Millionäre von Manhattan - Schnonungslos sexy! (8-teilige Serie)

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VERLOBT MIT EINEM MILLIONÄR?
"Wach auf, Cynthia!” Langsam öffnet sie die Augen. An ihrem Krankenhausbett sitzt ein fantastisch aussehender Mann, der sie besorgt anschaut. Er behauptet, ihr Verlobter zu sein: Sie, verlobt mit Medienmogul Will Taylor? Warum kann sie sich an nichts erinnern - nicht mal an die letzten Moment vor dem Flugzeugabsturz und auch nicht an ihren eigenen Namen, der ihr seltsam fremd vorkommt? Aber zumindest weckt Wills Kuss in ihr Wärme, Zuversicht - und Verlangen ...

NIE MEHR ALS HEIßE LEIDENSCHAFT
Lustvoll, kurz - und völlig unverbindlich: so stellt sich der überzeugte Junggeselle Alex Stanton die ideale Beziehung vor. Und die süße, sexy Gwen, die er auf einer Hochzeit trifft, scheint die perfekte Frau dafür. Dumm nur, dass ausgerechnet Alex nach zwei Wochen voller Spaß und Sex noch nicht genug hat. Gwen geht ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf ...

HEIßE NÄCHTE MIT DEM MILLIARDÄR
Verlangen, unbezwingbare Sehnsucht - und Angst: Die widersprüchlichsten Gefühle stürmen auf Sabine ein. Denn vor ihrer Tür steht unvermittelt Gavin Brooks! Vor drei Jahren hatte sie eine heiße Affäre mit dem attraktiven New Yorker Milliardär, bis sie sich von ihm trennte. Ihre Welten waren so unterschiedlich, dass Sabine einfach nicht an ein Happy End glauben konnte, auch wenn sie die Nächte mit Gavin nie vergessen hat ...

WIE WIDERSTEHT MAN EINEM MILLIARDÄR?
Eine Verwechslung in der Klinik sorgt für schreckliches Chaos in Claires Leben: Der Vater ihrer kleinen Tochter ist nicht ihr verstorbener Ehemann. Sondern der arrogante Milliardär Luca Moretti - dessen Rechtsanwalt knallhart verhandelt: Einen Monat lang muss Claire mit Luca ein Strandhaus teilen, damit er seine Tochter kennenlernt. Und dabei lässt Luca keine Gelegenheit aus, heiß mit Claire zu flirten!

DER MILLIARDÄR HINTER DER MASKE
Ihre Wangen glühen rot, wenn Emma an die hemmungslose Nacht mit dem maskierten Fremden denkt. Schuld war nur der Tequila auf der Faschingsparty. Wie gut, dass der Maskierte ihren Namen nicht kennt, und sie auch nicht seinen. Doch als sie den Auftrag für die Buchprüfung im Unternehmen des berüchtigten Milliardärs Jonah Flynn erhält, fällt sie aus allen Wolken: Er war der Mann mit der Maske!

DIE SCHÖNSTE VERSUCHUNG VON MANHATTAN

Millionärin über Nacht! Lucy kann kaum glauben, dass sie das gesamte Vermögen ihrer großmütterlichen Freundin Alice erben soll. Und prompt hat sie mit Oliver Drake zu kämpfen, Alices arrogantem Neffen. Allen Ernstes unterstellt ihr der reiche CEO, auf das Vermögen seiner Tante spekuliert zu haben. So eine Frechheit! Als ihr umwerfend attraktiver Feind trotzdem mit ihr flirtet und sie im Lichterglanz von Manhattan heiß küsst, versteht Lucy überhaupt nichts mehr ...

VERLANGEN, DAS MAN NIE VERGISST
Bei einer Charity-Veranstaltung trifft Aidan die sexy Unbekannte wieder, mit der er vor über einem Jahr ein unvergesslich leidenschaftliches Wochenende verbracht hat. Sofort ist die erregende Anziehung wieder da. Doch Violet behauptet, ihn nicht zu kennen! Oder spielt sie ihren Gedächtnisverlust nur? Dass Aidan der Vater ihres Babys ist, ist unübersehbar ...

RENDEZVOUS IM HIMMELBETT
Auf keinen Fall will Harper allein zur Hochzeit ihrer Freunde fliegen und deren Mitleid spüren! Kurzerhand bittet sie einen umwerfend attraktiven Fremden, sie zu begleiten - und Sebastian West sagt tatsächlich Ja. Aber in dem irischen Schlosshotel, wo sie ein weiches Himmelbett teilen müssen, kommen Harper Zweifel. Dieses falsche Spiel fühlt sich so gut und so echt an! Und die Entscheidung zwischen Lust und Verstand ist nicht ihr einziges Problem ...


  • Erscheinungstag 29.08.2019
  • Bandnummer 1 - 8
  • ISBN / Artikelnummer 9783733727161
  • Seitenanzahl 1152
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Andrea Laurence

Millionäre von Manhattan - Schnonungslos sexy! (8-teilige Serie)

IMPRESSUM

BACCARA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: 040/60 09 09-361
Fax: 040/60 09 09-469
E-Mail: info@cora.de

© 2012 by Andrea Laurence
Originaltitel: „What Lies Beneath“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
in der Reihe: DESIRE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BACCARA
Band 1847 - 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Peter Müller

Abbildungen: Harlequin Books S.A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 11/2014 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733720810

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

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PROLOG

„Diese Fluglinie nehme ich nie wieder, das schwöre ich Ihnen! Teuer und inkompetent! Eine Unverschämtheit!“

Die Stimme der aufgebrachten Passagierin war das Erste, was Adrienne hörte, als sie ins Flugzeug stieg. Heute haben anscheinend alle schlechte Laune, dachte sie. Wobei ich für mein Stimmungstief niemand anderen verantwortlich machen kann. Ich kehre als Versagerin nach Hause zurück, und das ist ganz allein meine Schuld.

Ihre Tante hatte es ihr von Anfang an gesagt: Es sei eine dumme und geradezu verantwortungslose Idee, mit dem Geld aus der Lebensversicherung ihres Vaters eine Modedesignfirma in Manhattan aufbauen zu wollen. „In spätestens einem Jahr bist du pleite und kommst nach Milwaukee zurückgekrochen“, hatte sie ihr prophezeit.

Immerhin hatte Adrienne fast drei Jahre durchgehalten. Sie war nicht ganz erfolglos gewesen, hatte auch ein paar Stammkunden gewonnen, aber letzten Endes hatten sie die Kosten aufgefressen. Alles in New York City war teuer, und der große Durchbruch, den sie gebraucht hätte, war ihr verwehrt geblieben.

Adrienne blickte auf ihre Bordkarte. Platz 14 B. Als sie sich der Reihe näherte, musste sie zu ihrem Leidwesen feststellen, dass ausgerechnet die Frau, die sich eben so aufgeregt hatte, ihre Sitznachbarin war. Inzwischen schien sie sich zwar etwas beruhigt zu haben, aber besonders zufrieden sah sie immer noch nicht aus. Adrienne verstaute ihre Tasche in der Gepäckablage und setzte sich auf ihren Platz, wobei sie jeden Blickkontakt mit der Frau vermied.

„Ich glaub’s einfach nicht! Da werfen die mich für eine Reisegruppe von japanischen Geschäftsleuten aus der ersten Klasse und quetschen mich in so einen miesen Fenstersitz. Ich kann kaum meine Arme bewegen.“

Oje, das könnten die längsten zwei Stunden meines Lebens werden, dachte Adrienne verzweifelt. „Würden Sie vielleicht gerne die Plätze tauschen?“, fragte sie hilfsbereit. Etwas Freundlichkeit wirkte ja manchmal Wunder.

Und so war es tatsächlich auch in diesem Fall. „Oh, das ist wirklich nett von Ihnen“, erwiderte die Frau und strahlte. Sie sieht gut aus, dachte Adrienne. Schöne Augen, volle Lippen, perfekte Zähne. Ihre Gesichtszüge erinnern mich sogar ein bisschen an meine Mutter. Wenn ich eine attraktive ältere Schwester hätte, würde sie wahrscheinlich so aussehen.

Modegeschmack hatte die Fremde obendrein. Sie trug nur das Beste vom Besten und Teuerste vom Teuersten.

Fast wurde Adrienne ein wenig eifersüchtig. Irgendwie wäre es passender gewesen, wenn diese Frau – und nicht Adrienne – die einzige Tochter der wunderschönen und legendären Miriam Lockhart gewesen wäre. Die Modeleidenschaft und das Designertalent ihrer Mutter hatte sie zwar geerbt, aber rein äußerlich kam sie mehr nach ihrem Vater, vor allem, was das widerspenstige Haar und die wenig ebenmäßigen Zähne anging. Für eine teure Behandlung beim Kieferorthopäden hatte ihr leider bisher immer das Geld gefehlt.

Adrienne löste ihren Gurt und trat auf den Gang, damit sie die Plätze tauschen konnten. Ihr machte es nichts aus, am Fenster zu sitzen, ganz im Gegenteil. So durfte sie noch einen Abschiedsblick auf New York werfen und beobachten, wie es unter ihr verschwand – genau wie ihre Träume.

„Ich heiße übrigens Cynthia Dempsey“, sagte die Frau, als sie sich auf ihren Platz setzte.

Adrienne lächelte sie freundlich an und hoffte, ihre Zähne würden dabei nicht unangenehm auffallen. „Und ich bin Adrienne Lockhart.“

„Ein schöner Name. Der hat was. Würde sich gut auf einer Plakatwand am Times Square machen.“

Oder auf dem Aufnäher eines Modelabels, dachte Adrienne. „Vielen Dank. Aber ich glaube, ich bin nicht so fürs Rampenlicht geschaffen.“

Die Frau machte es sich auf ihrem Platz bequem, und während das Flugzeug auf die Startbahn rollte, nestelte sie an ihrem Verlobungsring, der mit einem großen Diamanten verziert war. Er schien zu groß für ihre schlanken Finger zu sein.

„Oh, wollen Sie heiraten?“, fragte Adrienne.

„Ja“, erwiderte Cynthia und seufzte leise. Sie wirkte nicht besonders glücklich, eher innerlich unbeteiligt. „Im Mai heirate ich Will Taylor den Dritten. Seiner Familie gehört der Daily Observer. Die Hochzeit soll im Plaza-Hotel stattfinden.“

Geldadel vom Feinsten. Adrienne saß direkt neben der Frau, trotzdem fühlte sie sich meilenweit von ihr entfernt. Ihre Hochzeit allein würde vermutlich ein Vermögen kosten. Mode war wahrscheinlich das einzige Gesprächsthema, das sie gemeinsam hatten.

„Wer entwirft Ihr Hochzeitskleid?“, fragte Adrienne.

„Badgley Mischka.“

„Oh, die machen tolle Sachen. Als ich auf dem College war, habe ich sogar mal ein Praktikum bei denen gemacht. Mein eigenes Interesse liegt allerdings mehr bei tragbarer Alltagsmode. Für die moderne Frau, die im Berufsleben steht.“

„Ach, kommen Sie aus der Modebranche?“

Adrienne schlug die Augen nieder. „Wenn man so will … ja, gewissermaßen. Ich hatte in SoHo eine kleine Boutique mit selbst geschneiderten Sachen. Aber ich musste das Geschäft jetzt schließen.“

„Könnte es sein, dass ich Ihre Kreationen mal irgendwo gesehen habe?“

„Wohl eher nicht“, erwiderte Adrienne und zeigte auf ihre Bluse in Grau und Pink mit dem ungewöhnlich bestickten Kragen. „Und weil ich das Geschäft geschlossen habe, ist das wohl Ihre letzte Chance, eine Bluse im Adrienne-Lockhart-Design zu sehen.“

„Schade eigentlich“, erwiderte Cynthia stirnrunzelnd. „Das Teil gefällt mir richtig gut, und meine Freundinnen würden es auch mögen. Vielleicht hätten wir alle mal öfter nach Downtown gehen sollen.“

Drei Jahre lang hatte sich Adrienne abgestrampelt, um ihre Kreationen bekannter zu machen. Hatte Fotos und Arbeitsmuster an Modeschöpfer und Zeitschriften geschickt – immer in der Hoffnung, entdeckt zu werden. Doch ohne Erfolg. Und gerade jetzt, wo sie den Laden dichtgemacht hatte und nach Hause zurückkehrte, lernte sie jemanden mit Beziehungen kennen!

„Ladies und Gentlemen, wir starten in wenigen Sekunden.“

Adrienne lehnte sich zurück und kniff angespannt die Augen zusammen. Sie hasste das Fliegen. Besonders die Starts und Landungen machten ihr schwer zu schaffen. Jedes Mal rief sie sich ins Gedächtnis, dass Taxifahren viel gefährlicher war als Fliegen – doch es nützte nichts.

Die Motoren röhrten auf. Adrienne öffnete ihre Augen und sah, wie Cynthia nervös an ihrem Verlobungsring nestelte. Auch sie flog offenbar ungern.

Als das Flugzeug abhob, ging ein Rütteln durch die Maschine. Cynthias Ellenbogen rutschte von der Armlehne, und in diesem Moment flog ihr der Ring vom Finger. Er landete auf dem Boden und rollte zwischen die Sitzreihen.

„Verflixt“, schimpfte Cynthia und sah sich Hilfe suchend um. Dass das ausgerechnet jetzt passieren musste!

Adrienne wollte gerade etwas Beruhigendes sagen, als ein lauter Knall ertönte. Das gesamte Flugzeug bebte. Voller Panik sah Adrienne aus dem Fenster. Die Maschine war ja nach dem Start noch nicht besonders hoch gekommen – und jetzt schien sie schon wieder abwärts zu rauschen!

Voller Panik krallte sie sich an der Armlehne fest und schloss einen Moment lang die Augen. Angstvolle Schreie ertönten. Mit zitternder Stimme kündigte der Pilot über den Bordlautsprecher eine Notlandung an. Adrienne wünschte, sie hätte der Sicherheitsunterweisung der Stewardess besser zugehört, statt sich mit Cynthia zu unterhalten. Gute Kontakte würden ihr nichts mehr nützen, wenn sie tot war.

Zum Glück konnte sie sich noch von früher einigermaßen daran erinnern, was in so einer Situation zu tun war. Sie beugte sich nach vorne, positionierte ihren Kopf zwischen den Knien und umschlang die Beine mit den Armen. Wieder ertönte ein Knall, diesmal noch lauter als zuvor, die Lichter im Passagierraum erloschen, das Flugzeug schlingerte.

Jetzt half nur noch Beten …

1. KAPITEL

Vier Wochen später

„Cynthia?“

Wie durch dichten Nebel drang die Stimme zu ihr. Eigentlich wollte sie nur schlafen, wieder in das wohlige Nirgendwo sinken, wo nichts schmerzte. Doch die Stimme ertönte erneut, fordernder, drängender.

„Cynthia! Will ist hier.“

Sie kämpfte gegen die bleierne Müdigkeit an. Irgendwie war es komisch zu hören, wie jemand sie mit diesem Namen ansprach. Ungewohnt und fremdartig.

„Vielleicht sollte ich lieber später noch mal wiederkommen. Sie braucht ihre Ruhe.“ Die tiefe Männerstimme hatte wie immer eine belebende Wirkung auf sie. Ihr Körper reagierte, wurde wacher.

„Nein, nein, sie dämmert ja nur ein wenig vor sich hin. Die Ärzte sagen, es tut ihr gut, wenn sie sich ein bisschen mehr bewegt und Gespräche führt.“

„Was soll das bringen? Sie erkennt uns ja doch nicht.“

„Aber sie sagen, ihre Erinnerungen könnten jederzeit zurückkommen“, widersprach die Frau etwas verärgert. „Wenn wir mit ihr reden, helfen wir ihr am meisten. Ich weiß, es ist schwierig, aber wir müssen uns Mühe geben. Cynthia, meine Liebe, bitte wach auf.“

Es kostete sie einige Überwindung, die Augen zu öffnen, und es dauerte einen Augenblick, bis sie alles wieder deutlich sah. Die Deckenbeleuchtung im Krankenzimmer. Das Gesicht der älteren Frau über ihr. Wer war sie noch gleich? Angestrengt dachte sie nach. Man hatte ihr gesagt, sie sei ihre Mutter, Pauline Dempsey. Was für ein beunruhigendes Gefühl, wenn man nicht einmal die eigene Mutter wiedererkannte, die Frau, die einem das Leben geschenkt hatte! Es war schon beängstigend, unter Amnesie zu leiden …

„Will ist hier, Liebling.“

Pauline betätigte einen Knopf, und leise brummend fuhr das Kopfende des Bettes hoch.

Jetzt konnte sie Will besser sehen. Er saß am Fußende. Und er war ihr Verlobter, hatte man ihr gesagt. Irgendwie konnte sie das kaum glauben, wenn sie diesen attraktiven, gut gekleideten Mann sah. Er trug sein brünettes Haar kurz, seine Gesichtszüge waren ebenmäßig und wirkten fast aristokratisch. Er hatte blaue Augen, aber sie hätte nicht sagen können, welcher Blauton es war. Sie vermied es, ihn länger als nötig anzusehen. Irgendwie empfand sie das nicht gerade als angenehm. Vielleicht, weil sie in seinen Blicken tiefere Gefühle vermisste. Oder weil er sie stets so überaus skeptisch musterte.

Ihr Gehirn war wie leergepustet, sie wusste so gut wie nichts, aber eines war ihr in den vergangenen Wochen bewusst geworden: Ihr Verlobter schien sie kein bisschen zu mögen. Stets hielt er sich im Hintergrund. Und wenn er nicht gerade heimlich über ihr Verhalten den Kopf schüttelte, schienen sie und ihr Zustand ihm völlig egal zu sein.

Dieser Gedanke machte sie so traurig, dass sie am liebsten geweint hätte. Aber das wagte sie nicht, denn wenn sie sich erregte, kamen sofort die Krankenschwestern herbeigeeilt und gaben ihr etwas zur Beruhigung. Und dann fühlte sie sich immer wie betäubt.

Statt Wills Augen fixierte sie jetzt lieber seine Kleidung. Das tat sie überhaupt gerne – genau studieren, wie die Menschen, die sie besuchten, sich kleideten. Will trug einen Anzug, wie gewöhnlich. Einen dunkelblauen Zweireiher, dazu ein blaues Hemd und eine Krawatte mit Diamantmuster. Will war Herausgeber einer Zeitung und konnte sie nur während der Mittagspause oder nach Feierabend besuchen – wenn er nicht gerade ein Meeting hatte. Und er hatte jede Menge Meetings. Zumindest behauptete er das.

„Hallo, Will“, brachte sie mühsam hervor. Das Sprechen fiel ihr immer noch schwer. Sie war mehrfach am Gesicht operiert worden, durch das Unglück hatte sie unter anderem alle ihre Vorderzähne verloren. Man hatte ihr neue implantiert, aber die fühlten sich fremd in ihrem Mund an. Auch klang sie sicher merkwürdig, weil durch den Qualm und die Hitze im Flugzeug ihre Stimmbänder in Mitleidenschaft gezogen worden waren.

„Dann lasse ich euch beiden Hübschen mal einen Augenblick allein“, sagte Pauline. „Soll ich dir nachher einen Kaffee aus der Cafeteria mitbringen, Will?“

„Danke für das Angebot, aber nein, danke.“

Ihre Mutter verließ das geräumige Krankenzimmer, das speziell für VIP-Patienten reserviert war. Cynthia durfte hier sein, weil ihre Familie dem Krankenhaus vor ein paar Jahren eine überaus großzügige Spende hatte zukommen lassen. Das hatte man ihr jedenfalls erzählt.

„Und, wie fühlst du dich heute, Cynthia?“

Die Frage war gar nicht so leicht zu beantworten. Ihr Gesicht pochte noch, und der gebrochene Arm juckte unter dem Gips, aber insgesamt ging es ihr gar nicht mal so schlecht. Wenn sie bedachte, wie schlimm die Schmerzen gewesen waren, als sie zum ersten Mal hier im Krankenhaus erwacht war … Alles, wirklich alles hatte ihr wehgetan. Ihr Gesicht war so stark angeschwollen gewesen, dass sie kaum die Augen hatte öffnen können. Ja, sie hatte in den vergangenen Wochen schon einiges erreicht. „Ach, eigentlich fühle ich mich ganz gut. Und wie geht’s dir?“

Will runzelte die Stirn und zwang sich zu einem Lächeln. „Mir geht’s prima. Viel zu tun, wie immer.“

„Du siehst aber ganz schön erschöpft aus.“ Das tat er wirklich. Sie wusste ja nicht, wie er sonst so aussah, aber seine Augenränder schienen mit jedem Besuch bei ihr dunkler und tiefer zu werden. „Kannst du nachts gut schlafen?“

Er dachte einen Augenblick nach, dann zuckte er mit den Schultern. „Nicht so sehr. Es war ein ziemlich stressiger Monat.“

„Vielleicht brauchst du mal eine Dröhnung von dem Zeug hier“, sagte sie und wies mit einem Kopfnicken auf die Infusions­flasche, die über einen Schlauch mit ihrem Arm verbunden war. „Wenn man das in den Adern hat, schläft man sechzehn Stunden durch wie ein Baby, ob man will oder nicht.“

Will schmunzelte, und diesmal wirkte es echt. Das freute sie. Ich würde ihn auch gerne mal lachen hören, ging es ihr durch den Kopf. Sein Lachen klingt bestimmt sexy.

Insgesamt strahlte er eine Sinnlichkeit aus, die selbstbewusst wirkte, und nicht einmal durch die sterile Krankenhausatmosphäre gedämpft wurde.

„Eine ordentliche Ladung Infusionslösung, hört sich verlockend an.“ Er blickte zu Boden und schien sich unwohl zu fühlen.

Sie wusste nie, was sie zu ihm sagen sollte. Sie bekam ja recht häufig Besuch, von Freunden und Verwandten, von lauter Menschen, an die sie sich beim besten Willen nicht erinnern konnte. Aber keine Gespräche waren so anstrengend, so beklemmend und peinlich wie die mit Will.

Sie hatte gehofft, es würde sich im Laufe der Zeit bessern, doch das war nicht der Fall. Je netter sie zu ihm war, desto mehr schien er sich zurückzuziehen – gerade so, als könnte er es gar nicht fassen, dass sie freundlich zu ihm war.

„Ich habe etwas für dich“, sagte er plötzlich.

Überrascht richtete sie sich im Bett auf. „Oh, wirklich?“

Am Anfang hatte sie all die Geschenke, Blumensträuße und Luftballons kaum zählen können. Sie waren nicht nur von Bekannten gekommen, sondern sogar von wildfremden Menschen, die Berichte über das Flugzeugunglück im Fernsehen gesehen hatten. Sie war eine von nur drei Personen, welche die Katastrophe überlebt hatten.

Will griff in seine Hosentasche und zog eine kleine Schmuckschatulle hervor. „Die Fluggesellschaft hat mich angerufen. Man hat unter all den Trümmern noch etwas gefunden, was man dir zuordnen konnte.“

Er öffnete das Kästchen. Ein Ring mit einem riesigen Diamanten lag darin. Halb wollte sie glauben, dass es sich nur um Modeschmuck handelte, aber sie hatte ja gesehen, was ihre Verwandtschaft so an Ringen und Ketten trug, und daher wusste sie, dass er echt sein musste.

„Der ist wunderschön“, stellte sie fest.

Will zog die Stirn in Falten. Ihre Reaktion schien ihn zu befremden. „Cynthia … das ist dein Verlobungsring.“

Fast hätte sie gelacht, aber dann sah sie seinen todernsten Gesichtsausdruck. Es erschien ihr unvorstellbar, etwas derart Kostbares zu besitzen. „Mein Verlobungsring …?“ Sie sah zu, wie Will das teure Stück auf den Ringfinger ihrer linken Hand steckte. Er saß ein wenig eng, aber die Finger waren auch noch angeschwollen.

Je länger sie den Ring an ihrer Hand betrachtete, desto bekannter schien er ihr vorzukommen. „Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass ich ihn schon mal gesehen habe“, sagte sie stolz. Die Ärzte hatten sie ermutigt, jedes Mal zu berichten, wenn ihr etwas bekannt vorkam.

„Das ist schön. Ich habe ihn reinigen und durchchecken lassen, ob auch nichts locker ist. Es wundert mich nicht, dass er dir bei dem Unglück vom Finger gerutscht ist – nachdem du für die Hochzeit so streng Diät gehalten hast.“

„Und jetzt ist er zu eng, und ich sehe aus wie die Verliererin eines Boxkampfes“, beklagte sie sich.

„Mach dir keine Sorgen, wir haben jede Menge Zeit“, beruhigte er sie. „Es ist ja erst Oktober. Bis zum Mai ist es noch lange hin. Bis dahin bist du garantiert wie neu.“

„Hochzeit im Mai … im Plaza-Hotel“, murmelte sie. Sie wusste nicht, warum, aber daran erinnerte sie sich.

„Siehst du, dein Gedächtnis kommt allmählich zurück“, sagte er lächelnd. Es war ein mechanisches Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Er erhob sich und steckte die leere Schmuckschatulle wieder in die Tasche. „Ich treffe mich heute Abend mit Alex zum Essen, deshalb muss ich langsam los.“

Sie erinnerte sich an Alex, weil er ihr in der Vorwoche einen Krankenbesuch abgestattet hatte. Er war ein alter Schulfreund von Will – und ein Charmeur. Obwohl sie im Krankenbett ziemlich ramponiert aussah, hatte er ihr geschmeichelt, wie schön sie sei, und dass er sie sofort heiraten würde, wenn sie nicht Wills Verlobte wäre. Natürlich war das nur dummes Gerede, aber sie wusste es trotzdem zu schätzen. „Dann wünsche ich euch beiden viel Spaß und guten Appetit. Bei uns hier im Krankenhaus gibt’s heute Abend Gummiadler mit Reis, glaube ich.“

Will lächelte. „Bis morgen dann.“ Er ergriff ihre Hand und tätschelte sie.

Kaum hatte er sie berührt, durchrieselte es sie wohlig. Die dumpfen Schmerzen, die sie trotz der Medikamente spürte, waren sie weggeblasen. Unwillkürlich griff sie nach seiner Hand, um die Verbindung nicht abreißen zu lassen.

Ja, seine Berührungen waren wirksamer als Morphium – oder was auch immer man ihr in die Adern träufelte. Das hatte sie schon gemerkt, als er ihr zum ersten Mal ganz behutsam den Handrücken geküsst hatte. Auch wenn sie sich nicht an ihn erinnern konnte … Bei jedem Körperkontakt, und war er auch noch so flüchtig, spürte sie eine große beruhigende Vertrautheit.

Umso mehr betrübte es sie, dass er sie – geplante Heirat hin oder her – gar nicht wirklich zu mögen schien.

Überrascht blickte Will erst auf seine Hand, dann auf sie. Hatte er die Berührung als ebenso überwältigend empfunden? Fast erschrocken zog er den Arm zurück und stand auf.

