Million Dollar Secrets - Sieben Richtige! (7-teilige Serie)

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HEIßER FLIRT MIT DEM BESTEN FREUND
Es ist nicht gerade Renee Stevensons bester Tag: Erst wird sie bei der Beförderung übergangen, dann verfehlt sie knapp den Lotterie-Jackpot. Aber dann trifft sie in einer Bar zufällig einen Bekannten aus Collegezeiten wieder. Der attraktive Jim Lydel war nicht nur ihr bester Freund - sondern auch ihr heimlicher Schwarm. Vielleicht ist es ja doch Renees Glückstag …

ALLES - UND NOCH VIEL MEHR!
Ein romantisches Dinner, heiße Tänze in einer Bar und dann in einen Stripclub! Jane genießt das Wochenende in Las Vegas - und Lust und Leidenschaft mit dem sexy Anwalt Perry Brewer. Doch als sie sich in ihn verliebt, reist Jane Hals über Kopf ab …

WILDE KÜSSE IM CADILLAC
Die oder keine! Als der Unternehmer Devon Bradshaw die schöne Nicole nach einem prickelnden Date in seinem Cadillac nach Hause fährt und zum Abschied heiß küsst, weiß er: Er hat seine Traumfrau gefunden! Leider vergisst er, das Nicole auch zu sagen ...

MANCHE MÖGEN'S HEIßER
Als Ex-Moderatorin Eve den attraktiven Mitch trifft, rast ihr Herz! Auf einen heftigen Flirt folgt prickelnder Sex. Überglücklich beginnt Eve von einer gemeinsamen Zukunft zu träumen - doch böse Zungen behaupten, Mitch hätte sie nur wegen seiner Karriere verführt!

VERRÜCKT NACH KELLY
Ist das seine große Chance? Bei einer heißen Kussszene darf der Kameramann John für den Hauptdarsteller einspringen - und will noch viel mehr von der schönen Schauspielerin Kelly. Doch er ist jünger als sie, und Kelly will weg aus Atlanta, um in Hollywood Karriere zu machen …

ABER BITTE MIT LIEBE
Bloß keine Gefühle in Männer investieren, rät Jessie allen Frauen in einer Talkshow. Entsprechend locker ist ihre Affäre mit Cole - bis sie spürt, dass sie sich langsam in ihn verliebt. Voller Panik hat die sonst so coole Privatdetektivin nur noch einen Gedanken: Flucht!

LIEBE MICH - WILD UND HEMMUNGSLOS
Küss mich, liebe mich, bleib für immer …" Verführerische Worte flüstert Evan ihr zu, während er sie in seinen Armen hält. Und nichts würde Liza lieber tun, als ihm alle sinnlichen Wünsche zu erfüllen. Aber ein gefährliches Geheimnis bindet sie an einen anderen …"


  • Erscheinungstag 28.02.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733739386
  • Seitenanzahl 904
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

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Debbi Rawlins, Stephanie Bond, Lori Borrill, Shannon Hollis, Kate Hoffmann, Jill Monroe

Million Dollar Secrets - Sieben Richtige! (7-teilige Serie)

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Produktion:

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1. KAPITEL

„Einen Gin Tonic, bitte. Und ein paar Oliven mehr als üblich.“

Der Barmann im Georgia Peach lächelte aufmunternd und begann, den Drink zu mixen.

An einem Donnerstagabend wäre sie normalerweise nicht in eine Bar gegangen, doch heute, fand Renee, hatte sie allen Grund dazu. Schließlich wurde man nicht jeden Donnerstag bei einer wichtigen Beförderung übergangen - noch dazu, nachdem man sich dafür fast zu Tode geschuftet hatte. Und ausgerechnet dieser Bob Nelson war ihr vorgezogen worden, diese schleimige Ratte!

Verdammt, sie hatte sich doch vorgenommen, sich nicht aufzuregen. Seit fünf Jahren arbeitete sie für die Werbeagentur Travis and Whites und hatte einige der größten und erfolgreichsten Kampagnen durchgezogen. Aber als es jetzt zur Sache ging, hatten die Kerle sie ausgebootet und diesen tollen, hoch bezahlten Job an einen Mann vergeben.

Da blieb wohl nichts anderes, als ganz neu anzufangen. Vielleicht sollte sie Atlanta einfach hinter sich lassen. New York, da gab es die fetten Jobs, die wirklich großen Agenturen.

„So, bitte schön!“ Der Barmann stelle ihren Drink vor sie.

„Danke.“ Renee trank einen großen Schluck und schüttelte sich ein wenig. Eigentlich war sie kein großer Fan von Alkohol. Schnell aß sie eine Olive hinterher, aber das war auch kein echter Trost. Diese Beförderung hatte sie sich so sehr gewünscht. Ersehnt.

Sie nahm noch einen Schluck und verzog das Gesicht. Der Gin Tonic schmeckte immer noch nicht besser. Seufzend sah sie sich im Raum um, und ihr Blick blieb an dem großen Fernseher haften, der über der Bar an der Wand hing. Auf dem Schirm wirbelten kleine weiße, mit Ziffern versehene Bälle in einem gläsernen Behälter durcheinander, und das bekannte Logo der Georgia-State-Lotterie wanderte durchs Bild.

Renee kramte in ihrer Handtasche und fischte das Lotterielos heraus, das sie gestern gekauft hatte. Bei dem jähen Anflug von Hoffnung verdrehte sie über sich selbst die Augen. Hatte sie es denn noch nicht kapiert? Das Unmögliche zu wünschen war … einfach unmöglich!

Weiter hinten in der Bar, in der äußersten Ecke, die er hatte finden können, beantwortete Jim Lydel eine weitere der E-Mails, die ihn von New York über Philadelphia bis Los Angeles und jetzt nach Atlanta verfolgten. Seine Firma hatte gerade die neue Version eines Software-Pakets herausgebracht, das Internetspiele um vieles vereinfachte - und um vieles verteuerte. Überall, wo er das neue Modell vorstellte, war er vollauf beschäftigt. Tagsüber mit Vorträgen und Demos der Software und bis spät in die Nacht mit gesellschaftlichen Events, weil es Einladungen zu Geschäftsessen oder sonstigen Veranstaltungen nur so regnete. Zeit, sich mit dem normalen Tagesgeschäft zu befassen, blieb ihm kaum. Heute Abend hatte er zum ersten Mal seit Langem keine Verpflichtungen und war deshalb in dieser recht ansprechenden Bar eingekehrt, in der es warme Snacks und kaltes Bier gab.

Die Betriebsamkeit störte ihn nicht, sondern erinnerte ihn an sein Büro, in das ständig irgendein Mitarbeiter hereinplatzte und wo immer das Radio lief.

Eigentlich machte ihm sein Beruf ungeheuren Spaß, nur die Reisetätigkeit nervte ihn. Nicht, dass ihn der Erfolg gestört hätte, nur war er tief im Herzen immer noch der begeisterte Programmierer, der eingefleischte Online-Gamer, von daher empfand er die Leitung des Geschäfts als äußerst mühsam. Aber bald, in vier Tagen genau, würde er wieder nach New York zurückkehren, zu dem Wahnwitz seiner alltäglichen Arbeit, würde wieder in seinem eigenen Bett schlafen, morgens mit Jessie, seiner Hündin, joggen und anschließend ins Büro fahren, seinem wahren Zuhause.

Noch einmal überflog er den Satz, den er gerade geschrieben hatte, korrigierte einen Fehler und schickte die Mail dann schnell ab. Nun arbeitete er schon seit zwei Stunden, und langsam ließ seine Konzentration nach. Vielleicht sollte er es für heute gut sein lassen. Morgen war Wochenende. Gott sei Dank ohne weitere Verpflichtungen, also könnte er dann weitermachen. Obwohl er ursprünglich überlegt hatte, sich die Stadt anzuschauen, erschien ihm auch dieser Plan im Moment nicht besonders verlockend. Früher hatte es ihm Spaß gemacht, und er fand es aufregend, allein in einer fremden Stadt zu sein. Vielleicht wäre es anders, wenn er eine Begleitung hätte …

Ein spitzer Aufschrei ließ ihn aufblicken. Eine Frau, klein und schlank, stand zwischen den vorwiegend männlichen Barbesuchern am Tresen, ein Stück Papier in der Hand, und starrte auf den Fernsehschirm, wo gerade die Ziehung der Staatslotterie übertragen wurde. An der Haltung der Frau erkannte er ihre Anspannung.

Er lächelte und drückte ihr die Daumen, und während er sie noch betrachtete, regte sich vage etwas in seinem Gedächtnis. Dann drehte sie sich nur für eine Sekunde in seine Richtung, und mehr brauchte es nicht, um seine Erinnerung auf Touren zu bringen, sodass er laut ihren Namen aussprach.

Wie elektrisiert stand er auf. Laptop und Bier blieben vergessen auf dem Tisch zurück. „Renee“, sagte er noch einmal, dieses Mal leise, und fühlte sich plötzlich zurückversetzt in eine Zeit weit vor seiner Firmengründung, bevor ihn das Leben auf die schnelle, glatte Straße des Erfolgs geführt hatte.

Während er sich zwischen den vielen besetzten Tischen hindurchschob, dachte er an den Tag, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte - an seinem ersten Tag in Stanford: Sie hatte vor ihm in der Schlange vor der Cafeteria gestanden, und er wusste noch, als wäre es erst gestern gewesen, welchen Eindruck sie auf ihn gemacht hatte. Ihr dunkles Haar, wilde, zu einem dicken Pferdeschwanz gebundene Locken, die Ernsthaftigkeit, die sie auf die Wahl ihres Essens verwandte. Damals war sie ein wenig mollig gewesen, doch ihr Gesicht hatte ihn derart fasziniert, dass er ihr zu einem Tisch gefolgt war und sich auf den Platz neben ihr gequetscht hatte.

Jetzt war sie schlanker, ihr Haar war glatt und gezähmt, doch es war immer noch Renee. Und nach all den Jahren faszinierte sie ihn erneut wie keine Frau je zuvor.

Bei der fünften richtigen Ziffer begann ihr Herz wie wild zu hämmern. Oh Gott, was, wenn …? Renee war vom Barhocker aufgesprungen und schaute hektisch zwischen dem Bildschirm und ihrem Los hin und her, obwohl sie ihre Zahlen auswendig konnte, weil sie immer die gleichen tippte. Vergeblich sagte sie sich, dass erst fünf Ziffern stimmten, die sechste, die wichtigste, die entscheidende, fehlte.

Noch einmal und noch einmal verglich sie die Ziffern. Klar, die ersten fünf stimmten. Noch eine! Und da war sie. Die letzte, die, die alles ändern würde, sie reicher als in ihren kühnsten Träumen machen würde. Diese eine noch, und sie könnte Travis and Whites sagen, wohin die sich ihre dämliche Beförderung stecken sollten.

Los, die Vier! Die Vier! Komm schon!

Sieben.

Ihre Hoffnung zerplatzte wie eine Seifenblase. Wieder mal haarscharf am Glück vorbeigeschrammt. Wie blöd war sie gewesen, überhaupt zu hoffen.

„Renee?“

Die Stimme des Mannes hinter ihr ließ sie erschauern, doch erst als sie sich umdrehte, wusste sie, warum.

„Jim“, flüsterte sie. Unwillkürlich lächelte sie, doch innerlich wappnete sie sich gegen eine weitere Enttäuschung. Sie hatte diesen Mann einmal geliebt.

Ach, wem machte sie hier etwas vor? Sie liebte ihn immer noch.

2. KAPITEL

Gerade war sie bei der Lotterie leer ausgegangen, als Krönung des Tages, an dem man sie bei der Beförderung übergangen hatte, die ihrer Karriere einen gehörigen Schub verpasst hätte, und dennoch interessierte sie im Moment nur eines - dass Jim Lydel vor ihr stand, der Mann, den zu lieben sie nie aufgehört hatte.

„Wow“, sagte er, wobei er sie anstrahlte, als wäre ihr zu begegnen das höchste der Gefühle. „Du bist es wirklich! Ich kann‘s kaum glauben.“

Sie streckte die Hand aus und fuhr ihm leicht über den Oberarm, wie um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte. „Ja, ich bin‘s, Renee, immer noch die Alte.“

Jim schüttelte den Kopf. „Nein, ganz bestimmt nicht. Du sieht unverschämt gut aus.“

Was als Kompliment gemeint war, traf sie wie ein Tiefschlag, denn seine Worte bedeuteten nichts anderes, als dass sie nicht mehr das dicke, hässliche Mädchen vom College war. Die kumpelhafte Freundin, die man getrost zu den „Jungs“ zählen konnte. Aber warum sollte sie ihm das vorwerfen? „Ach was, ich bin nur acht Jahre älter und lasse mein Haar vom Friseur glätten - und ich bin total baff, dich hier zu treffen.“ Sie sah sich im Georgia Peach um. Das hier war keine Touristenfalle oder schicke Insiderbar; sie selbst kannte sie nur, weil ihr Apartment gerade mal ein paar Hundert Meter von hier entfernt lag.

„Ich bin auch ziemlich baff, dass ich hier bin“, sagte er und trat näher an sie heran. „Eigentlich war ich auf dem Weg zum ‚Peachtree Plaza‘, aber ich hab mich verlaufen.“

„Ich muss sagen, du siehst gut aus.“ Sie musterte ihn offen. Er war viel muskulöser geworden, und seine Frisur ähnelte keineswegs mehr der strubbeligen Mähne des Stanfordstudenten. Im College war er süß gewesen, jetzt war er einfach umwerfend. Konnte es sein, dass Jim Lydel, der Typ, der jede Folge von „Raumschiff Enterprise“ mitsprechen konnte und sich leidenschaftlich für Computeranimationen interessierte, aufgewacht war? Dass er hinter seinem Computer hervorgekommen und in der Realität gelandet war? „Wirklich gut“, fügte sie hinzu.

„Nicht mein Werk“, erklärte er und legte ihr eine Hand auf den Arm. „Hier ist es so laut, aber ich möchte hören, wie es dir ergangen ist. Hast du schon gegessen?“

Renee wusste, er hatte eine Frage gestellt, aber ihr Hirn war zu beschäftigt damit, zweierlei zu verarbeiten: einmal das Gefühl, das seine Hand auf ihrem Arm hervorrief. Und zum anderen dieses „Nicht mein Werk“. Letzteres musste bedeuten, dass er verheiratet war und seine Frau aus ihm einen Mann gemacht hatte, der italienische Lederschuhe trug. Hastig musterte sie seine linke Hand, und während sie unterbewusst bemerkte, dass sie manikürt war, entdeckte sie bewusst … nichts. Kein Ehering. War es möglich …?

„Renee?“

Sie sah zu ihm auf, in seine großen braunen Augen. Die hatten sich überhaupt nicht verändert. Sie waren immer noch umgeben von dichten dunklen Wimpern und erinnerten immer noch an Milchschokolade.

Die Erinnerung an ihr erstes Zusammentreffen überflutete sie, komplett mit Bildern, Geräuschen und Gerüchen. Sie war neu gewesen in Stanford, war ängstlich und so allein, wie man es im ersten Semester nur sein konnte. Er war an ihren Tisch gekommen und hatte sich neben sie gesetzt. Weil sie gedacht hatte, der Tisch wäre reserviert, hatte sie schon ihr Tablett nehmen und sich einen anderen Platz suchen wollen, doch dann hatte er gefragt, ob er ihr Gesellschaft leisten dürfe.

Sie hatte genickt, war rot geworden. Was konnte er von ihr wollen? Es musste irgendetwas Blödes sein, irgendein gemeiner Streich, den man den neuen Studenten spielte. Anders hatte sie es sich nicht erklären können, denn der Junge neben ihr war der Hammer.

Und während sie noch einen weiteren Blick gewagt hatte, war es passiert - sie hatte sich verknallt und blieb es das ganze erste Studienjahr. Im zweiten Jahr hatte sich das geändert; ihre Verliebtheit hatte sich zu einem anderen Gefühl gewandelt, einem tieferen, schmerzhafteren. Denn sie hatte Jim kennengelernt, richtig gut kennengelernt. Und lieben gelernt.

„Renee? Alles okay?“

Sie blinzelte und lächelte dann. „Ja. Ich hab nur gerade überlegt, ob ich mich irgendwie aus dem Meeting nachher im Büro ausklinken könnte. Aber nein, tut mir leid, das klappt nicht. Dabei hätte ich wirklich gern gehört, wie es in den letzten Jahren so bei dir gelaufen ist.“

„Ah, verstehe“, erwiderte er, ganz verwundert darüber, wie sehr ihn ihre Absage enttäuschte. „Aber ich bin noch ein paar Tage hier. Wie wäre es mit morgen?“

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, doch dann lächelte sie dieses Lächeln, das er so gut kannte. Auch wenn ihre Frisur anders war, insgesamt war sie immer noch die echte, einzigartige Renee, sodass es ihm vorkam, als lägen nur Tage und nicht Jahre zwischen ihrer letzten Begegnung und heute.

„Ruf mich an, ich versuch mein Bestes.“

Er nickte, während sie nach ihrer Tasche griff. Sie stopfte den Lottoschein, den sie immer noch in der Hand hielt, in ihre Geldbörse und nahm eine Visitenkarte heraus. Als sie sie ihm reichte, wurde sie ein bisschen rot.

„Ah, in der Werbung. Das leuchtet mir ein.“

„Es sollte was anderes werden, erinnerst du dich?“ Sie lehnte sich an den Tresen, sodass die Bluse über ihren Brüsten spannte. „Eigentlich müsste ich dir jetzt eine Ausgabe meines ersten großen Romans in die Hand drücken.“ Sie grinste. „Ich wollte die literarische Welt erobern, und du … du wolltest der König der Computerspiele werden.“

Nun wurde er rot, was ihm seit Ewigkeiten nicht mehr passiert war. Der König war er nicht, aber in der ersten Liga spielte er schon.

„Hey …“ Die Augen weit aufgerissen, beugte sie sich zu ihm. „Du wirst rot?“

Das versetzte ihn zurück ins College, wenn sie spätabends im Wohnheim bei billigem Wein und lauter Musik zusammengehockt hatten, Renee im Schneidersitz auf dem Fußboden. Sie hatten gelacht, bis ihnen die Luft wegblieb, hatten geredet und diskutiert, sämtliche Probleme der Welt gelöst und am nächsten Abend von vorn angefangen.

„Verdammt, du bist der König der Computerspiele, stimmt‘s?“

Er öffnete den Mund, doch ihm fiel so rasch keine bescheidene Lüge ein, was seltsam war. Nicht, dass ihm nichts einfiel, aber er wollte ja nicht lügen.

Sollte er nicht stolz sein? Sollte er nicht ganz wild darauf sein, seinem alten Kumpel Renee zu erzählen, dass er den Jackpot geknackt hatte?

„Mist!“, sagte sie gespielt unwillig. „Jetzt müssen wir uns morgen treffen!“

Er lachte. „Tut mir leid, ich wollte dir keine Umstände machen.“

Sie gab ihm einen Klaps auf den Arm. „Du weißt, wie ich es meine.“

„Ja, klar. Also bleibt es dabei?“

„Ruf mich an. Ich such uns ein schickes Restaurant aus.“

„Mir sind auch Hamburger recht, wenn du nur dabei bist.“

Er sah eher, dass sie leicht aufkeuchte, als dass er es gehört hätte.

„Du, ich muss jetzt los …“

„Klar.“ Er fragte sich, wie sie sich jetzt trennen sollten. Kurz drücken? Ein Kuss? Nur winken? Doch sie löste das Problem, indem sie sich schnell und fest an ihn presste. Er spürte die Wärme ihres Körpers und die weichen Rundungen ihrer Brüste. Dann riss sie sich im wahrsten Sinn des Wortes von ihm los, griff nach ihrer Börse und bezahlte ihren Drink.

Er trat zwei Schritte zurück und hob die Hände. „Okay, dann bis morgen. Ich rufe an. Es wird wie in den guten alten Zeiten sein.“

Ihr Blick war durchdringend und traf ihn unerwartet. Dieses Mal sah er Schmerz darin. Aber warum? Was, zum Teufel, war hier eigentlich los?

Morgen. Morgen würde er es herausfinden. Jetzt wandte er sich erst einmal ab, auf dem Weg zurück zu seinem Laptop, seinen E-Mails. Aber eins wollte er vorher unbedingt noch wissen.

„Renee?“

Sie war schon auf dem Weg zum Ausgang der Bar. Nun drehte sie sich langsam zu ihm um und lächelte, auf eine sehr verwirrende Art. „Hm?“

„Bist du verheiratet?“

Wieder blinzelte sie. „Nein.“

„Gut.“ Nun konnte er beruhigt wieder an die Arbeit gehen, die nächsten vierundzwanzig Stunden mit tausend Sachen ausfüllen. Wenigstens diese Frage war geklärt.

3. KAPITEL

Renee schaute Jim nach, bis er zwischen den anderen Gästen verschwunden war. Seine Frage hallte immer noch in ihr nach. Jim, ihre erste, ihre größte und einzige Liebe, Jim, den sie acht Jahre nicht gesehen hatte, für den sie immer, immer nur eine gute Freundin gewesen war, hatte wissen wollen, ob sie verheiratet war.

Und das war nur halb so bizarr wie seine Reaktion, als sie mit Nein geantwortet hatte. Er hatte „gut“ gesagt und gelächelt. Gelächelt, als wäre das die großartigste Neuigkeit des Tages.

