zarten Frau, hatte er liebevolle Anteilnahme erfahren. Sie hatte, leise in ihr Spitzentaschentuch weinend, ihn sogar dann noch zu begreifen versucht, als er sich aus dem Gefühl des Unverstandenseins mit zügellosen Freunden einließ, Zechgelage veranstaltete, in Schlägereien verwickelt wurde und ständig Ärger machte. Sie war die Einzige, die ihm fehlen würde.

„Willst du, Mary Margaret Owen, diesen Mann zu deinem rechtmäßig angetrauen Gatten nehmen, ihn von nun an lieben, ehren und achten …“

Cameron hörte den greisen Vikar, der sich der Ironie des Augenblicks natürlich nicht bewusst war, die Trauungsformel stottern, schaute verstohlen zu seiner Braut hinüber und bemerkte, dass unter dem leicht verrutschten Schleier einige Locken dunkelblonden Haares zu sehen waren. Du lieber Himmel, er kannte die Kleine ja kaum! An jenem Abend, da er zu später Stunde von ihr beim Schwimmen in der Bucht überrascht worden war, hatte er sie für ein unreifes Mädchen gehalten. Lachend hatte er sie aufgefordert, die Sachen abzulegen und ihm Gesellschaft zu leisten. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass sie sich entrüstet umdrehen und fortlaufen würde. Zu seinem Erstaunen hatte sie jedoch nicht das Weite gesucht, und die schlanke Gestalt, die er dann im Mondlicht ins Wasser springen sah, war keinesfalls die eines Kindes gewesen.

Der Pastor näherte sich dem Ende der Zeremonie. Cameron merkte, dass Mary verkrampft war, und ahnte, wie beklommen ihr zumute sein musste. Sie holte hastig Luft und sagte kaum hörbar: „Ja, ich will.“

„Und willst du, John Cameron MacKenna, diese Frau zu deiner rechtmäßig angetrauten Gemahlin nehmen …“

Der gebrechliche Geistliche leierte die Frage ebenso gleichgültig herunter wie alle anderen Worte der feierlichen Handlung. Der Sperling flog durch die Kirche und flatterte verstört vor einem bunten Glasfenster hin und her. Cameron fühlte das Herz heftiger schlagen und sagte spröde: „Ja, ich will.“

Wo war der Ring? Hastig suchte er in der Tasche nach dem schmalen Goldreif, den er morgens von der Mutter erhalten hatte. Sie hatte ihn bei der Hochzeit mit seinem Vater getragen, der noch vor der Geburt des Sohnes auf See umgekommen war. Es musste ein großes Opfer für sie gewesen sein, sich von diesem Ring zu trennen. Er fand ihn, zog ihn heraus und drehte sich zu der Gattin um.

Sie hatte sich ihm zugewandt, und zum ersten Male an diesem Tag konnte er sie richtig betrachten. Gott mochte ihm beistehen, aber sie war tatsächlich noch ein Kind. Ein reich mit Stickereien verziertes weißes Kleid, das ihr viel zu weit war, umhüllte die schmächtige Gestalt. Der Ausdruck des schmalen, eckigen Gesichtes war starr. Vorwurfsvoll schaute sie Cameron aus rot geränderten Augen an, aber sie waren nicht feucht. Wahrscheinlich war sie nun nicht mehr fähig zu weinen.

Plötzlich wurde ihm klar, dass durch ihn ihr sorgenfreies Leben eine jähe Veränderung erfahren hatte, und gern hätte er ihr gesagt, wie sehr er es bedauere. Im Moment waren jedoch weder Ort noch Stunde dazu geeignet, und außerdem wusste Cameron, dass Mary ihm nicht zuhören würde. Ihr Vater hatte ihm deutlich genug zu verstehen gegeben, dass sie ihn nie mehr sehen wolle. Nun, dieser Wunsch sollte ihr bald erfüllt werden, denn Cameron gedachte, noch vor Anbruch der Nacht nach Aberdeen unterwegs zu sein. Dort wollte er dann den nächsten nach Mombasa auslaufenden Dampfer nehmen. Wenn alles für ihn gut ging, würde er Jahre fort sein und vielleicht nie zurückkehren.

Mary hielt ein offensichtlich hastig zusammengebündeltes, kläglich aussehendes Heidesträußchen in den Händen. Sie nahm es in die Rechte und hielt, die Finger spreizend, dem Gatten die linke Hand hin. Seinerseits keinesfalls die Ruhe selbst, schob er ihr den Reif auf den Ringfinger und war verwundert, dass er ihr so gut passte, als sei er für sie angefertigt worden.

Der Vikar räusperte sich und sagte: „Kraft des mir von der Kirche von Schottland verliehenen Amtes erkläre ich euch nun zu Mann und Frau.“

Die nachfolgende Stille wurde nur vom Flattern des umherirrenden Spatzes unterbrochen. Unvermittelt wurde Cameron sich bewusst, dass er der Gemahlin nun einen Kuss geben musste. Seit jener rauschhaften Nacht am Strand hatte er sie nicht mehr geküsst, sie überhaupt nie mehr berührt, und der Gedanke, sie jetzt vor aller Leute Augen in die Arme nehmen zu sollen, verursachte ihm Unbehagen. Linkisch wandte er sich ihr zu, doch durch ihre Haltung, den gesenkten Kopf, die verkniffenen Lippen und die schlaff herabhängenden Arme ließ sie erkennen, dass die Zärtlichkeit ihr nicht erwünscht war.

Cameron hörte, wie die Gäste sich regten und anfingen, die Kirchenbänke zu verlassen. Er harrte so lange aus, bis er sicher war, die Gattin müsse inzwischen an der Seite ihres Vaters sein, mit dem sie das Gotteshaus verließ, und folgte beiden dann in gemessenem Abstand, in grüblerisches Schweigen versunken. Seine Stimmung war so düster wie die über das Moor jagenden Sturmwolken. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er nur sinnlos vergeudet und nichts Vernünftiges geleistet. Sein Groll galt weniger der Umgebung, in der er groß geworden war, noch dem Stiefvater oder den langweiligen Halbgeschwistern, sondern weitaus mehr sich selbst. Durch die Zeugung eines Kindes mit einem sechzehnjährigen Mädchen, das ihn nie zum Gatten gewählt hätte, hatte er jede Verbindung zu seinen Angehörigen und der Heimat abgeschnitten. Der Schaden, den er angerichtet hatte, war in der Tat groß genug, und es wurde höchste Zeit, alle Brücken hinter sich abzubrechen und zu verschwinden, ehe er noch mehr Unheil anrichten konnte.