„Gute Nacht, Cynthia“, sagte er noch. Dann ging er.

Nun lag sie allein in ihrem tristen Krankenzimmer. Und fühlte sich entsetzlich einsam und verlassen.

Alex saß Will gegenüber und nippte still an seinem Drink. Das gesamte Essen über hatte er noch nicht viel gesagt, aber genau das mochte Will ja an dieser Freundschaft – dass sie auch mal gemeinsam schweigen konnten. Obendrein verstand Alex, dass es für Will eine schwere Zeit war.

Will hatte Alex zum Essen eingeladen, weil er den Rat von jemandem brauchte, der ihm nicht nach dem Mund redete. Die meisten Menschen sagten ihm nur, was er hören wollte. Alex hingegen war einer der wenigen aus Wills Bekanntenkreis, der noch mehr Geld hatte als er selbst, und sich ihm gegenüber deshalb ganz unbefangen benahm. Weil er so ein berüchtigter Playboy war, hätte Will sich normalerweise nicht für einen Rat in Liebesdingen an ihn gewandt – aber immerhin würde er schonungslos offen sein, was Cynthia anging.

Ja, Wills Beziehung zu Cynthia war mehr als kompliziert. Vor ein paar Wochen hatte er noch gedacht, schlimmer könnte es gar nicht mehr werden. Und jetzt …

„Wie geht es Cynthia?“, fragte Alex schließlich.

„Schon viel besser. Die Wunden und Verletzungen heilen gut. Allerdings erinnert sie sich immer noch an nichts.“

„Auch nicht an euren großen Krach?“

„Vor allem nicht an den großen Krach“, antwortete Will seufzend.

Bevor Cynthia nach Chicago aufgebrochen war, hatte Will sie mit Beweisen konfrontiert, dass sie ihn betrogen hatte – und die Verlobung gelöst. Sie hatte gemeint, sie beide sollten alles in Ruhe durchsprechen, wenn sie zurück war, aber daran hatte er kein Interesse gehabt. Für ihn war die Sache erledigt gewesen.

Doch dann, während er gerade in einer Besprechung mit seinem Makler gewesen war, hatte ihn der Anruf erreicht, dass das Flugzeug mit Cynthia an Bord abgestürzt war. Als sich herausgestellt hatte, dass sie nicht mehr wusste, wer sie war, hatte er sich entsetzlich ratlos gefühlt. Die Trennung aufrechtzuerhalten, das wäre ihm in dieser Situation grausam und unmenschlich vorgekommen. Nein, er musste ihr zur Seite stehen, bis sie wieder auf den Beinen war – aber dann würde er sie verlassen, wie ursprünglich geplant.

So hatte er es bis vor Kurzem jedenfalls vorgehabt. Doch jetzt … jetzt war er verwirrt. Deshalb hatte er Alex zum Essen eingeladen. Der sollte ihm helfen, die Situation einzuschätzen, bevor er vielleicht etwas Falsches tat.

„Hast du ihr das mit der Trennung denn noch nicht gesagt? Oder vielmehr – noch mal gesagt?“

„Nein, habe ich nicht. Ich wollte damit warten, bis sie aus dem Krankenhaus entlassen wird. In ihrem Zimmer sind wir nur selten allein, und ich will nicht, dass ihre Eltern sich da einmischen. Außerdem habe ich es noch nicht übers Herz gebracht.“

„Dann ist sie also noch nicht wieder das eiskalte Biest, das wir alle so lieben und schätzen?“

Will schüttelte den Kopf. Wenn es so wäre – das würde ihm vieles leichter machen. Dann könnte er sie nach ihrer Genesung ohne jegliches Schuldgefühl verlassen. Aber seit dem Unglück war sie irgendwie … eine ganz andere Frau.

Im Stillen hatte er stets damit gerechnet, dass sie sich wie die alte Cynthia verhalten würde, dass sie schimpfen und meckern und das Krankenhauspersonal herumscheuchen würde. Aber keine Spur davon! Ursprünglich hatte er sie nur aus Pflichtgefühl besucht, doch allmählich freute er sich geradezu darauf, täglich ein bisschen mehr. „Es ist, als ob Aliens sie entführt und gegen eine andere Person ausgetauscht hätten.“

„Ja, ich muss auch sagen, als ich sie letztens besucht habe, war sie recht angenehm“, berichtete Alex. „Freundlich und kein bisschen bissig.“

„Ich weiß. Ich kann’s ja selbst kaum glauben, wenn ich sie sehe. Sie fragt die Leute freundlich, wie es ihnen geht, und bedankt sich artig selbst für die kleinsten Aufmerksamkeiten. Sie zeigt so viel Herzenswärme – ganz anders als die Frau, der ich den Laufpass gegeben habe.“

Alex runzelte die Stirn. „Du schmunzelst sogar versonnen vor dich hin, wenn du über sie sprichst“, stellte er fest. „Da hat sich was verändert. Du magst sie auf einmal wirklich, was?“

„Soll das ein Verhör werden?“ Will machte eine Pause und dachte nach. „Es stimmt schon: So wohl wie jetzt habe ich mich in ihrer Nähe noch nie gefühlt. All die Jahre nicht. Aber die Ärzte sagen, dass ihr Gedächtnisverlust wahrscheinlich nur vorübergehend ist. Von einer Sekunde auf die andere könnte sie wieder die alte Cynthia sein. Und ich habe keine Lust, noch einmal Gefühle zu investieren und dann wieder vor den Kopf gestoßen zu werden.“

„Wahrscheinlich vorübergehend kann aber auch bedeuten: für immer. Mit Glück bleibt sie so.“

„Spielt keine Rolle“, erwiderte Will kopfschüttelnd. „Vielleicht weiß sie nicht mehr, was sie getan hat – aber ich weiß es. Ich könnte ihr nie wieder vertrauen, und das heißt: Die Sache ist erledigt.“

„Oder es ist eine zweite Chance für euch. Wenn sie plötzlich ein anderer Mensch ist, solltest du sie auch so behandeln. Mach ihr nicht eine Vergangenheit zum Vorwurf, an die sie sich nicht mal mehr erinnern kann. Vielleicht verpasst du sonst deine große Liebe.“

Während Alex sich seinem Steak zuwandte, dachte Will angestrengt nach. Ja, Cynthia war wirklich wie ein neuer Mensch, und schon bei der Arbeit freute er sich darauf, sie zu sehen. Und dann die Berührung heute – reine Magie! Vielleicht sprach doch einiges dafür, den Rat seines Freundes anzunehmen.

Andererseits – was wusste Alex schon? Er blieb ja nie so lange bei einer Frau, bis es Probleme gab. Nein, irgendwo in der neuen Cynthia lauerte immer noch die alte Cynthia, eine selbstverliebte, launische, untreue Frau, die keinen Cent für die Gefühle anderer gab. Er hatte die Verlobung ja nicht ohne Grund beendet. Eine Beziehung wie damals – nein, die wollte er nie wieder!

Nach Einschätzung der Ärzte würde sie schon bald das Krankenhaus verlassen können. Sicher würden ihre Eltern Pauline und George sie dann bei sich zu Hause einquartieren wollen, aber Will würde darauf bestehen, sie mit zurück ins gemeinsame Apartment zu nehmen.

Dort konnte er sich am besten um sie kümmern, und sie befand sich in ihrer gewohnten Umgebung. Und wenn diese Umgebung ihr das Gedächtnis zurückbrachte? Das würde ihm die Mühe ersparen, die Trennung ein zweites Mal aussprechen zu müssen.

„Würden Sie vielleicht gerne die Plätze tauschen?“

Diese Worte schwirrten ihr im Kopf herum, und sie wusste nicht recht, ob sie träumte oder ob es die Nebenwirkungen der Schmerzmittel waren. Alles schien durcheinander.

„Ich heiße übrigens Cynthia Dempsey.“

Cynthia Dempsey, Cynthia Dempsey! Im Halbschlaf runzelte sie die Stirn. Irgendwie mochte sie es nicht, wenn die Leute sie so ansprachen. Aber was sollten sie denn sagen? Wenn sie nicht Cynthia Dempsey hieß – sollte sie nicht wissen, wer sie wirklich war?

Der andere Name lag ihr fast auf der Zunge. Aber nur fast.

Bevor sie sich an ihn erinnern konnte, tauchte erneut die Erinnerung an das Flugzeugunglück vor ihrem inneren Auge auf. Der Knall, der Absturz, die Flammen.

„Nein!“

Sie fuhr aus dem Bett hoch. Ihr Herz schlug wild, ihr Atem ging stoßweise. Das Überwachungsgerät an ihrem Bett begann laut zu piepen, und sofort erschien eine der Nachtschwestern.

„Geht es Ihnen nicht gut, Miss Dempsey?“

„Nennen Sie mich nicht so!“, fuhr sie die Schwester an. Offenbar war sie noch nicht ganz bei sich.

„Okay … Cynthia. Fühlen sie sich nicht wohl?“

Cynthia erkannte ihre Lieblingskrankenschwester Gwen, eine zierliche junge Frau aus den Südstaaten, die das Leben positiv, aber trotzdem realistisch sah. Außerdem konnte sie schmerzfrei Blut abnehmen, was ihr jede Menge Bonuspunkte verschaffte.

„Es ist alles in Ordnung, ich habe nur schlecht geträumt. Tut mir leid, dass ich Sie so angeraunzt habe.“

„Schon gut.“ Gwen checkte das Überwachungsgerät und den Tropf mit dem Schmerzmittel. „Viele Traumapatienten haben Albträume. Möchten Sie vielleicht ein Schlafmittel?“

„Nein, danke. Es nervt nur so, dass ich … mich nicht wie ich selbst fühle. Vielleicht hat das aber auch mit den Medikamenten zu tun.“

Gwen setzte sich zu ihr aufs Bett und tätschelte ihr das Knie. „Ihre Kopfverletzung war nicht so ohne. Eigentlich dürfte ich Ihnen das nicht sagen, aber vielleicht erreichen Sie nie wieder hundertprozentig den Normalzustand. Oder sie erreichen ihn und merken es nicht einmal. Sie sollten versuchen, das Leben zu genießen, wie es jetzt ist.“

Cynthia hatte das Gefühl, dass die Krankenschwester die einzige Person war, mit der sie wirklich über ihre Probleme reden konnte. Besser als mit Will oder ihrer Mutter.

„Irgendwie fühlt sich alles so … falsch an. Die Leute. Und wie sie mich behandeln. Sehen Sie sich nur das hier an.“ Sie wies auf ihren Verlobungsring.

„Oh, sehr hübsch“, sagte Gwen mit betontem Understatement.

„Sehr hübsch? Bitte tun Sie nicht so, Gwen. Wir wissen beide, dass ein Diamant dieser Größe das Hungerproblem in einem kleineren Dritte-Welt-Land für ein Jahr beseitigen könnte.“

„Hm, ja, wahrscheinlich.“

„Dieser Protz, dieser Reichtum – das ist mir alles so fremd. In meinem Innersten fühle ich mich überhaupt nicht wie ein Luxus-Girlie, das auf eine teure Privatschule gegangen ist und dem man jeden Wunsch von den Augen abgelesen hat. Ich fühle mich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Wenn das mein Leben ist, warum ist es mir dann so fremd? Wie kann ich sein, wie ich bin, wenn ich nicht weiß, wer ich war?“

„Das geht mir jetzt ein bisschen zu sehr ins Philosophische, wenn man bedenkt, dass es drei Uhr früh ist. Ich kann Ihnen nur raten: Grübeln sie nicht darüber nach, wer Sie vielleicht einmal waren, sondern seien Sie nur Sie selbst. So wie Sie jetzt sind.“

„Gar nicht so einfach, wenn man …“

„Machen Sie es nicht komplizierter als nötig. Wenn Sie das Krankenhaus verlassen und Ihr neues Leben beginnen, nehmen Sie sich als Cynthia Dempsey an. Und dann tun Sie einfach, wonach Ihnen der Sinn steht. Was Ihr Gefühl Ihnen sagt. Wenn die neue Cynthia lieber zu einem Baseballspiel geht als in ein klassisches Konzert – fein. Wenn Ihnen Kaviar und ein Fünfhundert-Dollar-Wein nicht mehr schmecken, ziehen Sie sich einen Cheeseburger und ein Bier rein. Nur Sie können wissen, wer Sie jetzt sein wollen. Lassen Sie sich nicht reinreden.“

„Vielen Dank, Gwen.“ Sie beugte sich vor und umarmte die Krankenschwester, die ihr wie die einzige echte Freundin in ihrem neuen Leben vorkam. „Ich werde morgen entlassen und ziehe zurück zu Will in unser Apartment. Ich habe keine Ahnung, was mich da erwartet – aber wenn mir mal nach Cheeseburgern und Bier ist, darf ich Sie dann anrufen?“

Gwen setzte ihr breitestes Lächeln auf. „Aber klar doch.“ Sie kritzelte ihre Handynummer in das kleine Notizbuch, in dem Cynthia sich alles notierte, seit sie eingeliefert worden war. Dann fügte sie hinzu: „Und machen Sie sich nur nicht zu viele Sorgen. Eine Zukunft mit Will Taylor – das kann doch nur gut werden.“

Cynthia lächelte zurück. Sie hoffte, dass Gwen recht hatte.

2. KAPITEL

Will musterte Cynthia nachdenklich, während sie wie eine Museumsbesucherin durch das Apartment schritt. Zwar hatten sie und ihr Innenausstatter das alles gemeinsam ausgesucht, aber sie sah es jetzt wohl mit neuen Augen.

Noch bewegte sie sich vorsichtig und etwas steif, aber insgesamt hatte sie große Fortschritte gemacht. Den mittlerweile vom Gips befreiten Arm trug sie in einer Schlinge, außerdem hinkte sie ein wenig, doch ihr war kaum noch anzumerken, wie knapp sie dem Tode entronnen war.

Das Haar trug sie jetzt kürzer, weil es teilweise bei der Katastrophe versengt worden war. Es stand ihr recht gut, fand Will. Eine neue Frisur für die neue Frau in seinem Leben.

Hatte er das eben wirklich gedacht? Das konnte doch nur Ärger geben!

Als Will sich umwandte, sah er, dass Cynthia das große Bild von ihrer Verlobungsfeier anstarrte, das im Wohnzimmer hing. Verflixt! Eigentlich hatte er auf Paulines Wunsch sämtliche Aufnahmen von Cynthia aus dem Apartment entfernt – aber ausgerechnet das größte Porträt hatte er vergessen!

Soweit er wusste, hatte Cynthia bisher noch kein Bild von sich vor dem Unfall gesehen. Jetzt rechnete er damit, dass sie sofort Dr. Takashi anrufen und ihm mit einem Kunstfehlerprozess drohen würde. Er selbst war allerdings der Meinung, dass der Facharzt für plastische Chirurgie hervorragende Arbeit geleistet hatte – auch wenn Cynthia nicht ganz wie früher aussah.

Zu seinem Erstaunen musterte Cynthia das Bild nur schweigend und setzte dann die Besichtigung des Apartments fort. In diesem Moment klingelte sein Handy, und er musste sich ein paar Minuten lang mit einem Problem beschäftigen, das die Zeitung betraf.

Als er sich anschließend auf die Suche nach Cynthia machte, fand er sie im Kleiderzimmer. Ungläubig durchforstete sie alles.

„Dior, Donna Karan, Kate Spade … gehört das wirklich alles mir?“

„Allerdings. Meine Sachen haben wir schon woanders untergebracht, damit auch noch deine Riesen-Schuhsammlung Platz findet.“

Erst jetzt fielen ihr die Unmengen teurer Schuhe auf. Sie schlüpfte aus den Slippern, die sie trug, schnappte sich ein paar Christian Louboutins und zog sie sich an. „Hm, sie sind mir ein bisschen zu groß“, stellte sie fest.

Zu groß? Komisch. „Na ja, wenn deine Füße bei dem Unglück irgendwie geschrumpft sein sollten, erwartet dich das erlesene Vergnügen, ordentlich shoppen zu gehen und deine Schuhbestände neu aufzufüllen.“

„Ach was, eine Einlage rein, und dann passen sie schon. All diese Schuhe nicht mehr zu tragen – das wäre doch reinste Verschwendung!“ Sie wandte sich wieder den Kleidern zu. „Wie kommt es nur, dass ich all diese Designer erkenne und weiß, dass es besonders teure Marken sind – aber meine eigene Mutter eine Fremde für mich ist?“

Das war eine gute Frage. Leider wusste Will so gut wie nichts über Amnesie. „Vielleicht erinnert sich dein Gehirn nur an das, was dir am wichtigsten war.“

„Soll das heißen, dass mir Schuhe und Klamotten mehr bedeutet haben als meine Familie?“

Will zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Falls es so war – mir hättest du so was nicht anvertraut.“

Kopfschüttelnd ging Cynthia aus dem Zimmer.

Es dauerte einen Moment, bis Will ihr folgte. Er fand sie im Wohnzimmer wieder, wo sie auf der Couch saß und mit leerem Blick auf ein modernes Gemälde an der Wand starrte. „Ist alles in Ordnung mit dir?“

Sie nickte zögerlich. „Ich habe das Gefühl, dass alle um mich herum wie auf Zehenspitzen gehen“, murmelte sie. „Dass man mir etwas verheimlicht. Wenn ich dir ein paar Fragen stelle – würdest du mir offen und ehrlich antworten?“

„Natürlich“, sagte er und setzte sich zu ihr auf das Sofa. Sie hatten einiges zu klären, und es hatte keinen Sinn, das länger als nötig hinauszuzögern.

„Lieben wir uns?“

Donnerwetter, das war direkt! Aber eine ehrliche Frage verdiente eine ehrliche Antwort. „Nein.“ Kein Gerede um den heißen Brei herum. Sie musste es wissen.

„Aber … warum sind wir dann verlobt?“

„Sind wir gar nicht.“

„A… aber …“, stotterte Cynthia und blickte auf ihren Ring.

„Wir haben uns mal geliebt“, erklärte Will. „Vor langer, langer Zeit. Unsere Familien sind seit Urzeiten befreundet, und wir waren schon zu Collegezeiten zusammen. Vor zwei Jahren habe ich dir einen Antrag gemacht, aber dann … hast du dich verändert, und die Kluft zwischen uns ist immer größer geworden. Deine Familie weiß es noch nicht, aber kurz bevor du dich auf die Flugreise machen wolltest, habe ich unsere Verlobung gelöst.“

„Gab es einen Anlass?“

„Du hast mich betrogen, du hattest eine Affäre. Als ich das erfuhr, wollte ich nicht mehr mit dir zusammen sein, egal, was die Kosten-Nutzen-Rechnung sagte.“

„Kosten-Nutzen-Rechnung? Das hört sich aber sehr kalt und geschäftsmäßig an.“

„So war das nun mal. Eine richtige Beziehung konnte man das kaum noch nennen. Dein Vater und ich hatten ein gemeinsames Projekt, das unseren beiden Firmen einen Riesengewinn versprach, und er arbeitet nun mal am liebsten mit der eigenen Familie zusammen. Deshalb bin ich bei dir geblieben – auch in der Hoffnung, unser Verhältnis würde sich wieder bessern. Aber dann, als ich von deiner Affäre erfuhr, hatte ich keine Wahl mehr. Projekt hin oder her, mit den Hochzeitsplänen war es vorbei. Ursprünglich wollte ich bis Ende Oktober hier ausziehen. Aber das hat sich nach dem Unfall geändert.“

„Das heißt … du bleibst?“ Hoffnungsvoll sah sie ihn an, und ihr Blick berührte ihn in seinem Innersten. Irgendwie kam es ihm tatsächlich falsch vor, sie für etwas zu bestrafen, an das sie sich nicht einmal erinnern konnte.

„Nein, ich bleibe nur, bis du wieder auf dem Damm bist. Dann geben wir unsere Trennung bekannt, und ich ziehe wie geplant aus.“

Cynthia lächelte verständnisvoll, aber er hatte den Eindruck, dass ihre Augen feucht schimmerten. Dann wandte sie den Blick ab. „Ich muss ja ein ganz furchtbarer Mensch gewesen sein. Wie konntest du dich überhaupt in mich verlieben?“

„Ich mochte die Frau, die du warst, als wir uns kennengelernt haben. Doch nach dem College hast du dich ziemlich verändert.“

Betroffen blickte sie zu Boden. Sie hatte ja die Wahrheit hören wollen – aber es tat doch ganz schön weh. „War ich überhaupt mal zu irgendwem nett?“

„Selten … Deine kleine Schwester hast du geradezu verwöhnt. Aber wenn dir irgendwas nicht in den Kram gepasst hat, bist du sofort in die Luft gegangen.“

„Bin ich denn jetzt auch so?“, fragte sie verunsichert.

„Nein. Seit dem Unglück bist du wie ausgewechselt.“

Cynthia schwieg.

„Aber es ist fraglich, wie lange dieser Zustand anhält. Die Ärzte meinen, dass die Amnesie nur vorübergehend ist. Irgendein Auslöser, eine Kleinigkeit, könnte dir jederzeit das Gedächtnis zurückbringen. Und die Frau, die jetzt neben mir sitzt, würde wieder verschwinden.“

„Und … das willst du nicht?“

Nachdenklich sah er ihr in die Augen, verlor sich in ihnen. Wie lange war er mit Cynthia zusammen gewesen, ohne sie wirklich zu kennen? Hatte er sie überhaupt je geliebt? Vielleicht hatte es einfach nur gut gepasst. Die schönste und klügste Studentin an der Universität und der Captain des Poloteams. Beide aus den besten Kreisen, aus äußerst wohlhabenden Familien. Da lag eine Verbindung natürlich nahe …

Aber dies – jetzt – war etwas völlig anderes. Er wollte die Frau, die neben ihm saß, wirklich kennenlernen. Wollte ihr helfen, die Welt neu zu entdecken und zu erfahren, wer sie war. Oder wer sie sein wollte.

Eigentlich müsste er ihr jetzt beteuern, dass er ihr das Gedächtnis zurück wünschte. Aber sie wollte ja die Wahrheit hören, das hatte sie ausdrücklich gesagt. Also antwortete er: „Nein, ich möchte nicht, dass die Frau, die jetzt neben mir sitzt, verschwindet.“

„Es ist schon komisch“, sinnierte sie. „Ein Teil meiner Person fehlt mir, und natürlich ist das kein schöner Zustand. Aber nach allem, was ich jetzt gehört habe, ist es vielleicht besser so. Ich … kann noch einmal bei null anfangen.“

Er dachte über ihre Worte nach. Alex hatte ja gemeint, es könnte eine zweite Chance für ihre Beziehung sein. Aber war Will wirklich bereit, Cynthia diese Chance einzuräumen? Sie hatte ihn betrogen und damit alles kaputt gemacht. Spielte es denn eine Rolle, dass sie sich daran nicht mehr erinnern konnte? Er war sich da nicht so sicher. „Man hat immer eine Wahl.“

„Wie meinst du das?“

„Dein Gedächtnis könnte jederzeit zurückkommen. Aber auch dann hast du die Wahl. Du brauchst nicht so zu sein wie früher, du kannst versuchen, dich zu ändern. Neu anzufangen.“

Sie nickte nachdenklich. Es fiel ihr sichtlich schwer, die nächste Frage zu stellen. „Ich weiß jetzt, dass du mich nicht mochtest, aber … hast du dich vor dem Unfall wenigstens körperlich zu mir hingezogen gefühlt?“

„Du warst eine sehr schöne Frau.“

„Das ist keine richtige Antwort. Du weichst der Frage aus.“

Sie wirkte stark und gleichzeitig verlegen. So viele Facetten hatte sie früher nie gezeigt. Er ertappte sich bei der Frage, wie es wohl wäre, mit ihr – der neuen Cynthia – zu schlafen. Doch schnell wischte er den Gedanken beiseite. Er würde sie schon bald verlassen, also stellte sich die Frage nicht. „Ich weiche der Frage nicht aus. Du warst sehr schön, und jeder Student in Yale wollte dich. Ich auch.“

„Das Bild an der Wand …“

„Das große Foto von unserer Verlobung?“

„Ja. So sehe ich nicht mehr aus. Und das werde ich wahrscheinlich auch nie wieder.“

Sie wirkte so verletzlich, so zerbrechlich – ganz anders als die alte Cynthia. Er konnte nicht anders, er musste sie einfach trösten. Sanft fuhr er ihr mit den Fingern über die Wange. Ihr Gesicht war kaum noch angeschwollen. „Früher warst du … wie soll ich sagen … wie eine antike Statue in einem Museum. Vollkommen – aber auch kalt. Ich finde, kleine Makel geben Persönlichkeit. Du bist jetzt viel hübscher. Von außen … und von innen.“

Cynthia ergriff seine Hand. „Es ist nett, dass du das sagst. Selbst wenn es nicht stimmt. Ich weiß nicht, was ich dir alles angetan habe, aber ich kann es mir ungefähr ausmalen. Es tut mir so leid. Meinst du, dass du mir all diese Dinge je verzeihen kannst?“

Ihre Augen schimmerten feucht, und es schmerzte ihn, sie so leiden zu sehen. „Weißt du, vielleicht sollten wir das Vergangene auch einfach vergessen. Und noch einmal ganz neu anfangen.“

„Ganz neu?“

„Ja. Nicht mehr nach hinten sehen, nur noch nach vorne. Du brauchst nicht mehr darüber nachzugrübeln, wer du warst, und ich will dich nicht mehr für Dinge bestrafen, die du nicht ändern kannst.“

„Und was bedeutet das für … uns? Für dich und mich?“

Das war eine gute Frage, und die Antwort fiel ihm nicht leicht. Sie ließ ihm Zeit, einen Moment lang drüber nachzudenken.

„Es bedeutet, dass wir beide wieder bei null beginnen. In Wirklichkeit sind wir eh wie Fremde. Wir hatten und haben keinen Grund, einander zu vertrauen oder gar zu lieben. Lassen wir es auf uns zukommen. Wir haben Zeit.“

„Und was ist hiermit?“ Cynthia hielt ihm die Hand mit dem Verlobungsring entgegen.

„Am besten, du trägt den Ring vorerst weiter. Die Angelegenheit geht nur uns etwas an, da brauchen wir keine Besserwisser mit guten Ratschlägen, vor allem nicht aus unseren Familien. Wir müssen unsere Entscheidungen selbst treffen.“

Erleichtert lächelte sie ihn an, und es erfüllte sein Herz mit Freude, sie so zu sehen. Sie ist wirklich schön, dachte er, auch wenn sie es nicht glaubt. Spontan gab er ihr einen Kuss, ganz behutsam, gewissermaßen nur als Versicherung, dass alles in Ordnung kommen würde, selbst wenn sie nicht mehr zusammenfinden würden.

Sofort reagierte sein Körper auf sie, und er musste seine ganze Selbstbeherrschung aufwenden, um sie nicht erneut – und diesmal heftiger – zu küssen. Er wollte sich auf keinen Fall zu weiteren Berührungen hinreißen lassen. Zum einen war ihr Körper noch nicht vollständig verheilt, zum anderen hatte er Angst, damit in eine Falle zu tappen, aus der es kein Entrinnen gab.