Was, zum Teufel, sollte das? So sehr hatte sie sich nun auch nicht verändert. Sie war ein bisschen schlanker geworden … und femininer. Frisur, Make-up, ja verdammt, was immer dabei half, war alles okay, aber nicht übermäßig wichtig. Doch so, wie sie Jim immer noch als den Jim sah, der im Wohnheim das Zimmer über ihr gehabt hatte, so musste er in ihr immer noch die pummelige, ein bisschen verrückte Renee sehen. Die, die ihm geholfen hatte, damit er nicht wie ein Volltrottel aussah, als er Lena Charles um ein Date gebeten hatte. Die Renee, die gelächelt hatte, als diese Lena sich in ihren Kreis gedrängt hatte. Die tausend Tode gestorben war, wenn sie mit ansehen musste, wie er Lena berührte, von Küssen ganz zu schweigen.

Jemand stieß gegen sie und brachte sie dazu, weiterzugehen, hinaus aus der Bar. Vom Parkplatz aus fuhr sie zu dem kleinen Laden neben ihrem Häuserblock. Was sie jetzt brauchte, war eine große Packung Eiscreme. Mit der stürzte sie zurück in ihr Auto, wollte einfach nur nach Hause.

Dass sie heute Abend noch ein Meeting hatte, war natürlich eine Lüge gewesen. Nicht, dass sie gewohnheitsmäßig log, doch sie brauchte einfach Zeit, musste sich erst mit dem Gedanken vertraut machen, dass Jim hier war. Und die erste Ausrede, die ihr in den Sinn gekommen war, war eben, ein Meeting vorzuschützen. Obwohl in Wirklichkeit nichts auf sie wartete als ihr Bett und ihre Katze. Und jetzt stand auf ihrer Tagesordnung eine Menge, worüber es nachzudenken galt. Sie musste eine Entscheidung treffen.

Sollte sie tatsächlich morgen Abend mit ihm essen gehen? Schon allein ihn zu sehen erzeugte so viele widersprüchliche Gefühle in ihr.

Drei Jahre lang war er ihr bester Freund gewesen, bis er ein Jahr vor ihr seinen Abschluss gemacht hatte. Er war für sie da gewesen nach ihren wenigen, stets katastrophalen Verabredungen mit anderen Jungs, aber er hatte sie nie ausgeführt. Hatte sie nie geküsst oder ihr auch nur den Eindruck vermittelt, dass sie für ihn mehr als nur eine Freundin wäre.

Zu Hause angekommen, fütterte sie ihre Katze Cooper, von der sie bedingungslos geliebt wurde, solange sie ihr brav die Dosen öffnete, und schlüpfte in ihren kuscheligsten Pyjama. Dann saß sie auf dem Bett, den Fernseher ausgeschaltet und das Licht gedimmt, und futterte einen Löffel Eiscreme nach dem anderen, bis die Packung leer war. Inzwischen war sie zu der Entscheidung gelangt, dass sie sich mit Jim treffen würde. Obwohl sie wusste, dass er ihr das Herz brechen würde. Wieder mal.

Jim beeilte sich, zu dem Restaurant zu kommen. Den ganzen Tag hatte er nur an das Treffen mit Renee gedacht.

Dank ihr gehörte die Zeit im College zu den besten Erfahrungen seines Lebens. Renee war sein größter Fan gewesen, hatte ihn angefeuert und ihm den Mut gegeben zu glauben, dass Computerspiele zu entwickeln sich auszahlen würde. Sie hatte ihn gelehrt, an sich zu glauben. Erst dieses Vertrauen in sich selbst hatte ihn dazu gebracht, seine Firma zu gründen, und hatte ihn ohne Umwege zum Erfolg geführt.

Er wünschte nur, er könnte verstehen, was mit ihr los war. Warum sie bei ihrem Wiedersehen gestern so … merkwürdig gewesen war. Gab es Probleme mit einem Mann? Oder bei der Arbeit? Je länger er darüber nachdachte, desto logischer schien es ihm, dass sie in die Werbung gegangen war. Aber vielleicht war sie von sich enttäuscht, weil sie diesen Roman nicht geschrieben hatte.

Wie versprochen, hatte sie das Restaurant ausgesucht - einen Italiener in einer Einkaufspassage, der leicht zu finden war, der aber auch, wie sie ihn am Telefon gewarnt hatte, von außen nicht sonderlich viel hermachte.

Obwohl er zehn Minuten zu früh eintraf, war Renee schon da. Während er ihren Tisch ansteuerte, sah er ihr Lächeln und fühle sich seltsam berührt.

„Oh, zu viel Sonne?“, fragte sie, als er sich setzte.

Er nickte. „Hab die Sonnencreme vergessen. Meine Nase wird leuchten wie eine rote Ampel, wenn ich am Montag meine Präsentation mache.“

„Los, erzähl mir alles! Ich bin so neugierig. Aber lass uns zuerst Wein bestellen.“

Wieder nickte er, er konnte immer noch nicht ganz fassen, dass er wahrhaftig mit ihr hier saß. Mit Renee. Ihr direkt gegenüber.

Sie bestellten und plauderten über seinen Sightseeing-Nachmittag, bis der Kellner den Wein und die Vorspeisen brachte. Dann waren sie endlich allein, und er wartete darauf, alles über Renees Leben zu erfahren.

„Also, was ist mit dieser Präsentation?“, kam sie ihm zuvor.

„Nein, du zuerst, ich bin todlangweilig.“

Als sie den Kopf schüttelte, konnte er kaum glauben, dass das dieselbe Renee war wie früher.

„So langweilig wie ich kannst du unmöglich sein“, meinte sie. „Obwohl ich Sonderpunkte dafür kriegen müsste, wie sehr mein Job mich runterzieht.“

„Na, jetzt komm aber!“

„Doch, ehrlich. Ich war gestern nur in der Bar, weil mir eine Beförderung vor der Nase weggeschnappt wurde. Und ich hatte sie mir wirklich verdient. Nun muss ich mich neu orientieren und einen anderen Weg einschlagen, und beim Gedanken an Vorstellungsgespräche bekomme ich Gänsehaut. Und daher - was mieses Karma angeht, stehe ich in der ersten Reihe.“

Er beugte sich zu ihr und nahm ihre Hand. „Ich ahne, wie es in deiner Firma zugeht. Weißt du, wer auch immer dein Chef ist, er ist ein Idiot. Die können dich mal! Such dir was, wo man dich zu schätzen weiß.“

Renee lachte. „Verdammt, wie mir das gefehlt hat!“

„Es ist die Wahrheit. Du bist intelligent und witzig. Du bist originell und hast deine ganz eigene Sicht auf die Welt. Welche Werbeagentur würde dich nicht mit Kusshand nehmen?“

Renee befreite ihre Hand unauffällig und griff nach ihrem Glas. Seine Worte waren elektrisierend, und doch … er kannte sie nicht. Er sah sie durch die nostalgische Brille, die okay war, aber die Dinge verschwommen wiedergab. Dass sie nicht befördert worden war, bewies zur Genüge, wie wenig seine Beschreibung von ihr zutraf.

„Du kannst dich nicht so sehr verändert haben“, fuhr Jim fort. „So sehr ändert sich niemand. Ich meine, sicher, deine Träume und deine Ziele mögen sich ändern, aber im College waren wir schon so ziemlich dieselben Menschen wie heute. Alles, was wichtig ist, wie Werte und Moralvorstellungen und so was, das hatten wir doch damals schon, und außer es wäre etwas wirklich Einschneidendes passiert, kann ich mir nicht vorstellen, dass …“ Er brach ab, presste die Lippen zusammen und runzelte die Stirn. „Ist dir so etwas passiert? Bin ich gerade mitten ins Fettnäpfchen getreten?“

Du bist mir passiert, dachte sie, du hast mich für alle anderen Männer verdorben. Alle, wie sie da waren, habe ich mit dir verglichen, weißt du das? Doch sie sagte nur: „Nein, nichts dergleichen. Nur der tägliche Frust und zu viele Enttäuschungen. Und deshalb will ich jetzt hören, wie es dir ergangen ist. Was ist mit dieser Präsentation?“

Er sah sie lange an. So lange, dass inzwischen ihr Essen serviert wurde. Während sie aßen, erzählte er ihr, wie sein Leben in der Zwischenzeit verlaufen war, und während sie zuhörte, fielen ihr nach und nach all die Gründe wieder ein, weshalb sie sich in ihn verliebt hatte. Für sie war Jim der eine, der Einzige. War es immer gewesen. Würde es immer sein. Wenn das nicht Pech war!

Ihr Auto stand eine Straße weiter, und Jim, nett, wie er nun einmal war, bestand darauf, sie hinzubegleiten. Sie wehrte ab, sagte, dass die Straßen hier sicher waren, doch er wollte nichts davon hören. Ob sie etwas aus seiner Hartnäckigkeit herauslesen sollte, wusste sie nicht genau. Vielleicht wollte er wirklich nur ein Gentleman sein und sie zum Wagen bringen.

„Das mit deinem Job tut mir echt leid“, bemerkte er. „Aber vielleicht ist das ja deine große Chance. Hast du mal überlegt, ob du Atlanta hinter dir lassen solltest? Versuch doch dein Glück in Los Angeles oder - noch besser - in New York.“

Da sie mittlerweile wusste, dass er in New York lebte, kam das eigentlich für sie nicht infrage. Doch nach seinem „noch besser“ war sie sich nicht mehr so sicher. „Los Angeles vielleicht, da gibt es ein paar gute Agenturen.“

„Siehst du! Das meine ich! Die wären froh, dich zu kriegen.“

„Ich glaube, du hast recht“, stimmte sie zu und glaubte es in diesem Moment wirklich. Sie hatten stundenlang geredet, und beim zweiten Glas Wein hatte sie aufgehört, an die Vergangenheit zu denken, und sich auf die Gegenwart konzentriert. Egal was gewesen war, sie mochte Jim. Er war nur kurze Zeit hier, und sie wäre dumm, wenn sie sich das durch ihre albernen romantischen Gefühle verderben ließe.

„Da, das ist meiner“, sagte sie ablenkend.

Der Wagen erntete nur einen flüchtigen Blick, was sie jedoch nicht von dem Blick behaupten konnte, den Jim ihr anschließend schenkte. „Ich bin noch ein paar Tage hier“, erklärte er. „Ich möchte dich morgen wieder treffen; kannst du nicht deine Termine für morgen absagen?“

Sie tat, als würde sie überlegen. „Okay.“ Sie hielt es nicht für nötig, zu erwähnen, dass es nichts abzusagen gab. „Ruf mich an; nur nicht zu früh, ich möchte ausschlafen.“

„Wir könnten gemeinsam ausschlafen.“

„Tun wir, du in deinem Hotel, ich in meiner Wohnung“, entgegnete sie forsch, bemüht, bei seinem tiefen, heiseren Lachen nicht dahinzuschmelzen. „Du findest den Weg zu deinem Hotel?“

Er nickte.

„Gut, fantastisch. Wir reden morgen. Es war toll heute Abend.“

„Fand ich auch. Schlaf gut.“

Würde sie nicht, aber sie lächelte trotzdem. „Du auch“, sagte sie und öffnete die Wagentür.

Sie spürte ihn hinter sich, noch ehe er ihre Schulter berührt hatte. Einen Sekundenbruchteil später hatte er sie herumgedreht, und als sie aufblickte und in seine dunklen Augen sah, entdeckte sie dort etwas, das sie nie zu finden gehofft hatte. Leidenschaft. Feuer. Dann fühlte sie seine Lippen auf ihren und verlor jede Fähigkeit zu denken.

4. KAPITEL

Hier, mitten auf der Straße, schlang Jim die Arme um sie, küsste sie und drückte sie an sich. Zuerst schien Renee steif und verlegen, und er hätte sie beinahe losgelassen, doch dann öffnete sie die Lippen, ihr Körper entspannte sich und …

Genau so. So hatte er es sich immer vorgestellt. Renee, weich und willig, und sie schmeckte nach Wein und Erinnerungen. Er wollte sie wissen lassen, wie viel sie ihm bedeutet hatte. Dass ihr Glaube an ihn alles verändert hatte, ihm Mut und Kraft gegeben hatte.

Während all der Jahre hatte sie ihren Zauber gewirkt, und die ganze Zeit über hatte er sich gewünscht, dass es anders zwischen ihnen sein könnte. Er ging nicht so weit zu glauben, dass ein Kuss nun ihre Welt auf den Kopf stellen würde. Seine Welt stand aber bereits Kopf.

Er hörte auf zu denken und widmete sich ganz dem Gefühl, wie sie in seinen Armen lag und sich an ihn presste.

So hätte er sie in einer jener langen, mit Diskussionen verbrachten Nächte küssen sollen. Was hatte er sich damals eigentlich gedacht?

Renee löste sich nur kurz von ihm, um einzuatmen, dann presste sie die Lippen wieder auf seinen Mund. Sie konnte kaum glauben, dass sie sich küssten. Geschah das wirklich? Wie lange hatte sie von diesem Augenblick geträumt!

Er ließ seine Hände über ihren Rücken gleiten, und als gute Schülerin folgte sie seinem Beispiel und streichelte ihn ebenfalls. Sein Körper war nicht mehr dünn und schlaksig, sondern kräftig und muskulös. Sie wollte seine Haut spüren, alles an ihm fühlen, doch sie würde nehmen, was sich ergab.

Jim stöhnte leise und strich mit den Lippen über ihren Hals, leckte an der weichen Haut, ließ seine Zunge über ihre Wange und zurück zu ihrem Mund wandern.

Willig öffnete sie sich seinem Drängen, gab sich ganz dem Augenblick hin, unterdrückte ihre dummen Gedanken, die sich schon das Ende ausmalten, und jedes Mal, wenn sie sich vorstellte, wie er wegging, holte er sie mit seinen Händen und seinem Mund wieder in die Gegenwart zurück. Weckte die lustvollsten Wünsche in ihr.

Wie lange sie sich schon küssten, wusste sie nicht, aber dass er mehr wollte, ließ er sie wissen, als er sie fest an sich drückte und sich an ihr rieb.

Er war hart. Ihretwegen. Er wollte mehr als einen Kuss. Als ihr das klar wurde, brannten heiße Tränen in ihren Augen. Das hier war der Mann ihrer Träume, der Mann aus ihren Fantasien, der Mann, den sie liebte, seit sie wusste, was Liebe war.

Nur - würde es nicht viel mehr schmerzen, ihn in ihrem Bett zu haben, ihn in sich zu spüren und ihn dann fortgehen zu sehen? Würde ihr die Erinnerung an eine einzige Nacht genügen?

„Ich möchte heute Nacht mit dir zusammen sein“, flüsterte er, umfasste eine ihrer Brüste und massierte sie mit dem Daumen.

Voller Verlangen bog sie sich der Berührung entgegen und konnte nicht anders, als Ja zu sagen.

Nur zögernd, als schmerzte es ihn, sich von ihr zu trennen, trat er einen Schritt zurück. „Mein Wagen steht drüben beim Restaurant.“

„Ich warte hier.“

Er grinste wie früher, wenn er einen fiesen Computervirus unschädlich gemacht hatte, dann küsste er sie hart und kurz und hastete mit elastischen Schritten davon.

Renee sah ihm nach, bis er um die Hausecke verschwunden war. Ihr Herz flatterte, und ihr Puls raste.

Sie stieg in ihren BMW und betrachtet sich im Rückspiegel. Doch, sie war immer noch sie selbst, samt glänzender Nase und allen anderen Unzulänglichkeiten. Und in ein paar Minuten würde sie in ihrem Schlafzimmer sein, mit Jim Lydel. Und sich ausziehen.

In dem Moment, als Jim in seinem Wagen hinter ihr auftauchte, wurde ihr bewusst, welch ungeheuren Fehler sie begangen hatte. Oh Gott! Sie musste das rückgängig machen! Sofort!

Nackt? Mit Jim? Der jetzt so umwerfend gut in Form war? Der nicht einmal mehr eine Brille trug, die sie ihm abnehmen und auf seine Kurzsichtigkeit vertrauen konnte? Nein, nein, nein!

Als er neben ihr stand und an die Scheibe klopfte, wäre sie beinahe mit dem Kopf gegen das Dach geknallt, so heftig schoss sie in die Höhe. Blitzartig fielen ihr zehn Ausreden ein, alle absolut beschämend lahm. Denken, sie musste denken! Aber er bedeutete ihr immer noch, das Fenster zu öffnen.

Sie tat es und sagte: „Hi“, wobei sie versuchte, ganz normal zu klingen.

„Was ist los?“

„Nichts. Alles klar“, murmelte sie.

„Renee?“

„Ich habe Bedenken“, sagte sie kleinlaut. Nun, das wenigstens stimmte.

Er zeigte so schmerzliche Enttäuschung, dass ihr der Atem stockte.

„Na ja, klar“, murmelte er, „kann ich verstehen, also … ich meine, na ja … war ziemlich eingebildet von mir, anzunehmen, dass du …“

„Jim!“

„… dass du … ich meine, dass ich überhaupt gefragt habe.“ Er wandte sich seinem Wagen zu. „Ich meine, du hast hier alles, ein schönes Leben …“

„Jim!“

Er blieb stehen.

„Jim, darum geht es nicht. Es ist mir peinlich, das ist alles. Diese Sache mit dem Nacktsein, ich meine, vor deinen Augen. Besonders jetzt, wo du so .. so …“ Ihr Gesicht brannte vor Scham; sie schaute weg.

„Darum machst du dir Gedanken?“

„Blöd, aber wahr.“

Er kam zurück und hockte sich vor dem Fenster hin, sodass er mit ihr auf Augenhöhe war, und als er sie ansah, stand in seinem Blick nichts als Ehrlichkeit und Besorgnis. „Du bist nicht blöd. Und wenn du nicht möchtest, kann ich das voll und ganz verstehen. Aber ich kann jetzt nicht einfach weggehen, ohne dir etwas gesagt zu haben. Hör zu, Renee - das hier habe ich gewollt, seit ich dich das erste Mal gesehen habe.“

Renee blieb die Luft weg, während sie sich bemühte zu erfassen, was er da gerade gesagt hatte. Aber es war zu viel, zu bedeutend, und es konnte unmöglich wahr sein. Denn wenn es die Wahrheit war, dann …

5. KAPITEL

Nach diesem Geständnis ließ Jim ihr Gesicht nicht aus den Augen. Was er gesagt hatte, war die volle Wahrheit - er hatte mit Renee zusammen sein wollen, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Es hatte sich nie ergeben, aber jetzt, nach all den Jahren der Trennung, erkannte er, dass seine Gefühle damals im College viel tiefer gewesen waren, als er hätte ahnen können. Er wollte sie, begehrte sie.

Was er nicht verstand, war, dass sie weinte. Wenn sie ihn ausgelacht hätte, das hätte er verstehen können. Wenn sie entsetzt oder auch nur verlegen ausgesehen hätte, das wäre ihm nur logisch vorgekommen. Aber Tränen? Nicht einfach feuchte Augen, sondern ein echter Wasserfall? Sein erster Impuls war, sich zurückzuziehen, um sie nicht noch mehr zu verletzen, aber nein, er musste das Rätsel lösen, musste wissen, was in ihr vorging.

Renee wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und verschmierte dabei die Wimperntusche. „Ignorier mich einfach“, schniefte sie.

„Unmöglich.“

Als sie wegsah, bemerkte er, dass ihre Schultern zuckten. Sie weinte noch heftiger.

„Renee, sag, war das sehr dumm von mir?“

Sie schüttelte den Kopf, schaute ihn aber nicht an.

„Willst du, dass ich gehe? Ich tu‘s, auch wenn ich es nicht möchte.“

„Nein“, antwortete sie, doch ihre Stimme zitterte. „Steig in dein Auto. Fahr mir nach, wenn du immer noch willst.“

Renee beobachtete im Rückspiegel, wie er zu seinem Mietwagen joggte. Wenn sie nur aufhören könnte zu weinen! Aber was er gesagt hatte, hatte ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt.

Seit er sie im College zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er sie küssen und mit ihr schlafen wollen? Das konnte nicht stimmen. Unmöglich. Sie hätte es gemerkt. Irgendetwas würde er doch getan haben, das ihr eine Ahnung davon vermittelt hätte.

Sie legte den Gang ein und fuhr los, wobei sie öfter in den Rückspiegel sah als auf die Straße vor sich, um sich zu vergewissern, dass Jim ihr wirklich folgte. Immer noch gelang es ihr nicht, seine Behauptung ernst zu nehmen. Sie hatte Jim Lydel mit Herz und Seele geliebt, und das ganz einseitig. Hatte sich danach verzehrt, ihn zu berühren, und das nicht nur freundschaftlich, und jedes Mal, wenn er mit einem anderen Mädchen ausgegangen war, besonders mit Lena, war sie tausend Tode gestorben.

Sie konnte sich doch nicht so in ihm geirrt haben! Nein, es lag eindeutig an ihm, nicht an ihr. Sie bog auf den Parkplatz ein, der zu ihrem Haus gehörte, und achtete beim Einparken darauf, dass neben ihr ein Platz für Jim frei blieb. Als sie gleich darauf gemeinsam die Treppe hinaufgingen, hatte sie sich wieder einigermaßen im Griff. Natürlich würde es ihm wehtun, wenn sie ihn daran erinnerte, wie es wirklich gewesen war, aber sie schuldete es ihm aus Freundschaft, klarzustellen, dass er sie immer nur als gute Freundin gesehen hatte. Das war einfach so, und fertig!