Die Aussicht, bald doch nach Afrika reisen zu können, in dieses weite, ungezähmte Land, das seiner wie eine lohfarbene, parfümierte Geliebte harrte, besserte seine Laune beträchtlich. Er würde Tage, Wochen, ja Monate unterwegs sein, und dann, eines Tages, die wilde Schönheit Afrikas genießerisch und schwelgerisch genießen können.

Der Sperling flog mit hoher Geschwindigkeit gegen eine Fensterscheibe. Es gab einen dumpfen Aufprall, und dann fiel der Vogel wie ein Stein zu Boden.

Mary hatte das Vögelchen herabstürzen gesehen, schrie leise auf und machte zwei hastige Schritte auf die Stelle zu, wo es lag, stolperte dann jedoch über den Saum des Kleides.

„Nein!“, sagte Cameron unwirsch. „Lass das! Ich kümmere mich um den Spatz.“

Wie erstarrt blieb sie stehen und schaute gekränkt dem durch eine Kirchenbank gehenden Gatten nach.

Er bückte sich, hob behutsam den Sperling auf und spürte das kleine Herz noch schlagen. „Er ist nur benommen“, murmelte er. „Geh mit deinem Vater weiter, Mary.“

John hatte die Tochter beim Arm ergriffen und zog sie zum Portal.

Cameron bemerkte, dass sie ihm rasch einen letzten flüchtigen, Angst, Zärtlichkeit und hilflose Wut ausdrückenden Blick zuwarf, ehe sie das Gotteshaus verließ. Er atmete tief durch und verweilte einen Moment in der Kirchenbank, den Anblick der Gemahlin und werdenden Mutter seines Kindes noch immer vor Augen. Wie aus weiter Ferne drangen die schleifenden Schritte des Stiefvaters und der Halbbrüder zu ihm herüber, die den Mittelgang hinunterschlurften, und er hörte auch das Weinen der Mutter.

„Nun, das haben wir hinter uns!“, sagte Jock MacKenna zufrieden. „Die Sache ist erledigt. Lasst uns zum Hof zurückfahren. Auf uns wartet Arbeit.“

Der Spatz regte sich wieder in Camerons geschlossener Hand und versuchte, die Flügel zu öffnen. Vorsichtig brachte Cameron ihn ins Freie und ließ ihn davonfliegen.

1. KAPITEL

PROTEKTORAT OSTAFRIKA, 24. Februar 1899

Flirrender Glast lag über der schläfrig unter der glühenden Sonne dösenden Stadt. Hitzewellen waberten über den orangefarbenen Ziegeldächern der korallenrot getünchten Häuser; das Gewirr der Gassen war nur hie und da von der jadegrünen Kuppel eines Mangobaumes oder dem knorrigen Geäst eines Affenbrotbaumes unterbrochen. Der leichte Wind, der die langen Wedel der an der Küste wachsenden Palmen fächelte, blähte die Segel der gemächlich im Hafen dahintreibenden Sambuken, Baggalas und Bumboote.

Eine Seemeile vor dem Hafen von Mombasa stand Mary Margaret MacKenna in einem schlichten zweiteiligen Reisekleid mit den anderen Reisenden an der Reling der „S. S. Horatius“, und schaute, gegen das grelle Licht blinzelnd, zu der im Hitzedunst nur verschwommen wahrnehmbaren Küste hinüber. Es war erdrückend heiß, und erst die im März oder April einsetzende Regenzeit würde etwas Erleichterung von der unerträglichen Glut des afrikanischen Sommers bringen.

„Ich möchte etwas sehen.“ Das kleine Mädchen zupfte die Mutter am Rock. Mary nahm die Tochter auf die Arme und hob sie hoch. „Was ist das?“, fragte Jennifer mit heller, klarer Stimme. „Ist das Afrika?“

„Ja, Jenny, das ist Afrika“, antwortete Mary und drückte sie, um die Beklemmung zu überspielen, lachend an sich. Endlich war die anstrengende fünfwöchige Reise von Tilbury nach Suez, durch das Rote Meer und um das Kap Guardafui vorbei. Mary befürchtete indes, dass alles, was noch vor ihr lag, weitaus schlimmer sein würde. Sie war jedoch fest entschlossen, nicht ergebnislos heimzukehren und Afrika nicht zu verlassen, ehe sie den Gatten gefunden und das Einzige von ihm bekommen hatte, das er ihr geben konnte – die Freiheit.

„Wo sind Elefanten?“, quengelte Jennifer. „Wann können wir welche sehen?“

„Noch nicht.“ Mary strich der vierjährigen Tochter über die zerzausten Locken und fragte sich, wo das Kind die mit einem roten Filzband geschmückte Cappeline diesmal verloren hatte. Ständig kamen Jennifer die Hüte abhanden. Mary argwöhnte, dass Jenny sie absichtlich irgendwo liegen ließ. Aber sie regte sich nicht darüber auf. In den vergangenen Wochen hatte das Töchterchen durch die gleißende Sonne einen goldbraunen Teint bekommen und das blonde Haar einen glänzenden weizenfarbenen Ton. Die Wirkung war bezaubernd.

„Warum nicht gleich?“, nörgelte Jennifer. „Ich möchte jetzt Elefanten sehen!“

„Das kannst du nicht, weil wir in einer Stadt sein werden“, erklärte Mary. „Dort gibt es keine Elefanten. Du wirst jedoch Papageien, Affen und Pfauen sehen, denn wir wohnen im Haus des Emirs.“

„Keine Elefanten?“, schmollte Jennifer und schaute die Mutter aus blauen Augen an, die denen des Vaters glichen.

„Nein, Liebling, keine Elefanten“, sagte Mary, erinnerte sich des Gatten, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte, und schluckte unwillkürlich. Die schwarzen Locken hatten ihm in die Stirn gehangen, und sein Blick war zornig gewesen. Seit der Hochzeit hatte sie keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt und ihm auch nicht angekündigt, dass sie nach Afrika kommen würde. Gewiss würde er überrascht sein, ihr nach vier Jahren wiederzubegegnen, und wütend. Er hatte nur seiner Mutter geschrieben, und durch sie war Mary freundlicherweise über seine verschiedenen Aufenthaltsorte auf dem Laufenden gehalten worden. Das Geld, dass er ihr über Gladys MacKenna für seine Tochter geschickt hatte, war sorgsam für die Erziehung des Kindes gespart worden.

Er hatte es nicht einmal für nötig gehalten, auf das Schreiben des Anwaltes zu reagieren, in dem ihm im vergangenen Jahr die Scheidungsunterlagen zur Unterschrift übersandt worden waren. Monatelang hatte Mary vergebens auf eine Nachricht von ihm gewartet. Vielleicht wäre es ihrem Vater gelungen, eine schnellere gerichtliche Trennung der Ehe zu erreichen, doch er war nur wenige Wochen nach Jennifers Geburt gestorben. Nun war Mary ganz auf sich allein angewiesen und musste mit dem kleinen Erbe auskommen, das er ihr vermacht hatte. Ungeachtet der angespannten finanziellen Lage hatte sie sich schließlich doch dazu entschlossen, die Reise nach Afrika zu unternehmen und den Gatten aufzusuchen. Es war höchste Zeit, der Ehefarce ein Ende zu machen und sich voneinander zu befreien, damit jeder sein eigenes Leben führen konnte.