Cynthia fühlte sich überhaupt nicht schön. Das kleine Küsschen eben – das war sicher nur ein Mitleidskuss gewesen. Plötzlich klingelte Wills Handy, und er nutzte die Gelegenheit, um zu verschwinden, vermutlich in sein Arbeitszimmer. Jetzt musste sie sich ganz allein mit ihrem neuen alten Zuhause vertraut machen.

Wie ein Zuhause fühlte es sich allerdings nicht an. Die gesamte Einrichtung war ihr zu ungemütlich – es fehlte einfach die Behaglichkeit. Weil sie nicht recht wusste, was sie tun sollte, beschloss sie, ausgiebig zu duschen. Will schien offensichtlich eh länger beschäftigt zu sein.

Ihre erste Dusche seit dem Flugzeugunglück! Sie war wirklich froh, dass man ihr endlich den Gips entfernt hatte. Richtig dünn und weiß war ihr Arm geworden. Rund eine halbe Stunde stand sie unter der Brause und fühlte sich anschließend viel besser.

Doch allzu lange hielt der Zustand nicht an. Als sie im Spiegel am Schminktisch ihr Gesicht betrachtete, sank ihre Stimmung rapide. Sie sah ihrem früheren Ich zwar entfernt ähnlich, würde aber wahrscheinlich nie wieder so schön sein wie auf dem Verlobungsfoto. Und was noch viel schlimmer war: Sie fühlte sich in ihrer eigenen Haut nicht wohl.

„Hast du geduscht?“

Cynthia fuhr herum. Will stand im Türrahmen. Er war so lange in seinem Arbeitszimmer geblieben, dass sie schon fast vergessen hatte, dass er da war.

Verschämt zog sie ihr Badetuch höher. Wahrscheinlich hatte er sie schon tausendmal nackt gesehen, aber davon wusste sie ja nichts mehr. Jetzt war er für sie ein Fremder. Jeder war für sie ein Fremder – sie selbst eingeschlossen, so merkwürdig sich das auch anhörte.

Als er ihre Unsicherheit bemerkte, schlug er schuldbewusst die Augen nieder. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen. Ich gehe lieber wieder.“

„Nein, bleib“, stieß sie hervor. Sie wollte einfach nicht allein sein.

„Okay“, erwiderte er. „Warte einen Moment, ich bin gleich zurück.“

Als er wiederkam, hatte er einen flauschigen blauen Bademantel dabei. „Hier, dein Lieblingsstück. Den hast du abends immer gern getragen, wenn du es dir mit einem Buch und einem guten Glas Wein auf der Couch gemütlich gemacht hast.“

Er half ihr, den Bademantel überzuziehen, und als seine Finger rein zufällig ihre nackte Haut berührten, wurde ihr ganz heiß. „Danke“, murmelte sie.

Er trat einen Schritt zurück und musterte sie. Ich werde aus ihm nicht schlau, wenn er mich so ansieht, dachte sie. Ist das Neugier in seinem Blick? Verärgerung? Oder … Begehren?

„Hast du Hunger?“

„Jetzt, wo du fragst … ja. So langsam könnte ich was vertragen.“

„Was darf’s denn sein?“

„Ganz egal. Hauptsache keine Krankenhauskost.“

Er lachte auf. „Das verstehe ich. Ich fahre kurz los und hole uns was. Hier in der Nähe ist ein Thai-Restaurant, wäre dir das recht?“

„Ja, du kannst für mich was aussuchen. Nur nicht allzu scharf bitte.“

Will nickte, wandte sich um und ging. Kurze Zeit später hörte Cynthia, wie die Tür ins Schloss fiel.

Zum Essen wollte sich etwas anziehen und suchte unter den unzähligen Kleidern etwas weiter Geschnittenes, das ihr passen konnte. Die meisten Sachen waren ihr zu eng, aber zum Glück nicht alle.

Plötzlich klingelte das Telefon. Erst war sie sich nicht sicher, ob sie das Gespräch annehmen sollte, aber schließlich wohnte sie hier. Es konnte durchaus für sie sein. Und vielleicht war es ja auch Will, der wegen des Essens etwas nachfragen wollte. Sie nahm den Hörer ab. „Hallo …?“

„Cynthia …?“ Es war eine Männerstimme, aber sie gehörte nicht Will. Die Stimme war tiefer, geflüstert, sie klang fast verschwörerisch.

„Ja, hier ist Cynthia. Wer spricht da bitte?“

Der Mann zögerte einen Moment. „Baby, ich bin es doch. Nigel.“

Nigel? Sie hatte keine Ahnung, wer das sein sollte. Aber er hatte sie „Baby“ genannt, und das gefiel ihr schon mal gar nicht. „Es tut mir leid, ich kann mich nicht an Sie erinnern. Ich hatte einen Unfall und habe mein Gedächtnis verloren.“

„Dein Gedächtnis verloren …? Um Himmels willen, Cynthia! Wir müssen uns unbedingt treffen. Ich war die ganzen Wochen über verrückt vor Sorge um dich. Dein Handyanschluss ist tot, und ins Krankenhaus habe ich mich nicht getraut. Wahrscheinlich hätte man mich auch gar nicht zu dir gelassen, weil ich kein Verwandter bin. Ich weiß nur, was in der Zeitung stand, und da gab es keine Details. Können wir uns morgen treffen? Wenn Will auf der Arbeit ist?“

Cynthia bekam ein flaues Gefühl in der Magengegend. Will hatte ihr ja nicht viel über ihre Affäre erzählt, aber es war nicht schwer zu erraten, dass dieser Nigel ihr heimlicher – oder nicht so heimlicher – Liebhaber gewesen war.

Wie hatte Will doch gesagt? Sie hätte jederzeit die Wahl, etwas Neues aus ihrem Leben zu machen. Und sie und Will wollten noch einmal bei null anfangen. Der Mann am Telefon würde genau diese Chance zerstören, so viel war klar.

„Nein, tut mir leid.“

„He, warte mal, Baby. Ich kann von der Bronx aus einem Frühzug nehmen und dich auf einen Kaffee treffen.“

„Nein, ich wünsche keine weiteren Kontakte. Auf Wiederhören.“ Sie legte den Hörer auf. Sekunden später klingelte es wieder, offenbar ein zweiter Versuch des Anrufers, doch sie nahm nicht ab, und irgendwann gab er auf.

Sie atmete tief durch und machte sich dann weiter fertig. Für ihr erstes gemeinsames Essen mit Will.

3. KAPITEL

Will saß am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer und blickte auf seinen Laptop. Nach dem gemeinsamen Essen hatte er sich wieder zurückgezogen. Fast jeden Abend war er hier und arbeitete. Die Zeitung forderte viel von ihm, und weil er tagsüber meist in irgendwelchen Konferenzen sitzen musste, blieben ihm nur die Abende, um seine E-Mails zu checken und etwas wirklich Produktives zu schaffen. Ja, er steckte viel Zeit in den Observer, um ihn an der Spitze zu halten, aber das machte ihm nichts aus. Im Gegenteil, je schlechter die Beziehung zu Cynthia im Laufe der Jahre geworden war, desto lieber hatte er sich in seine Arbeit geflüchtet.

Heute war das anders. Mindestens hundert ungelesene E-Mails warteten auf ihn, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab … zu Cynthia.

Durch die gläserne Tür, die sein Arbeitszimmer vom Wohnzimmer trennte, konnte er sie sehen. Als er losgefahren war, um das Essen zu holen, hatte er gedacht, zwischen ihnen beiden liefe es eigentlich ganz gut. Als er sie nach dem Duschen halb nackt gesehen hatte, war er sogar ziemlich erregt gewesen.

Aber irgendwie schien sie ihm verändert, seit er von der kurzen Fahrt zurückgekommen war. Sie hatten das Thai-Essen im Speisezimmer zu sich genommen und über unverfängliche Dinge geplaudert, doch sie war ihm dabei merkwürdig nervös vorgekommen. Als das Telefon geklingelt hatte, war sie wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen, um vor ihm beim Apparat zu sein und das Gespräch anzunehmen. Es war dann nur ihre Mutter Pauline gewesen. Die beiden hatten noch eine Weile geplaudert, während er den Tisch abgeräumt und sich dann in sein Arbeitszimmer verkrochen hatte.

Vielleicht ist es meine Schuld, dass sie so nervös ist, sinnierte Will. Vielleicht hat sie gemerkt, welche erregende Wirkung sie auf mich hatte, und das ist ihr unangenehm. Wahrscheinlich hätte ich auch nicht von einer eventuellen gemeinsamen Zukunft reden sollen. So sicher bin ich mir da ja selbst nicht. Wenngleich mir mein Körper etwas anderes sagt als mein Verstand …

Es überraschte ihn nicht, dass Cynthia sich schon recht früh zurückzog, um ins Bett zu gehen. Offenbar hatte sie ihr erster Tag außerhalb des Krankenhauses doch ziemlich angestrengt. Und nicht nur körperlich, sondern auch psychisch, da sie vieles über ihre Vergangenheit erfahren hatte, das ihr sicher nicht gefiel. Im schlimmsten Fall könnte das den Heilungsprozess beeinträchtigen. Aber sie hatte ja von ihm verlangt, die Wahrheit zu sagen.

Wenn sie sich in das gemeinsame Schlafzimmer gelegt hatte, war es sicher das Beste, wenn er im Gästezimmer schlief. So konnte es nicht zu verfänglichen Situationen kommen, und ihm lag daran, sich seine Unvoreingenommenheit zu bewahren.

Jetzt, da sie schlief, konnte Will sich auch besser auf die Arbeit konzentrieren. Gegen Mitternacht hatte er das Wichtigste geschafft und machte Schluss. Am nächsten Morgen würde er um sechs Uhr aufstehen – das waren für ihn die normalen Zeiten. „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin“, sagte er immer. „Oder wenn ich im Ruhestand bin. Je nachdem, was früher eintritt.“

Am nächsten Morgen war er bereits vollständig angezogen und trank Kaffee, als Cynthia die Küche betrat. Sie trug einen Morgenmantel und hatte ihr Haar zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie war weder geschminkt noch sonst irgendwie zurechtgemacht. Das kannte Will von der alten Cynthia überhaupt nicht. Sie hatte sich immer makellos gestylt an den Frühstückstisch gesetzt. Auf diese Überraschung nahm er erst einmal einen Schluck Kaffee.

„Guten Morgen“, sagte Cynthia gähnend.

„Guten Morgen“, erwiderte er. „Möchtest du auch einen Kaffee?“

„Nein danke“, antwortete sie und verzog den Mund. „Im Krankenhaus habe ich einmal Kaffee getrunken, aber er schmeckt mir überhaupt nicht.“

Er schob ihr einen Teller hinüber. So früh morgens konnte er noch nicht viel vertragen, aber eine Kleinigkeit aß er doch immer, um die morgendliche Redaktionskonferenz durchzustehen. „Hier, ich habe schon Toast gemacht. Im Schrank sind Tee und Kakao, falls du möchtest.“

Cynthia setzte sich auf einen der Küchenstühle und nahm sich einen Toast. Zu seiner Erleichterung stellte Will fest, dass sie heute Morgen wieder viel entspannter wirkte. Vielleicht würde es ihr ganz guttun, für einige Zeit allein im Apartment zu sein.

„Schade, dass ich jetzt schon weg muss, aber die Arbeit ruft. Ich werde zusehen, dass ich heute Abend nicht zu spät nach Hause komme.“

„Du arbeitest ziemlich viel“, stellte sie fest.

Will zuckte mit den Schultern und erhob sich. „So viel wie nötig. Übrigens, die Haushälterin kommt so gegen Mittag, ab der Zeit bist du dann also nicht mehr allein. Ich habe sie gebeten, uns ein warmes Abendessen zu machen, damit wir nicht ausgehen müssen. Heute soll’s Schmorbraten geben.“

„Okay …“ Cynthia nickte stirnrunzelnd.

„Was hast du denn?“

„Jemanden zu haben, der für einen kocht und putzt – das fühlt sich für mich so … ungewohnt an. Eigentlich sollte ich daran gewöhnt sein. Bin ich aber nicht.“

„Das wirst du schneller wieder zu schätzen wissen, als du denkst. Vor allem, wenn du ein paarmal Anitas Hausmannskost gegessen hast.“ Er schlüpfte in sein Jackett. „Wenn du Fragen hast oder was brauchst, ruf mich ruhig auf dem Handy an. Ich habe dir auch ein paar Telefonnummern an den Kühlschrank gepinnt. Von deinen Verwandten und einigen Freunden. Für den Fall, dass dir langweilig wird.“

„Danke“, sagte sie und stand auf, um ihn zur Tür zu bringen.

Als es ans Verabschieden ging, wollte Will ihr aus alter Gewohnheit einen Kuss auf die Wange geben, doch als er sah, wie sie sich plötzlich versteifte, hielt er in der Bewegung inne. Stattdessen hob er kurz verlegen die Hand, wandte sich um und ging in den Hausflur.

Als er im Fahrstuhl stand, schüttelte er über sich selbst den Kopf. Was war denn das eben gewesen? Er benahm sich nicht gerade wie ein Mann, der kurz vor dem Auszug stand. Irgendwie fühlte er sich immer mehr zu ihr hingezogen.

Nur schnell ins Büro! Dort war er wenigstens Herr der Lage.

Nachdem Cynthia die Tür zum Apartment wieder geschlossen hatte, lehnte sie sich von innen dagegen und ließ verwirrt den Kopf sinken. Wie erschrocken sie gewesen war, als er sie hatte küssen wollen, wie schnell ihr Herz geschlagen hatte! Sie wollten zwar wieder bei null anfangen, aber für Zärtlichkeit war es auf jeden Fall noch zu früh. Das würde alles nur unnötig verkomplizieren.

Trotzdem – wie seine Küsse wohl schmecken würden …?

Kopfschüttelnd begab sie sich in ihr Zimmer, um sich anzuziehen. Sie entschied sich für eine Khakihose und eine langärmelige Bluse.

Zurück in der Küche goss sie sich einen Tee auf und aß noch einen Toast mit Himbeermarmelade. Anschließend ging sie in das Zimmer, das nach Wills Angaben ihr Arbeitszimmer gewesen war.

Gestern hatte sie kurz hineingeschaut, mehr aber auch nicht. Nach ihrem Gespräch mit Will – und Nigels Anruf – hatte sie geradezu Angst vor dem bekommen, was sie finden würde. Aber es musste nun mal sein. Da drin wartete vielleicht ihre Vergangenheit.

Auf dem Schreibtisch war eine große Fläche freigehalten – bestimmt der Platz für ihren Laptop, aber der war ja bei dem Flugzeugunglück zerstört worden. Links und rechts lagen etliche Aktenordner und Hochglanzmagazine. Alles sehr akkurat und aufgeräumt, viel zu aufgeräumt!

An den Wänden hingen viele eingerahmte Zeitschriftenanzeigen für bekannte Markenprodukte. Sie konnte nur vermuten, dass sie diese Anzeigen entworfen hatte. Ihre Familie hatte ihr ja gesagt, dass sie einen hohen Posten in einer Werbeagentur in der Madison Avenue gehabt hatte.

Beunruhigt musste sie sich eingestehen, dass auch dieser Teil ihrer Kenntnisse vollständig verschwunden war. Sie kannte die Handelsmarken, hatte aber nicht die leiseste Ahnung davon, wie man sie fachmännisch bewarb.

Wenn sie in diesem Job nicht mehr arbeiten konnte, musste sie sich etwas anderes einfallen lassen, und zwar schnell. Vor allem, wenn Will sie tatsächlich verlassen würde. Er hatte ja noch alle Möglichkeiten offengelassen, aber nach dem, was ihr altes Ich ihm angetan hatte, wäre eine Trennung nur allzu verständlich. Obwohl sie sehr hoffte, dass es nicht so weit kam – und nicht nur aus finanziellen Gründen …

Nur nicht zu sehr darüber nachgrübeln! Um sich abzulenken, schaute Cynthia sich die Unterlagen näher an. Dabei spielte die Neugier eine Rolle, aber auch die Hoffnung, dass irgendetwas davon ihr die Erinnerung zurückbringen könnte. In den Papieren ging es um Kunden und Kampagnen. Alles war gespickt mit Fachausdrücken aus der Werbebranche, sodass sie kaum die Hälfte verstand.

Als Nächstes öffnete sie eine der Schreibtischschubladen. Vorne lagen nur Materialien wie Kugelschreiber und Büroklammern, doch weiter hinten – wie versteckt – fand sie ein Bündel Briefe. Sie zog sie heraus. Alle waren an sie adressiert. Einige der Poststempel waren schon weit über ein Jahr alt.

Sie öffnete den ältesten Umschlag und begann zu lesen. Es war ein handgeschriebener Liebesbrief von Nigel. Fast schon rührend altmodisch in einer Zeit von SMS und E-Mail! Vielleicht hatte sie dieses belastende Material gerade deshalb aufbewahrt.

Fasziniert las sie Brief um Brief und erfuhr so immer mehr über die Hintergründe ihrer Liebschaft. Offenbar war Nigel ein engagierter, aber weitgehend erfolgloser Künstler, den sie bei einer Ausstellung kennengelernt hatte. Seitdem hatten sie sich heimlich zum Essen getroffen, hatten etliche Wochenenden miteinander verbracht, hatten sich sogar ab und an in ihrem und Wills Apartment getroffen.

Die Briefe klangen außerordentlich romantisch – viel mehr, als bei einer flüchtigen Affäre zu erwarten war. Sie wusste ja nicht, was sie Nigel zurückgeschrieben hatte, aber die beiden schienen wirklich viele Gefühle füreinander gehabt zu haben.

Irgendwie passte das gar nicht zu dem Bild, das sie nach den Berichten der anderen inzwischen von sich aufgebaut hatte. Wie konnte sich eine wohlhabende Society-Lady aus besten Kreisen in einen mittellosen Künstler aus der Bronx verlieben? Es war ihr ein Rätsel.

Hatte sie Nigel nur benutzt? Oder war es ihr peinlich gewesen, sich offen zu ihm zu bekennen? Ihre Eltern würden sicher nicht viel von so einer Verbindung halten. Vielleicht hatte sie sich aber auch von allem das Beste herauspicken wollen: heimliche Liebe mit dem romantischen Nigel, aber Ehe mit dem reichen Will.

Falls das so war, kam ihr das jetzt ziemlich charakterlos vor. War sie wirklich so berechnend gewesen? Da konnte man sich ja nur schämen!

Sie legte die Briefe auf eine freie Stelle des Schreibtisches und suchte weiter nach Zeugnissen aus ihrer Vergangenheit. Sowohl ihr Laptop als auch ihr Handy waren beim Flugzeugunglück zerstört worden, digitale Beweise ihrer Affäre gab es also vermutlich nicht mehr. Will wollte ihr ein neues Handy besorgen. Da würde sie sich gleich eine neue Nummer geben lassen – eine, die Nigel nicht kannte.

In einer anderen Schublade fand sie einige Geburtstags- und Valentinstagskarten. Keine davon war von Will. Auch diese legte sie auf den Stapel. Dazu kamen noch einige verdächtige Fotos von ihr und einem blonden Mann, den sie nicht erkannte, mit dem sie aber recht vertraut wirkte. Sie würde sie vernichten, ebenso wie die Briefe.

Als Anita eintraf, hatte Cynthia schon einen großen Stapel an Papieren, die vernichtet werden mussten. Sie ging ins Wohnzimmer, um die Haushälterin zu begrüßen. Sie war eine etwas mollige Frau mit allmählich ergrauendem Haar. Sie hielt bereits ein Tuch in der Hand und staubte damit das Regal über dem Kamin ab.

Der Kamin! Dort würde Cynthia den verräterischen Schriftwechsel verbrennen!

„Guten Tag, Miss Dempsey.“ Die Haushälterin klang freundlich, aber auch ein wenig eingeschüchtert. „Wie schön, dass Sie wieder zu Hause sind. Ich verhalte mich ganz ruhig. Sie werden gar nicht merken, dass ich da bin.“

Hatte die Frau etwa Angst vor ihr? „Sagen Sie doch ruhig Cynthia zu mir. Und keine Sorge, Sie stören nicht. Ich bin ja froh, dass jemand hier ist. Sagen Sie Bescheid, wenn ich bei irgendwas helfen kann. Wenn ich Ihnen bei der Arbeit zuschaue, bekomme ich nur ein schlechtes Gewissen.“

Anita blickte sie fassungslos an. So eine Behandlung war sie nicht gewöhnt. „Danke, Miss Dempsey, ich komme schon zurecht. Kann ich noch irgendetwas für Sie tun, bevor ich loslege?“

„Na ja, wenn Sie so fragen – mir ist ein bisschen kalt. Vielleicht könnten Sie mir helfen, den Kamin anzumachen?“

Ein paar Tage später saß Will in seinem Arbeitszimmer. Er hatte diesen Samstag fest für unerledigte Arbeiten reserviert, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Mal wieder wanderten seine Gedanken zu Cynthia. Ob sie sich wohl langweilte?

Früher hatte er sich oft ins Arbeitszimmer verkrochen, um ihr aus dem Weg zu gehen, aber seit sie sich so verändert hatte, sah das anders aus. Er klappte seinen Laptop zu und ging ins Wohnzimmer. Sie lag auf der Couch und war in einen Liebesroman vertieft. Aus ihrem gemeinsamen Bücherregal stammte der nicht.

„Was liest du denn da?“

„Eine Liebesgeschichte. Habe ich gestern im Laden an der Ecke gekauft. Ist ganz gut.“

Die alte Cynthia hatte in ihrem ganzen Leben noch keinen Liebesroman gelesen, da war er sich ganz sicher. Aber ihm gefiel, dass die neue Cynthia auf gefühlvolle Dinge stand. „Es ist heute so schön warm draußen. Was hältst du davon, wenn wir eine Runde durch den Park drehen?“

Sie strahlte ihn an. „Tolle Idee!“

Als sie durch den Central Park spazierten, fiel Cynthia plötzlich ein Hot-Dog-Stand ins Auge. „Ich muss unbedingt rauskriegen, ob ich sowas mag.“

Ihre Neugier war so ansteckend, dass auch Will sich einen bestellte – was er seit Jahren nicht mehr getan hatte. Sie setzten sich auf eine Bank, und während Will noch an seinem zweiten Bissen kaute, hatte sie ihren Snack schon vollständig verputzt. „Oha!“, staunte er. „Möchtest du noch einen?“

„Nein danke“, antwortete sie und tupfte sich den Mund ab. „Es gibt noch so viele Gerichte, die ich ausprobieren möchte. Wenn ich es da jedes Mal übertreibe, habe ich im Nullkommanichts zwanzig Kilo drauf.“

Schlagartig schien sich ihre Stimmung wieder zu verfinstern. „Worüber grübelst du nach?“, fragte er.

„Darüber, dass ich mich in einer ganz schön üblen Situation befinde. In ein paar Wochen bist du vielleicht weg. In meinen alten Job kann ich vorerst nicht zurück – was auch immer ich in der Werbung gemacht habe, ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Ich weiß überhaupt nicht, worin ich gut bin. Bis vor ein paar Minuten wusste ich ja nicht mal, ob ich Hot Dogs mag. Was soll ich nur tun?“

„Was das Finanzielle angeht, kann ich dich beruhigen. Auch das weißt du wahrscheinlich nicht mehr, aber du hast einen Treuhandfonds und ein dickes Aktiendepot. Davon kannst du lange zehren.“

„Wenn ich allein im Apartment sitze und nichts zu tun habe, fällt mir die Decke auf den Kopf. Ganz einsam in diesen Riesenräumen …“

Daraus schloss er, dass es ihr lieber war, wenn er blieb. Auch ihm war es lieber, aber man wusste ja nie, was die Zukunft bringen würde. „Ich habe mit deinem Chef Ed gesprochen. Er hat viel Verständnis für deine Situation und hält dir den Job bis auf Weiteres frei. Und selbst wenn deine Fähigkeiten nicht zurückkommen, könntest du immer noch für deinen Dad arbeiten.“

„Und was machen? Davon habe ich doch auch keine Ahnung. Ich will mich nicht dafür bezahlen lassen, an einem Schreibtisch in der Dempsey Corporation zu sitzen und Däumchen zu drehen – nur weil ich die Tochter des Chefs bin.“

Diese Einstellung fand er sehr ehrenwert. Sie hätte es sich leicht machen können, aber sie wollte mehr vom Leben. „Okay. Dann sieh es mal so: Du hast jetzt die einmalige Chance, etwas Neues auszuprobieren, ganz nach deinem Geschmack. Was würde dir denn gefallen? Woran hast du Interesse?“

Einen Moment lang dachte sie nach, dann sagte sie: „Mode. Kleider, Kleidung. Damit beschäftige ich mich gerne. Nicht nur, sie zu tragen, sondern auch, sie zusammenzustellen und so. Obwohl ich nicht recht weiß, was man mit diesem Interesse anfangen kann.“

„Vielleicht wäre Modedesignerin der richtige Job für dich.“

Ihre Augen leuchteten auf. „Gefallen würde mir das schon. Aber ich weiß nicht, ob das realistisch ist. Und ob ich überhaupt das Talent dazu habe.“

„Einen Versuch ist es wert. Dafür brauchst du ja nur Papier und Stifte, dann sehen wir, was dabei herauskommt. Du musst ja nicht gleich der nächste Versace werden, aber du kannst es ausprobieren und ein bisschen Spaß dabei haben.“

Freudestrahlend umarmte sie ihn. Er war von ihrem Gefühlsausbruch überrascht, ließ ihn sich aber gerne gefallen. Es faszinierte ihn, wie anders sie jetzt war, wie offen sie ihre Gefühle zeigte. War das vielleicht wirklich eine neue Chance für sie und ihn? Sicher, die Cynthia, der er den Antrag gemacht hatte, war eine Enttäuschung gewesen. Aber dies war doch eine ganz andere Frau! Eine, die er begehrte wie keine zuvor.

Er musste nur sein Herz aus der Sache heraushalten. Damit er notfalls einfach gehen konnte, wenn es doch nicht gut lief und sie wieder die alte Cynthia wurde. Auch geschäftlich war es günstig, die Beziehung zunächst aufrechtzuerhalten. Denn so blieb ihr Vater George Dempsey bei Laune.

Erwartungsvoll sah Cynthia ihn an. Ihre Lippen waren leicht geöffnet. Kein Zweifel, sie wollte, dass er sie küsste.

Und er wollte es auch. Wollte wissen, wie sie küsste. Schon berührten sich ihre Lippen.