Allerdings konnte ihre Entschossenheit nicht die Gefühle unterdrücken, die über sie hinwegschwappten, während sie neben ihm herging. Immer wieder rutschte sie in die Traumvorstellung hinein, wollte so tun, als wären seine Worte wahr. Reiner Wahnsinn. Besonders als er auch noch ihre Hand mit seiner streifte.

Wollte er Händchen halten? Wie ein Liebespaar?

Ehe sie es herausfinden konnte, standen sie Gott sei Dank vor ihrer Tür. Sie öffnete und spielte sofort die gute Gastgeberin. Das war erst einmal die sicherste Strategie.

Jim wollte keinen Drink. Auch keine Chips. Oder im Wohnzimmer Platz nehmen. Er blieb beim Kamin stehen und betrachtete sie, als würde sie gleich irgendetwas Verrücktes tun. Wie ihn anfassen. Oder küssen.

„Renee, Darling, rede mit mir.“

Am liebsten hätte sie gebrüllt: „Komm mir nicht damit!“, aber sie schwieg.

„Ich schätze, ich hab dich überrumpelt“, sagte er und machte zögernd einen Schritt auf sie zu.

Wie dumm, sie hatte ihre Tasche schon weggelegt, woran sollte sie sich jetzt festhalten? Vielleicht sollte sie sich ein Glas Wein eingießen. Ja, das wäre eine gute …

„Vielleicht war ich selbstsüchtig, aber ich wollte einfach, dass du meine Gefühle kennst. Seit wir uns damals verabschiedet haben, musste ich immer wieder an dich denken - unzählige Male. Ich wusste, dass du in Atlanta lebst, doch ich hatte nicht den Mumm, deine Nummer herauszufinden und dich anzurufen. Vielleicht weil ich dachte, dass es sowieso wie früher sein würde. Dass du nichts von mir wollen würdest außer Freundschaft.“

„Ich?“ Ihre Stimme klang so schrill, dass es sie selbst erschreckte, doch nun, wo es einmal heraus war, konnte sie nicht aufhören zu reden. „Ich bin doch nicht die, die nur Freundschaft wollte! Es hat mich fertiggemacht, dass du mich nie gefragt hast, ob ich mit dir ausgehen will. Ich war jahrelang in dich verliebt!“ Entsetzt brach sie ab. Sie hatte es ausgesprochen!

Aber ihr Ärger verging, als sein Ausdruck von überrascht zu völlig verwirrt wechselte. „Du warst in mich verliebt …?“

Jetzt konnte ihn nichts mehr zurückhalten. Er ging zu ihr und fasste sie bei den Schultern. Sah ihr fest in die Augen. „Jedes Mal, wenn ich dich gefragt habe, hast du einen blöden Witz gemacht. Wenn ich dich angefasst habe, bist du ausgewichen. Ich habe alles versucht, was mir nur einfiel, und immer hast du mich abblitzen lassen.“

„Nein“, flüsterte sie, „das ist nicht wahr.“

Er drückte ihre Schultern. „Erinnere dich. Denk mal genau nach.“

Das tat sie. Und ihr blieb fast das Herz stehen, als die Szenarien vor ihrem inneren Auge auftauchten. Es war gut, dass er sie festhielt, denn ihr wurden die Knie weich, und sie wäre beinahe zusammengesackt. Ja, er hatte sich tatsächlich um sie bemüht. Nur hatte sie es unbewusst nicht zugelassen, weil sie so überzeugt gewesen war, dass er sie unmöglich begehrenswert finden könnte.

Schon als er sich damals bei diesem ersten Zusammentreffen in der Cafeteria neben sie gesetzt hatte, hatte er mit ihr geflirtet. Und sie hatte es nicht wahrgenommen. Sie war blind dafür gewesen, weil sie lange Zeit vorher schon eine undurchdringliche Mauer um sich errichtet hatte, um sich vor der Grausamkeit der Welt zu schützen.

„Oh mein Gott“, keuchte sie, „ich habe es nie …“

„Verdammt, Renee …“ Er zog sie an sich. „Was für eine Verschwendung!“

Wieder kamen ihr die Tränen, doch dieses Mal versuchte sie nicht, sie zu unterdrücken. Mit schmerzhafter Klarheit erkannte sie nun, dass ihr schlimmster Feind sie selbst gewesen war. Ihr fielen jede Menge Gründe ein, die nur jetzt überhaupt keine Rolle mehr spielten. Sie hatte so viel verloren.

Er löste sich ein wenig von ihr, um ihr erneut in die Augen zu sehen. „Wir haben genug Gelegenheiten verpasst, findest du nicht auch?“

Sie nickte. Jim leckte ihr eine Träne von der Wange, dann küsste er sie. Trotz des erregenden Kribbelns, das ihr durch den Körper fuhr, war ihr erster Gedanke, dass sie ihn nicht verdiente. Gefolgt von dem, ob es je eine größere Idiotin als sie gegeben hätte.

Sie hatten eindeutig zu viele Gelegenheiten verpasst. Zu viele Jahre hatte sie in ihrem selbst gebauten Gefängnis zugebracht. Die heutige Nacht war ein Neuanfang. In ihren Armen lag der Mann, den sie immer geliebt hatte. Der schwierige Teil lag hinter ihr - er hatte ihr seine Gefühle offenbart. Nun musste sie es nur noch glauben.

Renee öffnete die Lippen, damit er mit der Zunge in ihren Mund eindringen konnte. Ein kleiner Schritt, einer von vielen, die folgen würden. Überflutet von dem berauschenden Wissen, dass er sie spüren wollte, dass er sie wollte, so wollte, wie sie war, ließ sie ihre Hände über seinen Rücken gleiten.

Langsam, ganz langsam öffnete sie sich diesem funkelnden neuen Universum. Als sie sich an ihm rieb und seine Erektion spürte, nahm sie ihn bei der Hand und zog ihn zum Bett.

6. KAPITEL

Er wollte nicht, dass sie sich unbehaglich oder peinlich berührt fühlte, aber verdammt, er konnte es kaum erwarten, sie nackt zu sehen. Wie oft hatte er sie sich so vorgestellt?

Nach dem College, nach der katastrophalen Beziehung mit Lena, hatte er einige Frauen gehabt, die alle nicht übel gewesen waren. Bis auf die Kleinigkeit, dass sie nicht Renee waren, ihn jedoch immer an sie erinnerten.

Nun, da er die echte Renee vor sich hatte, war er seltsam nervös. Als wäre er wieder in Stanford, ein unerfahrener Student, der kaum wusste, was zu tun war.

Sie blieb vor ihrem Doppelbett stehen, und er stutzte, als er sich umsah. Dieser Raum ähnelte nicht im Geringsten ihrem Zimmer im Studentenwohnheim. Wieso auch? Diese Zeit lag Jahre zurück. Aber trotzdem, irgendwie hatte er sich sie beide immer auf diesem schmalen Bett mit dem Batiküberwurf vorgestellt. Sie nun hier zwischen zartgrün gestrichenen, mit moderner Kunst dekorierten Wänden und Naturholzmöbeln zu sehen irritierte ihn nicht weniger als ihr inzwischen glattes Haar.

„Ist was?“

Er hörte die Besorgnis in ihrem Ton. „Nein. Ich habe uns nur immer im Wohnheim gesehen.“

Überrascht lachte sie auf. „Komisch, bei mir war es immer ein Strand.“

„Wir waren doch nie am Strand.“

„Was soll ich sagen? Ich glaube, ich habe ein Mal zu oft ‚Die blaue Lagune‘ gesehen.“

„Was?“

„Ein Frauenfilm. Kennst du bestimmt nicht. Nicht wichtig“

Sanft legte er ihr eine Hand in den Nacken und zog sie näher heran. „Du bist wichtig.“

„Also hast du dir das hier immer vorgestellt. Mit uns beiden.“

„Die ganze verdammte Zeit lang.“

„Ehrlich, Jim, ich will mich gar nicht beschweren - aber warum hast du mir nie gesagt, wie blöd ich mich verhalte?“

Er grinste und küsste sie auf die Stirn. „Ich war viel zu jung und unerfahren. Auf die Idee, dass ich deine geheime Fantasie sein könnte, wäre ich nie gekommen.“

„Junge“, murmelte sie und legte ihre Hand auf sein Herz, „und was für eine Fantasie! Was meinst du, wie oft ich mich in den Schlaf geweint habe.“

„Das tut mit leid. Ich wünschte, es wäre für uns beide einfacher gewesen.

„Darf ich dich noch etwas fragen?“

„Klar, was du willst.“

Sie seufzte und sah ihn ein wenig besorgt an. „Ich schwöre dir, ich bin nicht auf Komplimente aus. Sag mir nur, warum ausgerechnet ich - was hast du in mir gesehen, damals?“

Er setzte zu einer Antwort an, schloss aber den Mund wieder. Dann sagte er: „Ich zeige es dir.“ Und dann küsste er sie.

Während er mit der Zunge das Innere ihres Munds erkundete, knöpfte er ihr die Bluse auf. Er musste sich sehr beherrschen, um ihr das verflixte Ding nicht vom Körper zu reißen, und er wurde noch ungeduldiger, als er mit dem Handrücken die weiche Haut oberhalb ihrer Brüste streifte. Sie sog scharf die Luft ein, und auch das spürte er. Sie bebten beide vor gespannter Erwartung. Wenn sie wüsste, dass er genauso hart war wie damals im Physikunterricht, als er sich, nur auf Renee konzentriert, in die letzte Reihe verkrochen hatte, damit niemand etwas bemerkte. Als er ihre Hand an seinem Reißverschluss spürte, war er an der Reihe aufzukeuchen. Vorsichtig zog er sich ein Stück zurück; er musste seine Erregung unter Kontrolle halten, sonst würde er auf der Stelle kommen.

„Warte“, murmelte er.

Erschrocken trat sie ebenfalls zurück.

„Was … oh!“

„Jaaa …“ Er grinste.

Sie lachte, und ihm wurde klar, dass dieser Klang ihn immer begleiten würde. Damals, in der Collegezeit, hatte sie oft gelacht. Meistens über ihn, weil er die feste Ansicht vertrat, dass alles im Leben tödlich ernst war. Sie hatte ihm so lange zugesetzt, bis er seine Einstellung überdacht hatte. Und damit hatte sich für ihn alles geändert.

„Warum grinst du?“

Er antwortet nicht, denn er fand die Erklärung schrecklich lahm, aber er machte kurzen Prozess mit den Blusenknöpfen. Obwohl sie noch ihren BH trug, einen einfachen weißen, eindeutig keine Reizwäsche, wurde ihm ganz heiß, und er fühlte sich privilegiert. Ihre Haut war wundervoll und ihr Körper verlockend. Welch ein Genuss es war, sie anzuschauen. Er konnte kaum erwarten, sie überall zu berühren.

Renee musste sich immer wieder sagen, dass Jim sie betrachtete. Dass ihr Körper, den sie selbst nicht sonderlich mochte, bei ihm diesen Blick, diesen speziellen Gesichtsausdruck auslöste.

Dieser Körper, den sie für alles verantwortlich gemacht hatte, nicht nur für Jims Desinteresse, sondern für jede Enttäuschung, jeden Fehlschlag.

„Du bist wunderbar“, sagte er, „aber ich will mehr.“

Mit einem Mut, wie sie ihn nie zuvor aufgebracht hatte, ließ sie ihre Bluse fallen, öffnete den Reißverschluss ihrer Hose und zog sie aus. Zuerst wünschte sie, sie hätte hübschere Unterwäsche angezogen, aber war das nicht genau die alte Denkweise? Sieh ihn an, dachte sie, er findet dich schön. Jetzt, in diesem Moment.

Einen besseren Zeitpunkt würde es nicht geben. Sie streifte BH und Slip ab. Dann richtet sie sich auf, splitternackt, und fühlte sich wie ein neuer Mensch.

Als sie in seine strahlenden Augen schaute, vergab sie sich alles. Dass sie sich selbst um viele glückliche Jahre gebracht hatte, dass sie jedes Versagen ihrem Körper angelastet hatte, dass sie all diese Mauern um sich errichtet hatte, obwohl die sie vor nichts je bewahrt hatten.

Er betrachtete sie so eindringlich, als wäre sie ein Kunstwerk, und, verdammt, nach und nach fühlte sie sich auch so.

Ganz still stand sie, ließ ihn schauen, ließ sich ansehen. Und musste ihrerseits schlucken, als er sich auszog und sie seinen fantastischen Körper sah, die breite Brust, den flachen Bauch und seine gewaltige, sehr schmeichelhafte Erektion.

Er kam zu ihr, umarmte sie und drückte sie gegen seinen harten Körper. Sie seufzte, weil ihr endgültig klar wurde, dass das wirklich kein Traum, keine Fantasie war. Hier war ihr Jim, in Fleisch und Blut. Im wahrsten Sinn des Wortes.

„Wow, du fühlst dich so toll an“, flüsterte er.

Sie berührte ihn, folgte mit den Fingern den Konturen seines Körpers, fühlte jeden Muskel. Und als er seine Hände über ihren Rücken hinab zur Taille gleiten ließ, bebte sie unter seinen Fingern.

Sie legte die Wange an seine Schulter und sog seinen köstlichen, wunderbaren Duft ein.

Die eine Hand wühlte er in ihr Haar, während er mit der anderen ihren Körper erforschte. Doch nun genügte ihm ihre Haut nicht mehr, er wollte mehr, suchte die intimeren Stellen.

Und dann spürte sie seine Finger in sich.

Beide sogen sie scharf den Atem ein.

Während er sie erregte und den Daumen über ihre schwellende Lustperle kreisen ließ, umfasste sie seine Erektion. Auf und ab ließ sie ihre Hand gleiten, fasziniert von seiner Wärme und Härte.

„Ich halt‘s nicht mehr lange aus“, sagte er rau.

„Was? Das?“ Sie drückte etwas fester zu und bewegte die Hand ein wenig schneller.

„Alles. Das Bett wartet, komm.“

Ein letztes Mal rieb sie über die empfindsame Spitze, ehe sie einen Schritt zurück tat. Ah, der plötzliche Abstand war unerträglich, also riss sie förmlich die Decke vom Bett und ließ sich auf die Matratze fallen, unmittelbar gefolgt von Jim, der sich, ohne zu zögern, auf sie legte und sofort da weitermachte, wo er aufgehört hatte.

Mit den Fingern erforschte er ihre intimste Stelle und genoss die Hitze und Feuchtigkeit, die ihm verrieten, dass sie bereit für ihn war.

7. KAPITEL

Jim ließ seine Zunge um eine von Renees Brustspitzen kreisen, nahm sie in den Mund und stöhnte lustvoll auf, als sie sich in seinem Mund hart und straff aufrichtete. Es war ein opulentes Bankett, eine Orgie der Empfindungen, und Renee verstärkte es noch, indem sie sich unter seinen Händen ekstatisch seufzend wand.

Im College hatte er sich diese Situation Tausende Male vorgestellt, aber er hatte wohl nicht genug Fantasie gehabt, denn das hier, das war einfach unvorstellbar.

Wenn Frauen nur erkennen würden, welche Macht sie mit ihrer Wärme und Weichheit besaßen … Noch tiefer schob er die Finger in sie, spürte, wie sie sich eng und heiß darum schloss, konnte es kaum erwarten, richtig in sie einzudringen … Aber beherrschte er nicht die Kunst des genüsslichen Hinauszögerns? Das würde er inzwischen wohl kaum verlernt haben. Er wollte, dass ihr Orgasmus einem Feuerwerk gleichkommen würde. Und mehr als nur einem.

Der Gedanke ließ ihn einhalten. Er hatte nicht geglaubt, Renee je wiederzusehen, hatte sich eingeredet, dass es nur eine College-Liebe gewesen war, eine unerwiderte noch dazu. Von daher war das hier jetzt ein Geschenk, eine Überraschung, etwas, das einem nur ein Mal im Leben passierte.

Oder auch nicht.

Nervös hob sie den Kopf vom Kissen. „Stimmt was nicht?“

Lächelnd betrachtete er ihre besorgte Miene. „Alles bestens. Allerdings kann ich mich nicht mehr viel länger zurückhalten.“

Jetzt grinste sie. „Ich gebe dir Gelegenheit, dich ein bisschen zu fassen. Im Badezimmer sind Kondome. Oberste Schublade.“

„Ah, cleveres Mädchen. Obwohl ich wünschte …“

„Hmm, ich auch.“

Er wusste kaum, wie er aus dem Bett kam. So heiß war er noch nie gewesen.

Jim fand die Kondome, und optimistisch, wie er war, nahm er die ganze Packung mit zurück. Ungeduldig riss er die Schachtel auf und fischte ein Päckchen heraus. Er bemerkte, dass die kurze Auszeit an seinem Zustand nichts geändert hatte. Er war so hart wie zuvor. Er musste sich ablenken, musste an etwas anderes denken, wenn er wollte, dass sie länger Spaß hatten als eine halbe Minute. Er packte das Kondom aus und streifte es sich über. Dann betrachtete er die wunderschöne Frau, die erwartungsvoll vor ihm lag.

So viele Jahre hatte er auf diesen Moment gewartet. Einfach ein Jammer, dass es so schnell vorbei sein würde, aber, na ja, es gab immer ein zweites Mal. Und ein drittes …?

„Was grinst du so?“, fragte sie misstrauisch.

Er rückte näher an sie heran, ganz nah, und stützte seine Hände links und rechts neben ihrem Kopf auf. „Ich möchte, dass es für dich perfekt wird, aber es spricht eine ganze Menge dagegen.“

Verwirrt blinzelte sie. „Du machst Witze, oder?“

Ihm stockte der Atem, und er versuchte, seine leichte Panik vor ihr zu verbergen. „Also, na ja, ich wollte mich wenigstens anstrengen, trotz meiner …“

Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. „Sei still, du Idiot, es … es ist doch schon perfekt.“

Nun musste er blinzeln, musste ihre Worte in sein Bewusstsein einsickern lassen.

So also passierte so was. All diese Missverständnisse kamen daher, dass man etwas zu sehr wollte, kamen von der Furcht, dass ein Wort, eine Geste einem das Wichtigste auf der Welt kaputtmachen könnten. „Du hast recht“, erwiderte er. „Du bist schon perfekt.“

Zum Beweis dieser klugen Worte küsste er sie. Küsste sie, als wäre dies ihr erster Tag im College, als hätte er sie gerade um ein Date gebeten, als wären sie immer zusammen gewesen.

Renee erwiderte den Kuss, und wieder wurde ihr das Wunder bewusst. Es war Jims Kuss, seine geschickte Zunge, sein nackter Körper, sein Knie, das sich zwischen ihre Oberschenkel schob, sie drängte, sich ihm zu öffnen. Es war Jim, bereit, sie zu lieben. Sie, Renee, die Göre aus dem Studentenwohnheim, die bei all den Lovesongs damals geweint hatte.

Sie öffnete sich ihm, öffnete ihren Mund, ihre Schenkel, ihr Herz. Wenn das hier ein magischer Moment war, würde sie sich ihm vollständig ergeben. Allzu viel war sie noch nicht herumgekommen, doch sie wusste, dass sich Gelegenheiten wie diese nicht ständig boten.

Begierig ließ sie ihre Hände wandern, streichelte ihn überall, schmeckte seine Zunge, seine Lippen, seine Haut, presste sich an ihn, wollte sich diese Empfindungen für immer einprägen. Als er sich ein wenig hochstemmte, um sich in die richtige Position zu bringen, zwang sie sich dazu, sich den Moment des Eindringens nicht vorab vorzustellen, sondern sich nur auf ihre Empfindungen zu konzentrieren - ganz bewusst, ganz intensiv das Jetzt zu erleben.

Behutsam drang er in sie ein, langsam, nur ein kleines Stückchen, und konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken.

Sie schlug die Augen auf, erstaunt, dass sie sie überhaupt geschlossen hatte, und sah, dass er ihr ins Gesicht schaute; sein Blick suchte ihren. Sein Lächeln rief unvorstellbare Glückseligkeit in ihr hervor. Es war beinahe vollkommen. Beinahe.

Mit einem raschen Stoß ihrer Hüften kam sie ihm entgegen, nahm ihn tiefer in sich auf. Und die ganze Zeit sah sie ihn mit weit geöffneten Augen an. „Bitte“, flüsterte sie, „sag meinen Namen. Bitte.“

8. KAPITEL

„Renee“, sagte er heiser und schaute sie mit solchem Verlangen an, dass ihr die Augen feucht wurden.

Und dann füllte er sie vollkommen aus. Sehr langsam zog er sich zurück und drang wieder in sie ein. Immer wieder wollte sie die Augen schließen, doch sie wehrte sich dagegen, sie wollte diesen Augenblick mit allen Sinnen genießen. Diese eine, einzige Chance, ihm zu gehören. Diesem Mann, den sie seit so langer Zeit liebte, den sie immer lieben würde.

Weiter, entschlossener bog sie sich ihm entgegen, als ihre Körper sich vereinten. Sie wurden eins. Das war natürlich ein blödsinnig sentimentaler Gedanke, aber was machte das schon? Jahrelang hatte sie sich um Zynismus bemüht, hatte so getan, als wäre Liebe nichts Besonderes.

Aber Liebe war besonders. War alles im Leben.