Die „S. S. Horatius“, tuckerte durch eine Öffnung im halbkreisförmigen Korallenriff vor der Hafeneinfahrt. Hinter dem Riff war die Wasseroberfläche ruhiger und spiegelte den azurblauen Himmel wider. In der Ferne stand auf einer Landzunge ein wie ein Minarett aussehender Leuchtturm, und dahinter konnte Mary die Befestigungsanlagen eines Forts erkennen. Möglicherweise traf sie den Gatten hier in Mombasa an. Die Schwiegermutter hatte ihr gesagt, er arbeite noch bei der Eisenbahn. Dann war es gewiss leicht, seine Anschrift im Büro des Unternehmens zu erfahren und bei ihm mit den Dokumenten vorstellig zu werden. Nein, vermutlich würde es nicht so einfach sein. Sie hatte ihn in den Jahren vor der Hochzeit in Darlmoor oft genug beobachtet und wusste, dass er unberechenbar war. Er konnte überall sein, denn ihn verlangte nach Abenteuern wie andere Männer nach Whisky, Wein oder Opium. Doch wo immer er sein mochte, sie war entschlossen, das Land nicht eher zu verlassen, bis sie ihn aufgespürt hatte.

„So, nun sind wir endlich da!“ Die dünne Stimme des alten Arabers unterbrach sie in den Gedanken. Der lange Binisch raschelte, als der Emir, wie er sich nannte, an die Reling trat. In dem wallenden weißen Untergewand und der bestickten Dschubbeh wirkte er wie eine Gestalt aus „Tausendundeiner Nacht“. Er war ein schmächtiger, verhutzelter Greis von majestätischem Auftreten, in Suez an Bord gekommen, lebte jetzt mit seinen drei Frauen bequem in Mombasa im Exil und behauptete, er habe früher ein halbes Königreich beherrscht. Er sprach ausgezeichnet englisch, wenngleich mit charmant klingendem Akzent, war indes für die feinen Engländer an Bord ein viel zu exotischer Passagier gewesen, von dem sie sich bewusst ferngehalten hatten. Von den anderen Passagieren gesellschaftlich missachtet, war er, nur von einem hageren, ihm wie ein Schatten folgenden Leibwächter begleitet, während der Fahrt allein an Deck promeniert.

Jennifer hingegen hatte ihm gegenüber keine Berührungsängste gezeigt. In ihrem kindlichen Gemüt hatte sie in ihm einen bärtigen Weisen aus einem Märchenland gesehen, war unbefangen zu ihm gegangen und hatte, ihn an der Gibbeh zupfend, nach seinem Namen gefragt. Zwei Tage später hatte sich zwischen ihnen eine herzliche Freundschaft entwickelt, in die dann auch Mary eingeschlossen worden war. Einige Mitreisende hatten missbilligend die Nase über diese harmlose Bekanntschaft gerümpft, ganz besonders, nachdem bekannt geworden war, dass Halil ibn Aybak al Gahiz Mrs. MacKenna und ihre Tochter eingeladen hatte, in Mombasa seine Gäste zu sein. Mary hatte das bei den übrigen Passagieren erregte Missfallen gleichmütig hingenommen, denn sie betrachtete den Emir als Freund. Zudem geschah es nicht zum ersten Male, dass sie sich gegen die Konvention auflehnte. Sie hatte in jener Nacht damit begonnen, da sie, vollkommen entkleidet und zitternd, zu dem verrufenen Cameron MacKenna ins Wasser gesprungen war, und seither nie aufgehört, auf die ihr eigene stille, gefasste Weise gegen Althergebrachtes aufzubegehren.

„Falls Sie Hilfe bei der Suche nach Ihrem Gemahl benötigen, Mrs. MacKenna“, sagte der Emir, „versichere ich mich gern der Unterstützung von Freunden, die Ihnen die benötigten Informationen verschaffen können.“

Mary schaute auf die an der Bordwand entlanglaufenden Wellen. „Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Sir, doch ich möchte zunächst allein versuchen, den Aufenthaltsort meines Gatten herauszufinden. Sollte er noch immer für die Eisenbahngesellschaft von Uganda arbeiten, muss dort bekannt sein, wo er sich befindet. Danach …“ Mary seufzte und wappnete sich innerlich gegen die Konfrontation, der sie ausgesetzt sein würde, sobald sie vor ihm stand.

Halil ibn Aybak schüttelte den Kopf. „Muss denn gleich die Scheidung erreicht werden? Warum schieben Sie die Sache nicht auf, bis Sie gesehen haben, welche Art Mensch Ihr Mann inzwischen geworden ist? Vielleicht besteht noch die Chance …“

„Nein!“, fiel Mary dem Emir leise, doch in hartem Ton ins Wort. „Diese Möglichkeit gibt es nicht!“ Er kannte nur einen Teil ihrer Beweggründe, sich endgültig vom Gatten zu trennen. Sie hatte ihm verschwiegen, dass es mittlerweile Arthur Tarrington-Leigh in ihrem Leben gab, den Mann, der ihrer Tochter eine abgesicherte Zukunft und ein respektables Dasein gewährleisten konnte.

Die „S. S. Horatius“ ging mitten im Hafen vor Anker und war Minuten später von einer großen Schar bunt bemalter Scows umgeben.

„Siehst du, Kleines, unser großes Schiff kann nicht bis zum Pier fahren“, erklärte Halil ibn Aybak dem Mädchen. „Das Wasser ist nicht tief genug. Deshalb bringen uns die Leichter an Land.“

Jennifer hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Von der Mutter auf den Armen gehalten, beugte sie sich über die Reling und winkte den auf den Wellen schwankenden Schuten zu. Bezaubert von dem blondhaarigen Kind, grinsten die abgerissen aussehenden arabischen Ruderer und winkten zurück.

Mary drückte die Arme fester um die strammen Beinchen der Tochter. Wochenlang hatte sie sich mit der Frage gequält, ob sie Jennifer nach Afrika mitnehmen solle, und Nacht für Nacht über eine andere Lösung nachgegrübelt. Aber die Schwiegermutter war nicht bei bester Gesundheit, und Arthur Tarrington-Leigh, der sich zwar erboten hatte, Jenny zu sich zu nehmen, wohnte mit einer zänkischen Haushälterin, die Kinder nicht mochte, in einem großen, einschüchternd stillen Haus. Da Mary sich ihm noch nicht verpflichtet fühlen wollte und es keine andere Alternative gab, hatte sie sich schließlich entschieden, die Tochter bei sich zu behalten.