Seine Zunge traf ihre Zunge, die sich zart wie Seide anfühlte und süß wie Honig schmeckte. Noch nie hatte ihn ein Kuss so erregt. Cynthia war so liebreizend, so unschuldig – keine Spur von Berechnung. Sie ließ sich einfach von ihren Wünschen und Gefühlen treiben. Am liebsten wäre er sofort mit ihr ins Apartment zurückgekehrt und hätte die Leidenschaft dort ausgelebt. Aber er wusste, er durfte sich nicht von seinem Begehren steuern lassen, sein Verstand musste die Oberhand behalten. Sonst würde er alles aufs Spiel setzen.

In diesem Moment klingelte sein Handy und zerstörte den Zauber des Moments. Etwas verlegen zupfte sich Cynthia ihre Kleidung zurecht, während er das Gespräch annahm und den Anrufer kurz abfertigte. Dann sah er Cynthia an und murmelte: „Wollen mal sehen, ob wir hier in der Nähe ein Geschäft für Künstlerbedarf finden.“

Auf dem Weg durch den Park ergriff Cynthia seine Hand, und er ließ es sich gerne gefallen. Mit jedem Schritt, den sie taten, fühlte er sich mehr zu dieser faszinierenden Frau hingezogen. Doch lieben – nein, lieben wollte er sie sicherheitshalber nicht.

4. KAPITEL

„Ich freue mich wirklich, dass Sie mich angerufen haben und wir uns heute treffen, Cynthia. Ich hatte mich schon gefragt, wie Sie im wirklichen Leben zurechtkommen.“

Cynthia lächelte ihre ehemalige Krankenschwester Gwen an. Sie war froh, in ihr jemanden zu haben, mit dem sie sich ganz offen unterhalten konnte. Die Haushälterin Anita wich ihr aus, und ihre Eltern wollten sie ständig überreden, doch zu ihnen zu ziehen. Gwen war ihre erste eigene Bekanntschaft im neuen Leben. Und außerdem die einzige Person, die sie nicht behandelte, als ob sie einen psychischen Schaden hatte.

„Wie ich zurechtkomme? Na ja, es geht so. Bisher habe ich viele Leute aus dem weiteren Bekanntenkreis von mir fernhalten können, aber das wird sich bald ändern. Meine Mutter will eine Riesenparty anlässlich meiner Genesung – meiner körperlichen Genesung – veranstalten. Mir graut schon davor.“

Gwen lächelte und gab etwas Ketchup auf ihren Cheeseburger. „Die Leute sind bestimmt neugierig auf Sie. Ist ja auch eine komische Situation – für alle Beteiligten. Aber je eher Sie sich denen präsentieren, desto eher gewöhnen die sich auch an Ihr neues Ich. Und was ist beruflich? Wollen Sie Ihre alte Arbeit wieder aufnehmen?“

„Eher nicht.“

„Manchmal hilft es, wenn man wieder in alten Bahnen …“

„Möglich, aber das wird einfach nicht funktionieren. Ich meine, wenn ich früher Arzt gewesen wäre – würden Sie sich dann jetzt von mir operieren lassen? In der vagen Hoffnung, dass mir am OP-Tisch schon wieder einfallen wird, was ich zu tun habe?“

Gwen verzog den Mund. „Wohl kaum.“

„Sehen Sie. Ich war in der Werbung. Gut, das ist vielleicht nicht ganz so kompliziert wie Gehirnchirurgie, aber trotzdem – ich weiß nichts mehr davon. Rein gar nichts. Und ehrlich gesagt … Es interessiert mich auch nicht die Bohne.“

„Hm. Und was wollen Sie dann machen? Eine von diesen Society-Ladys werden, die Wohltätigkeitsveranstaltungen organisieren?“

„Gott bewahre!“, stöhnte Cynthia auf. „Nein, ich probiere zurzeit gerade was aus.“

„Was denn?“, fragte Gwen interessiert und biss von ihrem Burger ab.

„Modedesign. Ich habe schon einiges entworfen. Bei den ersten Skizzen kam ich mir total ungelenk vor, aber nach und nach ging es immer besser. Natürlich sind es bisher nur Striche auf Papier, aber ich hoffe, da kann etwas draus werden.“

„Modedesign? Wow. Das macht Ihnen also richtig Spaß?“

Cynthia lächelte. „Und wie! Ich zeichne und zeichne, und wenn Will dann besorgt nach mir sieht, schaue ich auf die Uhr und stelle fest, dass die Stunden wie im Flug vergangen sind.“

„Das scheint ja genau das Richtige für Sie zu sein.“

„Ich glaube schon. Der nächste Schritt ist natürlich, die Theorie in die Praxis umzusetzen. Mir eine Nähmaschine zu kaufen und die Entwürfe zu schneidern.“

„Sie sollten eine Boutique aufmachen und einen Stand bei der Modemesse mieten“, schlug Gwen begeistert vor.

Cynthia musste lachen. „So weit sind wir noch lange nicht. Erst mal muss ich sehen, ob ich überhaupt das Garn eingefädelt kriege. Und dann, ob das, was ich mir zusammenstümpere, überhaupt was taugt. Von den Catwalks dieser Welt bin ich noch meilenweit entfernt.“

„Aber es geht in die richtige Richtung. Sie gestalten Ihr neues Leben, und das finde ich toll.“

Cynthia freute sich über Gwens Lob. Will unterstützte sie zwar auch, aber vielleicht nur, weil er sich dazu verpflichtet fühlte. „Danke. Wenn sich nur alles andere auch so gut entwickeln würde.“

„Was denn zum Beispiel?“

„Zum Beispiel das zwischen Will und mir.“ Cynthia seufzte. Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm. An einem Tag plante er schon ihr Leben für die Zeit nach seinem Auszug, am anderen Tag küsste er sie. Aber selbst dann wirkte er reserviert, als ob er sich einen Fluchtweg freihalten wollte. Das war kein gutes Zeichen. „Ich weiß nicht, was das mit ihm ist. Mit ihm und mir. Manchmal ist er so … distanziert.“

Sie konnte nicht einmal Gwen erzählen, dass sie die Verlobung abgeblasen hatten. Und die Sache mit Nigel schon mal gar nicht. Leider rief er jetzt wieder öfter an, immer morgens, wenn Will das Apartment verlassen hatte. Sie hatte schon überlegt, es Will zu erzählen, aber sie waren ja übereingekommen, Vergangenes ruhen zu lassen. Sie konnte nur hoffen, dass Nigel irgendwann aufgab.

„Wahrscheinlich haben die ganzen Veränderungen Ihren Will einfach nervös gemacht“, sagte Gwen tröstend. „Er muss sich erst daran gewöhnen.“

Cynthia nickte stumm. Sicher hatte Gwen recht. Wahrscheinlich war die ganze Situation für Will ebenso schwierig wie für sie. Selbst bei dem Kuss im Park hatte sie seinen inneren Kampf gespürt. Einerseits hatte er den Kuss gewollt, andererseits hatte er sich dagegen gesträubt. Auf dem Rückweg hatten sie sich zärtlich an der Hand gehalten, aber anschließend, im Apartment, hatte er sich in seinem Arbeitszimmer eingeigelt.

„Ist zwischen Ihnen beiden seit Ihrer Rückkehr … etwas gelaufen?“

„Nur ein Kuss“, antwortete Cynthia und errötete wie ein Schulmädchen. Wenn man ihre Amnesie berücksichtigte, war es ja gewissermaßen ihr erster Kuss gewesen.

„Ein Kuss – das ist doch schon mal was. Wenn er Sie nicht mögen würde, würde er Sie auch nicht küssen.“

„Aber seitdem ist nichts passiert.“

Gwen nahm einen Schluck von ihrer Cola und zuckte mit den Schultern. „Ach, darüber würde ich mir keine Gedanken machen. Vielleicht will er Sie nur schonen, oder er hat beruflich viel um die Ohren. Aber eines muss ich Sie noch fragen: Möchten Sie denn, dass etwas passiert?“

Cynthia zog die Stirn in Falten. „Was meinen Sie damit?“

„Na ja, Will ist Ihnen ja gewissermaßen in den Schoß gefallen. Sicher, von außen betrachtet waren Sie natürlich schon seit Jahren zusammen. Aber für Ihr neues Ich ist er ja ein Fremder. Was wäre, wenn Sie ihm rein zufällig auf der Straße begegnen würden? Würden Sie sich zu ihm hingezogen fühlen?“

Cynthia versuchte, sich die Szene bildlich vorzustellen. Wie sie die Straße entlangging, etwas fallen ließ, und ein fremder Mann – Will – es ihr aufhob. Er sah gut aus, bewegte sich selbstsicher und elegant.

Ein Gefühl der Sehnsucht durchströmte sie. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. Der Kuss auf der Parkbank kam ihr wieder in den Sinn. Ja, sie fühlte sich zu Will hingezogen. Zwar konnte sie sich nicht an ihre Vergangenheit erinnern, aber ihr Geschmack, was Männer anging, schien der gleiche geblieben zu sein. Auch wenn sich alles andere geändert hatte.

Die Frage war nur, ob es nicht zu riskant war, sich in ihn zu verlieben. Eigentlich wünschte sie sich eine zweite Chance, aber sie traute sich selbst – ihrem alten Ich – nicht über den Weg. Sie wusste ja nicht genau, wozu sie im Zweifelsfall fähig war, und sie wollte Will auf keinen Fall noch einmal verletzen. Vielleicht wäre es für alle Seiten besser, die Beziehung mit all dem Ballast aus der Vergangenheit einfach zu beenden. Andererseits – wer ließ schon einen Mann wie Will gerne gehen …?

„Eindeutig ja“, beantwortete sie Gwens Frage. „Ja, auch wenn er ein Fremder wäre, würde ich mich zu ihm hingezogen fühlen.“

„Dann sollten Sie auch nicht dagegen ankämpfen. Sie haben einen der begehrenswertesten Männer von Manhattan an Ihrer Seite. Warum sollten Sie das nicht genießen?“

Cynthia hatte das Gefühl, dass tausend Gründe dagegen sprachen – und nur einer dafür. Doch dieser eine Grund wog mehr als alle anderen zusammen.

Sie wollte ihn. Sie wollte ihn so sehr.

Und ob es vernünftig war oder nicht – sie würde alles dafür tun, eine neue Beziehung mit ihm aufzubauen und ihn an ihrer Seite zu halten.

George Dempsey saß Will gegenüber am Konferenztisch, einen großen Stapel Akten vor sich. Die Rechtsanwälte hatten alles in die Wege geleitet, damit die gemeinsame Produktion des E-Readers demnächst starten konnte. Nur einige Detailfragen waren noch zu klären.

Doch Will merkte sofort, dass sie damit heute nicht weit kommen würde. Sein Beinahe-Schwiegervater hatte anderes im Kopf.

„Ich mache mir Sorgen um Cynthia“, murmelte George mit tonloser Stimme.

„Die Ärzte sagen aber, der Heilungsprozess macht gute Fortschritte.“

„Ich rede nicht von ihrem Gesicht“, wandte George ein. „Ich rede über das, was in ihrem Kopf vorgeht. Pauline hat mir erzählt, dass sie nicht zurück zur Werbeagentur geht. Und für mich will sie auch nicht arbeiten.“

„Elektronik ist eben nicht so ihr Ding. War es noch nie. Warum hätte sich das ändern sollen?“

„Vielleicht, weil sich sonst alles geändert hat …? Den ganzen Tag kritzelt sie Entwürfe für irgendwelche Klamotten. Ich habe das Gefühl, ich kenne meine eigene Tochter nicht mehr.“

„Wie sollte es anders sein? Sie kennt Sie ja auch nicht mehr.“

George runzelte verärgert die Stirn. „Sie sollten das ein bisschen ernster nehmen, Will. Ich mache mir wirklich Sorgen um ihre psychische Verfassung. Bald steht schließlich auch die Hochzeit an.“

In Wills Kopf schrillten die Alarmglocken. Zwar spielten er und Cynthia, trotz heimlicher Entlobung, mit dem Gedanken, es wieder miteinander zu versuchen. Er hatte ihr ein Geschenk bestellt und ins Apartment schicken lassen, er plante, mit ihr essen zu gehen, er gab sich Mühe – aber das hatte alles noch nichts zu heißen. Noch war nichts in Stein gemeißelt.

So schön ihr Kuss im Park auch gewesen war … Wenn sie sich zu schnell wieder aufeinander einließen, riskierten sie, dass die neue Verbindung scheiterte, bevor überhaupt die Tinte auf dem E-Reader-Vertrag getrocknet war. Er und Cynthia brauchten definitiv Zeit!

Andererseits: Wenn George plötzlich das Gefühl bekommen sollte, die Beziehung seiner Tochter sei gescheitert, konnte Will vermutlich die Vertragsentwürfe hier auf dem Konferenztisch vergessen. Er versuchte es daher vorsichtig: „Cynthia hat viel mitgemacht. Vielleicht ist es zu früh, wenn wir im Mai schon heiraten. Gut möglich, dass sie mehr Zeit braucht.“

George kniff die Augen zusammen und musterte Will misstrauisch. „Und was ist mit Ihnen? Kalte Füße bekommen?“

„Wie … Wie kommen Sie darauf?“

„Erzählen Sie mir nichts. Verliebt wie am ersten Tag waren Sie und Cynthia schon vor dem Flugzeugunglück nicht mehr. Das habe ich genau gemerkt. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass Sie so mies und charakterlos wären, sie nach ihrem Unfall zu verlassen, aber andererseits werde ich tagtäglich von Leuten enttäuscht.“

„In dem Zustand, in dem Cynthia sich jetzt befindet, werde ich sie ganz bestimmt nicht verlassen. Was anschließend passiert, kann niemand vorhersagen. Jede Beziehung kann scheitern. Ganz egal, wie viel Mühe man sich gibt.“

George verzog den Mund. „Sie wissen, dass ich lieber mit Verwandten oder meinetwegen auch angeheirateten Verwandten Geschäfte mache. Die hauen einem wenigstens kein Messer in den Rücken, nur um ihre Aktionäre zufriedenzustellen. Wenn Sie also irgendwelche Bedenken oder Vorbehalte haben, ist es Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, mir das zu sagen, bevor ich die Verträge unterschreibe.“

„Mr Dempsey, unsere Zusammenarbeit für den E-Reader ist für beide Seiten ein gutes Geschäft. Ich verstehe Ihre Zweifel. Der Observer ist ja auch ein Familienunternehmen, seit sechzig Jahren. Aber glauben Sie mir: Ob mit oder ohne Heirat, wir stehen voll hinter der Dempsey Corporation.“

„Das möchte ich Ihnen auch geraten haben. Aber noch etwas, Taylor.“

„Ja …?“

„Wie Sie wissen, habe ich überall in der Stadt die allerbesten Verbindungen. Jetzt vom Geschäftlichen mal ganz abgesehen – wenn Sie meinem kleinen Mädchen wehtun, mache ich Sie fertig. Sie und Ihr Käseblatt gleich mit.“

Will schluckte und nickte stumm. Wenn er bedachte, dass er bisher nur Angst gehabt hatte, Cynthia könnte ihm wehtun …!

Als Cynthia nach ihrem Essen mit Gwen zum Apartmenthaus zurückkehrte, gab der Wachmann an der Rezeption ihr ein Zeichen. „Miss Dempsey?“

Sie ging zu ihm. „Hallo, Calvin. Wie geht es Ihnen?“

„Alles bestens, Miss Dempsey. Ich habe eine Lieferung für Sie entgegengenommen, ein ganz schön schweres Paket. Soll ich es Ihnen hochbringen lassen?“

„Ja, das wäre nett.“

Sie fuhr zum Apartment hinauf, und wenige Minuten später klingelte es an der Tür. Es war der Hausmeister Ronald, der einen großen Pappkarton brachte. „Um Himmels willen“, sagte sie und gab den Weg frei. „Stellen Sie den Karton am besten auf den Tisch.“

Sie drückte Ronald einen Fünfdollarschein in die Hand, er bedankte sich und ging.

Sie hatte keine Ahnung, was in dem Riesenpaket sein konnte. Neugierig nahm sie eine Schere und trennte das Klebeband auf.

Die Freude war riesig, als sie den Inhalt sah. Es war eine große ultramoderne Nähmaschine! Sie war so schwer, dass Cynthia sie lieber im Karton ließ, um sie später gemeinsam mit Will auszupacken. Dafür nutzte sie die Zeit, um sich mit der Gebrauchsanweisung vertraut zu machen.

Gerade hatte sie die Anleitung durchgearbeitet, als sie Will an der Tür hörte. Sie sprang von der Couch auf und lief ihm entgegen. Als er ihr freudestrahlendes Gesicht sah, lächelte er zufrieden. „Wie ich sehe, ist sie angekommen.“

„Ja“, erwiderte Cynthia lachend. „Und die hast du extra für mich gekauft …? Sie ist wirklich toll!“

„Ich habe sie heute Morgen bestellt. Angeblich ist sie die Beste auf dem Markt. Die Firma hatte mir versprochen, heute noch zu liefern.“

Cynthia umarmte ihn überschwänglich – und bevor er sich versah, gab sie ihm einen Kuss. Augenblicklich wurde mehr als ein Dankeschön-Küsschen daraus. Will schlang ihr die Arme um die Hüften und zog sie dicht an sich heran. Seit ihrem letzten Kuss hatte er sich sehr distanziert verhalten, und sie hatte schon gedacht, er wäre nicht an ihr interessiert – aber jetzt, als ihre Zungen sich berührten und gemeinsam einen wilden Tanz aufführten, gab es keinen Zweifel: Er hatte durchaus Interesse an ihr!

Es fühlte sich so gut an, von ihm umarmt zu werden. So … so richtig, so wie es sein sollte. Ganz im Gegensatz zu fast allem anderen, was in ihrem Leben geschah. Die meiste Zeit über fühlte sie sich wie ein fremder Eindringling im Körper und im Leben der Cynthia Dempsey. Nur wenn sie Kleider entwarf oder mit Will zusammen war, trat so etwas wie ein Gefühl der Normalität ein. Schon das zeigte ihr, dass es richtig war, es noch einmal mit Will zu versuchen.

Als sie schließlich ihren Kopf zurückzog, flüsterte sie: „Vielen, vielen Dank.“ Sie hoffte, er merkte nicht, wie sehr Kuss und Umarmung sie erregt hatten.

„Gern geschehen“, gab er lächelnd zurück. „Wenn ich geahnt hätte, dass du so auf eine Nähmaschine reagierst, hätte ich dir schon vor zwei Jahren eine geschenkt. Oder wenigstens vergangene Woche.“

Noch immer umarmten sie sich, und Cynthia wusste nicht recht, ob sie sich noch einen weiteren Kuss von ihm wünschte – oder lieber nicht. „Ich … ich habe schon die Gebrauchsanweisung studiert“, stotterte sie.

Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. „Donnerwetter. Du bist ja wirklich eifrig.“

Die wenigen Zentimeter, die jetzt zwischen ihnen lagen, genügten, um Cynthia wieder zur Besinnung zu bringen. Sie entschloss sich, beim Thema Nähmaschine zu bleiben. „Ja, ich glaube, morgen früh könnte ich schon loslegen. Was meinst du, könnten wir heute Abend noch einen kleinen Einkaufstrip machen? Ich würde mir noch gerne das nötige Material besorgen. Du weißt schon, Stoffe, Garn, Knöpfe und so weiter.“

„Klar, warum nicht? Ich wollte dich heute Abend sowieso zum Essen ausführen. Vorher können wir shoppen gehen. Ich ziehe mich nur noch eben um.“

Weil die meisten Geschäfte schon bald schließen würden, beeilten sie sich und nahmen ein Taxi in den Garment District, Manhattans Modeviertel. Bei der Firma Mood ließ sich Cynthia beraten und bekam alles, was ihr Herz begehrte, während Will draußen auf sie wartete und einige berufliche SMS schrieb. Nach einer halben Stunde hatte sie alles beisammen. Was in eine Trage­tasche passte, nahm sie gleich mit, der Rest sollte am folgenden Tag geliefert werden.

Seit dem schrecklichen Unfall hatte sie sich noch nie so gut gefühlt, so aufgeregt im positiven Sinne. Eine ganz neue Welt schien sich vor ihr aufzutun. Die Vergangenheit war ihr verschlossen, aber das war ja vielleicht sogar besser so. In diesem Moment sah ihre Zukunft jedenfalls rosarot aus.

„Na, hast du den Laden leergekauft?“, fragte Will.

„Noch nicht ganz. Aber vielleicht nächste Woche.“

„Es ist gut, ein Ziel zu haben“, kommentierte er lächelnd. „Wie sieht’s aus, wollen wir jetzt essen gehen?“

„Ja, gern. So langsam könnte ich wirklich was vertragen.“

„Ein paar Straßen weiter gibt’s ein Steakhaus, das ich schon lange mal ausprobieren wollte. Ist das okay für dich?“

„Ja, bestens.“

Will nahm ihr die Tragetasche ab, und sie machten sich zu Fuß auf den Weg zum Restaurant. Als sie es betraten, stellte es sich als viel edler und exklusiver heraus, als Cynthia gedacht hatte. Sie war eher schlicht angezogen und fürchtete, in Jeans und Pullover hier unangenehm aufzufallen. Doch Will drängte sie mit sanfter Gewalt hinein.

„Für meine Klamotten ist das hier zu exklusiv“, flüsterte sie ihm zu.

„Ach was, das geht schon in Ordnung“, versicherte er ihr. Der Oberkellner wies ihnen einen Zweiertisch in einer ruhigen Ecke zu. Hier saß man sehr gemütlich, und die dezente Beleuchtung ließ eine romantische Atmosphäre aufkommen. Fast zu romantisch für Cynthias Geschmack. Denn unweigerlich musste sie ständig daran denken, wie es wohl wäre, Will näherzukommen, seine Haut zu spüren …

„Es ist wirklich nett hier“, kommentierte sie verlegen.

„Finde ich auch“, erwiderte er und lehnte sich zurück. „Ich bin froh, dass wir uns entschlossen haben, dieses Restaurant auszuprobieren.“

„Wie war’s heute auf der Arbeit?“, fragte Cynthia. Krampfhaft suchte sie nach einem Thema, das sie auf andere Gedanken brachte. Das sie ablenkte von diesem Impuls, Will zu berühren …

„Nicht besonders aufregend. Ach ja, ich habe mich heute mit deinem Vater getroffen.“

Dieses Thema war wie geschaffen, um sie abzukühlen. „Ja, meine Mutter hatte erwähnt, dass ihr zusammenkommen wolltet. Wie geht es ihm?“

„Gut. Wir mussten noch ein paar Details klären, was unser gemeinsames Projekt angeht. Wenn alles klappt, wollen wir damit im Frühjahr auf den Markt kommen.“

„Was plant ihr da eigentlich genau?“

„Es ist ein E-Reader. Die Firma deines Vaters hat einen neuen Touchscreen entwickelt, der so leicht, dünn und preiswert ist, dass irgendwann jeder einen haben wird. Wir planen sogar, diese E-Reader neuen Abonnenten der Observer-Digitalausgabe, die sich für eine gewisse Mindestlaufzeit verpflichten, gratis dazuzugeben.“

„Ist deine Zeitung in Schwierigkeiten?“

„Nein, uns geht’s noch gut. Gott sei Dank. Qualitätsjournalismus zahlt sich auf lange Sicht aus, sage ich immer. Aber es gibt genügend andere Zeitungen, die schwer zu kämpfen haben. Liegt alles am Internet. Wir bieten ja schon seit Jahren Online-Abonnements an, aber ich glaube, der wirklich große Trend im Verlagswesen, der jetzt erst im Kommen ist, sind die E-Reader. Da sollen der Observer und die Dempsey Corporation ganz oben mitmischen. Immer aktuell, immer zeitgemäß. Dafür kämpfe ich.“

Cynthia nickte verständnisvoll, obwohl sie seinen Enthusiasmus nicht ganz teilte. Sie liebte es, ein Buch oder auch eine Zeitung in der Hand zu halten, das Papier zu spüren – irgendein Gerät, so praktisch es auch sein mochte, konnte ihr dieses Gefühl nicht ersetzen. Aber das ist ja Geschmackssache, dachte sie, für die beiden Firmen hört es sich auf jeden Fall gut an. Wenn Will damit großen Erfolg hat, wird er sich anschließend vielleicht auch ein wenig mehr Ruhe gönnen. Na ja … oder auch nicht.

„Wollten wir deswegen heiraten, wegen eures gemeinsamen Projekts?“

Will betrachtete nachdenklich sein Weinglas. „Deshalb habe ich dir keinen Antrag gemacht, nein.“

„Aber deshalb hast du an den Hochzeitsplänen festgehalten, obwohl ich so ein Miststück war.“

„Wir hatten beide unsere Gründe für eine Heirat. Wenn auch sicher nicht die richtigen.“

„Dieses gemeinsame Projekt scheint doch sowohl dir als auch meinem Vater Vorteile zu bieten. Warum sollte dann die Heirat nötig sein, um es unter Dach und Fach zu bringen?“

„Dein Vater arbeitet nun mal am liebsten mit Verwandtschaft, weil er der Meinung ist, nur der Familie kann man wirklich trauen. Als ich unsere Verlobung gelöst habe, war mir absolut klar, dass es das Ende des Projekts bedeuten könnte.“

„Und wenn unser Neustart jetzt nicht funktionieren sollte … Würde das Scheitern des Projekts dein Unternehmen in den Ruin treiben?“

„Das ganz sicher nicht. Ich kann allerdings auch nicht behaupten, dass es besonders hilfreich wäre.“

„Ich … Ich könnte mit meinem Vater reden. Ich meine, schließlich bin ich der Grund dafür, dass unsere Verlobung geplatzt ist. Dafür sollte er nicht dich und all deine Angestellten bestrafen.“

„Danke, das ist wirklich süß von dir. Aber ich glaube, so einen heldenhaften Rettungsversuch braucht es noch nicht.“

Will ergriff ihre Hand. Wie schön sich das anfühlte! Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen, um die Berührung so richtig zu genießen. Aber das wagte sie nicht, weil er sie direkt ansah.

„Warum sollte unser Neustart denn nicht funktionieren?“, fragte er und lächelte dabei verführerisch.

Er klang so selbstsicher, dass ihre Zweifel am Neubeginn fast verschwanden.

Aber nur fast.