„Jim!“, flüsterte sie. „Oh Jim!“

„Du fühlst dich wunderbar an“, murmelte er, „so weich und warm.“

Als sie den Mund öffnete, um zu antworten, brachte sie kein Wort heraus, sondern nur ein tief zufriedenes, leises Seufzen. Sie wollte, dass er nie aufhörte.

Verdammt, ich stecke so was von in der Tinte, dachte sie. Sie hatte geglaubt, dieses eine Mal würde ihr genügen. Dass sie das Erlebnis bewahren könnte, wie man ein hübsches Souvenir auf dem Nachttisch aufbewahrte. Aber nun wusste sie, das allein würde ihr nicht reichen.

„Hey“, flüsterte er. „Was ist los? Wo bist du?“

„Ach, ich habe dich einfach zu lange geliebt“, gestand sie. „All diese vielen Jahre …“

„Aber jetzt bin ich hier. Wir sind zusammen.“

Sie nickte; er hatte ja recht. Für Bedauern war noch Zeit genug. Heute Nacht sollte es nichts anderes geben als Lust und Leidenschaft.

Wieder küsste er sie, während er sich in ihr bewegte, und sie klammerte sich an ihn, schlang die Arme fest um ihn und dann auch die Beine, als wollte sie ihn nie mehr loslassen. Was er da machte, war wunderbar, aber sie wollte mehr. Wenn das nicht typisch für sie war! Nie sah sie die Wahrheit im Augenblick, sondern immer, immer schon den nächsten Schritt.

Als er sich ein wenig zurückzog, konzentrierte sie sich auf sein Gesicht, betrachtete es intensiv, nahm all die kleinen Veränderungen wahr, die den Mann Jim ausmachten, nicht mehr den Jungen vom College. Nicht nur sein Körper war erwachsen geworden, sondern der ganze Jim. Er strahlte eine Sicherheit aus, eine Reife, die jedem Sturm standhalten konnte.

War es bei ihr genauso? Vielleicht war die Begegnung mit Jim nicht nur dazu gut, eine alte Wunde zu heilen, sondern der Beginn einer neuen Ära. Nun, da sie wusste, was sie damals alles übersehen hatte, konnte sie prüfen, ob sie auf anderen Gebieten nicht ebenso blind gewesen war. Der Gedanke machte ihr keine Angst, sondern war sogar aufregend. Sie könnte eine Menge lernen.

„Renee, hier bin ich“, drängte er, „Bleib hier. Ich will das hier nie vergessen. Dich nie vergessen.“

Sie nickte, keuchte dann auf, denn er beschleunigte das Tempo, wechselte von gefühlvoll zu verlangend, fordernd, und als er tief und besitzergreifend in sie eindrang, fuhr ihr ein elektrisierendes Beben durch den ganzen Körper.

Kraftlos ließ sie die Beine sinken, unfähig, mit ihm mitzuhalten. Sie konnte sich nur noch ans Bett klammern, als die unbeschreiblich intensiven Gefühle ihre sämtlichen Sinne überschwemmten.

„Ich liebe deinen Körper“, stöhnte er mit rauer Stimme. „er ist genau so, wie ich es mir immer erträumt habe. Du bist vollkommen, Renee.“

Eine Sekunde lang fragte sie sich, ob sie ihm glauben sollte. Doch nur eine Sekunde, dann war ihr klar, dass er meinte, was er gesagt hatte. In dem Moment, als sie es akzeptierte, erreichte sie den Höhepunkt.

Noch nie hatte sie einen solchen Orgasmus gehabt. Es war ein völlig neues Gefühl für eine neue Frau. Sie war neu geboren, und dieses Wissen ließ ihren gesamten Körper vibrieren. Immer noch blickte sie unverwandt in Jims Gesicht, während er noch heftiger und tiefer in sie eindrang. Als er kam, erschien ein wilder, wunderschöner Ausdruck auf seinem Gesicht. Auf seinem Höhepunkt verschmolzen sie miteinander, als bestünden ihre Körper aus flüssiger Glut.

Als Renee sich endlich wieder rühren konnte, streichelte sie zärtlich seinen Rücken.

Er hob den Kopf. „Verdammt!“, sagte er, küsste sie fest und rollte sich zur Seite. Ehe sie sich beschweren konnte, zog er mit einem Griff die Bettdecke heran und breitete sie fürsorglich über sie beide. Dann kuschelte er sich dicht an sie.

„Das war … wow!“, murmelte er. „Nur viel zu kurz.“

„Hab ich mich etwa beschwert?“

„Nein, dazu bist du viel zu nett.“

„Ha! So nett war ich nie!“

„Auch wieder wahr.“

Wie gut es tat, mit ihm zu lachen! Herumzualbern. Einfach mit dem besten Freund, den sie je hatte, hier und auf diese Weise zusammen zu sein.

„Übrigens habe ich nachgedacht“, sagte er nach einer Weile. „Ich meine, über diese Jobsache.“

Das war‘s wohl mit Herumalbern. In ihr keimte eine Mischung aus Furcht und Hoffnung. „Ja, und?“

„In New York gibt es jede Menge Werbeagenturen. Ich selbst arbeite mit ein paar zusammen, und ich denke, du könntest eine finden, die zu dir passt.“

„Also meinst du, ich sollte nach New York ziehen. Da arbeiten.“

Er drehte sich auf die Seite und sah sie offen und sehr lebhaft an. „Nein, nicht nur das, es geht mir nicht nur um deine Arbeit. Um ehrlich zu sein, ich möchte nicht, dass das mit uns beiden hier endet. Dazu hat es zu verdammt lange gedauert, dich zu finden.“

Das war es. Nie hatte sie zu hoffen gewagt, dass sie jemals diese Worte hören würde, nicht einmal in ihren Träumen. Sie brach in Tränen aus, wenn es sie auch ärgerte, so ein Mädchen zu sein.

„Renee! Bitte sag, dass du vor Freude weinst. Bitte.“

„Freude“, nuschelte sie in seine Halsbeuge. „Große Freude.“

„Gott sei Dank! Also willst du es drauf ankommen lassen? Ich meine, willst du es mit New York zumindest versuchen?“

„Nicht nur versuchen. Gleich morgen kündige ich - den Job und die Wohnung.“

„Bist du dir sicher? Das ist eine wichtige Entscheidung.“ Er rutschte unruhig auf dem Bett herum. „Vergiss nicht, was du sagen willst, ich bin sofort wieder hier.“ Er stand auf, ging ins Bad und schloss die Tür hinter sich.

Renee zwickte sich in den Arm, um festzustellen, ob sie träumte. Er wollte sie, wollte sie bei sich haben, wollte, dass sie nach New York zog.

Und dann? Eine Wohnung suchen? Oder bei ihm einziehen?

Oh Gott, das war zu viel! Zu wichtig. Wie konnte sie eine solche Entscheidung treffen, wenn sie vor Liebe ganz beduselt war?

Die Badezimmertür öffnete sich, und Jim kam zurück, immer noch herrlich splitternackt.

„Ich hab ein ganz nettes Haus“, verkündete er, während er sich neben sie aufs Bett fallen ließ. „Eins dieser alten Ziegelhäuser. Es ist ziemlich groß. Wenn du willst, kannst du es ganz neu einrichten. Ich hätte nichts dagegen, solange du mein Arbeitszimmer lässt, wie es ist. Mit allem anderen kannst du anstellen, was du magst. Es sei denn, dir wäre es lieber, dass wir uns nach etwas anderem umsehen.“

Sie konnte nicht anders, sie prustete laut heraus.

„Was ist?“

„Wir werden uns, glaube ich, beide erst einmal an das hier gewöhnen müssen.“

„Oh … wir müssen natürlich nicht zusammenwohnen. Ich schätze, ich bin zu schnell vorgeprescht, aber ich …“

Hastig legte sie ihm einen Finger auf die Lippen. „Doch, ich will mit dir zusammenwohnen, hab nie was anderes gewollt. Weißt du, es ist nur so - mein Sparkonto ist nicht besonders gut gepolstert. Der Umzug und was so dazugehört …“

Nun unterbrach er sie. „Kein Problem. Das kann ich in die Hand nehmen.“

„Das mag ja sein.“ Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn. „Aber nein, danke, ich werde es schon irgendwie hinkriegen. Wenn ich doch nur sechs Richtige gehabt hätte!“

„Was?“

„Bei der Lotterieziehung gestern. Es ging um eine Million. Aber ich hatte nur fünf Richtige.“

Er sah sie sehr merkwürdig an. „Hast du schon öfter gespielt?“

„Zwei, drei Mal. Denk bloß nicht, dass ich spielsüchtig wäre oder so was!“

„Hast du dich je um die Regeln gekümmert?“

„Nein, aber ich bin volljährig, was soll‘s also?“

„Renee, Süße, du hast gewonnen.“

„Nein, ich sagte doch, ich hab nur fünf richtige Ziffern.“

„Aber darauf gibt es auch einen Gewinn. Nicht die Million, aber immerhin ein nettes Sümmchen.“

Wie nett?“

„Keine Ahnung. Hast du die Zeitung von heute?“

Noch ehe er den Satz beendet hatte, war sie aus dem Bett und im Wohnzimmer, so schnell, dass Jim ihr amüsiert lachend folgte; doch sie achtete nicht darauf, denn sie war zu gespannt, was es mit seiner Behauptung auf sich hatte.

Da sie nicht einmal wusste, wo sie nachschauen sollte, nahm Jim ihr die Zeitung aus der Hand und schlug die richtige Seite auf.

„Und?“

„Wie findest du zweihundertvierzigtausend?“

„Was?“ Sie quietschte beinahe vor Schreck.

„Sag jetzt nicht, du hast das Los weggeworfen!“

„Nein, das hab ich noch. Aber lass mich selbst sehen!“

Er zeigte ihr die Gewinnquoten, und sie las sie wieder und wieder, bis sie es endlich glauben konnte.

„Und die ganze Zeit habe ich gedacht, was für ein Pech ich doch immer habe - Beförderung und Gewinn an einem Tag futsch!“

„Na ja“, meinte Jim, „der Hauptgewinn ist es nicht.“

Sie umfing sein Gesicht mit den Händen und küsste ihn mitten auf den Mund. „Machst du Witze? Den Hauptgewinn habe ich schon!“

- ENDE -

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© 2007 by Stephanie Bond, Inc.
Originaltitel: „She Did a Bad, Bad Thing“
erschienen bei: Harlequin Enterprises, Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe TIFFANY SEXY
Band 44 - 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Andrea Cieslak

Coverabbildung: LightFieldStudios / GettyImages

Veröffentlicht im ePub Format in 04/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733767693

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY

 

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1. KAPITEL

„Hören Sie … Es tut mir leid, wie war Ihr Name noch mal?“

Jane Kurtz legte den Pinsel zur Seite, mit dem sie gerade ein perfektes Make-up auf die pickelige Haut der Möchtegernprominenten Casey Campella zauberte, die an diesem Tag zu Gast in der Talkshow „Just Between Us“ war. „Ich heiße Jane.“

„Ach ja, richtig.“ Casey rümpfte die Nase. „Also, hören Sie, ich möchte auf keinen Fall orange auf dem Bildschirm aussehen. Ich habe viele Freunde und Verwandte hier in Atlanta, und die werden sich alle die Show anschauen.“

Klar, dachte Jane. Weil es um Tipps geht, wie man sein eigenes Sexvideo dreht. So wie jenes, das von Casey und ihrem Freund derzeit im Internet kursierte. Jane biss sich auf die Zunge, um eine spitze Bemerkung zu unterdrücken. Stattdessen sagte sie beruhigend: „Ich verspreche Ihnen, dass Sie nicht orange aussehen werden, Miss Campella. Aber Sie müssen schon stillhalten, damit ich meinen Job bestmöglich machen kann.“

Casey rümpfte noch einmal die Nase und ließ die Prozedur weiter über sich ergehen.

Seufzend griff Jane nach dem Pinsel und konzentrierte sich darauf, das feine Make-up-Puder makellos auf dem Gesicht der jungen Frau zu verteilen, die zwar einen unreinen Teint, dafür aber aufregende Kurven hatte. Die vollbusige Blondine hatte sogar einen Fanklub und eine eigene Website.

Als die Grundierung fertig war, widmete sich Jane Caseys dunkelblauen Augen, die sie mit falschen Wimpern, Lidschatten und Eyeliner geschickt betonte. Auf die Wangen trug sie nur einen Hauch Puder mit Glanzpartikeln auf. Dann kam die größte Herausforderung. Jane musste aus den bleistiftdünnen Lippen die Illusion eines Schmollmundes mit klaren Konturen erschaffen. Dazu wählte sie ein blaustichiges Rot aus, das die nikotingelben Zähne der jungen Frau so weiß wie möglich wirken ließ. All dies tat sie, während Casey mit ihrem Freund telefonierte, der, wenn man aus Caseys Antworten Schlüsse ziehen konnte, genauso unreif zu sein schien wie das kichernde Starlet – und höchstwahrscheinlich am anderen Ende der Leitung gerade dabei war, sich selbst zu befriedigen.

„Ich habe letzte Nacht von dir geträumt, Baby … Nein, ich zuerst … Okay, dann erzähl … Oh, das ist so scharf, dass ich es kaum aushalte … uh! … Ich bin so verdammt heiß auf dich …“

Neben Frust und Verlegenheit empfand Jane plötzlich einen Stich von Eifersucht. Wie mochte es sich anfühlen, wenn ein Mann so verrückt nach einem war, dass er einen anrief, um schmutzige Sachen zu sagen?

„Fünf Minuten“, rief ein Produktionsassistent durch die Tür, und Casey machte ihm ein Zeichen, dass sie verstanden hatte.

„Es geht los, Baby. Nimm die Show bloß auf DVD auf. Wir schauen sie uns dann zusammen an.“

Nach kurzem Schweigen lachte Casey heiser, und es war klar, was die beiden tun würden, während auf dem Bildschirm zu sehen und zu hören war, wie sie ihr Sexleben in der heißesten Talkshow des Lokalsenders vor Publikum ausbreitete.

Jane musste sich beherrschen, nicht die Augen zu verdrehen. Sie vermutete, dass ein weiteres Sexvideo in Planung war.

Casey beendete das Gespräch, dann beugte sie sich vor, um ihr Make-up im hell beleuchteten Spiegel von jedem Winkel aus zu betrachten. Sie runzelte die Stirn.

„Gibt es ein Problem, Miss Campella?“, fragte Jane.

„Nein. Im Gegenteil, ich sehe klasse aus.“

Jane lächelte und nickte. „Ich freue mich, dass Sie zufrieden sind.“

„Ich danke Ihnen, äh … Wie war Ihr Name noch mal?“

„Jane.“

„Richtig.“ Casey stand auf und riss sich den Papierumhang vom Hals, der das rote Minikleid im Trenchcoatstil schützte, das Jane aus der Requisite ausgewählt hatte. Das kurvenreiche Starlet drehte sich vor dem großen Spiegel hin und her und zwinkerte sich zu, dann musterte es Jane von oben bis unten. „Ich frage mich nur – wenn Sie es schaffen, Leute so toll aussehen zu lassen, warum tun Sie dann nichts für sich?“

Janes Lächeln schwand, während die junge Frau auf aufregend hohen schwarzen Stilettos von Donald Pliner davonstöckelte, die sie, Jane, mühsam aufgetrieben hatte. Ein paar Sekunden später ertönte Musik, und das Publikum brach beim Erscheinen des Gastes in wilden Applaus und Jubel aus.

Talklady Eve Best, rhetorisch geschickt wie immer, behauptete in ihrer Einleitung, diese Sendung richte sich vor allem an Frauen, die ihrer Ehe etwas mehr Würze geben wollten. Wenn man ihr zuhörte, hatte man den Eindruck, dass die Ratschläge für die Erstellung privater Sexvideos keineswegs ein schlüpfriges Thema, sondern nur ein ganz normaler Service für Hausfrauen waren.

Jane schüttelte den Kopf und lachte leise, während sie die Show auf dem Overheadmonitor verfolgte. Ihre Arbeit war im Grunde getan, doch sie blieb offiziell bis zum Ende der Show, falls ein Notfall eintreten sollte.

Sorgfältig reinigte sie ihre Gerätschaften und Behälter, die sie zum Reinigen und Befeuchten der Haut, für das Peeling, die Rasur und das Auszupfen überflüssiger Härchen benötigt hatte. Dann folgten die Utensilien zum Auftragen von Make-up und die, die sie zum Ankleben falscher Wimpern benötigte. Manchmal musste sie auch zu stark ausgedünnte Augenbrauen mühsam wieder auffüllen. Während sie automatisch die Handgriffe ausführte, die seit drei Jahren für sie alltäglich waren, kam ihr Casey Campellas spitze Bemerkung wieder in den Sinn.

Jane schaute in den Spiegel und gab betrübt zu, dass das muntere Starlet nur ausgesprochen hatte, was wahrscheinlich jeder dachte, der mit ihr, Jane, zu tun hatte.

Sie fragte sich ja selber, wie eine talentierte und gefragte Visagistin und Stylistin wie sie so unattraktiv sein konnte.

Gewöhnlich vermied Jane den Blick in den Spiegel. Wenn sie sich zum Beispiel die Zähne putzte, machte sie sich schon lange keine Gedanken mehr über ihre unscheinbaren Gesichtszüge, die blassblauen Augen, die durchschnittliche Nase, den unauffälligen Mund, den gewöhnlichen Teint, alles umrahmt von mittellangem hellbraunen Haar.

Ein Gesicht, das man schnell vergaß.

Sie war eben nicht mit natürlicher Schönheit gesegnet wie ihre Freundinnen Eve Best und Liza Skinner, die sie seit Kindertagen kannte. Mit den Jahren hatte Jane sich mit ihrer Rolle abgefunden und kleidete sich entsprechend schlicht. Statt Designermode und Schuhe von Manolo Blahnik bevorzugte sie Jeans und Sneakers.

Trotzdem hatte Jane viel Spaß daran gehabt, wenn ihre Freundinnen früher Modenschau gespielt hatten. Sie hatte gern Kosmetika an ihnen ausprobiert, um sie noch schöner zu machen. Auf der Highschool hatte sie die beiden jeden Morgen in der Mädchentoilette geschminkt. Dabei hatte sie erkannt, dass sie einen Blick dafür hatte, Makel zu kaschieren und Vorzüge zu betonen – in den Gesichtern anderer. Die wenigen Male, die sie an sich selbst experimentiert hatte, hatten enttäuschende Ergebnisse gebracht. Es waren peinliche Versuche gewesen, sich hübscher zu machen als sie war. Es war ihr vorgekommen, als wollte sie mit ihren Freundinnen konkurrieren.

Daher hatte sie sich darauf beschränkt, andere Leute gut aussehen zu lassen, und in manchen Fällen war ihr unscheinbares Äußeres sogar hilfreich. Die meisten Prominenten waren so unsicher wegen eigener Schönheitsfehler, dass sie es hassten, einer Visagistin ausgeliefert zu sein, die attraktiver wirkte als sie selbst.

So war Janes Einfachheit zu ihrem Markenzeichen geworden in einer Welt, die manche vielleicht sogar glamourös finden mochten. Dabei war es damals, als Eve sie in ihr Team geholt hatte, ein berufliches Wagnis gewesen. Anfangs hatten Liza und Jane sich um alles gekümmert, was nötig war, um die Show auf Sendung zu bringen, auch wenn es den Rahmen ihrer Stellenbeschreibung sprengte. Aber mit der Zeit war die dürftige Besetzung auf ein Team von über vierzig Mitarbeitern in Technik, Verwaltung und Produktion angewachsen. Jetzt konnte sich Jane ganz auf ihren Job als Stylistin und Make-up-Artist konzentrieren, eine Tätigkeit, die herausfordernd und befriedigend zugleich war. Sie erlaubte ihr den Kontakt mit den Reichen und Berühmten und entschädigte sie für ihr dürftiges Privatleben.

Als das aufmunternde Lächeln, das Jane ihrem Spiegelbild zuwarf, nicht überzeugen wollte, wandte sie den Blick einfach ab.

Während sie jede Bürste und jeden Applikator, den sie besaß, sterilisierte, schaute sie auf den Bildschirm und stellte dabei zufrieden fest, dass sowohl Eve als auch ihr Gast in jeder Kameraeinstellung blendend aussahen, frisch und strahlend trotz der Hitze, die von den Lampen der Studioscheinwerfer ausströmte.

„Casey“, begann Eve mit einer Ernsthaftigkeit, als würde sie ein politisches Interview führen, „was sollten unsere Zuschauer beachten, wenn sie zu Hause ihr eigenes Sexvideo drehen möchten?“

Dies war die Art von schlüpfrigen Themen, die die Einschaltquote in den letzten Jahren immer wieder sprunghaft erhöht hatten. „Just Between Us“ erzielte dadurch inzwischen hohe Werbeeinnahmen. Ein Feature in einem Hochglanzmagazin hatte der Talkshow und Eve erhöhte Aufmerksamkeit bei den überregionalen Sendern verschafft. Der Erfolgsdruck war gestiegen – und damit auch die Nervosität unter den Kollegen.

Jane war so in Gedanken versunken, dass sie ein Tablett mit Make-up-Proben fallen ließ.

Auch sie war nervös.