Das sonnige Klima und die frische Meeresluft hatten Jennifer gutgetan, und bei den Passagieren wie der Besatzung des Dampfers war sie schnell beliebt gewesen. Selbst das Problem, wo sie bleiben solle, wenn Mary sich mit dem Gatten auseinandersetzte, war durch die Einladung des Emirs geklärt worden. Das Angebot hatte Mary erleichtert, und sie war Halil ibn Aybak al Gahiz von Herzen dankbar. Es gab Situationen, in die ein Kind nicht hineingezogen werden sollte, und die Aussprache über die Scheidung gehörte dazu.

Mary schaute durch den flirrenden Glast zur Stadt und redete sich ein, alles würde sich für sie zum Guten wenden. Der Gatte hatte keinen Anlass, sich ihrem Wunsch zu widersetzen. Im Gegenteil, er würde gewiss froh über die Möglichkeit sein, sich von den Banden einer Ehe zu befreien, die er ohnehin nicht hatte eingehen wollen.

Ein Schatten fiel neben Mary auf die Reling. Sie drehte sich um, blickte in das pockennarbige Gesicht des Leibwächters und erschrak im Stillen. Die hageren Wangen eingesogen, starrte er sie dreist aus dunklen, eingesunkenen Augen an. An seiner linken Hüfte hing in perlenbestickter Scheide ein langer Dolch mit elfenbeinernem Heft. Nach einem Moment lächelte er, entblößte dabei vom Tabak braun verfärbte Zähne und verbeugte sich devot. Mary holte tief Luft und bezwang das Unbehagen, das sie trotz seines stets höflichen Betragens in seiner Nähe empfand. Wann immer ihr Blick auf ihn gefallen war, hatte er verschlagen gegrinst. Außerdem war er nicht zum ersten Male so geräuschlos hinter ihr aufgetaucht und hatte sie erschreckt. Das war schon oft der Fall gewesen und hatte bei ihr den Argwohn geweckt, er sei in sie verliebt.

„Ja, was gibt es?“, fragte sie in bemüht gleichmütigem Ton.

Hassans Grinsen wurde breiter. Belustigt die dunklen Augen verengend, zog er die Hand hinter dem Rücken hervor.

In den Fingern hielt er Jennifers verschwundene Cappeline.

Die Nervosität, die Mary empfunden hatte, wandelte sich in Verdruss, und verlegen bedankte sie sich bei Hassan. Sie nahm das Strohhütchen entgegen, setzte es der Tochter auf das blonde Haar und warf sich vor, überempfindlich gewesen zu sein, da er wohl nur hilfsbereit hatte sein wollen. Er verbeugte sich noch einmal und entfernte sich dann geschmeidig. Sie beschloss, aus dem kleinen Zwischenfall eine Lehre zu ziehen und beim nächsten Mal nicht so voreilig zu urteilen.

An Steuerbord ließen die Matrosen Taljen herunter, damit die sich mit ihrer persönlichen Habe versammelnden Passagiere in die wartenden Hafenschuten gebracht und die Gepäckstücke hinunterbefördert werden konnten. Hassan hatte den Emir beim Arm genommen. Mary setzte die Tochter ab und ergriff sie bei der Hand. Mit der Linken hob sie die Gladstone hoch, in der sich Kopien der unterschriftsreifen Scheidungsdokumente und einige unentbehrliche Dinge für Jennifer und sie selbst befanden. Die übrigen, in einem großen Reisekoffer verpackten Sachen würden später an Land geschafft werden.

Die Reisenden, zumeist Staatsbeamte, die neue Aufgaben in Zollstationen wahrzunehmen hatten, oder medizinisches Personal für das vor Kurzem errichtete Regierungskrankenhaus von Mombasa, formierten sich zu einer Reihe, um in die Boote zu gehen. Viele dieser Leute hatten in Indien gearbeitet, und einige Herren wurden von ihren Gattinnen begleitet, eindrucksvollen Frauen, von denen Mary stundenlang darüber beraten worden war, was sie in den Tropen anziehen, wie sie sich ernähren, welche Arzneien sie gegen Malaria und Ruhr einnehmen und auf welche Weise sie die Eingeborenen auf Distanz halten solle.

Sie stellte sich hinter einer dieser Damen an und zog die Tochter eng an sich, damit Jennifer im Gedränge nicht gestoßen wurde. Langsam rückten die Menschen an Deck voran, und plötzlich wurde Mary sich des vollen Ausmaßes ihres Vorhabens bewusst. Daheim, wo die halbe Welt sie vom Gatten trennte, war es ihr leichtgefallen, die Scheidung zu planen. Auch auf der „S. S. Horatius“, hatte sie sich, dank der endlosen Weite des Meeres, weit genug von ihm entfernt gefühlt. Doch jetzt war alles anders. Nun begann das Abenteuer. Hatte sie erst den Fuß auf afrikanische Erde gesetzt, gab es keine Umkehr, bis das Ziel erreicht war.

„Wann treffen wir Vater?“, drang Jennifers helle Stimme durch den Lärm der an Bord wartenden Leute.

„Das weiß ich wirklich nicht, Schätzchen.“ Mary drückte die Finger fester um das Händchen der Tochter. So behutsam wie möglich hatte sie ihr vom Vater und der beabsichtigten Scheidung erzählt. Sie wusste, Jenny würde Jahre brauchen, bis sie die Umstände richtig einzuschätzen vermochte, war jedoch zumindest im Augenblick vor unliebsamen Überraschungen sicher, die sie noch nicht verkraften konnte.

„Wann, glaubst du, werden wir bei ihm sein?“, erkundigte Jennifer sich beharrlich. „Wie sieht er aus?“

„Erst müssen wir ihn finden. Pass jetzt auf!“ Ihre Antwort war ausweichend gewesen, doch die beste, die sie im Moment hatte geben können. Das Problem einer Begegnung zwischen Tochter und Vater musste erst noch geklärt werden. Durch ein Zusammentreffen konnte Jennifers Neugier befriedigt, ihr Selbstbewusstsein gestärkt, ihr andererseits das vertrauensvolle Herz gebrochen werden.

Das erste, bis zum Dollbord beladene Scow war bereits zur Mole unterwegs. Mary behielt die Tochter nah bei sich, als sie den knarrenden Taljen mit dem daran befestigten Leinensessel näher rückte. Ein Stückchen weiter kicherte eine stattliche englische Matrone nervös, während sie von einem anderen Flaschenzug über die Reling gehievt wurde und dann rasch außer Sicht geriet.

„Machen wir das auch so?“ Voller Vorfreude hüpfte Jennifer auf und ab.