5. KAPITEL

„Du hast sie geküsst?“

Alex schrie die Frage geradezu heraus, und Will zuckte zusammen. „Nicht so laut, Mensch!“ Will sprang auf und schloss sicherheitshalber die Bürotür. „Hier haben die Wände Ohren. Das muss ja nicht jeder mitkriegen.“

„Für Außenstehende ist das doch keine tolle Neuigkeit. Du hast deine Verlobte geküsst, na und? Dass sie in Wirklichkeit nicht mehr deine Verlobte ist, weiß doch nur ich.“ Alex schmunzelte. „Allerdings warst du bei unserem letzten Gespräch noch ziemlich sicher, dass du sie verlässt, sobald sie wieder auf dem Damm ist. Was hat sich denn da geändert?“

Will setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Nichts. Und alles.“

„Irgendwie habe ich mir gleich gedacht, dass so was passiert.“

„Hm. Es ist schwer zu erklären, aber irgendwie hat sie, wie soll ich sagen, eine Wirkung auf mich wie noch keine andere Frau zuvor.“

„Dann bleibst du also bei ihr?“

„Nein. Ja. Fürs Erste auf jeden Fall. Selbst wenn sie morgen früh aufwacht und wieder die alte Furie ist, gehe ich, sobald sie wieder gesund ist. Wir haben uns ja darauf verständigt, einen Neuanfang zu versuchen, aber ich habe immer noch meine Zweifel. Auf lange Sicht sehe ich eine Katastrophe auf mich zukommen.“

„Warum hast du sie dann geküsst?“

Will seufzte. „Weil ich es wollte. Vor dem Flugzeugunglück hatte ich kein Bedürfnis mehr danach. Null. Aber jetzt … jetzt funkt es irgendwie zwischen uns. Weil sie so anders ist – eine ganz neue Frau. Süß und lieb. Sie kann sogar lachen, Alex.“

„Sie lacht?“

„Ja, jetzt, wo sie sich wieder eingelebt hat, sprüht sie geradezu vor guter Laune – ganz im Gegensatz zur alten Cynthia. Und wenn sie glücklich ist, bin ich auch glücklich. Ich habe ihr sogar eine Nähmaschine gekauft.“

„Eine Nähmaschine? Wozu das denn?“

„Weil ich ihr damit eine Freude machen wollte, und das ist mir gelungen. Sie hat den ganzen Werbekram aus ihrem Arbeitszimmer geworfen und näht jetzt fleißig Kleider.“

„Soll das ihr neuer Beruf werden?“

„Schätze schon. Mit ihrem Gedächtnis hat sie auch ihr Talent für die Werbung verloren, und ich habe ihr geraten, sie soll in sich horchen, was ihr Spaß macht. Und Mode zu entwerfen macht sie glücklich.“

„Was wiederum dich glücklich macht. Also … wo ist das Problem?“

„Es ist einfach falsch!“, rief Will und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. „Ich wollte weg von ihr, und jetzt fängt sie mich wieder ein. Was ist denn, wenn das Ganze ein teuflischer Plan von ihr ist? Als ich die Verlobung gelöst habe, hat sie immer beteuert, wir kriegen das Ganze wieder in den Griff. Nicht mal ihren Verlobungsring wollte sie abnehmen, bevor wir noch einmal miteinander gesprochen hätten. Vielleicht … vielleicht täuscht sie das Ganze nur vor.“

„Du glaubst allen Ernstes, sie tut nur so, als hätte sie ihr Gedächtnis verloren?“

„Ganz ehrlich – das würde ich ihr zutrauen. Denk nur daran, wie lange sie mich an der Nase herumgeführt und belogen hat.“

„Will, die Frau ist bei einem Flugzeugunglück fast ums Leben gekommen. Es hat viele Tote gegeben. Nicht mal Cynthia könnte so etwas vorhersehen. Oder planen.“

Will runzelte die Stirn. Natürlich hatte Alex recht. Seine Gedankengänge grenzten ja schon an Verfolgungswahn! „Verflixt noch mal. Da siehst du, wie sehr mich das alles durcheinanderbringt.“

Alex erhob sich und ging zu Wills Hausbar hinüber. „Möchtest du einen Drink?“

„Nein, aber nimm dir ruhig einen.“

Alex goss sich einen doppelten Scotch ein und stellte sich an das große Panoramafenster, das einen überwältigenden Ausblick auf New York bot. „Ich finde, du hast das Ganze falsch angefangen.“

„Na, dann klär mich mal auf.“

Alex ging zu seinem Stuhl zurück und setzte sich wieder. „Du hast ihr einen Neuanfang angeboten, aber trotzdem schleppst du den ganzen alten Ballast noch mit dir rum. Vergiss das alles einfach. Deine schlechte Vergangenheit mit Cynthia. Das Projekt mit Dempsey Corporation. Ja, vergiss sogar, dass ihr verlobt wart.“

Das war eine ganze Menge auf einmal. „Na schön …“

„So, alles vom Tisch? Dann stell dir jetzt nur eine Frage: Willst du sie?“

Die Antwort fiel ihm nicht schwer. „Ja.“

„Und? Was machst du sonst, wenn du was willst?“

„Ich hole es mir.“

„Und wenn du es nicht gleich bekommst, kämpfst du darum. Weißt du noch, an der Uni, als du unbedingt Präsident der Studentenvertretung werden wolltest? Du hast Wahlkampf gemacht bis zum Umfallen. Und als du Captain des Poloteams werden wolltest? Du hast dich mehr eingesetzt als jeder andere auf dem Platz. Cynthia hätte damals jeden haben können. Aber du hast sie erobert. Du bist gut darin, Dinge zu erreichen. Und wie ist die Lage jetzt? Sie scheint an dir interessiert zu sein, und du bist an ihr interessiert. Wo also ist das Problem?“

„So einfach ist das nicht, mein Alter. All das, was ich beiseitelassen soll … das kann ich nicht so einfach vergessen.“

„Himmel, ihr sollt es doch einfach nur miteinander versuchen. Das kann doch nicht schaden.“

Oh doch, es konnte Will durchaus schaden – wenn er sich zu sehr auf Cynthia einließ. Er hatte ja schließlich keine Amnesie, er wusste nur zu gut, wozu sie imstande war.

Aber wenn er sein Herz aus der Sache heraushielt, würde es vielleicht gehen. Es wäre schließlich gut für das geplante Geschäft mit ihrem Vater. Und er würde abends möglicherweise sogar gerne nach Hause kommen. „Man müsste es einfach versuchen“, murmelte Will.

„Siehst du“, bekräftigte Alex und nahm einen Schluck von seinem Scotch. „Ich an deiner Stelle würde loslegen und sie verführen. Und es dann so lange wie möglich genießen. Wenn sie ihr Gedächtnis zurückbekommt und ihr euch dann wieder hasst – dann kannst du immer noch gehen.“

„Und wenn sie ihr Gedächtnis nicht zurückbekommt?“

„Dann lebt ihr glücklich bis an euer Ende. So einfach ist das.“

Bei Alex war immer alles einfach. Will stand auf, ging zur Hausbar und goss sich auch einen Scotch ein.

Eigentlich hatte Alex gar nicht so unrecht. Will hatte Cynthia zwar vergeben, doch innerlich hielt er sich immer noch zurück. Das war weder ihr noch ihm selbst gegenüber fair. Nein, ab jetzt würde er sich mehr auf sie einlassen – natürlich ohne sich richtig in sie zu verlieben. Ewig würde das zwischen ihnen nicht halten, aber warum sollte er es nicht genießen, solange es gut ging?

Ein paar Tage hatte Cynthia über den Entwürfen und den anschließenden Näharbeiten geschwitzt. Doch jetzt war sie fertig und hatte sich ihr erstes selbst geschneidertes Kleid gleich angezogen.

Selbstkritisch drehte sie sich vor dem Spiegel. Es war ein Kleid im Retro-Stil, mit vielem aus der Hillbilly-Zeit und einem Hauch von Achtzigerjahre-Chic. Ob es nun jedem gefallen würde, wusste sie nicht, auf jeden Fall war es originell. Zumindest auf der Upper West Side hatte sie noch niemanden gesehen, der so etwas trug.

Während sie sich im Spiegel betrachtete, ertönte plötzlich ein anerkennender Pfiff. Sie fuhr herum.

Will stand im Türrahmen und musterte sie lächelnd. Was er sah, gefiel ihm. „Na, das ist mal ein Anblick.“

„Gefällt’s dir?“, fragte sie und drehte sich für ihn.

„Und wie. So ein Kleid habe ich noch nie gesehen.“

„Bin gerade vor ein paar Minuten damit fertig geworden.“

Will zog eine Augenbraue in die Höhe. „Du meinst … du hast das Kleid selbst geschneidert? Ich dachte, du hättest es dir neu gekauft.“

„Nein, das ist mein erstes Modell Marke Eigenbau.“

„Da bin ich aber platt! Ich weiß noch, als meine jüngere Schwester Nähen an der Maschine gelernt hat – das hat ewig gedauert. Und ihr erstes selbst genähtes Kleid hat ausgesehen wie ein rosaroter Kartoffelsack.“

Cynthia nickte. Sie war selbst überrascht, wie schnell sie sich ins Schneiderhandwerk eingearbeitet hatte – es war ihr geradezu zugeflogen. Als ob sie jahrelang nichts anderes gemacht hätte, was natürlich Unsinn war, sie war ja Werbefachfrau. Irgendwie komisch.

„Auf jeden Fall habe ich etwas gefunden, das mir liegt und mir wirklich Spaß macht. Am liebsten würde ich sofort an mein nächstes Kleid gehen. Ich habe mir schon überlegt, ob ich das Kleid für die Party selber schneidern soll.“

„Richtig, die große Party deiner Mutter. Ganz Manhattan redet schon davon. Dann musst du dir aber wirklich was Hübsches einfallen lassen, weil Fotos von dir und deiner Kreation garantiert in Zeitungen und auf News-Websites auftauchen werden.“

Ach ja, dachte Cynthia, das vergesse ich immer wieder. Ich gehöre ja zur High Society, und jede Menge Fotografen werden auftauchen. Wenn ich wirklich ernsthaft Modedesignerin werden will, wäre diese Party ein gutes Sprungbrett.

Es konnte natürlich auch passieren, dass sie sich mit ihrem Entwurf lächerlich machte. In dem Fall würde sie wohl als Grüßaugust oder Frühstücksdirektorin in der Firma ihres Vaters enden. Wer war sie eigentlich, dass sie glaubte, aus dem Stand heraus eine erfolgreiche Modeschöpferin werden zu können?

„Vielleicht ziehe ich doch lieber was aus meinem übervollen Kleiderschrank an“, erwiderte sie kleinlaut.

„Das geht gar nicht“, erwiderte Will und kam auf sie zu. „Du kannst auf keinen Fall was anziehen, das du vorher schon mal getragen hast. Entweder kaufst du dir ein neues Kleid – oder du schneiderst dir eins. Und ich finde, du solltest dir eins schneidern. Bei deinem Talent werden den Gästen die Augen übergehen.“

Cynthia errötete. „Hör auf, du alter Schmeichler.“

„Ich meine das ernst“, erwiderte Will und nahm sie in die Arme.

Ihr wurde ganz heiß. So reagierte sie immer, wenn er ihr nahe kam, wenn er sie berührte, und so schön das auch war – es gab ihr ein schier unlösbares Rätsel auf. Denn ihre körperliche Reaktion war etwas Urtümliches, von Herz und Hormonen gesteuert, nicht vom Verstand. Es hatte nichts mit ihrer Amnesie zu tun. Aber warum hatte sie dann eine Affäre gehabt? Sie konnte doch nicht so für Will empfinden und gleichzeitig Interesse an einem anderen Mann haben?

Fest presste Will sie an sich. „Ich glaube, ich habe meinen ersten Fan“, scherzte sie.

„Den hast du.“ Er küsste sie.

Bei allen bisherigen Küssen hatte er sich – wie in einem inneren Zwiespalt – immer zurückgehalten. Nicht so heute Abend. Seine Zunge eroberte ihren Mund, erst langsam, dann immer fordernder. Mit den Händen strich er ihr über den Körper. Voller Verlangen schlang sie ihm die Arme um den Nacken und presste sich an ihn. Deutlich konnte sie seine Erregung spüren.

Schwer atmend umfasste Will ihren Po und drückte ihren Körper noch enger an seinen. Er löste seine Lippen von ihren und begann, ihren Hals zu liebkosen.

Genussvoll stöhnte Cynthia auf. Ihr war, als hätte sie so etwas noch nie empfunden. Die Intensität riss sie fort und raubte ihr den Verstand. Ehe sie sich versah, hatte Will ihr Kleid geöffnet und glitt mit den Händen unter ihren BH, um ihre Brüste zu streicheln.

Erregt schnappte sie nach Luft, während er ihre Haut mit tausend kleinen Küssen bedeckte und sich mit den Lippen langsam zum Tal zwischen ihren Brüsten vorarbeitete. Behutsam zog er das Dessous aus feinster Spitze beiseite und nahm eine ihrer schon harten Brustspitzen in den Mund. Unwillkürlich stöhnte sie auf. Sie fuhr mit ihren Fingern in seine Haare und zog ihn ganz dicht an sich. Am liebsten hätte sie ihn nie wieder losgelassen.

Voll atemloser Spannung spürte sie, wie Will ihr nun das Kleid hochschob und mit der Hand zwischen ihre Schenkel glitt. Sie war aufs Höchste angespannt. All ihre Zweifel, ob es gut war, sich noch einmal auf Will einzulassen, hatten sich in Luft aufgelöst. Nur noch eines zählte: hier und jetzt mit ihm zusammen zu sein.

Als er die feuchte Wärme zwischen ihren Schenkeln erkundete, explodierte sie fast vor Begehren. Er streichelte sie voller Zärtlichkeit, aber das war nicht genug. Bei Weitem nicht genug.

„Will, bitte …“, flüsterte sie.

„Ja …?“, fragte er leise. „Sag mir, was du willst, Cynthia.“

Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als sie ihn diesen Namen sagen hörte. Sicher, er hatte ihn schon tausendmal gesagt, aber gerade in diesem intimen Moment kam es ihr irgendwie falsch vor. Sie wollte nicht, dass er sie so nannte. Doch ihr Widerstand schmolz dahin, als er mit den Fingern ihre empfindsamste Stelle zu liebkosen begann.

„Ich … ich will dich …“, stöhnte sie.

Genau in diesem Moment klingelte das Telefon. Erst dachte sie, es wäre sein Handy – sie hätte es wegen der unliebsamen Unterbrechung am liebsten quer durch den Raum geschleudert. Doch dann sah sie, dass es das schnurlose Telefon auf dem Tisch war. Auf dem Display wurde die Nummer des Anrufers angezeigt – genau die Nummer, die ihr am allerwenigsten passte! Das Entsetzen war ihr ins Gesicht geschrieben, sie konnte sich nicht verstellen. Sie konnte nicht so tun, als wüsste sie nicht, wer da anrief.

Sofort ließ Will von ihr ab. Ihre Beine zitterten so sehr, dass sie sich nur mit Mühe aufrechthalten konnte. Als sie ihm in die Augen sah, war da keine Spur mehr von Begehren. Er hatte die Zähne zusammengebissen, und sein Gesicht lief rot an. Doch offenbar war er nicht bereit, seinen Zorn auszusprechen.

Stattdessen wandte er sich um und verließ das Apartment. Krachend fiel die Tür ins Schloss.

Kraftlos ließ Cynthia sich zu Boden sinken und verbarg den Kopf in den Händen. Das Telefon klingelte immer noch, schrill und gnadenlos. Voller Wut packte sie es und warf es mit solcher Wucht gegen die Wand, dass es zersprang. Jetzt war Ruhe, aber es war zu spät.

Nigel hatte wieder angerufen. Und ganz offensichtlich hatte auch Will die Nummer erkannt.

6. KAPITEL

Als Will auf die Uhr sah, war es bereits nach zehn. Ganz schön lange ging er jetzt schon auf und ab, hin und her, um sich abzureagieren. Um sich darüber klarzuwerden, was er jetzt tun sollte. Die nächtliche Kälte kroch durch die Kleider und ließ ihn frösteln. Aber er war ja selber schuld. Das war seine Strafe, weil er so dumm gewesen war!

Fast hätte er es getan. Fast hätte er sich zu sehr gehen lassen. Nur weil Alex ihm geraten hatte, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Und was war dann passiert? Ihr Liebhaber hatte angerufen!

Selbst darüber hätte er im Zweifelsfall noch hinweggesehen. Cynthia konnte ja nichts dafür, wenn der Mann anrief. Aber Will hatte gehofft, sie würde die Nummer nicht erkennen. Sonst erkannte sie doch auch nichts und niemanden!

Doch der Schreck in ihrem Gesicht hatte alles gesagt. Ihre weit aufgerissenen Augen. Sie hatte ganz genau gewusst, wer da anrief. Und dass der Mistkerl genau zur falschen Zeit anrief. Will hatte vor Wut fast keine Luft mehr bekommen. Deswegen war er aus dem Apartment und nach draußen an die frische Luft gestürmt. Sonst wäre er vielleicht noch an seiner Wut erstickt.

Cynthia hatte keinen ihrer Freunde wiedererkannt, ja, nicht mal ihre eigenen Eltern. Er selbst war für sie ein Fremder gewesen – obwohl sie zwei Jahre verlobt gewesen waren. Sie hatte ja nicht einmal mehr gewusst, dass sie Hot Dogs mochte, um Himmels willen! Aber ihren Liebhaber, seine Telefonnummer – die kannte sie.

War das der vereinbarte Neuanfang? Nein, nein, er hatte ganz recht, wenn er ihr nicht über den Weg traute. Tief in ihr lauerte immer noch die Frau, die ihn betrogen hatte.

Will setzte sich auf eine Bank. Er fror, seine Füße schmerzten, und sein Magen knurrte. Bisher hatte er das Hungergefühl ignoriert. Genau wie sein Handy, das mehrfach geklingelt hatte.

Nach dem Flugzeugunglück hatten sie sich eine zweite Chance geben wollen. Ihr Liebhaber und die Streitereien sollten der Vergangenheit angehören. Aber gerade als er diese Chance ernsthaft hatte ergreifen wollen, hatte sie alles kaputt gemacht. Auf der anderen Straßenseite blinkte verführerisch der Neonschriftzug einer Bar. Komm doch rein, Will, schien er zu locken.

Ein Drink wäre jetzt nicht schlecht – aber im Endeffekt änderte der ja auch nichts. Will war niemand, der seine Sorgen im Alkohol ertränkte. Er war ein Mann der Tat. Und er wusste, dass er auch jetzt etwas tun musste. All diese Probleme ließen sich nur lösen, wenn man miteinander sprach. Also ging er zurück zum Apartmenthaus.

Als er die Wohnung betrat und das Licht einschaltete, sah er zuerst das zerschmetterte Telefon auf dem Boden. Offenbar hatte sie an dem Gerät ihre Wut ausgelassen.

Er ging durch den Flur zum gemeinsamen Schlafzimmer, das er seit ihrer Rückkehr noch nicht wieder benutzt hatte. Er hatte es ihr überlassen, damit sie sich in Ruhe wieder einleben konnte, und war selbst ins Gästezimmer ausgewichen.

Heute betrat er es zum ersten Mal wieder. Er tastete sich zu seinem Nachtschränkchen vor und schaltete die Lampe an. Cynthia schlief, um sie herum lagen zusammengeknüllte Papiertaschentücher. Sie musste geweint haben. In letzter Zeit war sie ungeheuer gefühlvoll. Das kannte er gar nicht von ihr!

Behutsam berührte er sie am Arm. „Cynthia …“

Ganz langsam öffnete sie die Augen und blickte ihn verschlafen an. Dann kroch sie zum Kopfende des Bettes, setzte sich auf, zog die Knie hoch und schlang – wie zum Schutz – ihre Arme herum.

Will setzte sich auf die Bettkante, sah Cynthia aber nicht ins Gesicht. „Warum ruft Nigel wieder an?“ Er fragte das ganz sachlich, so unbeteiligt wie möglich. Wenn er anfing zu schreien, würde sie wahrscheinlich emotional dichtmachen.

„Ich weiß es auch nicht. Zum ersten Mal hat er an dem Tag angerufen, als ich aus dem Krankenhaus gekommen bin. Du warst gerade unterwegs, um das Essen zu holen. Er hat mit mir gesprochen, als müsste ich wissen, wer er ist, aber ich hatte keine Ahnung. Nachdem ich eins und eins zusammengezählt hatte, war es mir natürlich klar.“ Bedauernd schüttelte sie den Kopf und riss vor Nervosität eines der Papiertaschentücher in kleine Fetzen. „Immer wieder hat er angerufen und mich gedrängt, ihn zu treffen.“

Sie begann, leise zu weinen, und am liebsten hätte Will sie in die Arme genommen und getröstet. Doch er hörte auf seinen Verstand und ließ es bleiben. Wer wusste denn schon, ob sie ihn mit ihren Tränen nicht nur manipulieren wollte? Auf keinen Fall sollte sie merken, wie wichtig sie ihm in den vergangenen Tagen geworden war.

„Ich wollte ja neu anfangen. Das, was gewesen war, konnte ich nicht ungeschehen machen – aber für die Zukunft konnte ich der Sache einen Riegel vorschieben. Deshalb habe ich ihm gesagt, dass ich mich auf keinen Fall mit ihm treffen würde. Und dass er nie wieder anrufen soll.“

Will ballte die Hände zu Fäusten. Er hätte ihr ja nur zu gerne geglaubt, aber wie oft war sie in der Vergangenheit unaufrichtig zu ihm gewesen? „Warum hast du mir das nicht erzählt? Wenn man neu anfängt, gehört doch auch Ehrlichkeit dazu.“

„Ich wollte einfach einen Schlussstrich, ich wollte das Ganze nicht noch mal aufwärmen. Und zuerst hat er ja auch Ruhe gegeben. Dann allerdings gingen irgendwann die Anrufe wieder los. Aber wenn ich seine Nummer auf dem Display sehe, gehe ich einfach nicht ran.“

„Wenn ich nur wüsste, ob ich dir wirklich vertrauen kann, Cynthia. Ich würde es so gerne, aber dabei sind solche Vorkommnisse natürlich nicht sehr hilfreich.“

Sie setzte sich zu ihm auf die Bettkante. Ihre Nähe erregte Will. Komisch, selbst in diesem Moment, wo er sie eigentlich hassen sollte, fühlte er sich zu ihr hingezogen.

„Du hast keinen Grund, mir zu vertrauen“, sagte sie. „Und ich habe keinen Grund, dir zu vertrauen. Wir sind Fremde. Aber ich will mehr. Ich will, dass das zwischen uns wächst, dass es funktioniert. Und ich sehe nur eine Möglichkeit, dich von meiner Aufrichtigkeit zu überzeugen.“

Will sah, wie sie sich den Verlobungsring vom Finger zog. Einen Augenblick lang hielt sie ihn gegen das Licht und betrachtete sein Funkeln. „Er steht mir nicht zu. Du hast ihn einer anderen Frau gegeben. Er ist ein Symbol für unsere Vergangenheit und für alles, was zwischen uns schiefgelaufen ist.“

Schweigend überreichte sie ihm den Ring. „Ich weiß, du machst dir Sorgen, dass ich eines Morgens aufwache und plötzlich wieder die alte Cynthia bin. Aber ich verspreche dir, selbst wenn ich morgen mein Gedächtnis zurückbekomme, will und werde ich mich ändern. Ich möchte gerne, dass wir es zusammen schaffen – mit Amnesie oder ohne.“

Von Anfang an hatte Will gewusst: Wenn sie ihr Gedächtnis zurückbekäme, wäre es mit der guten Beziehung vorbei. Das hatte er für sich selbst als Grund genommen, eine gewisse Distanz zu ihr zu wahren. Doch jetzt riss sie mit ihrem Versprechen auch noch diese Mauer ein.

„Lass uns auf den Ruinen unserer alten Beziehung eine neue aufbauen“, fuhr sie fort. „Wir können ausgehen, uns neu kennenlernen. Alle anderen sollen ruhig denken, wir wären weiterhin verlobt, auch mein Vater.“ Sie ergriff seine rechte Hand, in der er den Ring hielt. „Und wenn … falls … du mir den Ring eines Tages zurückgeben willst – dann nehme ich ihn gerne.“

Angespannt versuchte Cynthia, in Wills Gesichtszügen zu lesen, aber sie gaben nichts preis. Würde sie bald mutterseelenallein auf der Straße stehen, mit zweihundert Paar Schuhen im Gepäck?

„Okay“, willigte er ein. Er klang dabei nicht besonders glücklich, eher besorgt. Aber das konnte sie verstehen, denn sie hatte ihn ganz offensichtlich tief verletzt. Wenn sie öfter etwas miteinander unternahmen, würden vielleicht irgendwann die neuen Erinnerungen die alten überdecken. Es würde Zeit brauchen, aber sie würden es extra langsam angehen, um auch wirklich alles richtig zu machen.

„Ich freue mich schon darauf, dich richtig kennenzulernen“, sagte sie lächelnd. „Was ich bisher von dir mitbekommen habe, gefällt mir auf jeden Fall schon mal sehr gut.“

Jetzt lächelte auch er. „Ich bin schon lange nicht mehr mit einer Unbekannten ausgegangen“, scherzte er. „Vielleicht bin ich ein bisschen eingerostet.“

„Das geht schon in Ordnung“, gab sie achselzuckend zurück. „Ich kann mich an überhaupt keine Dates aus meiner Vergangenheit erinnern. Das heißt, ich bin bestimmt leicht zu beeindrucken.“

Als er auflachte, wurde ihr ganz warm. Wie sexy sein Lachen klang!

„Es beruhigt mich, dass du keine überzogenen Erwartungen hast“, sagte er und küsste sie auf die Wange. Dann erhob er sich. „Gute Nacht. Schlaf gut.“

Am liebsten wäre es ihr gewesen, er wäre noch geblieben und sie hätten mit ihren Berührungen von vorhin weitergemacht, aber sie wusste, das wäre nicht klug gewesen. Immerhin, sie hatten sich ausgesprochen und wieder vertragen, und das war ein gutes Zeichen. „Gute Nacht“, erwiderte sie. Er verließ das Schlafzimmer und zog die Tür hinter sich zu.

Natürlich war sie jetzt viel zu aufgedreht, um zu schlafen. Vorhin war sie weinend ins Bett gegangen, weil sie sicher gewesen war, alles ruiniert zu haben. Jetzt aber hing der Himmel wieder voller Geigen. Alles würde gut werden! Aufgeregt wälzte sie sich hin und her. Eine Stunde lang.

Als ihr klar wurde, dass sie in absehbarer Zeit nicht einschlafen würde, stand sie auf und schlich den Flur entlang zu ihrem Arbeitszimmer. Hier wollte sie an ihren Entwürfen weiterarbeiten. Die Nähmaschine würde sie lieber nicht einschalten, um Will nicht zu wecken.

Sie wollte ihr eigenes Kleid für die Party ihrer Mutter entwerfen – das war im Moment das Wichtigste. Immerhin sollte es ihre Visitenkarte sein, eine Empfehlung für zukünftige Kunden, weil Fotos von ihr in diesem Kleid bestimmt in Zeitungen und auf Society-Websites veröffentlicht werden würden.

Es gab noch einen weiteren Grund dafür, dass das Kleid perfekt werden musste – sie wollte für Will gut aussehen.

Will war wirklich ein attraktiver Mann. Kein aalglatter Schönling wie so viele männliche Models in den Zeitschriften, aber er hatte alles, was ein Mann in ihren Augen haben sollte. Er war kultiviert, entschlusskräftig, selbstsicher. Sie hatte ihn schon in Business-Anzügen und in Freizeitkleidung gesehen, aber sie war sehr gespannt darauf, wie er im Smoking aussehen würde.