Sie hockte sich hin, um die Tuben und Fläschchen aufzuheben, und schüttelte den Kopf über ihre Tollpatschigkeit. Es liegt an der Ungewissheit über die Zukunft der Show, redete sie sich ein. Das musste der Grund sein, weshalb sie so unruhig war. Es hatte nichts damit zu tun, dass sie dazu bestimmt zu sein schien, im Leben immer außen vor zu bleiben. Die Menschen konnten sich ja nicht einmal an ihren Namen erinnern.

Jane schaute zu, wie Eve ihren Zauber auf ihren Gast und ihr Publikum ausübte, und fragte sich beiläufig, ob ihre Freundin Liza, wo immer sie sein mochte, die Show verfolgte. Die extravagante und quirlige Liza Skinner war die erste Redaktionsleiterin der Show gewesen und hatte ein erfolgreiches Konzept entwickelt. Aber vor einem Jahr hatte ein Streit über eine Folge, die schlecht gelaufen war, dazu geführt, dass Liza alles hingeworfen hatte. Seitdem hatten sie nichts mehr von ihr gehört. Jane vermisste sie, und sie wusste, dass es Eve ebenso ging. Und tief im Innern erwarteten sie beide, dass Liza eines Morgens in ihrem Büro auftauchen würde, um weiterzumachen, als wäre nichts geschehen.

Jane dachte jedes Mal an Liza, wenn sie bei ihren Kollegen für die Lotterie „Lot O’ Bucks“ sammelte. Das Lottospiel war eine Tradition, die sie, Eve und Liza begründet hatten, wobei jede von ihnen zwei der sechs Zahlen ausgewählt hatte. Seit Liza fort war, waren drei andere Mitarbeiter der Tippgemeinschaft beigetreten, dennoch hatten sie und Eve stur zum Zeichen ihrer Freundschaft an einer von Lizas Zahlen festgehalten.

Als Jane ihre Geräte fortgeräumt hatte, war auch die Show zu Ende, und der Regisseur hielt zufrieden den Daumen hoch.

Jane schaltete den Monitor aus und machte Inventur. Sie notierte, welche Farbtöne von Make-up, Lidschatten, Rouge und Lippenstiften zur Neige gingen und bestellte telefonisch Nachschub. Danach überprüfte sie noch schnell die Garderobenständer und machte sich ein paar Notizen über neue Frühlingsaccessoires, die sie für die Requisite besorgen wollte. Sie sortierte Dutzende von Musterprodukten und Katalogen, die ihr von verschiedenen Herstellern zugeschickt worden waren. Die vielversprechenden steckte sie in eine große Leinentasche, um sie zu Hause in Ruhe durchzublättern, den Rest warf sie in den Papierkorb. Dann machte sie sich endlich auf den Weg.

Im Flur kam ihr Eve entgegen. Jane lächelte. „Tolle Show.“

Eve grinste. „Danke. Ich war ein bisschen besorgt, wie Casey beim Publikum ankommen würde, doch sie hat es gut gemacht. Und ihr Make-up und das Outfit waren perfekt, dank dir.“

„Schön.“

„Aber morgen habe ich eine echte Herausforderung für dich. Bette Valentine mit den zusammengewachsenen Augenbrauen kommt, um darüber zu sprechen, wie man sein inneres wildes Ich herauslässt.“

Bei dieser Ankündigung war Jane zusammengezuckt. „Und an den wallenden Hawaiigewändern, die sie so liebt, lässt sich kaum etwas machen.“

„Dir wird schon etwas einfallen“, meinte Eve mit einem Zwinkern. „Hast du heute Abend ein heißes Date?“

„Ja – mit meiner Fernbedienung.“ An diesem Abend wurde die letzte Folge ihrer Lieblingsserie „Dirty Secrets of Daylily Drive“ ausgestrahlt. Jane war gespannt, wer das kleine Biest aus der Nachbarschaft ermordet hatte.

Eve machte ein mitleidiges Gesicht. „Wann wirst du endlich wieder ausgehen? Es ist Monate her, seit du und James euch getrennt habt.“

Seit er mich abserviert hat, verbesserte Jane im Stillen. Und obwohl sie zugeben musste, dass James nicht die Liebe ihres Lebens war, tat ihr seine abschließende Bemerkung immer noch weh. Mein Gott, Jane, du bist so langweilig. Von dieser Beleidigung hatte sie sich noch nicht erholt.

„Ich habe keine Zeit für Verabredungen“, erwiderte sie, dann schmunzelte sie. „Vielleicht sollte ich mal mit meiner Chefin über meine Überstunden sprechen.“

„Okay, der Punkt geht an dich. Sobald wir es geschafft haben, landesweit auf Sendung zu gehen, können wir einen Gang zurückschalten“, versprach Eve, hakte sich bei Jane unter und begleitete sie zum Ausgang. Plötzlich wurde ihre Miene ernst. „Du hast nichts von Liza gehört, oder?“

„Nein, warum?“

„Kein besonderer Grund, wirklich nicht. Sie ist mir heute nur im Kopf herumgespukt.“

„Mir ging es genauso“, gestand Jane. „Hast du eine Ahnung, wo sie sein könnte?“

Eve schüttelte den Kopf. „So wie ich Liza kenne, ist sie in diesem Moment vielleicht gerade auf dem Weg zum Mond.“ Sie winkte zum Abschied. „Wir sehen uns morgen.“

Jane winkte zurück und sah ihrer Freundin nach. Sie wusste, dass Eve noch einige Stunden Arbeit vor sich hatte, bevor sie den Sender verlassen konnte.

Eve Best verdiente es, groß herauszukommen, denn sie schuftete doppelt so hart wie jeder andere im Team. Schon von Jugend auf hatte Jane das Gefühl gehabt, dass ihre beiden Freundinnen für große Dinge bestimmt waren.

Dann kam Jane ein anderer Gedanke und sie nagte sorgenvoll an ihrer Unterlippe. Seit Liza fort war, befiel sie immer öfter die düstere Ahnung, dass der Durchbruch, auf den sie alle warteten, sie nur weiter voneinander entfernen würde.

Jane verdrängte ihre Befürchtungen und verließ den Parkplatz des Senders. Es dämmerte bereits an diesem kalten Frühlingstag, und sie kämpfte gegen ihre Müdigkeit an, während sie ihren alten, aber zuverlässigen Honda Civic durch den Feierabendverkehr in Atlanta steuerte. Normalerweise kam sie um diese Zeit recht gut durch, doch heute geriet sie wegen einer Baustelle auf der Peachtree Street in einen Stau. In letzter Minute entschloss sie sich abzubiegen, um sich etwas zu essen vom Chinesen zu holen. So war es schon dunkel, als sie in die Tiefgarage des Blocks fuhr, in dem ihre Eigentumswohnung lag.

An ihrem Stellplatz angekommen, unterdrückte sie nur mühsam einen Fluch – ein kleines rotes Auto parkte dort neben dem großen schwarzen Geländewagen ihres neuen Nachbarn. Sie hatte den Mann noch nicht getroffen, dafür aber gehört, wie er am Vortag eingezogen war. Offensichtlich hatte er Besuch und verstieß schon gegen die Hausordnung. Kochend vor Wut stellte Jane ihren Wagen im engen Besucherparkbereich ab und marschierte ins Haus.

Je eher ihr Nachbar über die Regeln der Eigentümergemeinschaft belehrt wurde, desto besser.

Sie blieb vor seiner Tür stehen und musste mit ihrer Schultertasche, den Katalogen und der Tüte mit chinesischem Essen jonglieren, um die Klingel betätigen zu können. Aus der Wohnung dröhnte Musik mit dumpfen Basstönen. Jane drückte nach einer Weile noch einmal auf die Klingel, und nach etlichen Minuten schwang die Tür endlich auf.

Für Sekunden verschlug es ihr die Sprache.

Der Mann war deutlich über einen Meter achtzig groß. Sein Haar und seine Augen waren dunkel, sein Teint war gebräunt, und da er nur eine ausgeblichene Jeans trug, konnte sie viel nackte Haut sehen. Seine Schultern waren breit und muskulös, seine Brust war leicht behaart, und der Bund seiner Hose saß so tief, dass Jane sich fragte, ob er Unterwäsche trug. Seine Körperhaltung verriet natürliches Selbstbewusstsein, und er strahlte eine fast magische Anziehung aus. Der Mann wirkte wie geschaffen für Sex.

Kurz gesagt, er war umwerfend.

Er musterte sie ebenfalls, aber sie schien ihn weit weniger zu beeindrucken.

Lässig hielt er seine Bierflasche hoch. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er gedehnt.

„Äh … Ich bin Ihre Nachbarin von nebenan. Jane.“

Er nickte und ließ ein atemberaubendes Lächeln aufblitzen. „Ich bin Perry. Nett, Sie kennenzulernen.“

„Danke gleichfalls.“ Jane verteilte ihre kostbare Ladung auf beide Arme, um ihm nicht die Hand hinstrecken zu müssen. „Fahren Sie einen schwarzen Geländewagen?“

„Ja.“

„Direkt daneben, auf meinem Parkplatz, steht ein rotes Auto. Ich dachte, Sie wissen vielleicht, wem es gehört.“

„Kayla“, rief er über die Schulter und nahm einen Schluck Bier.

Eine Brünette, zierlich wie eine Barbiepuppe und mit riesiger Oberweite, erschien im bauchfreien Pulli hinter ihm im Flur. Seltsamerweise war Jane enttäuscht über den Geschmack ihres Nachbarn, doch was hatte sie erwartet?

„Was ist, Baby?“, fragte die junge Frau säuselnd.

„Hast du deinen Wagen auf dem Besucherparkplatz abgestellt, wie ich es dir gesagt habe?“

Sie zog einen Schmollmund. „Da ist es viel zu eng, deshalb habe ich neben deinem geparkt.“

Perry schaute Jane an und zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Sorry, äh … wie heißen Sie noch gleich?“

„Jane“, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Er richtete einen Zeigefinger wie eine Pistole auf sie und schnalzte mit der Zunge. „Kommt nicht wieder vor“, meinte er lässig.

Jane öffnete den Mund, um darum zu bitten, dass sein Gast den Wagen wegfahren möge, aber die Tür ging vor ihrer Nase zu. Verärgert runzelte sie die Stirn und hoffte, dass der Mann sich bei näherem Kennenlernen als sympathischer herausstellen würde. Das Gebäude hatte nur vierzig Einheiten. Ein paar Idioten unter den Eigentümern – oder ein besonders großer – würden genügen, um die Stimmung zu vermiesen. Und da sie und Perry eine gemeinsame Wand hatten und sich einen Balkon teilten, würde sie am meisten unter ihm zu leiden haben.

Seufzend schloss sie ihre Wohnung auf und machte Licht. Die Kataloge ließ sie auf ihren Schreibtisch fallen, die Tüte mit dem chinesischen Essen nahm sie mit ins Wohnzimmer, das sie bewusst schlicht in beruhigenden Farbtönen von Taupe und Himmelblau eingerichtet hatte. Dies war ihr Refugium. Die Wände waren weiß, die Möbel schnörkellos. Kein Schnickschnack, der sie ablenkte und nach Feierabend noch mehr Arbeit verursachte.

Jane atmete tief durch und spürte, wie die Anspannung des Tages von ihr abfiel. Sie zog sich einen bequemen Freizeitanzug an und band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. Ein Blick auf die Uhr ließ sie in die Küche eilen, um eine Flasche Wasser und ein Tablett zu holen. Zeit für ihre Serie. Würden Victoria und der Polizist Nate endlich zusammenfinden? Oder würde Nate Victoria etwa wegen Mordes an ihrer Nachbarin verhaften müssen?

Jane sank auf die Couch mit den vielen Kissen und schob die nackten Zehen in den Hochflorteppich, dann schaltete sie den Fernseher ein und griff nach der Tüte mit dem Essen. Noch bevor sie sich bequem zurücklehnen konnte, vernahm sie störend laute Musik von nebenan.

Jane warf einen finsteren Blick auf die Wand zur Nachbarwohnung. Der vorige Eigentümer war ruhig gewesen und oft verreist. Sie konnte nur hoffen, ihr neuer Nachbar würde schnell merken, dass die Wände in diesem Gebäude dünn waren.

Sie versuchte ihren Ärger zu unterdrücken und erhöhte die Lautstärke ihres Fernsehers, um die Musik zu übertönen. Dann packte sie ihr Essen aus, Wan Tan mit Krabben und Lo Mein, Nudeln mit Garnelen.

Sie wickelte die Essstäbchen aus und führte gerade ein Teigtäschchen zum Mund, als sie das Stöhnen einer Frau hörte.

„Ah … ahh, ja, Baby, genau so … ja.“

Jane hielt inne und drehte den Kopf zur Wand. Das war ja wohl nicht zu fassen. Die machten doch nicht etwa …

Ungläubig machte sie den Fernseher leiser und vernahm prompt wieder eindeutige Geräusche.

„Oh, oh, oh … ja! Ja! Mach weiter! Fester! Schneller! Jaaa! Oh mein Gott, oh mein Gott, das fühlt sich so gut an! Sag mir schmutzige Sachen, ja, genau … Du böser, böser Junge.“

Jane riss die Augen auf. Böser Junge?

Ein rhythmisches Hämmern ertönte, dazu ein unablässiges Quietschen, und Jane vermutete, dass es das Kopfende des Bettes war, das bei dem wilden Liebesspiel gegen die Wand stieß.

„Du meine Güte“, murmelte sie. Sie fühlte sich ein wenig schäbig, wie ein Voyeur, und konnte es dennoch nicht lassen, neugierig zuzuhören. Die Laute der Frau wurden immer schriller, begleitet vom tiefen Raunen eines Mannes.

„Jetzt!“, schrie sie. „Ich komme! Jetzt! Jetzt! Jaaaaa!“

Nach den Geräuschen zu urteilen, erreichten die beiden im gleichen Moment ihren Höhepunkt. Jane blieb regungslos sitzen. Sie konnte kaum fassen, was sich da gerade abgespielt hatte. Zugleich spürte sie ein verräterisches Ziehen in ihren Brüsten und ein erregendes Kribbeln in ihrem Bauch.

Beschämt griff sie wieder nach der Fernbedienung, um den Fernseher lauter zu stellen, denn immer noch drang Musik durch die Wand. Jane versuchte sich auf die Handlung auf dem Bildschirm zu konzentrieren, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder zu der Tatsache ab, dass sie gerade Ohrenzeugin beim Sex ihres neuen Nachbarn geworden war.

Dabei wollte sie lieber gar nicht so viel über ihn wissen. Zumal sie sich seinen muskulösen Körper nur zu gut nackt und leicht verschwitzt auf zerwühlten Laken vorstellen konnte. Sie überlegte, was für schmutzige Sachen er seiner Geliebten wohl gesagt haben mochte, dass sie so geschrien hatte, als ginge es um Leben und Tod.

Mechanisch steckte Jane ein Wan Tan in den Mund. Etwas Befriedigenderes hatte sie in dieser Nacht nicht zu erwarten. Doch als ihre Aufmerksamkeit weiterhin zu wünschen übrig ließ und sie erkannte, dass sie die letzte Folge ihrer Lieblingsserie weitgehend verpasst hatte, stieg wieder Ärger in ihr hoch. Der „böse Junge“ hatte sie unfreiwillig mit seinem Sexleben belästigt und ihr damit völlig den Abend verdorben. Und während sie noch innerlich kochte vor Wut über seine Frechheit und Schamlosigkeit, begann das rhythmische Knarren des Bettes und das Stöhnen der Frau von Neuem.

„Oh Baby, das ist es … genau so … oh ja. Sag etwas Schmutziges … oh ja.“

Jane schob mit hochgezogenen Augenbrauen ihre Zunge in die Innenseite ihrer Wange. Nicht schon wieder. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, zu Ende zu essen! Schlimmer, sie hatte keine Ahnung, wie es inzwischen in der Fernsehserie weitergegangen war.

Verärgert stocherte sie im Lo Mein, als das Rumoren auf der anderen Seite der Wand hektischer wurde. Der böse Junge hatte offenbar Stehvermögen – und Finesse. Er wusste genau, was er zu tun und wo er anzufassen hatte, oh Baby, er wusste genau, wie er es anstellen musste, oh ja.

Das Gestöhn der Brünetten klang wie ein schlechter Liedtext.

Was sagte er zu ihr? Jane lehnte sich näher an die Wand, konnte das leise Gemurmel aber nicht verstehen. Plötzlich wurde sie sich bewusst, dass sie sich im selben Rhythmus wie das Paar nebenan bewegte und dass sie erregt war.

Wie lange war es her, dass sie Sex gehabt hatte? Nach James hatte es noch keinen Mann wieder in ihrem Leben gegeben, und die letzten Male mit ihm waren enttäuschend verlaufen.

Wozu es beschönigen? Jedes Mal mit James war eine Enttäuschung gewesen. Bei jedem Mann – nicht dass es viele gewesen wären – war sie enttäuscht gewesen. Keine ihrer erotischen Begegnungen hatte an die Fantasien herangereicht, die ihr im Kopf herumschwirrten. Kein Mann hatte sie so fühlen lassen, wie sie sich jetzt fühlte, voller Verlangen und Sehnsucht nach Erfüllung.

Währenddessen kam die Frau nebenan immer mehr auf Touren, wobei sie in einer Lautstärke kreischte, die Jane auf die Nerven ging. Maßloser Zorn stieg in ihr auf, und sie sprang hoch. Sie war nicht gewillt, diese Art von Lärmbelästigung in ihren eigenen vier Wänden einfach hinzunehmen!

Energisch marschierte sie nach draußen in das Treppenhaus und pochte laut an Perrys Tür, und als er nicht reagierte, klopfte sie erneut, wobei sich ihre Wut weiter steigerte. Sie hob gerade den Arm, um noch einmal an seine Tür zu hämmern, da machte ihr Nachbar plötzlich auf. Er stand in seiner ganzen Herrlichkeit vor ihr, mit zerzaustem Haar und in Jeans, deren Reißverschluss nur halb hochgezogen war. Diesmal trug er garantiert keine Unterwäsche.

Perry lächelte schief. „Kann ich Ihnen helfen, äh … wie war Ihr Name noch mal?“

„Jane“, stieß Jane mit zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Richtig. Was kann ich für Sie tun, Jane?“

„Sie könnten etwas mehr Rücksicht nehmen.“

„Was meinen Sie?“

„Ich meine, Sie und ich wohnen Wand an Wand, und ich kann Ihre … Musik hören.“

„Okay, ich dreh die Stereoanlage etwas herunter.“

Er machte Anstalten, die Tür zu schließen, doch Jane hob eine Hand. Die Vorstellung, was den leichten Schimmer von Schweiß auf seiner Brust verursacht hatte, drohte ihr die Sprache zu verschlagen, aber sie erinnerte sich daran, dass sie hier das Opfer war. „Ich kann auch hören, was sich bei Ihnen sonst noch abspielt.“

Er blinzelte. „Sonst noch?“

Sie verschränkte die Arme und maß ihn mit einem bedeutungsvollen Blick. „Beide Male.“

Er zuckte mit den dunklen Augenbrauen, dann lächelte er frech. „Und auf einer Skala von eins bis zehn?“

Empört schnappte Jane nach Luft. „Ich bin nicht hier, um Ihnen Punkte zu geben, Mr. …“

„Brewer“, ergänzte er.

Jane presste einen Moment die Lippen zusammen. „Mr. Brewer“, sagte sie dann so beherrscht wie möglich. „Ich bin hergekommen, um Sie höflich zu bitten, weniger laut zu sein.“

„Ich werde es versuchen“, antwortete er munter. „Doch ich kann nichts versprechen.“ Dann trat er zurück und schloss die Tür.

Jane blieb ein paar Sekunden lang stehen. Sie fühlte sich wie ein Trottel. Schließlich kehrte sie in ihre Wohnung zurück, bemerkte ärgerlich, dass sie das Serienfinale nun endgültig verpasst hatte, und ging geladen im Wohnzimmer auf und ab. Um sich zu beruhigen, goss sie sich ein Glas Wein ein und setzte sich auf ihren kleinen Balkon mit Blick auf die funkelnden Lichter von Midtown.

Adrenalin strömte durch ihre Adern und eine Mischung aus Wut, Scham und Frustration. Sie hatte das Gefühl, die Fassung zu verlieren, und sie gestand sich ein, dass sie das nicht allein auf die Belästigung durch ihren Nachbarn schieben konnte. Vielleicht brütete sie etwas aus, oder sie litt unter Hormonschwankungen. Das würde die innere Unruhe erklären, die schon vor der Trennung von James begonnen und sich danach sogar noch verstärkt hatte. Es war nichts Konkretes, was sie quälte, nur ein unbestimmtes Gefühl der Leere.

Als sie hörte, wie auf dem Nachbarbalkon die Tür aufgeschoben wurde, verschlechterte sich ihre Laune noch. Nicht einmal hier war sie ungestört. Die Balkone waren zwar durch eine Mauer getrennt, doch falls die beiden beschließen sollten, ihre gymnastischen Übungen nach draußen zu verlegen, würde sie notgedrungen wieder alles mitbekommen. Sie wappnete sich gegen noch mehr Liebesgestöhne.

Stattdessen drang das schrille Lachen der Frau an ihr Ohr. „Unglaublich, dass deine schwachköpfige Nachbarin extra gekommen ist, um sich zu beschweren, dass sie uns beim Sex gehört hat. Wie unverschämt!“

Brewer lachte kurz. „Wohl eher prüde.“

Heiße Röte schoss Jane in die Wangen, und sie drückte sich tiefer in ihren Stuhl.