„Ja, so gelangen wir von Bord. Du hast doch keine Angst, nicht wahr?“

Jennifer schüttelte den Kopf. „Es scheint Spaß zu machen.“

Sobald die Reihe an Mary war, nahm sie im Sessel Platz und drückte die Tochter fest an sich, als ein Seemann die Gurte schloss und die Reisetasche neben ihr festmachte. Dann schwebte sie plötzlich hoch über dem Wasser in der Luft, schaute nach unten und sah, dass Halil ibn Aybak ihr aus einem der Leichter zuwinkte. Der treue Hassan saß neben ihm. Die Taljen quietschten beim Herablassen. Es dauerte nur Sekunden, bis das Scow erreicht war. Es war jedoch inzwischen ein wenig abgetrieben, sodass Mary unversehens nur Wasser unter sich hatte.

„Das haben wir gleich!“ Ein junger Beamter beugte sich mit ausgestreckten Armen über das Dollbord. „Reichen Sie mir erst das Mädchen. Dann fassen wir uns an den Händen, sodass ich Sie herüberziehen kann.“

Der Vorschlag war, wie Mary sich später erinnerte, sehr vernünftig. Sie fasste die Tochter fest um die Taille und übergab sie den kräftig aussehenden Händen. Ja, der junge Mann hatte Jennifer. Alles war in Ordnung. Mary ließ ihr Kind los.

Und dann passierte das Unglück.

In dem Augenblick, da Mary die Hände zurückzog, driftete das Scow gegen eine andere wartende Prahm. Der Zusammenstoß war nicht sehr hart, reichte jedoch, um den hilfsbereiten Herrn, der Jennifer noch auf den Armen hatte, aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ohne das Mädchen loszulassen, stürzte er über Bord, fiel ins Wasser und ging sofort unter. Sekunden später tauchte er wieder auf und rief, verzweifelt mit den Armen rudernd: „Hilfe! Hilfe! Ich kann nicht schwimmen!“

Plötzlich konnte Mary die Tochter nirgends mehr sehen, nur die Cappeline, die auf den Wellen auf und ab getrieben wurde. „Nein!“, schrie sie auf und versuchte, den Gurt zu öffnen. Er war jedoch so fest angezogen, dass sie es nicht schaffte. „Nein! Jenny!“ Entsetzt beugte sie sich erst nach rechts, dann nach links. Der Leinensessel schwankte wild hin und her, aber es gelang ihr nicht, sich von dem Gurt zu befreien. Ein Passagier hatte den ins Meer gestürzten Mann zu fassen bekommen, doch von Jenny war nirgendwo etwas zu sehen.

Unvermittelt spritzte Wasser auf, als jemand mit einem großen Satz hineinsprang und wie ein Hai durch die blaue Tiefe glitt. Einen Herzschlag später wurde Jennifer an die Oberfläche gestemmt. Sie würgte und spuckte, und das Wasser rann ihr aus der Nase, doch sie lebte.

Hände wurden ihr aus dem Boot entgegengestreckt, um sie hineinzuheben. Mary rannen die Tränen über die Wangen. Sie war dem Menschen dankbar, der die Geistesgegenwart besessen hatte, ihrer Tochter nachzuspringen und sie wieder an die rettende Luft zu heben, ehe es für sie zu spät gewesen wäre. Und jäh begriff Mary, wer dieser Mann gewesen war, der Jennifer vor dem Tod bewahrt hatte. Sie wusste es, bevor sie zu der Stelle hinunterschaute, an der er aufgetaucht war, und in Hassans nasses, grinsendes Gesicht blickte.

2. KAPITEL

Jennifer schlief, zusammengekrümmt unter dem Laken auf der anderen Seite von Marys Bett. Das feuchte Haar war auf dem Kissen ausgebreitet. Der Schein einer brennenden Öllampe tauchte das Gesicht in weiches, flackerndes Licht.

Einige Zeit vorher waren die Frauen des Emirs auf Zehenspitzen in das Zimmer gekommen und hatten das schlafende Kind betrachtet, flüsternd dessen Schönheit bewundert und vorsichtig die Locken berührt. Nach der Ankunft in Halil ibn Aybaks Haus hatte Mary die drei Gattinnen des Emirs kennengelernt und sie sogleich sympathisch gefunden. Die beeindruckende grauhaarige Halima war schon seit seinen Jünglingstagen bei ihm. Aziza mit den dunklen, traurig blickenden Augen hatte die herrlichen Wandteppiche gewoben, die überall im Haus hingen. Die plumpe, schnell zum Lachen aufgelegte junge Jehani war die Mutter von zwei lebhaften kleinen Buben. Keine der drei Frauen sprach englisch, doch ihre nuancenreiche Gestik und ihr beredtes Mienenspiel machten Worte unnötig. Mary hatte keine Angst, die Tochter in der Obhut dieser Frauen zu lassen, wenn sie sich am nächsten Morgen zum Büro der Eisenbahngesellschaft von Uganda begab.

Ihr Schatten wanderte über die stuckierte Wand, während sie den Raum durchquerte. Es war spät, und sie fühlte sich erschöpft, doch die angespannten Nerven ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Jedes Mal, wenn sie nachdenklich stehen blieb, sah sie wieder das Meer vor sich und Jennys auf den Wellen tanzendes Hütchen. Aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass der Schrecken ausgestanden war. Sie war lediglich abgespannt und machte sich ihres morgigen Vorhabens wegen Sorgen. Sie brauchte etwas, das sie ablenkte.

Der vor dem Dinner eingetroffene Saratoga stand noch verschlossen mitten im Raum. Sie beschloss, ihn aufzumachen und ihn umzupacken. Vielleicht war sie, wenn sie das erledigt hatte, so entspannt, dass sie einschlafen konnte. Sie suchte den Schlüssel, öffnete das Schloss und klappte den Deckel auf. Stück für Stück nahm sie die hastig eingepackten Sachen heraus. Sie strengte sich an, sich darauf zu konzentrieren, jeden Rock, jede Schoßjacke, die Lingerie und Jupons säuberlich zu falten und auf dem Teppich zu Stapeln zu ordnen. Sie war ganz bei der Sache, bis ihr unvermittelt der Brief einfiel, den Mr. Tarrington-Leigh ihr kurz vor der Abfahrt der „S. S. Horatius“, gegeben hatte.