Sicher blendend. Und wenn er sie dann noch gewinnend anlächelte, würde sie förmlich dahinschmelzen, das wusste sie schon jetzt … Umso wichtiger war es, dass sie ihm auch etwas fürs Auge bot.

Stundenlang saß sie am Zeichentisch, skizzierte Entwürfe und knüllte sie frustriert zusammen. Ihr Papierkorb quoll schon über.

Dann endlich, wie ein Geistesblitz, tauchte das Kleid vor ihrem inneren Auge auf. Schnell brachte sie es zu Papier.

Etwas ratlos streifte Will am nächsten Tag nach Dienstschluss durch die Straßen. Dass er aus der Übung war, was Dates anging, war nicht gelogen gewesen. Seine Highschool- und Collegezeit lagen nun ja schon ein paar Jährchen zurück, und nach Cynthia hatte es keine andere Frau mehr für ihn gegeben.

Die alte Cynthia hatte nicht viel von Romantik gehalten – mit einem kostbaren Schmuckstück hatte man ihr stets eine größere Freude gemacht. Aber die neue Cynthia? Was würde die von ihm erwarten? Wahrscheinlich nicht einmal viel. Aber das machte es eher noch schwieriger. Er wollte es sich nicht zu leicht machen, nur weil sie vermutlich problemlos zufriedenzustellen war.

Schließlich entschied er sich in einem Blumenladen für einen Rosenstrauß. Zufrieden mit seiner Wahl fuhr er nach Hause.

Diesmal schloss er die Tür zum Apartment nicht selber auf, sondern klingelte. Von innen hörte er Schritte, dann öffnete Cynthia die Tür.

„Hast du deine Schlüssel vergessen?“, fragte sie, dann fiel ihr Blick auf den Blumenstrauß in seiner Hand. „Oh“, sagte sie und lächelte verzückt.

„Ich wollte dich heute Abend zum Essen ausführen.“ Er hielt ihr den Blumenstrauß entgegen. „Hier, die sind für dich.“

„Die sind aber schön. Vielen Dank. Warte, ich stelle sie schnell in eine Vase, und dann mache ich mich fertig.“

„Ich habe uns einen Tisch für um sieben bestellt. Was meinst du, schaffst du das?“

Cynthia schaute auf ihre Armbanduhr. „Doch, bestimmt. Dann muss ich mich jetzt aber beeilen.“

Will setzte sich auf die Couch und wartete. Zu seiner Überraschung war Cynthia schon nach einer Viertelstunde fertig. Die alte Cynthia hätte bestimmt zwei Stunden gebraucht!

„Du siehst großartig aus“, lobte er.

„Danke. Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte …“

„Nein, nein, es ist perfekt. Und wenn wir jetzt losfahren, sind wir vielleicht sogar ein bisschen zu früh da.“

Sie nahmen sich ein Taxi und fuhren zu dem Restaurant, bei dem Will einen Tisch bestellt hatte. Es war ein italienisches Restaurant der gehobenen Kategorie, aber keines, das bei der High Society momentan besonders angesagt war. Er hatte es extra so ausgesucht, damit sie ungestört sein konnten und niemand sie erkannte. Das hätte nur Fragen aufwerfen können – zum Beispiel, warum Cynthia ihren Verlobungsring nicht mehr trug.

Will suchte für sie einen Wein aus, weil sie nicht mehr wusste, was ihr schmeckte. „Nur nicht zu schwer sollte er sein“, gab sie ihm vor.

Er nahm ein Stück von dem Weißbrot, das in einem Körbchen lag. „Normalerweise würde ich bei einem ersten Date erst mal die Frau ein bisschen ausquetschen“, erklärte er lächelnd. „Wie sie ist, was sie mag, wo sie herkommt und so. In deinem Fall geht das wohl schlecht. Du kennst die Antworten ja nicht.“

Cynthia lachte. „Frag mich ruhig was. Wir werden ja sehen, was dabei rauskommt.“

„Okay. Es muss natürlich etwas sein, wo es nicht auf die Erinnerung ankommt. Wie wäre es damit: Welche drei Dinge würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen?“

„Oh, das ist schwer. Wenn für die Grundbedürfnisse, also für Nahrungsmittel, gesorgt ist, würde ich sagen: ein paar Bücher, einen Skizzenblock mit Stift und einen MP3-Player mit Solarbatterie. Und du?“

Er dachte einen Moment nach, dann schüttelte er den Kopf. „Ob du’s glaubst oder nicht, mir fällt nichts ein. Ich wüsste wirklich nicht, was ich mit so viel freier Zeit anfangen würde.“

„Was machst du denn sonst so, um Spaß zu haben?“

„Um Spaß zu haben? Ich arbeite. Das ist alles. Manchmal bringt Alex mich dazu, mit ihm eine Partie Racquetball zu spielen. Und du hast mich früher ab und zu ins Theater oder zu einer Party mitgeschleppt. Das wär’s dann auch schon.“

„Hat deine Zeitung nicht ein paar VIP-Plätze im Baseballstadion?“

„Die Karten verschenke ich immer an Kunden und Freunde.“

„Interessierst du dich nicht für Sport?“

„Doch, aber irgendwie passt es zeitlich immer schlecht. Außerdem hattest du nie Interesse daran, mit mir ein Spiel zu besuchen, und Alex hatte nie Zeit. Entweder hatte er ein Date, oder er war auf Reisen, oder er hatte beruflich zu tun.“

„Wenn die nächste Saison anfängt, würde ich gerne mal ein Baseballspiel mit dir besuchen. Ich könnte mir vorstellen, dass das Spaß macht.“

„Na klar, können wir gerne machen. Du mit Bier und Hot Dog auf der Zuschauertribüne – das wird ein ganz ungewohntes Bild für mich sein. Sonst noch irgendwas, was du gerne machen würdest?“ Er lächelte verschmitzt. „Ich meine, falls es überhaupt zu einem zweiten Date kommt.“

„Bowling ist bestimmt auch lustig“, sinnierte sie. „Oder sich die Stadt ansehen – wie ein ganz normaler Tourist. Diese Erinnerungen fehlen mir nämlich auch total. Ich fühle mich wie eine Fremde hier.“

„Du würdest dir also die Freiheitsstatue und den Times Square ansehen?“

„Genau. Und mir eines von diesen T-Shirts mit dem Aufdruck I love New York kaufen.“

Will musste lachen. Die Frau ihm gegenüber überraschte ihn wirklich jeden Tag aufs Neue. Sie besaß Humor und Lebensfreude und hatte auch an einfachen, ganz normalen Dingen Spaß. Vielleicht hatte sie sich ja tatsächlich endgültig geändert. In diesem Fall würde er auch wagen, zu seinen Gefühlen ihr gegenüber zu stehen.

„Du weißt ja, dass ich viel und lange arbeiten muss, aber wenn du Freude daran hast, zwacke ich mir ein paar Stunden für eine Sightseeing-Tour mit dir ab.“

„Warum arbeitest du überhaupt so viel?“

Will brach ein Stück von dem Brot ab und dachte einen Augenblick nach. „Als ich die Zeitung von meinem Vater übernommen habe, brauchte ich einfach viel Zeit, um mich einzuarbeiten, um das richtige Gefühl für das Blatt zu entwickeln. Später dann war die Stimmung bei uns zu Hause nicht mehr so gut, da war es eine angenehme Alternative, sich in der Arbeit zu vergraben. Ja, und irgendwann wurde die viele Arbeit zu meinem Lebensstil.“

„Hast du denn niemanden, an den du einige Aufgaben delegieren könntest?“

„Doch, doch, habe ich. Aber ich bin gerne mittendrin und entscheide so viel wie möglich selbst. Nichts fände ich schlimmer, als der große Boss im Elfenbeinturm zu sein, der über allem thront und von nichts wirklich Ahnung hat.“

„Trotzdem. Man muss doch auch mal abschalten. Berufliches und Privates trennen. Was würdest du zum Beispiel sagen, wenn ich dich darauf aufmerksam mache, dass es unhöflich ist, ständig sein Handy auf neue SMS zu checken? Selbst dann, wenn wir so gemütlich beisammensitzen wie hier.“

Will musste ihr recht geben – das tat er tatsächlich bei jeder Gelegenheit, auch wenn es unpassend war. Demonstrativ zog er das Handy aus der Tasche und schaltete es auf stumm. „Ist es so besser? Ich werde mir Mühe geben, nicht alle drei Minuten aufs Display zu gucken.“

„Auf jeden Fall schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. Wann hast du das letzte Mal Urlaub gehabt?“

„Am Montag nach dem Flugzeugunglück habe ich mir freigenommen.“

Cynthia runzelte die Stirn. „Das ist doch kein Urlaub. Ich meinte so etwas wie am Strand liegen und einen kühlen Drink zischen.“

Angestrengt dachte er zurück. „Das war, als wir in Yale unseren Abschluss gemacht haben. Mein Dad hat uns beiden zur Belohnung eine Woche auf Antigua spendiert.“

„Das muss ja so lange her sein, dass es kaum noch wahr ist. Und in Zukunft? Hast du irgendwas in dieser Richtung für die Zukunft geplant?“

„Nur unsere Flitterwochen“, antwortete er. „Zwei Wochen Bali. Wir hatten uns eine dieser kleinen Privathütten über dem Wasser gebucht.“

Will konnte nicht anders, er musste sich bildlich vorstellen, wie er mit ihr am Strand lag. Er wusste ja, dass sie nicht gerade glücklich darüber war, dass sie seit dem Flugzeugunglück an Gewicht zugelegt hatte – aber ihn störte das überhaupt nicht, im Gegenteil. Ihre Brüste waren voller, ihre Hüften runder, und das gefiel ihm sehr gut. Er träumte schon davon, sie mit Sonnenöl einzureiben. Mit ihr schwimmen zu gehen. Ein ungeheuer verführerischer Gedanke!

„Sonne, Sand und Meer … wie traumhaft“, sinnierte sie. „Wir sollten wirklich etwas in der Richtung machen. Es müssen ja nicht unbedingt zwei Wochen Bali sein. Aber irgendwas, das dich von deiner Arbeit losreißt und mich von der Einsamkeit im Apartment erlöst.“

„Unbedingt“, stimmte er zu. Auf jeden Fall musste es etwas mit Strand sein. Und er würde ihr einen knappen Bikini in Pink kaufen – so viel stand schon mal fest.

In diesem Moment kam der Kellner mit ihren Bestellungen. „Oh, wow, sieht das gut aus“, freute sich Cynthia über ihre Pastaplatte und probierte sofort. Schmunzelnd sah Will ihr zu.

Alles an Cynthia faszinierte ihn. Vielleicht lag es daran, dass sie so knapp dem Tod entronnen war, dass schon kleine Dinge sie so glücklich machten. Er nahm sich vor, ihr noch vieles Neues zu zeigen und sie mit Geschenken zu überhäufen – nicht nur, weil sie es verdient hatte, sondern auch, weil sie all das wirklich zu schätzen wusste. Er würde mit ihr eine Sightseeing-Tour durch die Stadt machen und auch mit ihr in die Sonne fliegen, sobald die Ärzte grünes Licht für so eine Reise gaben. Falls sie nach dem Unglück Angst vorm Fliegen hatte, würde er eben eine Yacht chartern. Aber all das hatte noch ein wenig Zeit.

Heute Abend, wenn sie wieder zu Hause waren, würde er ihr erst einmal etwas anderes zeigen. Die Freuden der körperlichen Liebe.

7. KAPITEL

Während des Essens merkte Cynthia schon, dass sich zwischen ihnen etwas geändert hatte. Immer wieder musterte Will sie verstohlen. Sein Blick verriet ihr, dass er auf etwas ganz anderes Appetit hatte als auf Pasta. Eigentlich hatte sie zum Nachtisch noch Tiramisu probieren wollen, aber vielleicht würde sie darauf verzichten. Denn so viel war klar: Direkt nach dem Essen würde es sofort nach Hause gehen.

Und das war ihr mehr als recht!

Als sie im Fahrstuhl des Apartmenthauses standen, wurde Cynthia zusehends nervöser. Sie war ja keine Jungfrau mehr, aber sie kam sich genauso unerfahren vor. Wie sollte sie sich verhalten, was sollte sie tun? Sie ging davon aus, dass Will ein guter und zärtlicher Liebhaber war, aber sie wollte, dass auch er es genoss. Hoffentlich hatte er im Zweifelsfall Verständnis und dachte nicht, dass sie einfach schlecht im Bett war.

Und ihre körperliche Verfassung? Sicher würde er unwillkürlich Vergleiche zu früher ziehen. Auch das bereitete ihr Sorgen. Sie wusste ja, dass sie heute fülliger war, das bewiesen ihre vielen Kleider. Würde er enttäuscht sein, wie ihr Körper sich verändert hatte? Was war, wenn er das Licht anlassen wollte? Sie wusste nicht, ob sie dafür mutig genug sein würde.

Will ergriff ihre Hand und führte sie den Flur entlang zum Apartment. Als sie eingetreten waren, schloss er die Tür von innen und ging dann ins Wohnzimmer.

Als er das Licht einschalten wollte, hielt Cynthia seine Hand fest. „Lass uns doch lieber den Kamin anzünden“, schlug sie vor. Das flackernde Feuer würde im Gegensatz zum elektrischen Licht ihre kleinen Unvollkommenheiten gnädig verbergen.

Will nickte nur stumm und bereitete alles vor. Er wies auf den weichen Vorleger vor dem Kamin und bedeutete Cynthia, sich hinzusetzen. Sie tat es und streifte ihre Schuhe ab. Als das Feuer knisterte, verschwand Will in der Küche und kam ein paar Minuten später mit zwei Gläsern zurück. „Hast du in deinem neuen Leben schon Champagner ausprobiert?“

„Nein“, erwiderte sie, während er sich neben sie setzte.

„Dann auf diese neue Erfahrung“, sagte er und hob sein Glas. „Und auf ein paar andere neue Erfahrungen, die dir hoffentlich gefallen werden.“

Sie errötete und hoffte, er würde es im Feuerschein nicht merken. Vorsichtig nippte sie am Champagner und fand den Geschmack sehr angenehm. Sie nahm noch einen Schluck. Wärme durchflutete ihren Körper und ließ die Anspannung, die sie empfunden hatte, seit er sich neben sie gesetzt hatte, weichen.

„Schmeckt er dir?“, fragte Will. Er stellte sein halb leeres Glas auf den Couchtisch und rückte näher an sie heran.

„Ja, sehr gut.“ Für sie war der Champagner wie flüssiger Mut. In einem Zug leerte sie den Rest des Glases.

„Das freut mich.“ Er beugte sich zu ihr, strich ihr zärtlich übers Haar – und dann küsste er sie, ganz sanft. Sie fühlte sich wie verzaubert und genoss es, seine warmen Lippen auf ihren zu spüren.

Plötzlich fühlte sie seine Hand auf ihrem Schenkel. Er begann, sie vorsichtig zu streicheln und ihren Rock höher zu schieben. Seine Zärtlichkeit ließ ein Feuer in ihr lodern, das in ihr die Sehnsucht weckte, auch ihn zu berühren. Sie strich ihm über den breiten Brustkorb, aber das Hemd, das zwischen ihrer Hand und seiner Haut lag, störte sie. Sie wollte ihn richtig spüren, ohne Barrikade aus Stoff. Also machte sie sich daran, nach und nach sein Hemd aufzuknöpfen.

Als sie unten bei seinem Hosenbund angekommen war, strich sie ihm zärtlich über den Bauch, und er stöhnte genussvoll auf. Durch seine Reaktion ermutigt zog sie ihm das Hemd aus der Hose und streifte es von ihm, sodass sein Oberkörper nackt war.

Ja, diesen Anblick hatte sie sich ersehnt. Die Schatten des flackernden Kaminfeuers betonten seine Muskeln. Sie konnte nicht anders, sie musste ihn berühren, sanft mit den Fingern über seine Haut streichen. Als sie von der Brust aus abwärts wanderte und sich seinem Bauchnabel näherte, ergriff er ihre Hand. „Noch nicht“, flüsterte er.

Erneut küsste er sie, und voll atemloser Spannung spürte sie, wie er sich nun seinerseits an ihrer Bluse zu schaffen machte und sie Knopf für Knopf öffnete. Schließlich streifte er ihr die Bluse ab und strich ihr sanft über den Rücken. Mit einer geschickten Bewegung öffnete er den Verschluss ihres BHs. Schnell zog er ihn ihr aus und umfasste voller Leidenschaft ihre Brüste mit den Händen.

Als er zärtlich ihre Brustspitzen zu verwöhnen begann, durchrieselte es sie warm. Die Wärme breitete sich in ihrem gesamten Körper aus und schien sich besonders zwischen ihren Schenkeln zu sammeln. Fordernd presste sie sich an ihn, auch mit den Hüften, aber das war bei Weitem nicht genug, um das immer stärkere Begehren zu befriedigen.

Behutsam öffnete Will ihren Rock und presste sich an sie, wobei er sie vorsichtig nach unten drückte, bis sie auf dem weichen Vorleger lag. Im flackernden Feuerschein sah sie sein Gesicht, das pures Verlangen widerspiegelte. Er konnte gar nicht die Augen von ihr lassen, und das machte sie unendlich glücklich.

In diesem Moment lösten sich all ihre Unsicherheiten in Luft auf, und sie sonnte sich in dem Gefühl, begehrt zu werden. Nun spürte sie seine Lippen an ihrem Hals, auf ihrer Brust, und während er eine ihrer Brustspitzen in den Mund nahm und daran zu saugen begann, streifte er ihr den Rock und den Slip ab. Dann löste er sich von ihr, um auch sich vollständig auszuziehen.

Im Halbdunkel sah sie, wie er aus der Hose, die er eben abgelegt hatte, ein Kondompäckchen zog. Nachdem er sich das Kondom übergestreift hatte, widmete er sich wieder ihrem Körper. Er sah ihr tief in die Augen, während er seine flache Hand über ihren Bauch gleiten ließ und schließlich mit den Fingern zwischen ihre Schenkel glitt.

Behutsam schob er ihr die Beine auseinander und begann, sie zu verwöhnen. Sie stöhnte auf, stieß vor Erregung heisere Schreie aus. Eigentlich wollte sie ihn weiter ansehen, während er sie streichelte, aber dann schloss sie doch unwillkürlich die Augen, um sich ganz auf die überwältigenden Gefühle konzentrieren zu können.

Begierig streckte sie ihm ihre Hüften entgegen. Eine elektrisierende Lust wie diese hatte sie noch nie empfunden. Doch noch immer, obwohl es kaum möglich schien, steigerte sich diese Lust. Cynthia hatte Hunger auf mehr.

„Will“, flüsterte sie. Sie hatte ihren Körper kaum noch unter Kontrolle und konnte sich gar nicht vorstellen, dass es noch schöner werden könnte – doch sie wusste, da gab es noch mehr. Sie wollte ihn ganz, wollte ihn in sich spüren. „Bitte …“

Will sah ihr tief in die Augen, während er ihre Schenkel weiter auseinanderdrückte. Dann drang er behutsam in sie ein. Er füllte sie so sehr aus, dass sie aufstöhnte. Das Lustgefühl war kaum zu ertragen. Wie hatte sie sich diesen Augenblick herbeigesehnt!

Am liebsten hätte sie ihn fest mit den Beinen umklammert und nie wieder losgelassen, aber das tat sie nicht, um ihn in seinen Bewegungen nicht zu behindern. Er begann ganz langsam, fast quälend langsam, gleichzeitig beugte er sich herunter, um eine ihrer Brustwarzen in den Mund zu nehmen und daran zu saugen.

„Oh, Will …“, keuchte Cynthia und klammerte sich an seine Schultern. In ihr baute sich der Höhepunkt auf, zu schnell, viel zu schnell. Sie wollte, dass es immer so weiterging, aber alles steuerte auf das Finale zu.

Er ließ von ihrer Brust ab und küsste ihren Mund. Der salzige Geschmack ihrer eigenen Haut lag noch auf seinen Lippen. Wie benommen klammerte sie sich an ihn, während er sich immer schneller bewegte und mit stetig anwachsender Kraft in sie drang. Jede einzelne Sekunde brachte neue Hochgefühle, bis sie es kaum noch aushielt.

Es schien ihm besonderen Genuss zu bereiten, sie in ihrer Ekstase zu betrachten, ihr Gesicht mit dem geöffneten Mund, ihren Brustkorb, der sich voller Erregung hob und senkte. Noch einmal legte er an Tempo zu, dann konnte sie nicht mehr an sich halten, musste loslassen und sich dem überwältigenden Gefühl hingeben.

„Jaaa …!“, rief sie, als der Höhepunkt sie durchpulste. Sie schoss geradezu von ihrer weichen Unterlage hoch, presste ihm wild ihr Becken entgegen, während Welle um Welle der Lust sie überrollte. Unartikuliert schrie sie seinen Namen heraus, und auch er hielt sich nun nicht länger zurück und ließ sich gehen.

Schwer atmend und eng umschlungen lagen sie anschließend einfach nur da, unfähig, sich zu rühren. So etwas Überwältigendes, so etwas Unglaubliches hatte Cynthia noch nie erlebt. In Wills Armen zu sein, so mit ihm verbunden zu sein, hatte ihr nicht nur höchste Lust beschert, sondern auch einen unerwarteten inneren Frieden, eine Erlösung und Befreiung.

Zwar ging sie im Stillen davon aus, dass es für Will nur Sex gewesen war, keine Liebe, aber es war ein Anfang. Und, wer weiß, dachte sie, wenn es zwischen uns irgendwann wirklich Liebe ist, wird es vielleicht noch wunderbarer, auch wenn das kaum vorstellbar ist. Auf jeden Fall war unser erstes Date ein voller Erfolg.

„Wir haben es gleich nach dem ersten Date miteinander getan“, sagte sie lachend und immer noch schwer atmend. „Das heißt, ich bin ein ganz schön böses Mädchen.“

Behutsam klopfte Will an die Tür ihres Arbeitszimmers. „Cynthia …?“ Er hörte, wie das Surren der Nähmaschine verklang.

„Ja …?“, rief sie durch die geschlossene Tür.

„Wir gehen aus“, verkündete er. Seit Tagen hatte Cynthia ihr Arbeitszimmer kaum verlassen. Aber heute Abend würden sie etwas unternehmen, ob es ihr gefiel oder nicht. Das hatte sich Will fest vorgenommen. Zur Not musste sie eben in einem halb fertigen Kleid zur Party gehen.

„Ich glaube nicht, dass ich …“, wollte sie widersprechen, aber als er am Türknauf rüttelte, sprang sie auf, und er hörte ihre Schritte. „Lass die Tür zu, ich komme!“

Sie kam heraus und schloss die Tür schnell hinter sich. „Du weißt genau, dass du das Kleid nicht sehen sollst, bevor es fertig ist“, erinnerte sie ihn.

„Cynthia, du hast in den vergangenen Tagen eindeutig zu viel gearbeitet. Und wenn ich das sage, will das schon was heißen. Ich führe dich heute Abend aus.“

„Ich habe wirklich keine Zeit“, widersprach sie und wollte sich zurückziehen.

„Wenn du da wieder reingehst, komme ich hinterher und trage dich wieder raus. Allerdings erst, nachdem ich mir genau dein Kleid angesehen und dir damit die Überraschung verdorben habe.“

Cynthia seufzte resigniert. „Na schön, eine kleine Abwechslung könnte ich vielleicht tatsächlich mal vertragen. Schließlich komme ich ganz gut voran.“

„Freut mich, dass du Vernunft annimmst. Ich ziehe mich noch kurz um, dann können wir los.“

„Dann ziehe ich mir auch noch etwas anderes an. Du musst mir nur verraten, wo es hingehen soll, damit ich weiß, wie schick …“

„Wo es hingeht, kann ich dir nicht verraten. Das ist eine Überraschung. Aber du kannst so bleiben, wie du bist. Nur nichts Feierliches.“

Als er zurückkam, trug er Jeans und ein graues Polohemd und schien sich in diesem Aufzug pudelwohl zu fühlen. Im Flur schnappten sie sich noch ihre Mäntel, dann verließen sie das Apartment.

„Ich vermute mal, dass wir heute nicht in einem Vier-Sterne-Restaurant speisen?“, fragte sie lächelnd.

„Das hast du sehr gut erkannt.“

„Ist mir auch ganz recht. Ich bin so erschöpft, dass ich keine Lust mehr hätte, auf die Tischregeln in einem Luxustempel zu achten. Welche Gabel man zuerst nimmt und so.“

„Freut mich, dass wir in dieser Sache einer Meinung sind.“

„Also, wohin geht’s?“

„Netter Versuch“, erwiderte er lächelnd. „Aber ich verrate nichts.“

Sie würde sich also gedulden müssen. Dabei hielt sie es vor Neugier kaum noch aus!

Sie nahmen ein Taxi, und er wies den Fahrer an, sie zu einem kleinen Pizzarestaurant im Theaterdistrikt zu fahren. An Cynthias Miene konnte er ablesen, dass sie nicht unbedingt begeistert war. Sicher, das Lokal wirkte anspruchslos und sogar ein bisschen schmuddelig, aber er wusste, dass es hier die beste Pizza der Stadt gab. Und nach zwei großen fetttriefenden Stücken musste Cynthia ihm recht geben.

Nach dem Essen gingen sie ein paar Häuserblocks zu Fuß bis zur 42. Straße. Jedes Mal, wenn sie an einem der zahlreichen hier ansässigen Theater vorbeikamen, blickte sie ihn erwartungsvoll an, aber er ging stur weiter. Heute gab es kein Theaterstück und kein Musical.

Dann endlich hatten sie die Stelle erreicht, an der ein großer Doppeldeckerbus mit offenem Verdeck hielt. Sofort begriff sie. Eine nächtliche Stadtrundfahrt!

Begeistert und dankbar gab Cynthia ihm einen Kuss auf die Wange. „Da hast du genau das Richtige ausgesucht“, lobte sie ihn. Während der Fahrt stellte sie ihm tausend Fragen, die er nach bestem Wissen und Gewissen beantwortete. Er fand die Stadt bei Nacht wunderschön, aber zusammen mit Cynthia war sie noch viel schöner.

Nach rund zwei Stunden hatten sie ganz Manhattan gesehen, und der Bus setzte sie in der Nähe des Times Square ab. Während sie fasziniert auf die strahlenden Leuchtreklamen blickte, überraschte Will sie mit einem „I love New York“-T-Shirt und einem Hot Dog.

Sie spazierten eine Weile herum, und als sie ihren Snack vertilgt hatte, drängte sie ihn in das riesige vierstöckige Toys-„R“-Us-Geschäft, das innen sogar ein Riesenrad beherbergte. Damit wäre er freiwillig zwar nicht unbedingt gefahren … aber ihre Begeisterung war ansteckend!