„Vielleicht solltest du dir eine andere Wohnung suchen“, schlug die Frau vor. Gleich darauf kicherte sie. „Sonst werden wir sie noch verrückt machen. Und dann wird sie dir auf die Nerven fallen.“

„Warum sollte ich wieder ausziehen?“, fragte Brewer. „Nur weil ich das Pech hatte, neben einer kleinen grauen Maus einzuziehen, die wahrscheinlich noch nie guten Sex hatte und nichts Besseres zu tun hat, als andere Leute dabei zu belauschen?“

Jane atmete tief ein. Sie spürte einen heftigen Schmerz in der Brust und fühlte sich zutiefst gedemütigt. Wurde sie etwa so von anderen Menschen gesehen? Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und Tränen schossen ihr in die Augen. Hastig stand sie auf. Dabei entglitt ihr das Weinglas, aber sie kümmerte sich nicht darum, sondern floh geradezu in ihre Wohnung.

Perry hörte Glas auf der anderen Seite der Balkonmauer zerspringen und zuckte zusammen, als ihm bewusst wurde, dass seine Nachbarin – Jane – wahrscheinlich draußen gesessen und seine Bemerkungen gehört hatte. Verdammt.

„Was war das?“, fragte Kayla.

„Nichts“, erwiderte er und trank sein Bier aus. Er kam sich vor wie ein Schuft. „Vielleicht solltest du jetzt lieber gehen. Ich muss früh am Gericht sein, und ich habe noch ein paar Akten durchzuarbeiten.“

Kayla schmollte. „Okay. Wann sehe ich dich wieder?“

„Bald“, versprach er und führte sie durch die Wohnung zur Tür, wo er sich mit einem flüchtigen Kuss von ihr verabschiedete und ihr nachwinkte.

Als sie fort war, schaute er zur Tür nebenan und überlegte, ob er sich bei seiner Nachbarin entschuldigen sollte, und vor allem, wie er sich überhaupt dafür entschuldigen könnte, dass er sie eine … Er zuckte erneut zusammen, als er sich erinnerte, wie er sie genannt hatte.

Eine kleine graue Maus, die wahrscheinlich noch nie guten Sex hatte.

Perry war über sich selbst entsetzt, denn egal wie unscheinbar eine Frau auch sein mochte, diese Art von Demütigung hatte sie nicht verdient. Seine Mutter hatte ihn eigentlich besser erzogen.

Perry rieb sich das Kinn und schwor sich, einen Weg zu finden, um Jane – wie auch immer sie mit Nachnamen heißen mochte – zu entschädigen. Irgendwie.

2. KAPITEL

Als Jane am nächsten Morgen in den Korridor trat und ihre Mülltüte abstellte, damit sie die Wohnungstür abschließen konnte, musste sie blinzeln, um sich durch die dunkle Sonnenbrille auf das Schloss konzentrieren zu können. Die Tarnung war lächerlich, aber notwendig, um ihre verquollenen Augen zu verstecken. Ihr neuer Nachbar und seine Freundin würden sicher herzlich lachen, wenn sie wüssten, dass ihre beiläufigen Bemerkungen über sie und ihr trauriges Leben ihr eine schlaflose Nacht beschert hatten, in der sie in ihr Kissen geweint hatte. Doch vermutlich war sie so uninteressant, dass die beiden sich nicht einmal erinnerten, was sie über sie gesagt hatten.

Während sie fahrig mit dem Schlüssel hantierte, ging zu ihrem Schrecken die Tür der Nachbarwohnung auf. Jane schaute nicht hoch, sondern stach einfach weiter auf das Schlüsselloch ein. Dabei fühlte sie, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

„Guten Morgen“, grüßte Perry.

„Morgen“, murmelte sie, ohne sich zu ihm umzudrehen.

„Probleme?“

„Nein.“ Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, das Zittern ihrer Hand zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht.

Plötzlich schloss sich eine große Hand sanft um ihre. „Lassen Sie mich mal.“

Jane verkrampfte sich, überließ ihm jedoch den Schlüssel und trat einen Schritt zurück, um sich seiner Berührung zu entziehen. Unauffällig sah sie sich nach seiner Freundin um, aber Perry war allein. Heute trug er einen Anzug und hatte eine Aktentasche dabei, die er neben ihre Mülltüte auf den Fußboden gestellt hatte.

Der Bolzen des Schlosses klickte. Perry wandte sich zu ihr um und reichte ihr lächelnd den Schlüssel.

„Danke“, sagte sie.

„Hey, kein Wunder, dass Sie nichts sehen konnten“, meinte er lachend. „Wozu die Sonnenbrille?“

Und bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte er ihr die Brille abgenommen. Sie blinzelte im plötzlich grellen Licht und riss ihm die Brille aus der Hand, peinlich berührt, weil er nun ihre geschwollenen, rot geränderten Augen sehen konnte. Wenn er sie am Tag zuvor unscheinbar gefunden hatte, dann musste sie ihm jetzt geradezu hässlich erscheinen.

Sie sah ihn erbleichen, bevor sie ihre Augen wieder hinter den dunklen Gläsern versteckte. „Ich habe eine Allergie“, erklärte sie ausweichend und griff nach der Mülltüte.

„Das nehme ich.“ Perry kam ihr zuvor und hob die Tüte hoch. „Bei der Gelegenheit können Sie mir gleich zeigen, wo ich meinen Abfall entsorge.“

Jane antwortete nicht, nickte nur und ging den Korridor hinunter zum Müllschlucker. „Hier“, sagte sie knapp und deutete auf die Klappe. „Einen schönen Tag noch.“

Sie schlug die Richtung zur Treppe ein, weil sie dachte, Perry würde den Fahrstuhl nehmen. Stattdessen folgte er ihr, nachdem er den Müll beseitigt hatte.

„Hey, es tut mir leid wegen des Lärms gestern Abend“, fing er an. „Mir war nicht bewusst, dass die Wände so dünn sind.“

Sie reagierte nicht, denn sie kannte den Typ Perry Brewer. Er würde sie mit ein paar Nettigkeiten umschmeicheln und sie dann bitten, eine Möbellieferung für ihn in Empfang zu nehmen. Jane ging schneller und schaffte es, die Tiefgarage vor ihm zu erreichen.

„Ich weiß noch gar nicht Ihren Nachnamen“, rief er einige Schritte hinter ihr.

Sie verdrehte die Augen – als ob er sich noch an ihren Vornamen erinnern würde.

Perry beschleunigte seine Schritte, holte sie ein und lächelte sie freundlich an. „Kommen Sie, wir sind Nachbarn. Ich sollte Ihren Nachnamen kennen.“

„Kurtz. Auf Wiedersehen.“ Jane eilte an ihrem nun leeren Stellplatz vorbei zum Parkbereich für Besucher. Sie war erleichtert, Perry endlich zu entkommen. Allerdings spürte sie seinen Blick in ihrem Rücken und konnte sich vorstellen, wie er ihre weite Baumwollhose, das gelbe Poloshirt, die schwarzen Sneakers und ihren Pferdeschwanz kritisch musterte. War er fasziniert, weil sie in seinen Augen ein Exemplar einer besonders merkwürdigen Spezies darstellte?

Als sie ihren Wagen erreichte, stöhnte sie auf. Eine ziemlich große Delle, offensichtlich von einem anderen Auto, das längst fort war, verunstaltete die Tür auf der Fahrerseite. Sie nahm die dunkle Brille ab und bückte sich, um mit der Hand über die Beule zu streichen – ihr Honda war zwar alt, aber sie versuchte, ihn gut in Schuss zu halten. Zu allem Überfluss entdeckte sie dann auch noch, dass ein Hinterreifen platt war, weil ein Nagel darin steckte. Eine Handvoll weiterer Nägel lag hinter ihrem Wagen verstreut. Wahrscheinlich hatte ein Handwerker, der ebenfalls im Besucherbereich geparkt hatte, sie verloren.

Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Jane kämpfte gegen Tränen an. Sie hatte verschlafen, weil sie erst gegen Morgen eingeschlafen war, und würde sich deshalb ohnehin schon bei der Arbeit verspäten.

Ein Auto nahte langsam heran. Jane drehte sich um und erkannte den schwarzen Geländewagen. Perry lehnte sich zur heruntergelassenen Scheibe auf der Beifahrerseite. „Kann ich Sie mitnehmen?“

Sie wischte sich über die Augen und setzte die Sonnenbrille wieder auf. „Nein, ich werde eine Werkstatt anrufen.“

„Das kann lange dauern, bis die jemanden schicken. Ich könnte Sie fahren, wohin Sie auch müssen.“

Sie rieb sich die Schläfen – sie wollte einfach nur, dass dieser gemeine Mensch verschwand.

„Ich fühle mich für Ihr Malheur verantwortlich“, rief er, dann öffnete er von innen die Tür auf der Beifahrerseite. „Nun steigen Sie schon ein.“

Nach kurzem Zögern sagte sich Jane, dass es das Mindeste war, was er für sie tun konnte, da seine Freundin sie letztlich in diese missliche Lage gebracht hatte.

Sie nahm seine ausgestreckte Hand, um in den Wagen zu steigen. Seine Finger schlossen sich warm und kräftig um ihre. Sobald sie saß, zog sie ihre Hand aus seiner und rückte so weit wie möglich von ihm ab, wobei sie den Sicherheitsgurt anlegte. Perry lächelte sie mit übertriebener Höflichkeit an wie jemand, der etwas gutzumachen hatte. Selbst durch die dunklen Gläser fiel ihr auf, dass er im Anzug noch attraktiver war als halb nackt. Und sie war überrascht, dass der „böse Junge“ einen richtigen Beruf zu haben schien.

„Wohin kann ich Sie bringen?“, fragte er.

Jane löste ihren Blick von ihm, schaute geradeaus und nannte ihm die Adresse.

„Dort befindet sich ein Fernsehsender, nicht wahr?“

Sie nickte.

„Was machen Sie da?“

Jane wand sich. Sie hatte keine Lust, dem Mann Munition zu liefern, die er gegen sie verwenden könnte.

„Ich arbeite für eine lokale Talkshow.“

„Wie heißt sie?“

„‚Just Between Us‘.“

„Hey, die Sendung kenne ich. Die Moderatorin sieht toll aus.“

„Eve Best. Ja, sie ist schön.“ Jane starrte aus dem Fenster, während ihr durch den Kopf ging, wie er sie beschrieben hatte. Kleine graue Maus … kleine graue Maus … kleine graue Maus … Sie drückte sich noch näher an die Tür.

„Klingt nach einem interessanten Job“, meinte Perry, doch Jane ging nicht auf seine Bemerkung ein. Das Schweigen zog sich peinlich in die Länge.

Sein Handy klingelte, und er bat um Entschuldigung, bevor er die Freisprechanlage aktivierte. „Perry Brewer.“

„Sie sind spät dran“, warf ihm eine weibliche Stimme vor.

„Ich wünsche Ihnen auch einen guten Morgen, Theresa. Ich bin unterwegs.“

„Sie müssen in dreißig Minuten am Gericht sein. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erklären, was von dieser Anhörung abhängt, Perry.“

„Nein, Theresa, das brauchen Sie nicht“, erwiderte er ernst.

„Viel Glück. Rufen Sie mich bitte gleich danach an.“

„Mach ich.“ Er beendete das Gespräch und warf Jane einen kurzen Blick zu. „Tut mir leid.“

„Kein Problem“, sagte sie. „Aber Sie scheinen sich meinetwegen zu verspäten. Sie können mich hier absetzen, und ich nehme mir ein Taxi.“

„Nicht nötig“, entgegnete er leichthin. „Wir sind ja schon fast da.“

Wieder dehnte sich das Schweigen zwischen ihnen aus, und Jane begann sich allmählich unwohl zu fühlen, weil sie sich nicht für seinen Versuch, eine höfliche Unterhaltung zu führen, revanchierte. „Sie sind also Anwalt?“

Perry lächelte. „Das steht zumindest auf meiner Visitenkarte.“

„Und Sie haben heute einen wichtigen Fall?“

„Wichtiger als die meisten.“

Jane stellte sich ihn im Gerichtssaal vor und vermutete, dass er seine Sache gut machte. Schließlich war er charmant und überzeugend. Und er hatte mehrere Gesichter.

Da sie den Punkt Smalltalk nun als erledigt betrachtete, konzentrierte sie sich stur auf das Heck des Wagens vor ihnen, hantierte am Riemen ihrer Umhängetasche und verriet durch andere fahrige Gesten, dass sie nervös war. Sie fühlte sich an diesem Morgen besonders unwohl wegen ihres Aussehens, und der attraktive Mann neben ihr verstärkte ihre Komplexe noch. Im Vergleich zu seiner ultrafemininen Freundin kam sie sich wie ein Junge vor.

Und das gefiel ihr ganz und gar nicht.

Perry beobachtete aus den Augenwinkeln, wie die schlanke Frau neben ihm sich wand und so weit wie möglich von ihm abrückte. Er fühlte sich unbehaglich. Der Anblick ihrer verquollenen Augen war wie ein Schlag in seine Magengrube gewesen – man brauchte nicht besonders intelligent zu sein, um sich vorstellen zu können, dass seine unüberlegten Worte vom Abend zuvor sie verletzt und zum Weinen gebracht hatten.

Er umklammerte das Steuer fester, während er von Gewissensbissen geplagt wurde. Entschuldigungen kamen ihm in den Sinn, aber er hatte das Gefühl, dass er alles nur noch schlimmer machen würde, wenn er das Thema anschnitte. Trotzdem, er musste sein schlechtes Benehmen wiedergutmachen.

„Hören Sie … Jane“, begann er, seine Worte mit Bedacht wählend. „Ich habe manchmal eine große Klappe, und ich glaube, dass Sie gestern Abend eine Bemerkung von mir aufgeschnappt haben, die … taktlos war.“

Sie sagte nichts, doch an der Art, wie sie sich verkrampfte, merkte Perry, dass er recht hatte. Sie hatte ihn gehört, und ihre rot geränderten Augen hatten nichts mit irgendeiner Allergie zu tun.

„Es tut mir leid“, sagte er leise.

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen“, erwiderte sie rasch und zog dabei am Riemen ihrer Tasche. „Sie haben ein Recht auf Ihre eigene Meinung.“

„Aber ich habe es nicht so gemeint. Ich war schlecht gelaunt und hatte zu viel getrunken.“

Sie schenkte ihm ein halbherziges Lächeln. „Es ist okay, Mr. Brewer. Ich habe einen Spiegel. Ich weiß, dass ich nicht … aufregend bin.“

Die Resignation in ihrer Stimme versetzte ihm einen Stich. „Jane …“

„In dem Gebäude da an der Ecke arbeite ich. Ich steige hier aus.“

„Ich fahre Sie zum Eingang“, sagte Perry, doch weil er gerade anhalten musste, stieß sie schon die Beifahrertür auf und schwang sich auf den Bürgersteig.

„Soll ich Sie von der Arbeit abholen?“, rief er eifrig und fand es selbst sonderbar, dass er unbedingt etwas für sie tun wollte.

„Nein danke. Viel Glück vor Gericht.“ Jane warf die Tür zu und lief die letzten Schritte zu Fuß.

Er schaute ihr nach, wie sie mit wippendem Pferdeschwanz davoneilte. Mit der großen Schultertasche und der lässigen Kleidung wirkte sie fast wie eine Schülerin, jung – und allein. Und sie hatte ihm Glück gewünscht. Trotz allem, was er über sie gesagt hatte, hatte sie versucht, nett zu sein.

Gab es solche Menschen wirklich noch auf dieser Welt?

Eine Hupe ertönte hinter ihm und riss ihn aus seinen Gedanken. Er trat aufs Gaspedal und ermahnte sich zur Konzentration. Gleich wurde der wichtigste Fall seiner Karriere verhandelt. Dennoch konnte er auf dem Weg zum Gericht nur an die junge Frau denken, die er mit seinen achtlosen Worten verletzt hatte. Und er erkannte plötzlich, dass er Jane Kurtz gern näher kennenlernen würde, wenn er sie nur davon überzeugen könnte, das zuzulassen.

Jane brannten vor Scham die Wangen, als sie an ihren Arbeitsplatz eilte. Sie wusste nicht, was schlimmer war – zu wissen, was Perry über sie gesagt hatte, oder zu wissen, dass er wusste, dass sie es wusste.

Und dass er wusste, dass seine Worte sie verletzt hatten.

Eins war gewiss, erkannte Jane, als sie in der Maske die Sonnenbrille abnahm und ihre roten, geschwollenen Augen im Spiegel betrachtete. Sie musste zu einem guten Concealer greifen, oder sie würde den ganzen Tag damit zu tun haben, die neugierigen Fragen ihrer Kollegen abzuwehren.

Also setzte sie sich vor den beleuchteten Spiegel und begann zum ersten Mal seit langer Zeit etwas von ihren Fähigkeiten bei ihrem eigenen Gesicht anzuwenden. Routiniert tauchte sie ein Schwämmchen in einen Tiegel mit Make-up, das eine Nuance heller als ihr Hautton war, und machte sich daran, die Spuren der Tränen der letzten Nacht zu verwischen. Wenn es doch nur ebenso einfach wäre, den Schaden zu beheben, den Perry mit seinem abfälligen Kommentar in ihrer Seele angerichtet hatte. Seine Entschuldigung hatte das Messer nur noch tiefer in sie hineingerammt.

Schlimmer war, dass sie selbst nicht begriff, warum sie in letzter Zeit so dünnhäutig war. Was war die Ursache für ihre innere Unruhe? War es die Angst, dazu verdammt zu sein, von allen ignoriert zu werden? Bis in alle Ewigkeit allein zu bleiben?

Das Erscheinen ihrer Freundin Eve Best, die täglich von ihr für die Sendung geschminkt wurde, beendete Janes Grübeleien. „Guten Morgen!“

Eve war der fröhlichste Mensch, den Jane kannte – schon in ihrer Nähe zu sein bewirkte, dass sie sich besser fühlte. „Guten Morgen, Eve.“

„Bist du bereit für mich?“

„Sicher.“ Jane stand auf und deutete auf den freien Stuhl.

„Wie war der Abend mit deiner Fernbedienung?“, erkundigte sich Eve scherzhaft, während sie sich hinsetzte.

„Gestört“, antwortete Jane und hängte Eve einen Papierumhang um. „Mein neuer Nachbar ist so laut, dass er mir den ganzen Abend verdorben hat.“

„Er?“, hakte Eve lächelnd nach. „Hast du ihn gesehen?“

„Ja. Einmal, um ihm zu sagen, dass seine Freundin mit ihrem Wagen meinen Parkplatz blockiert hatte, und einmal, um ihn zu bitten, leiser zu sein. Und weil ich heute Morgen einen platten Reifen hatte, hat er mich hier abgesetzt.“

Eve zog die Augenbrauen hoch. „Ist er nett?“

Jane zuckte mit den Schultern. „Schon möglich. Aber er ist auch ein Idiot.“

„Na, so ein Idiot kann er nicht sein, wenn er dich zur Arbeit gefahren hat.“

Jane wich Eves prüfendem Blick aus und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. „Wie war die Einschaltquote gestern?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln.

Eve musterte sie mit einem leichten Stirnrunzeln, dann meinte sie: „Besser als je zuvor. Ich muss heute mindestens genauso gut sein, um die Zuschauer zu halten, die wir gestern dazugekriegt haben.“

„Du wirst es schon machen“, sagte Jane, um ihre Freundin, die ihr besorgt schien, zu beruhigen.

Eve lächelte sie im Spiegel an. „Danke. Doch in letzter Zeit frage ich mich oft, warum ich das alles tue.“ Sie seufzte theatralisch. „Mein Leben wäre um so vieles leichter, wenn ich bloß in der Lotterie gewinnen könnte.“

Jane lachte. „Meins auch.“ Sie checkte das Datum auf ihrer Armbanduhr. „Hey, vielleicht haben wir heute Glück.“ Sie trug eine Schicht Airbrush-Make-up auf Eves hübsches Gesicht auf, aber an diesem Morgen war sie nicht ganz so konzentriert wie sonst. Immer wieder blinzelte sie. Ihre müden Augen brannten. Mehr als einmal musste sie den Zerstäuber ausschalten und Fehler manuell korrigieren.

„Bist du okay?“, fragte Eve forschend. „Du siehst erschöpft aus.“

„Ich … ich habe letzte Nacht nicht gut geschlafen.“

„Schon wieder dein Nachbar?“

Jane nickte nur, ersparte ihrer Freundin allerdings die schmutzigen Details.

„Hört sich nach einem interessanten Typ an“, meinte Eve lauernd.

Jane antwortete nicht. Sie musste sich eingestehen, dass sie ein paar der Tränen letzte Nacht auch deshalb vergossen hatte, weil Perry Brewer mit seiner Einschätzung von ihr richtig lag. Nicht nur, dass sie wirklich eine kleine graue Maus war, es hatte auch einen Nerv in ihr getroffen, als sie ihn beim Liebesspiel mit seiner Freundin belauscht hatte – kein Mann hatte ihr je diese Art von körperlicher Befriedigung geschenkt.

Perry hatte vollkommen recht. Sie hatte noch nie in ihrem Leben guten Sex gehabt.