„Lesen Sie ihn später“, hatte er ihr zugeraunt und sie flüchtig auf die Wange geküsst. „Sie können mir Ihre Antwort nach der Heimkehr mitteilen. Bis Sie wieder hier sind, werde ich ungeduldig die Tage zählen.“

Der Brief war seit fünf Wochen ungeöffnet geblieben. Mary ahnte, was darin stand, und wusste, was sie Mr. Tarrington-Leigh sagen würde. Er war eine ausgezeichnete Partie, einer Lady würdig. Zweiundvierzig Jahre alt, hatte er untadelige Manieren, war distinguiert und tolerierte dank seiner liberalen Einstellung Marys Unabhängigkeitsdenken. Er sah gut aus, und sein Vermögen war so groß, dass er Mary und ihrer Tochter eine gesicherte Zukunft und gesellschaftliche Anerkennung bieten konnte. Er war ein guter Mensch, den sie gern hatte und mit der Zeit vielleicht sogar lieben lernte.

Doch ungeachtet all dieser Vorzüge hatte sie das Schreiben nicht gelesen, weil sie meinte, es sei eine Sache des Anstandes, es noch nicht zur Kenntnis zu nehmen. Daheim hatte sie stets Distanz zu allen Männern gewahrt, auch zu Arthur Tarrington-Leigh, und war in diesem Entschluss nie wankelmütig geworden. Schließlich war sie eine verheiratete Frau und hatte sich fest vorgenommen, das Ansehen der Tochter nie durch einen wie immer gearteten Skandal zu gefährden. Schon die beabsichtigte Scheidung war eine zwar notwendige, aber unangenehme Angelegenheit. Daher hatte sie sich entschieden, das Couvert erst dann aufzumachen und über Mr. Tarrington-Leighs Heiratsantrag nachzudenken, wenn sie nicht mehr an Cameron MacKenna gebunden war.

Sie starrte das Billett an, das ihren Namen in Mr. Tarrington-Leighs eleganter Handschrift trug, verlor unvermittelt das Interesse, den Saratoga auszupacken, und legte den Brief tief unter die verbliebenen Sachen. Dann wandte sie sich ab, ging rastlos im Raum hin und her und fragte sich beklommen, was den plötzlichen Gefühlsaufruhr ausgelöst haben mochte. Mr. Tarrington-Leigh konnte nicht die Ursache sein. Er vereinte in sich alles, was sie sich wünschen konnte, und es bedurfte nur eines Wortes, um ihn zum Gemahl zu bekommen. Sie musste lediglich alle Bande zu einem Taugenichts durchtrennen, der sie nie geliebt hatte, und war dann imstande, sich mit Arthur Tarrington-Leigh zu vermählen.

In Darlmoor war Mary überzeugt gewesen, alle Probleme würden sich sehr einfach lösen lassen, doch nun hatte sie nicht mehr diesen Eindruck. Jäh fühlte sie sich im Raum eingeengt und hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, ins Freie zu gehen, frische Luft zu atmen und die Sterne zu betrachten. Sie kehrte zu der Tochter zurück, die fest schlief, strich ihr behutsam eine feuchte Locke aus dem Gesicht und huschte dann leise aus dem Zimmer.

Halil ibn Aybaks Haus war ein Gewirr von weiß getünchten, mit Azizas wundervollen Wandbehänge geschmückten und kostbaren Teppichen ausgelegten Räumlichkeiten, sowie hübschen Innenhöfen, wo schlanke Dattelpalmen, Hibiskus und Bougainvilleen wuchsen. Mary schlenderte zu dem plätschernden Marmorbrunnen, der sich neben einem Orangenbäumchen in der Mitte des abgeschlossenen kleinen Gartens befand, an dem das von ihr bewohnte Gemach lag, tauchte die Hände in das Wasser und kühlte sich Stirn, Wangen und Hals.

Die Nacht war mondlos, und die Sterne blinkten am dunklen Himmel wie glitzerndes Bergkristall. Eine schwache Brise fächelte die Palmblätter, und ein sinnlich erregender Duft lag in der lauen Luft. Mary zog die Haarnadeln aus der Frisur, schüttelte die langen Locken und schloss die Augen. Tief durchatmend, nahm sie das Aroma Afrikas in sich auf, das der Wind, der irgendwo die Mähne eines Löwen zerzaust und den Staub eines Elefantenpfades aufgewirbelt hatte, zu ihr wehte. Es war der unverwechselbare Geruch des Landes, in dem ihr Gemahl lebte.

Den ganzen Tag hatte sie sich gegen die Erinnerungen gewehrt. Doch nun gab sie sich seufzend geschlagen. Sie war zu erschöpft, noch länger dem Drang zu widerstehen, an den Gatten zu denken. Hilflos, wie Reiser von einem Strudel, wurden ihre Gedanken zu jenem fatalen Sommer getrieben, zu einer Zeit, da sie Cameron MacKenna geliebt hatte und die so weit zurückzuliegen schien, dass es ihr wie ein Traum vorkam.

Seit dem frühesten Erwachen körperlicher Regungen hatte sie für Cameron geschwärmt, war indes stets zu jung und nie imstande gewesen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Jahrelang hatte sie ihn beobachtet und jedes Mädchen beneidet, das alt genug war, um sein Gefallen zu finden. Und dann, mit sechzehn Jahren, war eines Tages die Reihe an ihr gewesen. Natürlich hatte sie die Begegnung mit Cameron nicht geplant gehabt, als sie an jenem warmen Sommerabend vom Haus einer Freundin zurückkehrte und beschloss, die Abkürzung um die Bucht zu nehmen. Sie hatte sich allein gewähnt, bis plötzlich von unterhalb des vorspringenden Gesteins, das die Bucht der Sicht vom Weg entzog, das Geräusch aufspritzenden Wassers zu ihr heraufgedrungen war. Die Vorsicht hätte geboten, sofort die Flucht zu ergreifen, doch trotz des vernünftigen, pragmatischen Wesens hatte Mary einen Charakterzug, der sie hin und wieder veranlasste, alle noch so sinnvollen Warnungen in den Wind zu schlagen.

Dieser Leichtsinn hatte sie auch damals bewogen, die Röcke zu raffen und die Felsen hinaufzuklettern. Auf der Anhöhe angelangt, hatte sie sich geduckt, in die Bucht hinuntergeschaut und vor Staunen den Mund nicht mehr zubekommen. Cameron MacKenna hatte nackt im flachen Uferwasser gestanden und im Mondlicht wie eine lebende römische Statue ausgesehen. Mary war sich bewusst gewesen, dass sie sich eigentlich unverzüglich hätte entfernen müssen, doch der Anblick der wundervollen Gestalt hatte sie wie gebannt auf der Stelle ausharren lassen.

Unwillkürlich hatte sie dann die Lippen zusammengepresst, als Cameron sich vorbeugte und die Nässe von Armen, Hüften und Beinen wischte. Vor Erregung hatte Mary nur noch flach geatmet und mit den Augen jeden Zoll des stattlich gewachsenen, hoch aufgerichteten Männerkörpers verschlungen, die kraftvollen Rückenmuskeln, die schmale Taille und die strammen Rundungen des Gesäßes, und tief im Innern ein seltsames, sie schwindlig machendes Sehnen verspürt.