„Musstest du unbedingt die Mein-kleines-Pony-Kabine für mich aussuchen?“, klagte er anschließend, als sie wieder in die Nacht hinaustraten. „Ich hätte lieber in einer etwas männlicheren Kabine gesessen.“

„Was ist denn verkehrt daran, in einer rosa Kabine mit Pferdchen, Regenbogen und Wolken zu fahren?“

„Nichts – wenn man ein fünfjähriges Mädchen ist“, grummelte er.

„Wo bleibt denn deine Lust, neue Erfahrungen zu sammeln?“

„Die muss ich in meiner anderen Hose gelassen haben.“

„Apropos Hose“, merkte Cynthia an. „Ich finde, in Jeans siehst du richtig gut aus. Du wirkst gleich viel entspannter als im teuren Anzug.“

Will zuckte mit den Schultern. Er fühlte sich zwar wirklich entspannt, aber nicht wegen der Jeans. Er hatte es heute gewagt, sein Handy auszuschalten. Kurz vor Feierabend hatte er seinen Stellvertreter Dan gewarnt, dass er heute auf sich allein gestellt war. Aber der Junge musste sich ja auch mal freischwimmen.

Es war Will nicht leicht gefallen, gewissermaßen den Stecker zu ziehen, aber schon nach ein paar Minuten hatte er das Gefühl gehabt, dass sein Blutdruck sich wohltuend senkte. Cynthia sollte ruhig wissen, welche schier übermenschlichen Opfer er für sie brachte. Deshalb verkündete er stolz: „Ich habe heute mein Handy ausgemacht. Extra für dich.“

„Du hast es nicht nur auf stumm geschaltet, sondern wirklich abgestellt?“, fragte sie ungläubig.

„Ja, kannst mal sehen.“ Eigentlich komisch, dass es ihr noch gar nicht aufgefallen war, weil es sonst fast unablässig piepte oder klingelte. Andererseits war die Stadt auch zu dieser späten Stunde noch so laut und belebt, dass man die Geräusche hätte überhören können.

„Donnerwetter. Wie ist es denn zu diesem Sinneswandel gekommen?“

„Du sagst doch immer, dass ich zu viel arbeite. Deshalb wollte ich mal ausprobieren, ob ich das etwas reduzieren kann. Ich greife zwar immer noch unwillkürlich nach dem Handy und starre aufs ausgeschaltete Display, aber es ist ein erster Schritt.“

Cynthia lächelte. „Wer weiß, irgendwann bist du vielleicht sogar so weit, dass du Urlaub nimmst und auch das Leben außerhalb des Büros zu genießen lernst.“ Sie schlang ihm die Arme um den Hals. „Ich weiß das wirklich zu schätzen, Will. Mir ist ja klar, wie wichtig der Observer für dich ist.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ja, aber Menschen sind auch wichtig. Ich versuche jetzt abzuschalten, meine Zeit mit dir hier zu genießen.“ Er zog sie an sich und küsste sie.

Als ihre Lippen sich berührten, schienen die Lichter und der Lärm der Stadt zu verschwinden. Es gab nur noch ihn und sie, eng umschlungen.

Plötzlich wurde Will bewusst, dass sie mitten auf dem Bürgersteig standen. Etwas verschämt zog er Cynthia in eine Mauernische zwischen zwei Läden und drückte sie behutsam gegen die Wand.

Hier hatte er das Gefühl, dass sie etwas leidenschaftlicher werden konnten. Sein Kuss wurde stürmischer, und Cynthia schmiegte sich so eng an ihn, dass sie seine Erregung spüren konnte. Vorsichtig glitt er mit der Hand unter ihre Jacke und umfasste ihre Brust.

„Entschuldigung, Sir, würden Sie das bitte lassen?“

Erschrocken fuhr Will herum. Er entdeckte einen Polizisten auf einem Pferd, der ihn und Cynthia streng anblickte. Der Mann schüttelte den Kopf, als er in ihre Gesichter sah. Vielleicht hätte er eher Verständnis gehabt, wenn die beiden noch Teenager gewesen wären, aber zwei erwachsene Menschen …

„Die Stadt ist sehr bemüht, den Times Square familienfreundlich zu halten“, knurrte der Polizist. „Da ist es nicht so angemessen, wenn Sie beide sich in aller Öffentlichkeit so benehmen, als ob Sie zu Hause kein Bett hätten.“

„Alles klar, Officer“, sagte Will gespielt zerknirscht und versuchte, sich ein Lächeln zu verkneifen.

„Schön, dass wir uns verstehen, Sir“, erwiderte der Polizist, tippte sich an die Mütze und machte sich mit seinem Pferd wieder auf den Weg.

Will wandte sich wieder Cynthia zu, aber er wagte es nicht, sie noch einmal zu küssen. Denn dann, das war ihm klar, würde es kein Halten mehr geben. „Ich glaube, wir fahren lieber nach Hause, bevor wir hier auf offener Straße etwas anfangen, was uns in den Knast bringt.“ Er trat an den Straßenrand und winkte nach einem Taxi.

Als der Wagen vor ihnen hielt, öffnete Will ihr die Tür. „Los, ab ins Taxi. Du kleines Luder.“

8. KAPITEL

Obwohl die letzten Tage recht schnell vergangen waren, hatten sie Will doch eine Menge Selbstbeherrschung abverlangt. Cynthia war für ihn wie ein Kunstwerk im Metropolitan Museum of Modern Art gewesen: Er durfte sie nur angucken, nicht anfassen. Denn alle Energie und jede freie Minute hatte sie in ihr Kleid gesteckt. Sein Begehren war derweil immer größer und unerträglicher geworden.

Jeden Morgen, das hatte sich so eingebürgert, frühstückten sie gemeinsam, bevor er sich auf den Weg zur Zeitung machte und sie in ihrem Arbeitszimmer verschwand. Wenn er abends nach Hause kam, lockte er sie fürs Abendessen kurz von der Nähmaschine weg. Doch kaum waren die Teller abgeräumt, verschwand sie wieder, um an ihrem Kleid weiterzuarbeiten.

Manchmal unternahm er schwache Versuche, sie zu verführen, und mit etwas mehr Mühe hätte er wohl auch Erfolg gehabt, davon war er überzeugt. Doch er verstand ihr Pflichtbewusstsein und ihren Ehrgeiz. Dieses Kleid war so wichtig für sie wie seine Zeitung für ihn. Es sollte gewissermaßen ihr Gesellenstück werden, und deshalb wollte er ihr nicht ihre Konzentration rauben.

Oft hatte er nachts wachgelegen, das Surren der Nähmaschine gehört und sich gewünscht, Cynthia möge jetzt sofort in seine Arme kommen … Zum Glück sollte es mit der erzwungenen Enthaltsamkeit nun bald vorbei sein. Heute Abend fand die Party statt, und Cynthias Meisterstück würde aller Welt präsentiert werden.

Selbstkritisch betrachtete Will sich im Spiegel. Die Haare waren gekämmt, der Smoking saß perfekt. Alles in Ordnung, so konnte er unter die Leute.

Bei Cynthia hingegen schien es nicht so glatt zu gehen. Sie war jetzt schon seit über einer Stunde im Badezimmer. Erst hatte er Wasser rauschen gehört, dann das Geräusch des Föhns. Und dann war Stille eingetreten. Gott im Himmel wusste, was sie so lange da drinnen trieb! Er war froh, dass er ein Mann war, der sich um Make-up und all diesen Schnickschnack nicht zu kümmern brauchte.

Mit einem Blick auf die Uhr stellte er fest, dass sie noch gut in der Zeit lagen. Natürlich nur, wenn Cynthia bald fertig würde. In ein paar Minuten würde unten eine Limousine vorfahren und sie abholen. Wieder sah er auf die Uhr.

Und dann tauchte Cynthia auf. Ihm blieb fast das Herz stehen.

Er war über ihren Anblick so begeistert, dass er nicht wusste, was er sagen sollte und nur mit offenem Mund dastand – aber das schien ihr als Kommentar zu genügen. Stolz drehte sie sich vor ihm in ihrem neuen Kleid. Es war dunkelgrün und mit Perlen besetzt, betonte ihre Kurven und ließ einen verlockenden Blick auf ihren Brustansatz zu.

Als Schmuck trug sie ein Smaragdcollier, das er ihr vor Jahren einmal geschenkt hatte. Aber viel mehr als die funkelnden Edelsteine strahlte sie selber.

Er wusste, dass es sie ein wenig bekümmerte, nicht mehr so wie vor dem Unfall auszusehen, aber ihre neue Persönlichkeit und ihr gewinnendes Lächeln machten sie in seinen Augen attraktiver als je zuvor. Und sicher nicht nur in seinen – er war überzeugt davon, dass alle Partygäste begeistert von ihr sein würden.

„Du siehst einfach … umwerfend aus“, brachte er schließlich hervor. „Und das Kleid ist auch nicht übel.“

„Danke“, erwiderte sie und lächelte so verführerisch, dass er sie am liebsten sofort ins Schlafzimmer gedrängt hätte. Aber dafür war keine Zeit. „Tja, dann müssen wir wohl los“, murmelte er.

Als sie auf dem Rücksitz der luxuriösen Limousine saßen, flüsterte er ihr zu: „Du siehst wirklich wunderschön aus. Und ich verrate dir was: Ich werde mich ganz schön zusammennehmen müssen, um dir nicht schon hier im Auto das Kleid vom Leib zu reißen.“

„Dann rücke ich wohl vorsichtshalber lieber etwas zur anderen Seite“, erwiderte sie lächelnd.

„Kommt nicht infrage“, sagte er und legte ihr den Arm um die Schulter. Es gab so viele schöne Sachen, die man zusammen tun könnte, und sie mussten auf diese blöde Party! Würde er das wirklich aushalten – vier, fünf oder gar sechs Stunden, bis er endlich ihren ganzen Körper berühren konnte? Ja, er war geradezu süchtig nach ihr. Es war allmählich an der Zeit, sich das einzugestehen.

„Kann ich dir vielleicht ein Trostpflaster anbieten, damit du die Wartezeit durchstehst?“

„Das hört sich gut an. An was hast du denn da gedacht?“

Lächelnd strich sie ihm über die Wange. „Versprich dir nicht zu viel. Fürs Erste gibt es nur einen Kuss. Als kleinen Vorgeschmack, der dich bei der Stange hält, falls du dich auf der Party zu Tode langweilst.“

Zärtlich küsste sie ihn, und er spürte ihre Zunge in seinem Mund. Er ließ sie die Führung übernehmen, weil er sich nicht hineinsteigern wollte – das hätte ihm das Warten nur noch unerträglicher gemacht.

Die Party, die im größten Veranstaltungsraum eines Hotels stattfand, war äußerst gut besucht. Der komplette Geldadel von New York schien sich hier zu tummeln. Cynthia wäre es am liebsten gewesen, sich unbemerkt unter die Gäste zu mischen, aber ihre Mutter Pauline hatte natürlich andere Pläne. Sie erhob ihre Stimme, bat die Gäste um Ruhe und verkündete, dass ihre Tochter soeben eingetroffen sei.

Natürlich wollten alle Cynthia persönlich begrüßen, und sie wurde immer verlegener. Alle wussten von dem Flugzeugunglück und ihrer Amnesie und stellten sich deshalb noch einmal persönlich mit Namen bei ihr vor. Für sie war es ein unendlich scheinender Fluss wildfremder Personen, und krampfhaft hielt sie sich an Wills Arm fest. Für ihn ein Zeichen, dass er sie in dieser Situation auf keinen Fall allein lassen durfte.

„Oh, Cynthia“, rief eine Frau mit schriller Stimme und umarmte sie. „Du siehst absolut fantastisch aus, meine Liebe.“ Als die Frau Cynthias verständnislosen Gesichtsausdruck sah, hielt sie sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Oh, das hatte ich ganz vergessen. Dein Gedächtnis. Tut mir leid. Ich bin Darlene Winters, die leitende Moderedakteurin des Trend-Now-Magazins. Wir haben für die Anzeigenkampagnen der Zeitschrift jahrelang zusammengearbeitet.“

Cynthia nickte. Die Moderedakteurin einer beliebten Zeitschrift zu kennen konnte für ihre Designerpläne nur von Nutzen sein.

„Ich muss dich erst mal genau ansehen, meine Liebe“, sagte Darlene und trat einen Schritt zurück. „Das Kleid ist wirklich umwerfend. Wer hat es entworfen? Cavalli?“

Vor Aufregung brachte Cynthia kein Wort heraus. Deshalb sprang Will für sie ein. „Das Kleid ist ein original Cynthia Dempsey, Darlene“, erklärte er stolz. „Sie hat es von A bis Z selbst entworfen und geschneidert.“

Darlenes Mimik war nach mehreren Faceliftings und jeder Menge Botox etwas eingeschränkt, trotzdem sah man ihr die Überraschung an. „Du entwirfst jetzt Mode? Das ist ja großartig!“

„Ja“, erwiderte Cynthia, die langsam ihre Fassung zurückgewann. „Ich arbeite gerade an meiner ersten Kollektion. Dieses Kleid ist sozusagen das Kernstück. Ich bin selbst recht stolz darauf, wenn ich so sagen darf.“

„Oh, darauf kannst du wirklich stolz sein, Darling. Hör zu, ich will dich nicht länger aufhalten, du hast bestimmt noch viele Leute zu begrüßen, aber wir sollten nächste Woche telefonieren. Ich will unbedingt wissen, was du noch so planst. Dieses unglaubliche Kleid macht mich neugierig auf mehr.“

Cynthia nickte und sah zu, wie Darlene in der Menge verschwand. „Ist das eben wirklich passiert, oder habe ich das nur geträumt?“, fragte sie Will.

„Keine Sorge, das war alles echt“, erwiderte er und gab ihr einen Kuss. „Nur keine falsche Bescheidenheit, erzähl ruhig allen Leuten von deiner Arbeit. Sie ist wirklich gut, und manchmal ist Mundpropaganda die beste Werbung.“

Dankbar lächelte sie ihn an. Es machte sie glücklich, dass er sich so für sie und ihr Projekt einsetzte.

Das Orchester begann, einen beliebten Song zu spielen, und etliche Paare strömten auf die Tanzfläche. Dafür nahm die Schlange vor der Bar beträchtlich ab. „Komm, holen wir uns einen Drink“, schlug er vor. „Das macht uns das alles hier vielleicht ein bisschen leichter.“

Als sie sich der Bar näherten, erkannte Will die struppige blonde Frisur des Mannes vor ihnen. „Alex?“, fragte er.

Alex drehte sich um. „He, Will, alter Junge.“ Bewundernd musterte er Cynthia. „Und Cynthia. Will hat mir schon erzählt, dass du unter die Designerinnen gegangen bist. Das Kleid ist wirklich fantastisch. Du bist nicht nur strahlend schön, du bist auch noch ungeheuer talentiert.“

Cynthia errötete, und Will schmunzelte. Er wusste, dass Alex, der alte Casanova, sich nie an die Partnerin eines Freundes heranmachen würde. Cynthia war sicher vor ihm. Ganz im Gegensatz zu allen anderen weiblichen Gästen der Party.

„Cynthia?“

Cynthias jüngere Schwester Emma kam herangestürmt. In ihrem sexy Partydress wirkte sie schon recht erwachsen, ja, geradezu verführerisch, obwohl sie noch minderjährig war. Sie nahm Cynthia in den Arm und zog sie mit sich fort, sicher um ihr irgendwelche Jungsgeschichten zu erzählen.

„Wie ich sehe, läuft da wieder was zwischen euch“, kommentierte Alex grinsend, als Cynthia außer Hörweite war.

„Woher willst du das denn wissen?“

Alex musterte Will halb amüsiert, halb besorgt. „Du steckst echt in Schwierigkeiten, Mann.“

„In Schwierigkeiten?“

„Ja, mein Alter, sie hat dich eingefangen. Das merke ich daran, wie du sie ansiehst. Es fehlt nicht mehr viel, und du bist rettungslos verloren.“

Will nahm einen Schluck von seinem Drink, um seine Nerven zu beruhigen. Die Worte seines Freundes hatten ihn verunsichert. Zwar wollte er der Beziehung eine zweite Chance geben, aber er wollte sich emotional nicht Hals über Kopf hineinstürzen.

Grinsend schlug Alex ihm auf die Schulter. „Das ist doch nichts Schlechtes, Mann. Im Gegenteil, es gibt nichts Schöneres, als eine Frau so richtig gut zu finden. Und du siehst wirklich glücklich mit ihr aus. Ich kann nur hoffen, dass du es diesmal auch in vollen Zügen genießt.“

Bevor Will etwas entgegnen konnte, zwinkerte Alex ihm zu und verschwand in der Menge – zweifellos auf der Suche nach leichter Beute.

Cynthia hatte über eine Stunde an Wills Seite verbracht, doch jetzt, nach ein paar Drinks, fühlte sie sich mutig genug, ihm eine Zeit lang seine Freiheit zu lassen und alleine klarzukommen.

Sie stand etwas abseits und nippte an ihrem Wein. Es war ganz schön anstrengend, so viele Gespräche zu führen, und ein wenig Ruhe tat ihr gut.

Plötzlich spürte sie, wie eine Hand sie von hinten am Ellenbogen packte und in eine dunkle Ecke zog. Weil sie dachte, es wäre Will, der Sehnsucht nach ihr hatte, leistete sie keinen Widerstand. Doch dann wandte sie sich um und sah, dass es nicht Will war.

Es war ihr ehemaliger Geliebter Nigel.

Sie erkannte ihn von den Fotos, die sie in ihrem Arbeitszimmer gefunden hatte, obwohl er in natura weit weniger beeindruckend wirkte. Sein dunkelblondes Haar war struppig, er war schlecht rasiert, und den viel zu großen Smoking hatte er bestimmt in letzter Minute geliehen. Auf den Fotos hatte er noch einen gewissen wilden Charme ausgestrahlt, doch in diesem Moment wusste sie wirklich nicht, was sie je zu ihm hingezogen haben könnte.

„Na, haben wir uns aber fein gemacht“, kommentierte er hämisch. „Und so schöne Klunkerchen. Die gibt’s auch nicht auf dem Wühltisch. Ich wette, allein mit dem Geld für das Collier könnte ich drei Jahre lang die Miete für mein Atelier in der Bronx zahlen.“

Noch immer hielt er sie am Ellenbogen fest. „Lass mich gefälligst los“, zischte sie ihn an.

„Damit du zu deinem reichen Verlobten laufen kannst? Nein, lieber nicht.“

„Ich habe dir doch schon am Telefon gesagt, dass ich mich an nichts erinnern kann und nie wieder etwas mit dir zu tun haben will.“ Sie versuchte sich loszureißen, aber er hielt sie fest. „Wie bist du überhaupt hier reingekommen?“

„Ich habe meine letzten hundert Dollar investiert, um diesen Smoking zu leihen und den Empfangsportier zu bestechen“, antwortete Nigel. Sein breites Grinsen verriet, dass er darauf mächtig stolz war.

„Warum? Was willst du?“

Drohend sah er ihr in die Augen. „Ich will die Frau zurück, die ich liebe.“

„Die Frau, die du geliebt hast, gibt’s nicht mehr. Mein Körper mag den Flugzeugabsturz überlebt haben, aber vom Wesen her bin ich jetzt eine andere.“

„Du glaubst also, du kannst mich wegwerfen wie ein benutztes Taschentuch, nur weil ich nicht Will Taylor der Dritte bin?“, knurrte er. „Du hast gesagt, dass du mich liebst.“

In diesem Moment bekam Cynthia fast ein wenig Mitleid mit diesem Mann. Irgendetwas mussten sie ja aneinander gefunden haben, und ihm schien es immer noch überaus wichtig zu sein. Aber sie war jetzt ein neuer Mensch, und nur noch Will zählte. Ihre zweite Chance wollte sie sich nicht kaputt machen lassen.

„Ich weiß nicht, was für eine Art Beziehung du und ich geführt haben, aber eines weiß ich: Sie ist vorbei. Punkt, Schluss, aus. Egal, was ich vielleicht früher gesagt oder versprochen habe, es gilt nicht mehr. Ich werde mit Will neu anfangen.“

Noch immer hielt er sie fest. Es begann allmählich wehzutun.

„Du hast mich benutzt, Cynthia. Und das wird dir noch leidtun.“ Nach dieser Drohung ließ er sie los und stakste mit großen Schritten zum Ausgang.

Cynthia atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Der Mann hatte ihr richtig Angst gemacht! Sie konnte nur hoffen, dass er seiner Drohung keine Taten folgen ließ. Am besten mischte sie sich jetzt wieder unter die anderen. Oder noch besser: Erst holte sie sich auf den Schreck an der Bar etwas Hochprozentiges!

Doch dazu kam es nicht, denn plötzlich eilte ihr Vater heran. „Schatz, ich habe das da eben von Weitem gesehen. Was war denn los? Soll ich lieber die Security rufen?“

Bloß das nicht! Je weniger Aufmerksamkeit der Vorfall bekam, desto besser. „Ach, das war nichts weiter.“

Skeptisch musterte ihr Vater ihren Ellenbogen, der von dem festen Griff immer noch gerötet war. „Das sieht mir aber nicht nach nichts aus.“

„Es war nur ein kleines Missverständnis. Mir geht’s gut. Wo steckt Mutter?“

Achselzuckend ließ er den abrupten Themenwechsel zu. „Bis vorhin war ich noch mit ihr zusammen. Aber dann hat uns diese lästige Frau aus dem Country Club ein Gespräch aufgezwungen, und nach einer Viertelstunde habe ich die Flucht ergriffen.“

Cynthia nickte. „Ich mache mich jetzt mal auf die Suche nach Will. Hoffentlich kann ich ihn überreden, mich nach Hause zu bringen. Ich bin inzwischen nämlich ganz schön erschöpft. Und du solltest vielleicht Mutter aus den Klauen dieser Country-Club-Langweilerin befreien.“

„Ich werde mein Bestes tun“, sagte er und nahm Cynthia in den Arm. Flüsternd fügte er hinzu: „Falls dieser Mann von vorhin dir irgendwie Ärger machen will … Du weißt ja, du brauchst mich nur anzurufen.“

„Du hörst dich ja wie ein Mafiaboss an, Daddy.“ In der Stimme des Paten aus dem Kinofilm raunte sie: „Rocco hatte leider einen kleinen Unfall …“

Ihr Vater musste lachen. „Du verstehst schon, wie ich das meine.“

„Ja, sicher. Aber mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung.“

„Okay. Du siehst heute Abend wunderschön aus, mein Kleines. Ich hoffe, du hattest ein bisschen Spaß.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und machte sich dann widerwillig auf die Suche nach seiner Frau.

Nun endlich ging Cynthia zur Bar und ließ sich – wenig ladylike – einen doppelten Whisky geben. In einem Zug kippte sie ihn hinunter.

Anschließend machte sie sich auf die Suche nach Will. Sie fand ihn in einer ruhigen Ecke, wo er gelangweilt herumstand. „Hallo“, sagte sie lächelnd. „Hast du Spaß?“

„Hält sich in Grenzen“, erwiderte er achselzuckend. „Ich bin allgemein nicht so der Typ für Partys. Ich meine, diese ist natürlich toll, weil sie zu deinen Ehren stattfindet. Trotzdem würde ich dich mindestens genauso gerne mit nach Hause nehmen und mal nachschauen, was sich unter deinem tollen Kleid verbirgt.“

„Das hört sich verlockend an.“

Er blickte auf die Uhr. „Eine Sache wird uns vorher aber nicht erspart bleiben.“

Cynthia zog die Stirn in Falten. „Was meinst du?“

„Die Tanzfläche“, sagte er und hielt ihr galant die Hand entgegen. „Eine Runde müssen wir mindestens drehen, bevor wir uns dünnemachen. Pauline hat immerhin ein ganzes Orchester angeheuert.“

„Ich glaube, ich kann gar nicht tanzen“, vertraute sie ihm an, während er sie Richtung Tanzfläche zog.

„Da mach dir mal gar keine Sorgen. Ich bin auch nicht gerade Fred Astaire.“

Sie gesellten sich unter die anderen Paare. Er legte ihr einen Arm um die Hüfte, ergriff mit der anderen Hand ihre Hand und flüsterte: „Wir machen es so einfach wie möglich.“

Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sie instinktiv die richtigen Schritte machte. Alles hatte sie also doch nicht verlernt. Es war schön, so mit Will zu tanzen! „Der Abend war bestimmt anstrengend für dich, aber du hast dich fantastisch geschlagen“, flüsterte er ihr zu. „Überhaupt bin ich stolz auf dich, wie du seit dem Flugzeugunglück alles gemeistert hast. Du bist eine ganz tolle Lady.“

Glücklich sah sie ihn an. Das war das Schönste, was er je zu ihr gesagt hatte. Vielleicht würden sie ja doch eine gemeinsame Zukunft haben. Eine Zukunft voller Liebe, Leidenschaft und Lachen.

Eigentlich kannte sie Will ja kaum, aber das war ihr egal. Sie wusste, dass er ehrlich, aufrecht und liebenswürdig war. Er hatte sie beschützt und unterstützt wie sonst niemand. Ja, er war ein guter Mann. Einer, der es wert war, geliebt zu werden.

Und sie … liebte ihn!

Am liebsten hätte sie ihm das gleich hier und jetzt auf der Tanzfläche gestanden, in diesem romantischen Moment. Doch sie hatte das Gefühl, dass es dafür noch zu früh war.

Der Abend war für sie eine emotionale Achterbahnfahrt gewesen, aber sie hatte schon eine konkrete Vorstellung davon, wie er enden sollte. In Wills Armen und in seinem Bett. Dort, wo sie sich am wohlsten fühlte, würde sie dann vielleicht auch den Mut aufbringen, ihm ihre Liebe zu gestehen.

„Küss mich“, flüsterte sie, und er leistete der Aufforderung nur zu gerne Folge.

Jetzt schwebten sie geradezu über die Tanzfläche, und ihre innige Verbundenheit verlieh ihnen eine traumwandlerische Eleganz, die Cynthia gar nicht in sich vermutet hätte. Trotzdem wollte sie jetzt keine Minute länger auf der Party bleiben. Sie wollte mit Will Liebe machen.

„Jetzt haben wir genug getanzt“, verkündete sie flüsternd. Mit einem aufreizenden Augenzwinkern fügte sie hinzu: „Du darfst mich jetzt ins Bettchen bringen.“

9. KAPITEL

Als sie in der Limousine saßen, konnten Cynthia und Will es kaum noch erwarten, nach Hause zu kommen. Doch sie wagten nicht, schon im Wagen erste Zärtlichkeit auszutauschen. Einerseits aus Angst, dass sie dann nicht mehr aufhören würden, andererseits befürchteten sie, der Chauffeur könnte etwas merken.

Die Fahrt schien ewig zu dauern, aber dann waren sie endlich im Apartment. Will küsste sie stürmisch, aber sie hielt ihn zurück und begann, sich tanzend zu bewegen. Jetzt begriff er, was sie vorhatte: Sie wollte einen Striptease für ihn aufführen!