„Äh … Jane? Seit wann benutzt du grünes Rouge?“

Jane starrte erschrocken auf ihr schauriges Werk. „Es tut mir leid! Ich bringe es sofort in Ordnung.“

„Dein neuer Nachbar hat dich ja ganz schön durcheinandergebracht“, stellte Eve fest.

„Ein paar Ohrstöpsel, und es kommt nicht wieder vor“, murmelte Jane und konzentrierte sich auf Eves Make-up. Geschickt schminkte sie Augen, Wangen und den Mund. Als sie fertig war, stylte sie Eves fülliges Haar, während sie über die Show dieses Tages sprachen.

„Ich hoffe nur, dass das Thema ‚Lass dein wildes Ich heraus‘ genügend Zuschauer anspricht“, sagte Eve trocken. „Es klingt ein bisschen nach sexuellem Exorzismus.“

Jane lachte und entfernte den Papierumhang. Dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete Eves türkisfarbene Bluse. „Ich habe eine Kette, die toll zu dem Outfit passen würde.“ Sie holte eine massive Silberkette mit Türkisen aus der Requisite und legte sie Eve um den Hals. Eve berührte die Steine und nickte anerkennend. „Das ist perfekt. Du hast ein gutes Auge für solche Sachen, Jane.“

Jane lächelte. „Dafür bezahlst du mich schließlich.“

Ein Produktionsassistent erschien in der Tür. „Bette Valentine ist da.“

Eve schaute zu Jane hoch. „Heute wirst du dir deinen Gehaltscheck schwer verdienen müssen.“

Die beiden Frauen lachten, dann erhob Eve sich seufzend. „Wir sehen uns später.“

„Okay“, sagte Jane und unterdrückte ein Gähnen.

Sie war gerade fertig damit, den Schminkbereich aufzuräumen, da segelte schon Bette Valentine in einem für sie typischen wallenden Kleid in den Raum, mit grellem Make-up, klimpernden Ohrringen und hochtoupiertem roten Haar.

„Hallo, hallo“, grüßte die Frau mittleren Alters in einem fröhlichen Singsang.

„Hallo, Miss Valentine“, sagte Jane und hoffte, dass ihr Lächeln zuversichtlicher wirkte, als sie sich fühlte. „Ich bin Jane.“

„Ich erinnere mich noch vom letzten Mal an Sie“, erwiderte Bette freundlich. „Obwohl ich mir nicht sicher bin, warum man mich zu Ihnen geschickt hat. Ich habe mich schon selbst geschminkt.“

„Ich frische Ihr Make-up nur ein wenig auf“, erklärte Jane beruhigend und deutete auf den Stuhl. „Sie möchten unter all den Scheinwerfern sicher nicht glänzen.“

Bette setzte sich, und ihre Armbänder klirrten dabei.

„Miss Valentine, Sie möchten doch sicher störenden Schmuck ablegen. Ihr Mikrofon würde die Geräusche verstärken, und unsere Zuschauer würden Sie nur schlecht verstehen können.“

„Oh? Das wollen wir natürlich nicht riskieren“, räumte Bette ein.

„Und ich glaube, ich habe eine Lidschattenfarbe, die Ihre wunderschönen grünen Augen noch besser zur Geltung bringen würde.“

Mit einem Kompliment nach dem anderen gelang es Jane, Bettes grelles Make-up abzumildern und die Frisur zu verschönern. Sie fand sogar einen silberfarbenen Flechtgürtel für das voluminöse Kleid.

„Das sieht gut aus“, stimmte Bette mit einem wohlwollenden Nicken zu. Dann musterte sie Jane. „Sie sind ziemlich hübsch, wissen Sie.“

Jane errötete, und in ihrem Kopf hörte sie wieder das harte Urteil ihres Nachbarn. „Nein, das bin ich nicht.“

Bette Valentine lachte und ergriff Janes Hände. „Meine Liebe, Sie sind genau der Typ Frau, den ich heute Abend ansprechen möchte. Sie müssen Ihr inneres wildes Ich herauslassen.“

Jane wurde verlegen. „Ich habe kein … ich meine, ich bin nicht …“

„Gibt es einen Mann in Ihrem Leben, Jane?“

„Nein, aber …“

„Das liegt daran, dass Sie die Leidenschaft, die tief in Ihnen steckt, nicht ausleben.“

Jane wand sich. Dieses esoterische Gerede machte sie nervös.

Bette drückte Jane fest die Hände. „Sie haben ein Geheimnis. Sie verbergen sich hinter Ihrer schlichten Kleidung und dem Pferdeschwanz, weil Sie Angst haben, den Männern Ihr wahres, wildes Ich zu zeigen, obwohl Sie es eigentlich möchten. Zugleich langweilen Sie sich mit den Männern, die Ihre Sehnsucht nicht erkennen.“

Jane wollte protestieren, doch Bette schaute ihr so intensiv in die Augen, dass sie für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl hatte, die Frau schaute ihr bis tief in die Seele und konnte etwas sehen, das nicht einmal ihr selbst bewusst war.

„Es steckt tief in Ihnen“, fuhr Bette fort und tippte Jane leicht auf die Brust. „Sie müssen den Mut finden, Ihr wildes Ich herauszulassen.“

Janes Herz klopfte wild. Sie konnte nicht sprechen, ja sie hätte auch nicht gewusst, was sie hätte sagen sollen. Aus irgendeinem Grund reizten die Worte der Frau sie zum Lachen – und zum Weinen. Es war so, als hätte Bette den Finger direkt auf ihre Wunde gelegt. Sie sprach genau das aus, wovor Jane sich am meisten fürchtete, dass sie, Jane, dazu verdammt war, die Frau zu sein, an deren Namen sich niemand erinnern konnte.

„Miss Valentine“, rief ein Assistent an der Tür. „Sie sind in fünf Minuten dran.“

Bette drückte Jane noch einmal die Hand. „Heute spreche ich für Sie, Honey.“

Jane starrte der extravaganten Frau aufgewühlt nach und schob ihre Empfindsamkeit teilweise auf ihren Mangel an Schlaf. Aber sie schaltete den Monitor ein, und während sie ihre Geräte und Schminktöpfchen reinigte, verfolgte sie die Sendung mit größerer Aufmerksamkeit als sonst.

Eve stellte Bette Valentine unter großem Applaus vor – die schillernde Persönlichkeit war ein beliebter Gast der Talkshow. „Erklären Sie uns heute bitte, was Sie damit meinen, wenn Sie sagen, dass Frauen ihr inneres wildes Ich herauslassen sollen.“

Bettes Stimme klang hypnotisch, und sie unterstrich wichtige Punkte mit eleganten Handbewegungen. „Frauen werden von Kind auf an dazu erzogen, Verhalten zu unterdrücken, das undamenhaft oder zu aggressiv wirken könnte, vor allem wenn es um Sex geht. Manche Frauen verinnerlichen diese Verhaltensweisen und werden extrem schüchtern, doch insgeheim sehnen sie sich danach, auszubrechen.“

„Und das sind Frauen, die wir kennen?“, fragte Eve.

„Auf jeden Fall. Manchmal sind es Frauen, von denen man es am wenigsten erwarten würde. Die Fassade, die sie der Welt zeigen, ist die Gehorsamkeit, ja manchmal sogar die Unterwürfigkeit eines braven Mädchens. Sie tun das, was jeder um sie herum von ihnen erwartet.“ Bette beugte sich beschwörend vor. „Aber diese Frauen haben ein Geheimnis. Tief im Innern sind sie unglücklich, weil sie das Verlangen unterdrücken, manchmal etwas Verrücktes zu tun, oder etwas völlig Unerwartetes, um sich selbst und allen anderen zu beweisen, dass mehr in ihnen steckt, als man auf den ersten Blick vermuten würde.“

Jane erstarrte. Die Worte durchdrangen messerscharf den unsichtbaren Schild, den sie über ihr Herz gehalten hatte.

Bette schaute in die Kamera, und Jane hatte das Gefühl, als spräche die Frau direkt zu ihr. „Denken Sie daran, es ist besser, mit Zurückweisung zu leben als mit Reue. Sie sind es sich selbst schuldig, authentisch zu sein.“

„Viele Frauen sind glücklich, auch wenn sie zurückhaltend sind“, wandte Eve ein.

„Ich rede nicht von den Frauen, die ehrlich zufrieden mit ihrem Leben sind“, erwiderte Bette. „Ich rede von der Frau, die traurig ist, einsam und unruhig.“

Jane schluckte schwer. Sie fühlte sich direkt getroffen, denn sie spürte diese Anspannung in sich, seit James sie fallen gelassen hatte. War es ihr inneres Ich, das ihr zu sagen versuchte, dass sie Besseres verdiente? Hatte sie nur deshalb ihren Seelenverwandten noch nicht gefunden, weil sie der Welt ein falsches Bild von sich zeigte?

„Okay“, meinte Eve, „nehmen wir an, ein paar von unseren Zuschauerinnen denken jetzt: ‚Ja, das bin ich.‘ Was können diese Frauen tun, um ihr inneres wildes Ich herauszulassen?“

„Der Prozess ist bei jeder Frau anders. Manchmal genügt es schon, sich selbst einfach nur die Erlaubnis dazu zu geben. Manchmal erfordert es drastischere Maßnahmen, wie eine optische Veränderung oder einen Tapetenwechsel.“

Ein Tapetenwechsel. Jane fühlte sich wie elektrisiert. Genau das brauchte sie. Einen Ort, an dem sie anonym mit dieser Theorie vom wilden Ich experimentieren könnte, sicher vor den neugierigen Blicken ihrer Bekannten, die über sie tuscheln würden. Einen Wochenendausflug, weit weg von Atlanta.

Ihr Herz klopfte vor Aufregung, doch ihr praktischer Verstand machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Die Reparatur am Auto, ein neuer Reifen … Ihre Finanzlage war schon angespannt genug. Sie presste die Lippen zusammen, als ihre Wut auf Perry Brewer erneut hochkam, dann seufzte sie resigniert.

Die Vernunft siegte.

Jane machte den Fernseher leiser, griff zum Telefon und dem Branchenbuch und verschob bedauernd ihren Plan, ihr wildes Ich herauszulassen, bis sie etwas Geld gespart hätte. Vielleicht nächsten Monat. Oder nächstes Jahr …

3. KAPITEL

„Nun, wie ist der Prozess ausgegangen?“, fragte Theresa am Telefon.

„Ich habe ein gutes Gefühl“, sagte Perry vorsichtig zu seiner langjährigen Büroleiterin. „Aber der Richter hat die Urteilsverkündung auf nächste Woche vertagt.“

„Perry, ich glaube nicht, dass wir noch so lange durchhalten können. Unsere Gläubiger sitzen mir im Nacken.“

„Was ist mit dem Geld aus dem Verkauf meines Hauses?“

„Das haben wir bereits verbraucht.“

Perry kniff sich in die Nasenwurzel, um die drohenden Kopfschmerzen abzuwehren. „Versuchen Sie bitte, sie noch ein paar Tage länger zu vertrösten, Theresa. Wenn der Richter zu unseren Gunsten entscheidet und Deartmond Industries zahlen muss, dann schwimmen wir wieder oben.“

„Sie meinen, falls der Richter zu unseren Gunsten entscheidet. Ich finde es ja großartig, dass Sie diesen Fall ehrenhalber übernommen haben, doch er hat Sie so viel Zeit gekostet, dass unsere Einkünfte inzwischen versiegt sind. Wenn Sie den Prozess verlieren oder die Entschädigungssumme nicht spektakulär ausfällt, werden wir die Kanzlei schließen müssen.“ Sie holte tief Luft. „Vielleicht sollten Sie überlegen, den Vergleich anzunehmen.“

Perry presste die Lippen zusammen. „Der Vergleich ist eine Beleidigung für meinen Klienten. Und außerdem liegt das Angebot nicht mehr auf dem Tisch.“

„Dieser Edelmut steht Ihnen gut, Perry, aber es war leichter, die Rechnungen zu bezahlen, als Sie noch Krankenwagen hinterherjagten, um Unfallopfer als Klienten zu gewinnen.“

Er lachte. „Seien Sie ruhig etwas zuversichtlicher. Ich werde einen Weg finden, unsere Gläubiger zu befriedigen.“

Theresa seufzte. „Wann kommen Sie ins Büro? Sie haben ungefähr hundert Anrufe zu beantworten.“

„Ich werde nach dem Lunch dort sein. Ich muss erst noch nach Hause.“

„Und wie lebt es sich als Wohnungseigentümer?“

Perry runzelte die Stirn. „Anscheinend sind die Wände sehr dünn. Ich trauere meinem Haus nach.“

„Gewinnen Sie den Prozess, und Sie können wieder umziehen“, erklärte Theresa lapidar.

Perry zog die Augenbrauen hoch. „Dabei fällt mir ein, würden Sie bitte Informationen über eine Frau namens Jane Kurtz sammeln? Sie ist meine Nachbarin.“

„Möchten Sie bei ihr landen?“, fragte Theresa direkt.

„Nein“, versicherte er ihr. Obwohl die Vorstellung seltsamerweise nicht ganz abwegig war.

„Okay, ich muss jetzt Schluss machen, damit ich einen Pakt mit dem Teufel schließen kann“, meinte Theresa. „Irgendwie muss ich ja verhindern, dass nächste Woche die Lichter bei uns ausgehen.“

„Sie sind die Beste“, sagte Perry.

„Ja, das bin ich“, stimmte sie zu und legte auf.

Er schaltete die Freisprechanlage ab, atmete tief aus und löste seine Krawatte. Der Fall Kendall zog sich bereits achtzehn Monate länger hin, als er erwartet hatte. Perry hatte dafür andere Mandanten abgelehnt und inzwischen sämtliche finanziellen Reserven aufgebraucht, die er besessen hatte. Aber er hoffte, dass sein Einsatz sich lohnen würde. Thomas Kendall war als Sicherheitsbeauftragter beim Chemiefabrikanten Deartmond Industries über zwei Jahrzehnte lang gefährlichen Emissionen ausgesetzt gewesen, denn sein kleines Büro hatte sich in unmittelbarer Nähe des Abgassystems befunden. Als er sein Lungenleiden, das er sich offenbar dabei zugezogen hatte, als Berufskrankheit geltend machen wollte, war er kurzerhand entlassen worden.

Perry war nach wie vor davon überzeugt, das Richtige getan zu haben. Er hoffte nur, dass er am Ende nicht wegen seiner Prinzipientreue Bankrott anmelden musste. Der Fall Kendall bedeutete für ihn alles oder nichts – wenn sie gewännen und wenn die Entschädigung so hoch ausfiele, wie Perry es für angemessen hielt, dann könnte Thomas Kendall sich eine Lungentransplantation leisten, und er und seine Familie hätten für den Rest ihres Lebens ausgesorgt. Und mit seiner Kanzlei würde es auch wieder aufwärts gehen. Aber wenn sie verlören oder wenn das Schmerzensgeld vielleicht sogar noch geringer wäre als die lächerliche Summe, die das Unternehmen als Vergleich angeboten hatte, dann wäre die Kanzlei ruiniert – und das Leben seines Klienten auch.

Vielleicht hatte Theresa recht, und er sollte wieder versuchen, Unfallopfer als Klienten zu ködern, statt sich mit den Großen und Mächtigen anzulegen, denn keine gute Tat blieb ungestraft. Das jedenfalls pflegte seine Großmutter immer zu sagen.

Als er sich seinem Wohnblock näherte, schweiften seine Gedanken von diesen Problemen ab zu einem noch drängenderen Problem – Jane Kurtz. Er war sich nicht sicher, warum sie ihm immer noch im Kopf herumschwirrte. Schließlich hatte er sich für seine verletzende Bemerkung bei ihr entschuldigt.

Perry runzelte die Stirn. Anstatt wütend oder beleidigt zu sein, hatte Jane sich so verhalten, als ob sie es nicht anders verdiente. Ich habe einen Spiegel. Ich weiß, dass ich nicht aufregend bin. Und dabei war sie nicht auf Komplimente aus gewesen – sie hatte sehr sachlich geklungen.

Anscheinend war sie schon in dem Bewusstsein aufgewachsen, nicht so hübsch wie andere Mädchen zu sein. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, dass er zu den Menschen gehörte, die diesen Eindruck, den sie selbst von sich hatte, noch verstärkten.

Beim Einfahren in die Tiefgarage schaute er zu den Besucherparkplätzen und zuckte zusammen, als er Jane neben ihrem Auto auf dem Bauch liegen sah. Sie versuchte, einen Wagenheber unter den Holm zu schieben, um den Reifen zu wechseln. Perry lenkte seinen Wagen auf den nächsten freien Platz und stieg aus. Sie drehte sich zu ihm um, als er auf sie zuging.

„Ich dachte, Sie wollten eine Werkstatt anrufen“, sagte er.

Jane konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit. „Das habe ich auch getan, aber die verlangte ein Vermögen, und das ist in meinem Budget diesen Monat nicht mehr drin. Ich habe schon ein paar Mal einen Reifenwechsel gemacht. Es ist gar nicht so schwer.“

Perry hörte nur halb hin. Er war abgelenkt vom Anblick ihres wohlgeformten Pos, den sie unbewusst herausstreckte, während sie sich weiter mit dem Wagenheber abmühte. Wow, die unscheinbare Jane Kurtz verbarg interessante Rundungen unter ihrer jungenhaften Kleidung.

Er krempelte die Ärmel auf und hockte sich neben sie auf den Boden. „Lassen Sie mich Ihnen helfen.“

„Ich kann das allein“, erwiderte sie gereizt.

Wahrscheinlich war sie sich nicht bewusst, dass sie einen Streifen Schmiere auf der Nase hatte. Perry unterdrückte ein Grinsen. „Ich bin sicher, dass Sie das können“, meinte er gelassen, „doch ich kann es schneller. Und außerdem würde es mein Gewissen beruhigen wegen des ganzen Ärgers um den Parkplatz.“

Jane zögerte.

„Bitte“, fügte er hinzu.

Schließlich nickte sie kurz und stand auf. Perry brachte den Wagenheber in Position, dann sah er sich nach dem Schraubenschlüssel um.

„Ich habe die Muttern schon gelöst“, erklärte Jane.

Er nickte anerkennend. Demnach verstand sie etwas von dem, was sie tat. Er bediente den Wagenheber mit dem Fuß, bis sich das Hinterrad etwa fünfzehn Zentimeter über dem Boden befand. Dann entfernte er die Muttern komplett und legte sie beiseite. Nachdem er den Reifen abgenommen hatte, untersuchte er die Stelle, an der ein Nagel herausschaute. „Ich kaufe Ihnen einen neuen Reifen.“

Jane beobachtete ihn, die Arme vor der Brust verschränkt. „Das ist nicht nötig.“

„Ich finde schon.“

„Hören Sie, Mr. Brewer …“

„Nenn mich einfach nur Perry.“

„P…Perry … du brauchst keine Schuldgefühle zu haben, weil …“ Sie errötete, dann hob sie ärgerlich das Kinn. „Wegen der Bemerkung über mich.“

Er richtete sich auf und stellte den ruinierten Reifen ab. „Darum geht es nicht. Ich denke, ich bin dir etwas schuldig, weil mein Gast deinen Parkplatz blockiert hatte. Wenn Kayla hier geparkt hätte, dann würde ich das jetzt für sie tun.“

„Oh.“ Jane wich seinem Blick aus.

Perry montierte den Ersatzreifen, ließ den Wagen herunter und zog die Radmuttern zum Schluss noch einmal kräftig fest. Dann verstaute er das Werkzeug im Kofferraum und wischte sich die Hände in seinem Taschentuch ab.

Jane stand immer noch mit verschränkten Armen da. „Danke.“

Er ging zu ihr und blieb vor ihr stehen. Dabei registrierte er, wie ihre Körperhaltung ihre Brüste betonte, die im Verhältnis zu ihrer ansonsten schlanken Figur ziemlich üppig waren. Langsam schaute er hoch, dann führte er den Zipfel seines Taschentuchs an ihr Gesicht.

Sie verkrampfte sich.

„Du hast da einen Fleck“, murmelte er, bevor er die dunkle Schmiere von ihrer Nase wischte.

Eine hübsche Nase, fand er, keck und fein, über einem hübschen, leicht geöffneten rosa Mund und unter kornblumenblauen Augen, die jetzt zum Glück nicht mehr rot gerändert und geschwollen waren.

Eine hellbraune Strähne hatte sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und fiel in ihre Stirn. Behutsam strich Perry sie zurück, und als er das seidenweiche Haar unter seinen Fingern fühlte, durchzuckte es ihn wie ein Schlag.

Jane wich mit einem leichten Stirnrunzeln zurück. „Sind wir hier fertig?“

Er ließ seine Hand sinken und steckte das Taschentuch wieder ein. „Ja. Ich ersetze dir den Reifen so schnell wie möglich. Heute noch, wenn ich es schaffe.“

„Danke.“

„Kein Problem“, sagte er, dann nahm er den kaputten Reifen und ging zu seinem Geländewagen.

„Perry“, rief Jane ihm nach.

Er drehte sich um.

„Wie ist es gelaufen? Mit dem Prozess, meine ich.“

Er lächelte. Von allen Frauen in seinem Leben hatte sich bisher nur Theresa nach seinen Fällen erkundigt, und das aus rein beruflichem Interesse. „Das Urteil wird erst nächste Woche gesprochen, doch ich habe ein gutes Gefühl.“

Ein schüchternes Lächeln umspielte ihren Mund.