Ungeachtet aller Verwirrung hatte sie geahnt, dass Cameron MacKenna unzufrieden war. Ihr war bekannt, dass er seit Jahren den Wunsch hatte, Darlmoor zu verlassen, sein Stiefvater jedoch nichts davon hören wollte. Während er zum Horizont gestarrt hatte, war sie überzeugt gewesen, dass er ohnmächtigen Zorn empfand, der früher oder später zum Ausbruch kommen musste. Nachdenklich hatte sie sich gefragt, wie lange es noch dauern mochte, bis Cameron sich gegen die ihn in Ketten legende Engstirnigkeit auflehnte, sein Bündel schnürte und für immer verschwand.

Er hatte kurz die Schultern gehoben und wieder fallen lassen, ganz so, als habe er geseufzt. Sichtlich niedergeschlagen, hatte er sich dann umgedreht und war zum Strand zu seinen unordentlich hingeworfenen Sachen gegangen. Bis dahin hatte Mary nur seinen Rücken gesehen, nun jedoch seine entblößte Vorderseite vor Augen gehabt. Verlegen hatte sie sich vorgehalten, sie habe keinen Grund, schockiert zu sein. Cameron MacKennas Figur war wie die von Michelangelos „David“, gewesen, den sie einmal auf einer Photographie gesehen hatte, mehr nicht. Aber sie hatte noch nie einen lebenden Mann vollkommen entblößt vor Augen gehabt und war daher nicht fähig gewesen, den Blick von ihm zu wenden. Dann hatte er zu ihr hochgeschaut, und erst in diesem Moment war ihr aufgefallen, dass ihr ein bewundernder Laut über die Lippen gekommen sein musste.

Überrascht war Cameron MacKenna hastig zurück ins Wasser gerannt. Das wäre der rechte Moment gewesen, sich eilends zu entfernen, doch Mary hatte das Gefühl gehabt, wie angewurzelt zu sein. Bis zu den Hüften in den schwappenden Wellen stehend, hatte Cameron ihr lachend zugerufen: „Donnerwetter, die junge Mary! Die Tochter des Richters! Warum starrst du mich so an? Hast du noch nie einen Mann gesehen?“

Sie hatte versucht, ihm eine schlagfertige Antwort zu geben, doch die Zunge war ihr wie Blei im Mund gewesen. Sie hatte keinen Ton herausgebracht.

Camerons schallendes Lachen war sogar über das Rauschen der Brandung zu hören gewesen. „Nun, steh nicht herum und gaff mich an! Es ist eine wundervolle Nacht zum Schwimmen. Zieh dich aus, Mädchen, und leiste mir Gesellschaft!“

Sie hatte brennende Röte in die Wangen steigen gefühlt. Oh, sie hatte dieses Spiel gekannt. Cameron hatte nur geblufft. Er hatte sie für ein albernes Ding gehalten, das kichernd davonlaufen würde. Aber sie war kein Kind mehr gewesen. Das hätte er doch sehen müssen.

„Also, was ist jetzt?“, hatte er sie gedrängt. „Kommst du nun, oder gehst du endlich weiter, damit ich ans Ufer zurückkehren und mich anziehen kann?“

Langsam hatte sie sich aufgerichtet. Seit Jahren hatte sie sich gewünscht, er möge sie beachten. Sie hatte ihn beobachtet, von ihm geträumt, sich endlose romantische Geschichten um seine schwarzen Haare und faszinierend blauen Augen ausgedacht. Sie war unrettbar bis über beide Ohren in ihn verliebt, und ein gütiges Schicksal hatte ihr die Möglichkeit gegeben, wahrscheinlich die einzige, die sie je bekommen würde, es Cameron zu zeigen.

„Worauf wartest du noch?“, hatte er sie geneckt. „Trau dich endlich!“

Sie hatte sich bewegt. Irgendwie hatten ihre Beine den Pfad gefunden, der zwischen den Felsen zum Strand führte. Schon beim Gehen hatte sie mit zitternder Hand begonnen, das Kleid aufzuknöpfen.

Mary zwang die Gedanken in die Gegenwart zurück und sagte sich, die Sache mit Cameron MacKenna sei vorbei. Sie war jetzt in Afrika und mehr denn sechstausend Meilen gereist, um das zu Ende zu bringen, was in jener Nacht begonnen hatte. Aber ganz ausgelöscht werden konnten die Erinnerungen nicht, denn damals hatte sie Jennifer empfangen.

Sie verließ den dunklen Hof, kehrte auf Zehenspitzen in ihr Zimmer zurück und verschloss hinter sich die Tür. In der Stille war das regelmäßige Atmen der Tochter zu hören, in das sich leise Sauggeräusche mischten. Erfüllt von Zärtlichkeit, neigte Mary sich über das Bett und zog Jenny sacht den feuchten, rosigen Daumen aus dem Mund. Sie verweilte noch, schaute sie an und fühlte eine starke Aufwallung mütterlicher Liebe. Sie wusste, sie würde alles für die Tochter tun, um sie kämpfen, für sie stehlen, ihr zuliebe sogar einen Mord begehen, sollte es notwendig sein. Und sie würde Arthur Tarrington-Leigh heiraten.

Vorsichtig setzte sie sich auf das Fußende des Bettes, schnürte die Stiefeletten auf und ermahnte sich, ihre Pläne der Reihe nach auszuführen. Am kommenden Vormittag würde sie sich in das Büro der Eisenbahngesellschaft begeben, nach dem Gatten erkundigen und vielleicht, sollte ihr Glück beschieden sein, erfahren, dass er sich in der Nähe von Mombasa aufhielt. Falls sie Pech hatte, würde sie ihn suchen müssen. Doch sie würde ihn aufspüren, selbst wenn sie ihm durch den gesamten Schwarzen Kontinent zu folgen hatte, und erledigen, was zu Ende gebracht werden musste. Denn sie würde es für ihre Tochter tun.

Der Angestellte hinter der Theke im Büro der Eisenbahngesellschaft von Uganda blickte auf, als Mary den Raum betrat, und hörte auf, mit tintenfleckigen Händen einen unordentlichen Stapel Papiere zusammenzuschieben.

„Wie kann ich Ihnen dienen, Madam?“, fragte er und lugte sie über das Drahtgestell der Brille an. Das glatte schwarze Haar und die kaffeebraune Haut ließen auf indische Abstammung schließen, doch die Khakihosen und der kurze Haarschnitt entsprachen westlicher Mode. Ein Bleistift steckte hinter dem linken Ohr.

Mary räusperte sich und antwortete: „Ich suche einen Herrn namens Cameron MacKenna. Soweit ich weiß, ist er für dieses Unternehmen tätig.“

„MacKenna?“

In den dunklen Knopfaugen des Mannes leuchtete kein Funke des Erkennens auf, und Mary sank das Herz. Der Bau der Eisenbahnlinie von Mombasa über Nairobi zum Victoriasee war ein gewaltiges Unterfangen, doch die meisten der Arbeiter waren, wie Mary erfahren hatte, von Bombay hertransportiert worden. Also würde man sich gewiss an einen hochgewachsenen blauäugigen Schotten erinnern.

„Welche Arbeit übt Mister MacKenna aus?“, erkundigte sich James Atherton.

„Das weiß ich nicht genau. Aber bestimmt haben Sie eine Liste der Beschäftigten.“

Mit einem gedehnten Seufzer schob er den Haufen Unterlagen beiseite und sagte: „Gut, ich kann nachsehen. Sind Sie eine Verwandte Mr. MacKennas?“

„Er ist …“ Sie zögerte einige Sekunden und antwortete dann entschlossen: „Er ist mein Gatte. Ich muss ihn finden. Deshalb habe ich die lange Reise unternommen.“

James Atherton nickte knapp, drehte Mrs. MacKenna den Rücken zu und begann, in einem Aktenschrank zu kramen.

Mary wandte sich vom Thresen ab, wich einem den Fußboden schrubbenden Inder, der einen Turban trug, aus und blieb vor den an einer stockigen Wand angebrachten Übersichtskarten stehen. Sie zeigten die Fortschritte beim Bau der in einer schräg von Mombasa am Galana entlang bis hin zur ugandischen Grenze verlaufenden Eisenbahnlinie in den vergangenen vier Jahren. Auf der letzten war die Strecke erst knapp bis zur Hälfte des geplanten Zieles vorgedrungen. Durch die in der „Times“ über die „Wahnsinnseisenbahn“, erschienenen Artikel wusste Mary, dass die am Bau beteiligten Arbeiter mit unvorstellbaren Schwierigkeiten zu kämpfen hatten und von Dürren, Überschwemmungen, Krankheiten und Angriffen durch wilde Tiere heimgesucht worden waren. Bei jedem vom Gatten eingetroffenen Brief hatte sie die Erleichterung der Schwiegermutter geteilt, ihn noch am Leben zu wissen, denn die Zahl der beim Streckenbau ums Leben Gekommenen war mittlerweile in die Tausende gestiegen.

„Die Akte Ihres Mannes ist hier, Mrs. MacKenna. Er gehört zur technischen Abteilung und befindet sich daher wahrscheinlich an der Spitze des letzten Bauabschnittes, irgendwo in der Nähe der Machakosstraße.“

Durch die dünne Stimme des Angestellten aus den Gedanken gerissen, schaute Mary wieder auf die Landkarte und sagte bestürzt: „Aber das ist …“

„Fast dreihundertfünfzig Meilen von hier entfernt.“

Mary sank das Herz. „Sind Sie sicher, dass mein Gatte sich dort aufhält?“

„Da ist sein Aufgabenbereich.“

„Und wie oft kommt er her?“

James Atherton blätterte in der Akte. „Sein Lohn wird direkt auf sein Konto bei unserer Bank überwiesen. Ich glaube nicht, dass er oft hier ist, denn sonst würde ich ihn kennen. Die meisten Engländer sind mir vom Sehen bekannt.“ James schaute Mrs. MacKenna an, und nun war sein Blick nicht mehr ganz so unpersönlich. „Bis zum Eintreffen der nächsten Schiffsladung Draht haben wir keine funktionierende Telegraphenverbindung. Sie könnten Ihrem Mann jedoch einen Brief mit dem Güterzug schicken, der morgen früh abfährt. Sobald er erfährt, dass Sie in Mombasa sind …“

„Nein!“, unterbrach Mary ihn rasch und in heftigem Ton. Aus ihr unerklärlichen Gründen hatte der Gatte nicht auf die Briefe ihres Anwaltes reagiert, und daher war es denkbar, dass er ihr aus dem Weg ging, sobald er von ihrer Anwesenheit in der Stadt wusste. Das Beste war, ihn zu überrumpeln. Sie kehrte zur Theke zurück und sagte: „Ich muss unbedingt mit diesem Zug fahren. Seien Sie so gut und verkaufen Sie mir ein Billett.“

Die Miene des Angestellten gefror. „Das ist ganz ausgeschlossen. Passagiere werden erst nach vollständigem Abschluss des Streckenbaus befördert.“

„Im Zug wird es doch gewiss einen Platz für mich geben.“

„Bitte, haben Sie Verständnis, Madam. Der Zug befördert Baumaterial und Arbeiter auf ungedeckten Plattformwagen. Selbst wenn wir den Transport von Passagieren gestatteten, könnte eine Dame nie unter solchen Umständen mitreisen.“

„Aber …“

„Außerdem können Sie sich nicht vorstellen, Madam, wie es in den Lagern zugeht. Man erstickt vor Staub; die Tsetsefliegen sind eine Plage, und das Wasser ist zu brackig zum Trinken. Und überall gibt es Löwen. Bestimmt ist Ihnen zu Ohren gekommen, dass zwei dieser Bestien bei Voi etliche unserer Streckenarbeiter zu Opfer gefallen sind.“

Mary entsann sich des Geredes, das sie im Zollhaus gehört hatte, und entgegnete kühl: „Wenn ich mich nicht täusche, wurden diese Löwen im vergangenen Monat erschossen.“

„Ja, doch nur diese beiden. Es gibt viele andere.“

„Ich würde gern mit Ihrem Vorgesetzten sprechen.“

James Atherton zuckte mit den Schultern. „Wie Sie wollen, Madam. Zu seinem Büro kommen Sie da über die Treppe. Aber Sie verschwenden nur Ihre Zeit. Er wird Ihnen genau das Gleiche sagen wie ich.“ James wandte sich wieder der Aufgabe zu, die zur Seite geschobenen Unterlagen zu sortieren.

Mary ging zu der eisernen Treppe, setzte einen Fuß auf die unterste Stufe und hielt zögernd inne. Der Angestellte hatte recht. Sein Vorgesetzter konnte ihr auch nicht helfen und würde vielleicht sogar, was viel schlimmer gewesen wäre, ihren Gatten warnen, dass sie ihn suchte. In solchen Dingen pflegten Männer stets zusammenzuhalten. Nein, es musste eine andere Möglichkeit geben, zu Cameron zu gelangen.

Autor

Elizabeth Lane
Immer auf der Suche nach neuen Abenteuern und guten Stories, hat Elizabeth Lane schon die ganze Welt bereist: Sie war in Mexiko, Guatemala, Panama, China, Nepal und auch in Deutschland, aber am wohlsten fühlt sie sich im heimatlichen Utah, im Westen der USA. Zurzeit lebt sie mit ihrer 18jährigen Katze...
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