„Aber wenn du mir die Daumen drückst“, fügte er charmant hinzu, „würde ich das sehr zu schätzen wissen.“

Bei Perrys Lächeln, das allein für sie bestimmt war, stockte Jane der Atem. Zu behaupten, dass dieser Mann sie gerade überrascht hatte, wäre noch stark untertrieben.

Er war nett gewesen. Und er sah sexy aus. Wie verzaubert blieb sie stehen, während er in seinen Wagen stieg, ihr zuwinkte und davonfuhr.

Dann schlug sie sich mit der flachen Hand an die Stirn. Was bin ich nur für ein Idiot. Das gehörte doch alles nur zu seiner Masche, sich bei ihr einzuschmeicheln. Sie machte ein finsteres Gesicht und stemmte die Hände in die Seiten. Perry Brewer war der Typ Mann, der wollte, dass Frauen ihn bewunderten – und Jane war sich sicher, dass es viele gab, die das taten. Aber sie würde nicht auf seinen Bad-Boy-Charme hereinfallen.

Entschlossen stieg sie in ihr Auto und fuhr zurück zur Arbeit. Unterwegs hielt sie an einem Imbiss an, um ein Sandwich mitzunehmen. Ihre Gedanken schweiften zu Liza. Sie waren oft zusammen zum Lunch gegangen oder hatten sich etwas geholt, um mit Eve im Büro zu essen. Jetzt war Liza fort, und Eve war viel zu beschäftigt, um in Ruhe Pause zu machen.

Als Jane ihren Wagen am Sender parkte, begutachtete sie noch einmal die Beule in der Tür. Sie würde abwägen müssen, ob sie den Schaden auf eigene Kosten reparieren ließ oder ihn der Versicherung meldete und die Beitragserhöhung in Kauf nahm. Seufzend betrat sie das Gebäude. Wieder einmal fragte sie sich, was das steigende Ansehen der Talkshow für sie und ihre Kollegen bedeuten würde. Mehr Geld für alle, hoffentlich, obwohl der Erfolg eindeutig auf Eves Konto ging und hauptsächlich sie eine höhere Gage verdiente.

Jane grinste. Sie würde sich schon mit einer einmaligen Prämie zufriedengeben, mit der sie sich den Wochenendtrip leisten könnte, von dem sie während der Sendung am Morgen geträumt hatte. Bette Valentine hatte einen Nerv in ihr getroffen. Sie fand es sehr bedauerlich, dass sie momentan aus finanziellen Gründen nichts an ihrer Situation ändern konnte.

Sie ging in die Maske, schaltete den Fernseher ein, in dem gerade die Mittagsnachrichten liefen, und wickelte ihr matschiges Sandwich aus.

„Und hier sind die Zahlen der Lotterie Lot O’ Bucks, die vor wenigen Augenblicken gezogen wurden. Es heißt offiziell, dass nur ein Los den Jackpot von achtunddreißig Millionen Dollar geknackt hat, also passen Sie genau auf.“ Der Moderator las die sechs Gewinnzahlen vor, und Jane wiederholte sie in Gedanken.

Dann begriff sie, dass ihr die Zahlen bekannt vorkamen, weil es exakt die sechs Zahlen waren, die sie und vier ihrer Kollegen zweimal im Vierteljahr spielten. Ihre Glückszahl, eine der Originalziffern, die sie noch in der Zeit mit Eve und Liza ausgesucht hatte, war die Eins.

Die einsamste Zahl.

Aber heute war die Eins die erste von sechs Gewinnziffern.

Jane schluckte schwer und stand langsam auf. Der Lunch war vergessen. Sie griff nach ihrer Handtasche und kramte hastig nach dem Lotterielos. Mit rasendem Puls verglich sie die Zahlen darauf nacheinander mit den Zahlen, die auf dem Bildschirm zu sehen waren.

Die Hand, in der sie das Los hielt, begann zu zittern.

Sie hatten gewonnen.

Sie war Millionärin!

Auf wackligen Beinen ging Jane zunächst zögerlich, dann immer schneller zu Eve, die mit ihrer persönlichen Assistentin in ihrem Büro saß und in einen Stapel Unterlagen vertieft war.

Jane klopfte an die Glastür. Eve schaute auf, lächelte und winkte sie herein.

„Entschuldige die Störung“, bat Jane beim Eintreten.

„Ach, das macht nichts“, erwiderte Eve. „Was gibt’s?“

Jane schaute zu Eves Mitarbeiterin. „Äh … ich muss allein mit Eve reden, bitte.“

Eve stutzte, dann bat sie ihre Assistentin, sie einen Moment allein zu lassen.

Kaum war die Tür zu, da beugte sich Eve vor. „Gibt es Probleme?“

„Nein“, antwortete Jane nervös. Sie öffnete ihre Faust und zeigte das Lotterielos.

Eve griff nach ihrer Handtasche. „Sammelst du schon für die nächste Ziehung?“

„Eve – wir haben gewonnen.“

Ruckartig hob Eve den Kopf. „Was soll das heißen, wir haben gewonnen? Wir haben … in der Lotterie gewonnen?“

Jane nickte feierlich. Sie konnte vor Spannung kaum an sich halten.

Eve lachte. „Wie viele Übereinstimmungen haben wir denn? Zwei Ziffern? Genug für ein Freilos?“

Jane fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. „Eve, wir haben alle sechs Zahlen richtig. Wir haben gewonnen.“

Endlich hatte sie Eves volle Aufmerksamkeit. Ihre Freundin riss die Augen auf. „Ist das ein Scherz?“

„Nein.“

Eve schnappte sich das Los und drehte sich zu ihrem Computer um. Mit schnellen Mausbewegungen klickte sie sich auf der Website der Lotterie zu den aktuellen Gewinnzahlen durch, dann verglich sie sie mit denen auf ihrem Los. „Oh mein Gott“, flüsterte sie. „Wie hoch ist die Gewinnsumme?“

Jane zögerte. Sie hatte fast Angst, die Worte auszusprechen. „Achtunddreißig Millionen Dollar.“

Eve keuchte auf und hielt sich die Hand vor den Mund. „Aber es muss noch andere Gewinner geben. Die Summe kann unmöglich so hoch sein.“

„Der Nachrichtensprecher sagte, dass es diesmal nur ein Gewinnlos gegeben hat.“

Eve stand auf. „Das bedeutet ja …“ Sie rang nach Luft, dann ging ein überwältigtes Strahlen über ihr Gesicht. „Jane, wir sind reich!“

Jauchzend fielen sie sich in die Arme. Jane hatte das Gefühl, vor Freude zu zerspringen.

„Wir müssen es Nicole erzählen!“, rief Eve aus. „Und John und Cole!“

Jane nickte aufgeregt. Nicole Ravis war Lizas Nachfolgerin als Redaktionsleiterin, John Haas ihr liebster Kameramann und Cole Crawford, der Produzent, der Eve „entdeckt“ hatte, war als Fünfter ihrer Tippgemeinschaft beigetreten.

Für jeden von ihnen würde sich das Leben von nun an schlagartig ändern. Während Eve zum Telefon griff, dachte Jane plötzlich an Liza – sie drei hatten nur so zum Spaß in der Lotterie gespielt. Und jetzt, da das Unfassbare geschehen war, fehlte Liza.

„Hier sind die Informationen über Ihre Nachbarin Jane Kurtz“, sagte Theresa und reichte Perry ein Blatt Papier. „Sie ist hübsch, aber sie sieht nicht nach Ihrem Typ aus.“

„Das ist sie auch nicht“, stimmte Perry zu und betrachtete eine Kopie des Bildes in ihrem Führerschein. Jane lächelte darauf verschämt und kamerascheu. Dann schaute er irritiert auf. „Was ist denn mein Typ?“

Theresa zuckte mit den Schultern. „Sie wissen schon – auffallend und austauschbar.“

Ihre Antwort setzte ihm zu, obwohl er gestehen musste, dass es eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Kayla und Cindi und Kendra und Victoria gab. Und zwischen Denise und Cassandra und Fiona. „Hey, unterschätzen Sie sie nicht – Miss Kurtz arbeitet für die Show ‚Just Between Us‘“, sagte er.

„Wirklich? Ja, ich habe die Sendung heute Vormittag nebenbei gesehen. Ganz spannend – lass dein inneres wildes Ich frei.“ Kokett klimperte Theresa mit den Wimpern und fasste an ihr ergrauendes Haar. „Glauben Sie, dass ich zu alt dafür bin?“

„Niemals.“

Sie lachte, dann musterte sie ihn prüfend. „Wie ist denn Schmiere auf Ihr Hemd gekommen?“

„Ich musste Miss Kurtz einen neuen Reifen kaufen“, erklärte er, während er das Blatt im Stehen überflog.

„Oh. Jetzt wird es spannend. Ist Miss Kurtz etwa bedürftig?“

„Nein, aber sie ist knapp bei Kasse, und da ich indirekt für den kaputten Reifen und für eine Beule an ihrem Wagen verantwortlich bin, war es meiner Meinung nach das Mindeste, was ich tun konnte.“ Perry ignorierte Theresas neugierigen Blick und ging in sein Büro. Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und studierte den Lebenslauf seiner spröden Nachbarin.

Jane Kurtz, Alter einunddreißig, Geburtsort Columbia in Georgia, einzige Tochter von William und Maria Kurtz, beide verstorben. Er schaute auf die Geburtsdaten der Eltern und stellte fest, dass die beiden schon älter gewesen waren, als Jane geboren wurde. Wahrscheinlich war sie behütet aufgewachsen, und jetzt stand sie allein da.

Perry biss sich auf die Zunge. Er konnte sich nicht vorstellen, wie das war – seine Eltern lebten noch und waren gesund, er hatte zwei Brüder und zwei Schwestern sowie eine Schar Nichten und Neffen. Jane Kurtz würde von seiner Familie freudig aufgenommen werden.

Nicht dass sie meine Familie je kennenlernen wird, sagte er sich.

Ein Collegeabschluss war nicht erwähnt, also war sie entweder nicht hingegangen oder hatte kein Examen abgelegt. Sie war seit drei Jahren bei Cable One Communications beschäftigt, Besitzerin eines beigefarbenen Honda Civic, Baujahr 1997, polizeilich nicht aktenkundig, nicht einmal ein Bußgeld wegen eines Verkehrsdeliktes.

Er schmunzelte – ihre Gesetzestreue überraschte ihn nicht. Jane Kurtz war der Typ Frau, der sich wahrscheinlich immer zweimal das Haar einshampoonierte, nur weil es so auf der Flasche stand.

Seine Gedanken schweiften zu ihrem seidigen Haar ab, das er ihr aus dem Gesicht gestrichen hatte. Wie mochte es sich anfühlen, mit beiden Händen durch diese Fülle honigfarbenen Haars zu streichen? Wurden ihre kornblumenblauen Augen dunkler, wenn sie erregt war? Und war ihr rosiger Mund je mit echter Leidenschaft geküsst worden?

Seine Fantasie ging mit ihm durch. Kopfschüttelnd legte er das Blatt beiseite und verdrängte die Gedanken an die unscheinbare Jane Kurtz. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, Anrufe zu beantworten und sich in die Akten der Fälle zu vertiefen, die er in letzter Zeit vernachlässigt hatte. Theresa und er arbeiteten an diesem Tag länger als sonst, um Liegengebliebenes aufzuarbeiten. Gegen fünf Uhr bestellte er ihnen chinesisches Essen.

Während sie aßen, deutete Theresa mit einem Essstäbchen auf ihn. „Sie sind urlaubsreif.“

„Ich weiß“, murmelte er. „Ich nehme mir frei – irgendwann.“

„Warum gönnen Sie sich nicht wenigstens dieses Wochenende etwas Erholung?“, fragte sie. „Vor nächster Woche werden Sie im Fall Kendall nichts hören. Sie müssen Ihre Batterien aufladen, Perry, damit Sie die Firma wieder in Schwung bringen können.“

Er lachte trocken. „Ich kann mir nicht einmal einen Kurzurlaub leisten.“

„Sie haben Millionen Meilen auf Ihrem Vielfliegerkonto – nutzen Sie die.“

„Ich werde darüber nachdenken“, versprach er.

„Hey, schauen Sie mal.“ Theresa deutete auf den Fernseher in einer Ecke des Büros. „Der Lotterie-Jackpot ist geknackt.“

Auf dem Bildschirm war eine Gruppe von Leuten auf einem Podium zu sehen. Theresa griff nach der Fernbedienung und stellte den Ton lauter.

„Fünf Mitarbeiter von Cable One Communications, die für die beliebte Talkshow ‚Just Between Us‘ tätig sind, haben ihr Gewinnlos bei Lot O’ Bucks vorgelegt und können sich nun über achtunddreißig Millionen Dollar freuen.“

„Und gerade haben wir noch über die Show gesprochen“, sinnierte Theresa.

Die Kamera schwenkte schnell über die Gewinner, und jeder, der nicht nach der schlanken Frau mit dem honigfarbenen Pferdeschwanz gesucht hätte, hätte sie glatt übersehen.

„Das ist sie“, rief Perry und beugte sich ruckartig vor. „Das ist Jane Kurtz!“

Theresa lachte verhalten und widmete sich wieder ihrem Bratreis. „Scheint so, als bräuchten Sie sich wegen des Reifens nicht mehr zu beeilen. Irgendetwas sagt mir, dass Jane Kurtz sich ein ganzes neues Auto kaufen wird.“

4. KAPITEL

„Schwebst du immer noch auf Wolken?“, fragte Eve.

Jane lachte ins Telefon. „Als ich heute Morgen zur Arbeit kam, war mein Leben wie immer, und jetzt fahre ich als Millionärin nach Hause – es ist irre!“

„Ich kann es noch gar nicht fassen“, gestand Eve. „Alle wollen Interviews mit mir. Was für ein Medienrummel! Bist du sicher, dass du nicht daran teilnehmen möchtest?“

„Ich bin sicher“, antwortete Jane. „Ich fühle mich nicht wohl vor der Kamera. Ihr macht das schon. Ist bereits entschieden, was aus der Show wird?“

„Nein, aber ein paar Tage Abstand werden uns allen wohl ganz guttun.“

Jane schmunzelte. Cole Crawford war clever. Wenn er die Sendung für eine gewisse Zeit auf Eis legte, würde Eve Gelegenheit haben, bei anderen Talkshows als Gast aufzutreten und so ihren Bekanntheitsgrad zu erhöhen. Durch den Lotteriegewinn hätten er und Eve die Mittel, ihre eigene Produktionsfirma zu gründen. Die Möglichkeiten waren unbegrenzt. „Es wäre wirklich schön, ein bisschen Luft zu haben, um alles erst einmal sacken zu lassen“, stimmte sie zu.

„Was wirst du zuerst tun?“, fragte Eve. „Etwas Vernünftiges, da bin ich mir sicher. Vielleicht ein neues Auto kaufen, aber bloß kein zu schickes, nicht wahr?“

Jane wusste zwar, dass ihre Freundin sie nur neckte, doch die Erkenntnis, dass die Leute automatisch etwas Vernünftiges von ihr erwarteten, nagte an ihr. „Ich weiß es noch nicht. Vielleicht überrasche ich euch alle.“

„Klar“, meinte Eve trocken. „Indem du was tust? Dir einen neuen Fernseher gönnst? Eine Waschmaschine und einen Trockner?“

„Kann sein“, räumte Jane ein, und etwas wie Trotz machte sich in ihr breit. „Ich bin noch nicht alle Möglichkeiten durchgegangen.“

„Oh, Cole klopft gerade an. Können wir später weiterreden?“

„Sicher“, sagte Jane. „Ruf mich an.“

„Okay.“

Jane unterbrach die Verbindung und umklammerte das Steuer. Der Tag war völlig unwirklich gewesen – die Fahrt in die Lotteriezentrale, die Unterschrift auf der Rückseite des Loses, die hastig arrangierte Pressekonferenz. Sie hatte sich zurückgehalten und es ihren kameraerprobten Freunden überlassen, die Fragen der Reporter zu beantworten. Ihr war immer noch ganz schwindelig angesichts des Wunders, auf einmal so viel Geld zu haben.

„Siebeneinhalb Millionen Dollar“, murmelte sie und ließ sich die Zahl auf der Zunge zergehen. Dann lachte sie. „Sieben Millionen Dollar“, wiederholte sie lauter. „Sieben Millionen Dollar!“, rief sie schließlich aus und trommelte auf das Lenkrad.

Der Mann, der mit seinem Wagen neben ihr im Stau stand, schaute zu ihr herüber, als wäre sie verrückt, und sie lehnte sich errötend zurück, doch ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Sieben Millionen Dollar“, flüsterte sie.

Sie fragte sich, wer es alles schon wusste und wem sie es erzählen sollte. Die meisten ihrer Freunde waren gleichzeitig ihre Kollegen, und unter denen hatte es sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Was ihre Nachbarn betraf …

„Perry Brewer.“ Jane grinste. Sie würde sich nicht länger mit seinen lauten Sexgespielinnen abfinden müssen. Sie konnte es sich leisten, sich eine hübschere Eigentumswohnung zu kaufen oder ein großes Haus, in dem sie mit niemandem eine Wand teilen müsste.

Sie konnte beinahe alles haben, was sie wollte.

Dinner, zum Beispiel. Sie könnte das teure Restaurant in Buckhead besuchen, von dem sie nur Gutes gehört hatte. Allerdings hatte sie keine Lust, allein auszugehen. Spontan rief sie dort an und erkundigte sich nach dem Lieferservice. Den gab es, teilte ihr die Dame am Telefon mit, aber nur gegen eine hohe Gebühr.

Jane biss sich auf die Unterlippe. „Wie viel?“

„Fünfunddreißig Dollar“, lautete die Antwort.

Jane zuckte kurz zusammen, doch dann wurde ihr bewusst, dass sie anfangen sollte, wie eine reiche Frau zu denken. „Das ist in Ordnung. Ich nehme Hummerschwanz, einen Caesar Salad und eine Flasche von Ihrem besten Chardonnay.“

„Ich brauche eine Kreditkartennummer, Ma’am.“

Jane schluckte und erkannte, dass sie den Kreditrahmen ihrer American Express Card überziehen müsste, solange der Gewinn noch nicht auf ihr Bankkonto überwiesen worden war. Sie machte die nötigen Angaben, hätte aber beinahe ihre Meinung geändert, als sie mit der Gesamtsumme von mehr als zweihundert Dollar konfrontiert wurde. Sie musste sich daran erinnern, dass sie es sich leisten konnte, den Wendepunkt in ihrem Leben mit einem spontanen Luxusmahl zu feiern.

Als sie auf ihren Parkplatz in der Tiefgarage fuhr, stellte sie fest, dass Perrys Wagen nicht da war. Vielleicht würde sie sich an diesem Abend von den Eskapaden nebenan erholen können. Unwillkürlich kamen ihr Bruchteile der Geräusche des Liebesspiels in den Sinn, lösten ein Kribbeln in ihrem Bauch aus und ließen ihre Wangen glühen. Sie wollte sich das nicht noch einmal anhören müssen. Wirklich nicht.

Zu Hause nahm Jane erst einmal eine lange, heiße Dusche, ohne sich Gedanken um ihre Wasserrechnung zu machen. Dabei träumte sie von exklusiver französischer Seife und malte sich aus, wo sie die bekommen würde.

Und einen hübschen Bademantel mit Waffelmuster kaufe ich mir auch, dachte sie, als sie in ihren rosa Frotteemantel schlüpfte. Und geschmackvolle Handtücher, beschloss sie, während sie ein Exemplar vom Grabbeltisch wie einen Turban um ihr nasses Haar wickelte. Inzwischen kam der Bote des Restaurants, und Jane zeichnete den Rechnungsbeleg ab. Dabei schlug sie das größte Trinkgeld auf, das sie jemals gegeben hatte. Die Aromen, die aus dem Paket in Folie drangen, waren verführerisch, und der Wein war perfekt gekühlt.

So ließ es sich leben.

Jane deckte das Festmahl auf ihrem Esszimmertisch und dachte daran, dass sie erst am Abend zuvor auf der Couch gesessen und in ihrem chinesischen Essen gestochert hatte. Da war sie noch völlig ahnungslos gewesen, wie grundlegend ihr Leben sich ändern würde.

Was für ein Unterschied zwischen gestern und heute.

Sie schob eine CD von Tristan Prettyman ein, denn sie war in der Stimmung für romantische Folkmusik, und füllte ihre Wohnung vorbeugend mit Geräuschen gegen jeden Laut, der durch die Wand dringen könnte. Gerade hatte sie einen Happen Salat gekostet und sich das erste Glas Wein eingeschenkt, da klingelte es. Jane wunderte sich, da sie niemanden erwartete. Mit dem Weinglas in der Hand ging sie an die Tür und schaute durch den Spion. Ihr Magen verkrampfte sich ein wenig. Sie machte jedoch auf und blickte zu einem lächelnden Gesicht auf, das sie einmal attraktiv gefunden hatte.

„Hallo, James.“

„Jane, Sweetheart.“ Er beugte sich vor und umarmte sie, ohne darauf zu achten, dass sie das nur passiv über sich ergehen ließ. „Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich einfach so bei dir hereinschneie.“

„Was willst du, James?“

Er wirkte zerknirscht. „Ich möchte, dass du mir meine Dummheit verzeihst.“

Jane presste die Lippen zusammen. „Könntest du bitte etwas präziser werden?“

„Ich vermisse dich.“

„Wirklich?“

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