Mit eleganten Bewegungen öffnete sie den Verschluss ihres Kleides und ließ es über die Schultern gleiten. Als ihre vollen Brüste zum Vorschein kamen, wurde ihm klar, dass sie keinen BH getragen hatte. Und als das Kleid immer tiefer glitt und schließlich an ihren Füßen lag, sah er, dass sie auch keinen Slip angezogen hatte! Hätte er das schon vor ihrem Aufbruch gewusst, hätten sie vielleicht nie das Apartment verlassen …

Will ließ seine Smokingjacke achtlos zu Boden fallen. Als er begann, sich das Hemd aufzuknöpfen, kam Cynthia ihm zu Hilfe. Sie zog es ihm aus und strich dabei bewundernd über seine muskulösen Oberarme. Dann ließ sie ihre Hände über seinen breiten Brustkorb wandern. Er umarmte sie und spürte dabei ihre vollen und doch wunderbar weichen Brüste auf seiner Haut. Seine und ihre Lippen trafen sich, und ihre Zungen begannen einen wilden Tanz.

Als Will mit einer Hand ihre Brust umfasste, stöhnte Cynthia vor Erregung auf. Schwer atmend presste sie ihren Unterkörper an seinen, spürte durch den Stoff seiner Hose seine mächtige Erregung. Gleichzeitig ließ sie ihre Lippen über seinen Hals wandern und biss ihn dann plötzlich sanft, sodass er überrascht einen kleinen Schrei ausstieß.

Seit ihrer ersten Nacht nach dem Unfall hatte sie ganz offensichtlich an Selbstvertrauen gewonnen, und das fand er ausgesprochen sexy. Plötzlich beugte sich Will vor und nahm die nackte Cynthia auf den Arm. Lachend schmiegte sie sich an ihn und ließ es sich gefallen, dass er sie durch den Flur ins Schlafzimmer trug.

„Wie zuvorkommend und ritterlich Ihr seid, mein Herr“, scherzte sie, als er sie behutsam aufs Bett legte.

Will trat einen Schritt zurück, um die Schönheit, die sich ihm hier so offenherzig präsentierte, zu genießen. Er betrachtete sie als Geschenk – ein Geschenk, das er lange Zeit nicht richtig zu schätzen gewusst hatte. Diese Frau war alles, was er sich nur wünschen konnte. Noch vor ein paar Monaten wäre diese Situation für ihn unvorstellbar gewesen – Cynthia, die nackt und voller Begehren auf ihn wartete, und er, der plötzlich so viel stärker für sie empfand als je zuvor!

Sie war so schön, dass es ihn mit Stolz erfüllte, dass sie zu ihm gehörte. Und so lebendig, so voller Energie, dass es sein sehnlichster Wunsch war, das Leben mit ihr zu verbringen. Mit ihr als seiner Gefährtin, seiner ewigen Geliebten. Ja, Alex hatte recht gehabt. Will hatte sich in ihr verloren. Trotz aller Vorsicht war es geschehen – er hatte sich in sie verliebt. In diese Frau, dank der er jeden Abend so gerne von der Arbeit nach Hause kam, auf die er sich schon auf dem Weg dorthin freute. Mit ihr wollte er das Leben wirklich leben – und nicht nur darüber in der Zeitung schreiben.

Auf einmal konnte er nicht länger warten, er musste sie haben, mit Leib und Seele, jetzt sofort. Schnell entledigte er sich seiner übrigen Kleidungsstücke und ließ sie dabei keine Sekunde aus den Augen.

Gespannt folgte sie jeder seiner Bewegungen, und als er nackt vor ihr stand, seine Erregung deutlich sichtbar, lockte sie ihn mit gekrümmtem Zeigefinger zu sich. Dabei lächelte sie verführerisch.

Dieser Aufforderung leistete Will nur zu gerne Folge.

Mit seinen muskulösen Armen umschlang er sie, und sie genoss seine Wärme, seine Hitze, seine Kraft. Schließlich löste er sich behutsam von ihr und begann, sie zu streicheln, erst ihre Brüste und ihren Bauch, dann wanderte er tiefer. Erst glitten nur seine Hände über ihre Oberschenkel, dann auch seine Lippen, und schließlich drückte er ihr sanft die Beine auseinander, sodass das Zentrum ihrer Weiblichkeit warm und feucht vor ihm lag. Sie begann, vor Erregung zu zittern, während er sie mit Händen und Lippen liebkoste.

Als sie seinen heißen Atem an ihrer empfindlichsten Stelle spürte, glaubte sie, es vor Lust kaum noch auszuhalten. Doch Will steigerte ihren Genuss noch, indem er mit dem Finger behutsam in sie eindrang. Voller Erregung genoss sie das Gefühl, auch wenn es noch nicht ganz das war, was sie sich ersehnte.

Dann begann Will, sie mit der Zunge zu liebkosen, ihre empfindlichste Stelle zu umkreisen, und Wellen der Lust durchströmten ihren Körper. Sie wand sich unter ihm, streckte ihm die Hüften entgegen, um ihn noch intensiver zu spüren, und zog sich wieder zurück, als die Gefühle sie zu überwältigen drohten.

„Ich … ich will dich“, keuchte sie.

„Und du wirst mich auch bekommen“, flüsterte er erregt. „Aber erst habe ich noch etwas anderes vor.“

Sie zitterte vor Lust, als er sie mit Fingern und Zunge immer weiter dem Höhepunkt entgegentrieb. Doch den wollte sie nicht allein erleben, sondern gleichzeitig mit ihm. Sie hatte sich heute Abend eingestanden, dass sie ihn liebte, hatte sich ihm geöffnet, wie sie es kaum für möglich gehalten hätte. Deshalb sollte es mit ihm zusammen geschehen. „Komm … Wir wollen es gemeinsam erleben …“

Will nickte zustimmend, holte aus der Nachttischschublade ein Kondom und streifte es sich über. Anerkennend stellte Cynthia fest, dass er bei aller Leidenschaft einen klaren Kopf behielt und daran dachte. Sie hätte es in ihrer Ekstase glatt vergessen.

Mit einer schnellen Bewegung drang er in sie ein und verharrte dann dort, tief in ihr. Es war ein überwältigendes Gefühl, endlich mit dem Mann verbunden zu sein, den sie so sehr liebte. So überwältigend, dass ihr vor Rührung fast die Tränen kamen. Sie war drauf und dran, es ihm endlich zu sagen, ihm ihre Liebe zu gestehen, doch in diesem Moment begann er, sich in ihr zu bewegen, und die Zeit des Redens war vorüber.

Vorsichtig stützte Will sich auf seinen Ellenbogen ab. Leidenschaftlich küsste er sie, umkreiste mit seiner Zunge ihre Zunge, während er sich kraftvoll bewegte. Haut auf Haut waren sie miteinander verschmolzen. Cynthia spürte, wie er die Muskeln anspannte in dem Bemühen, sich so lange wie möglich zurückzuhalten. Doch sie wollte keine Zurückhaltung. Er sollte ganz er selbst sein, sich ihr öffnen.

„Du sollst mich so lieben, wie du es willst“, flüsterte sie. „Halt nichts zurück.“

Will antwortete nicht, sondern presste sein Gesicht gegen ihren Hals. Sie spürte seinen heißen Atem stoßweise auf ihrer Haut, während seine rhythmischen Bewegungen härter und schneller wurden.

Immer höher wuchs ihre Erregung, bis sich die Erlösung ankündigte. Cynthia schlang Will schwer atmend die Beine um die Hüften, umklammerte ihn. Nun konnte er noch tiefer in sie eindringen, so tief wie nie zuvor.

Es war so weit, sie konnte sich nicht länger zurückhalten. „Will!“, rief sie, als ein langer, harter Stoß sie zum Orgasmus brachte. Sie grub ihre Finger in seinen Rücken, während er noch einige Sekunden in seinen Bewegungen fortfuhr – doch dann erreichte auch er den Höhepunkt, stöhnte laut auf und schrie ihren Namen in die Nacht hinaus.

Einige Augenblicke lagen sie bewegungslos da, schweißnass und erschöpft. Cynthia bekam nur mühsam Luft, so überwältigt fühlte sie sich. Als die letzten Nachbeben ihres Höhepunktes verebbten, öffnete sie die Augen, die sie in den Momenten des höchsten Genusses geschlossen hatte, und sah, wie Will sie musterte.

Zärtlich wischte er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. „Heute Abend auf der Party warst du großartig“, lobte er sie. „Du hattest vorher solche Angst davor, mit all diesen fremden Menschen konfrontiert zu werden, aber du hast es fantastisch gemeistert. Du warst elegant und voller Würde. Alle Frauen haben dich um dein Kleid und dein Aussehen beneidet, und alle Männer …“ Er hielt einen Moment inne. „Na ja, sagen wir so: Ich bin der Glückliche, der heute Nacht all die Fantasien ausleben durfte, die sie insgeheim hatten.“

„Ich habe heute Nacht auch meine Fantasien ausgelebt.“

Will lächelte und gab ihr einen Kuss. Zärtlich schmiegte sie sich an ihn, und er deckte sie beide zu. Eng aneinander gekuschelt schliefen sie ein.

Mitten in der Nacht erwachte Cynthia. Vorsichtig löste sie sich aus Wills Umarmung und setzte sich auf die Bettkante.

„Alles in Ordnung?“, fragte er verschlafen.

„Ja“, erwiderte sie. „Ich habe nur Durst. Soll ich dir auch ein Glas Wasser mitbringen?“

„Nein, danke.“

Cynthia schaltete die Nachttischlampe an, stand auf und ging, nackt wie sie war, in Richtung Badezimmer. An der Tür schaute sie sich noch einmal um. Sie sah, dass Will ihren Po musterte. Fand er ihn zu dick? Irgendwie wirkte er überrascht …

„Stimmt irgendwas nicht?“, fragte sie.

„Nein, alles okay“, murmelte er.

Alles okay? Das glaubte sie ihm nicht so ganz. Aber jetzt war sie zu erschöpft, um weiter darüber nachzudenken. Sie schminkte sich kurz ab und trank Wasser aus dem Zahnputzglas. Sie freute sich schon darauf, wieder zu Will ins Bett zu schlüpfen und in seinen Armen bis zum Mittag zu schlafen. Morgen war schließlich Sonntag.

Zurück im Schlafzimmer legte sie sich unter die Decke. Will hatte sich zur Seite gerollt, seine Augen waren geschlossen. Überglücklich kuschelte sie sich an ihn. Alles war noch viel schöner als in ihren kühnsten Träumen.

„Ich liebe dich“, flüsterte sie. So, jetzt habe ich es gesagt, dachte sie, auch wenn er es natürlich nicht gehört hat, weil er schon schläft. Dann drehte sie sich ebenfalls zur Seite. Wenige Minuten später war auch sie eingeschlafen.

Will hatte zwar die Augen geschlossen – aber er schlief nicht. In seinem Kopf rasten tausend Gedanken durcheinander. Noch vor ein paar Minuten hatte er sich für den glücklichsten Mann der Welt gehalten. Und dann war es ihm aufgefallen: etwas Geheimnisvolles, schier Unerklärliches.

Das Rosentattoo war weg!

Er hatte es von Anfang an nicht leiden können. Während ihrer Studienzeit war Cynthia einmal mit ihren Freundinnen zu einer Spring-Break-Feier nach Cancun in Mexiko gereist und hatte sich dort in feuchtfröhlicher Laune eine Rose auf den Po tätowieren lassen.

Eine rote Rose auf der linken Pobacke – er hatte das immer ziemlich vulgär gefunden und sich alle Mühe gegeben, es nicht weiter zu beachten. Später, als es zwischen ihm und Cynthia nicht mehr gut lief und sie kaum noch miteinander schliefen, hatte er das Tattoo fast vergessen.

Doch jetzt war es ihm wieder in den Sinn gekommen – und es war von ihrem Po verschwunden.

Er hatte es kaum glauben können, als er sie auf dem Weg zum Badezimmer von hinten sah. Kein Rosentattoo. Auch keine Spur, nicht die geringste, dass sie es sich vielleicht ohne sein Wissen hatte entfernen lassen. Nichts. Und dann hatte sie ihn gefragt, ob irgendwas nicht stimmen würde.

Was hätte er in dieser Schocksekunde sagen sollen? Natürlich hatte er so getan, als wäre alles in Ordnung. Aber nichts war in Ordnung. Ganz im Gegenteil. Es gab nur eine logische Erklärung: Sie war nicht Cynthia Dempsey!

Noch nie war er mit einer Frau so glücklich gewesen – und jetzt musste er feststellen, dass alles, was sie verband, auf Lügen aufgebaut war. Alles, was sie gesagt hatte, alles, was sie in den vergangenen Wochen getan hatte, bedeutete nichts.

Mit wem hatte er da gerade eben geschlafen? Diese Frau, diese falsche Cynthia – wer war sie, und wie kam sie dazu, das Leben eines anderen Menschen zu führen? Die Ärzte sagten, sie hätte Amnesie. Wusste sie überhaupt, dass sie nicht Cynthia war? War das alles eine tragische unabsichtliche Verwechslung – oder nutzte diese Unbekannte die Situation aus? War sie in Wahrheit vielleicht ebenso kalt und berechnend wie die echte Cynthia? Oder sogar noch schlimmer?

Die ganze Zeit über hatte er seine Gefühle im Zaum halten wollen – aus Angst, Cynthia könnte ihn erneut verletzen. Und gerade jetzt, da er sich ihr geöffnet hatte, kam eine noch viel größere Enttäuschung zum Vorschein.

Die Frau neben ihm war nicht Cynthia. Wie war es nur möglich, dass er das bis eben nicht gemerkt hatte? Er, gerade er als Verlobter, hätte es doch merken müssen – da zählte auch nicht die Ausrede, dass ihr Gesicht nach dem Unfall durch plastische Chirurgie etwas verändert worden war. Wie dumm konnte man sein?

Am liebsten hätte Will die Fremde neben sich gepackt und geschüttelt und ihr ins Gesicht geschrien – aber es war drei Uhr nachts, und wahrscheinlich würde sie sowieso nicht mit der Wahrheit herausrücken.

Er würde gleich morgen früh der Sache nachgehen und sie dann, später, mit seinen Erkenntnissen konfrontieren. Jetzt wollte er lieber versuchen zu schlafen, schon allein, um den Schmerz zu betäuben.

Doch so schnell fand er keine Ruhe. „Ich liebe dich“, hatte sie doch tatsächlich geflüstert. Das machte die Sache nur noch komplizierter!

10. KAPITEL

Gegen sieben Uhr morgens stand Will auf. Er hatte kaum geschlafen. Sie bemerkte, dass er aus dem Bett stieg, und blickte ihn fragend an. Er sagte ihr, es gäbe ein Problem mit der Sonntagsausgabe der Zeitung, um das er sich kümmern müsse. Schließlich konnte er ihr nicht gestehen, dass er ihre Gegenwart im Moment nicht ertrug. Außerdem benötigte er dringend weitere Informationen. Er wollte sie erst zur Rede stellen, wenn er – falls möglich – herausgefunden hatte, wer sie war und was sie vorhatte.

Sie gab ihm einen zärtlichen Kuss. „Damit du mich auf der Arbeit nicht vergisst.“

Oh, nein, vergessen würde er sie ganz bestimmt nicht!

Als er in seinem Büro eintraf, ließ er sich aus Archiv und Dokumentation alles über das Flugzeugunglück heraussuchen. Doch das erwies sich als wenig hilfreich. In allen Artikeln stand in etwa das Gleiche – wie es nach bisherigen Erkenntnissen zu dem Unglück gekommen war und welche Maßnahmen die Fluglinie ergreifen wollte, damit sich so etwas niemals wiederholen würde.

Etwas ratlos begab er sich in das Großraumbüro, in dem die Redaktion saß, und suchte den Mitarbeiter auf, der die Artikel über das Unglück verfasst hatte.

„Mike, haben Sie mal einen Augenblick Zeit?“

Der Journalist drehte sich auf seinem Stuhl herum und war überrascht, seinen obersten Boss, den Besitzer der Zeitung, vor sich zu haben. „Ja, Mr Taylor?“

„Ich suche Informationen über das große Flugzeugunglück. Haben Sie Ihre Recherchematerialien noch griffbereit?“

„Ja, natürlich.“ Mike suchte einen Augenblick, dann zog er eine Mappe mit der Aufschrift „Chicago-Flug 746“ hervor. „Das ist mein gesamtes Material, einschließlich der offiziellen Faxe der Fluglinie.“

„Ist auch eine Passagierliste mit Sitzverteilung dabei?“

„Ja, alles dabei.“

„Sehr gut. Vielen Dank, Mike.“

Will ging mit der Mappe zurück in sein Büro und arbeitete sie durch. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass Cynthia auf Platz 14 A gesessen hatte, einem Fensterplatz in der Touristenklasse. Das war für sie eher ungewöhnlich, aber offenbar lag es daran, dass eine große Reisegruppe japanischer Geschäftsleute die komplette erste Klasse okkupiert hatte. Neben Cynthia auf Platz 14 B hatte eine Frau namens Adrienne Lockhart gesessen. Den Unterlagen zufolge hatte sie das Unglück nicht überlebt – wie die allermeisten Passagiere.

Neugierig öffnete Will seinen Laptop und gab den Namen der Frau in die Suchmaschine ein. Gleich der erste Treffer wies auf eine Modedesignerin hin. Eine Modedesignerin …! Sein Magen krampfte sich zusammen. Das passte zu der neuen Cynthia wie die Faust aufs Auge.

Schnell rief er die Homepage der Modedesignerin auf. Gleich auf der Startseite erschien der Hinweis, dass das Geschäft geschlossen würde, zusammen mit einem herzlichen Dank an die treuen Kunden. Dieser Eintrag war vom Tag vor dem Flugzeug­unglück.

Will klickte die Seite „Über die Designerin“ an, und noch bevor das Foto vollständig geladen wurde, wusste er, dass er hier richtig war. Die Designerin sah Cynthia verblüffend ähnlich …

Es gab kaum noch einen Zweifel: Die Frau in seinem Apartment war nicht Cynthia Dempsey, sondern Adrienne Lockhart!

Aber warum? Wie war es dazu gekommen?

Wahrscheinlich war die Verwechslung bei den Rettungsarbeiten passiert. Cynthia saß nicht gerne am Fenster, das wusste er. Vielleicht hatte sie mit der anderen Frau die Plätze getauscht.

Und dann, im Krankenhaus, war es mit der Verwechslung weitergegangen – kein Wunder bei den starken Gesichtsverletzungen. Der plastische Chirurg hatte sich bei der Rekonstruktion des Gesichts natürlich an Fotos von Cynthia orientiert, was die ohnehin schon vorhandene Ähnlichkeit der beiden Frauen verstärkt hatte.

Die Frage war jetzt nur, wie viel diese Adrienne Lockhart wusste. Will beschlich das Gefühl, dass sie die Amnesie nur vorgetäuscht hatte.

Die Modedesignerin hatte ihr Geschäft schließen müssen und stand finanziell vermutlich vor dem Nichts. War es für sie sehr verlockend gewesen, in die Identität der reichen Cynthia zu schlüpfen? Die angebliche Amnesie passte perfekt, ihr den Einstieg in das neue Leben zu erleichtern. So brauchte sie niemanden wiederzuerkennen.

All diese merkwürdigen kleinen Ungereimtheiten, die Will aufgefallen waren – jetzt ergaben sie plötzlich Sinn. Sogar der Persönlichkeitswandel von der kalten zur charmanten Cynthia. Wobei – davon ging er jetzt aus – diese Nettigkeit auch nur gespielt gewesen war. Teil eines großen Plans.

Wütend schlug Will mit der Faust auf den Tisch, so heftig, dass seine Hand schmerzte. Er hieß den Schmerz willkommen. Wenigstens war er echt und keine Illusion, wie sonst so vieles in seinem Leben.

Nein, er würde sich keine Sekunde länger benutzen lassen! Er klappte seinen Laptop zu, schnappte sich seinen Mantel, verließ das Gebäude und winkte sich ein Taxi heran.

Cynthia fühlte sich merkwürdig unruhig. Eigentlich hätte sie nach der wunderbaren Nacht mit Will auf Wolke sieben schweben müssen, aber irgendwie war er heute Morgen so anders gewesen. Er war ihr förmlich aus dem Weg gegangen, hatte Augenkontakt vermieden und nicht einmal ihren Kuss richtig erwidert. Und dann diese angeblich so dringende Arbeit am Sonntag – das war ihr wie ein Vorwand vorgekommen, um aus dem Apartment zu flüchten.

Irgendetwas stimmte nicht, aber sie hatte keine Ahnung, was es war. Oder … hatte er vielleicht doch gehört, wie sie geflüstert hatte, dass sie ihn liebte? Hatte er noch gar nicht geschlafen? Was, wenn dieses Liebesgeständnis zu früh gekommen war und ihn verschreckt hatte?

Die Zeit verstrich, und kein Ton von Will, kein Anruf, nichts. Um sich abzulenken, beschloss sie, Darlene Winters anzurufen. Die Moderedakteurin nahm ihr die Störung am Sonntag nicht übel und plauderte angeregt mit ihr. Sie kamen überein, dass Cynthia sie am Dienstag in der Redaktion von Trend Now aufsuchen und drei fertige Arbeitsproben und weitere Entwurfsskizzen mitbringen sollte.

Nachdem die beiden Frauen das Gespräch beendet hatten, wurde Cynthia bewusst, dass es ein Problem gab. Sie hatte bisher erst drei Kleider fertiggestellt und würde so schnell kein viertes beenden können – das hieß, für ihren Besuch bei Darlene konnte sie nichts Selbstentworfenes tragen. Sie zuckte mit den Achseln. Immerhin hatte sie Schränke voll teurer Kleider und Kostüme, da würde sich schon etwas Passendes finden.

Beim Suchen fiel ihr auf einmal eine Bluse ins Auge, die ihr ganz besonders gut gefiel. Nein, es war viel mehr als das – sie kam ihr auf eine geradezu unheimliche Weise vertraut vor. Verwirrt wandte sie das Kleidungsstück in den Händen – bis sie das Label las: „Adrienne Lockhart Design“.

Adrienne Lockhart. Dieser Name …!

Urplötzlich, wie nach einem Dammbruch, strömten tausend Erinnerungen auf sie ein. Ihr Kopf drohte schier zu platzen.

Alles fiel ihr wieder ein, sie erinnerte sich daran, wie sie die Bluse entworfen und eigenhändig genäht hatte! Sie sah sich selbst, wie sie in ihrer Boutique stand und diese Bluse einer Frau verkaufte, die ein besonderes Geburtstagsgeschenk für ihre Freundin suchte. Die Freundin, die alles hatte und für die es etwas ganz besonders Schickes und Modisches sein musste.

Alles war auf einen Schlag wieder in ihrem Gedächtnis präsent. Ihr schicker kleiner Laden voll selbst entworfener Kleidung. Das Geld aus der Lebensversicherung ihres verstorbenen Vaters, mit dem sie ihr Unternehmen gegründet hatte. Und dann das große Gefühl der Trauer, als die Geschäfte nicht gut genug liefen und sie schließen musste.

Adrienne Lockhart.

Die Bluse fiel ihr aus der Hand, aber sie machte sich nicht einmal die Mühe, sie aufzuheben.

„Adrienne Lockhart … das bin ich“, murmelte sie mit tonloser Stimme. Kein Wunder, dass es sich immer fremd und falsch angehört hatte, wenn jemand sie Cynthia genannt hatte. Denn das war sie ja gar nicht.

Die richtige Cynthia Dempsey war sicher tot und ruhte unter einem Grabstein mit der Aufschrift Adrienne Lockhart.

Sie wurde von ihren Gefühlen überwältigt. Monatelang hatte sie eine Lüge gelebt! Hatte sich in den Verlobten einer toten Frau verliebt. Hatte mit ihm geschlafen, während er sie für eine andere gehalten hatte. Wie konnte sie ihm nur die Wahrheit gestehen? Wie würde er reagieren?

Er hatte zu ihr gesagt, dass sie ihm jetzt besser gefiel als die alte Cynthia. Aber wie würde er für sie empfinden, wenn er erfuhr, dass sie überhaupt nicht Cynthia war?

Dass sie ihr Gedächtnis zurückgewinnen und dann feststellen würde, dass sie jemand ganz anders war – mit so etwas hatten sie beide nie gerechnet.

Wenn sie nur an die große Party dachte, bei der alle Gäste Cynthia zu ihrer Rückkehr ins Leben begrüßt hatten …!

In ihrem Magen rumorte es. Ihr wurde übel. Schnell rannte sie auf die Toilette, wo sie sich übergeben musste.

Ihr Instinkt hatte ihr ja die ganze Zeit über gesagt, dass irgendetwas nicht stimmte. Kein Wunder, dass es ihr so ungewohnt vorgekommen war, im Luxus zu leben. Ihr eigenes Apartment in New York war winzig klein gewesen. Ihr Haus in Milwaukee, das sie von ihrem Vater geerbt hatte, war ärmlich und heruntergekommen gewesen. Teuren Schmuck hatte sie nie besessen. Ihr wertvollstes Stück war eine Perlenkette gewesen, die einst ihrer Mutter gehört hatte.

Verzweifelt lehnte sie sich gegen die Wand und rutschte dann langsam zu Boden. Wie gut, dass sie wenigstens den protzigen Verlobungsring zurückgegeben hatte. Er hatte einer Frau aus einer ganz anderen Welt gehört. Diese Frau war eine große Nummer in der Werbung gewesen, hatte Kleidung und Kreditkarten gehabt, von denen Adrienne nur träumen konnte. Allerdings hatte sie auch einen miesen Charakter gehabt und ihren Verlobten betrogen.

Zumindest diese Erkenntnis war eine Erleichterung: Sie – also Adrienne – hatte all diese schlimmen Dinge nie getan. Nigel war ein völlig Fremder für sie. Wie alle anderen auch. Will eingeschlossen.

Will!

Adrienne vergrub das Gesicht in den Händen. So ein verdammtes Durcheinander! „Wie soll ich ihm das nur beibringen?“, schluchzte sie halblaut vor sich hin.

„Wie sollst du mir was beibringen?“

Adrienne riss den Kopf hoch und sah Will vor sich stehen. Sie hatte gar nicht gehört, wie er zurückgekommen war.

Er wirkte verändert. Seine Gesichtszüge waren hart, sein Blick kalt. Die Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben. Seine Körperhaltung war auf Angriff ausgerichtet.

„Ich …“, begann sie, aber mehr fiel ihr nicht ein. Was hätte sie denn sagen sollen? Meine Erinnerung ist plötzlich zurückgekehrt, und mir ist jetzt klar, dass ich nicht deine Verlobte bin. Tut mir leid, dass ich mit dir geschlafen habe. So etwas in der Richtung etwa?

„Warum tust du uns nicht beiden einen Gefallen und rückst mit der ganzen Wahrheit heraus, Adrienne?“

Völlig verblüfft sah sie ihn an. Er wusste es! Irgendwie hatte er es noch vor ihr herausgefunden! „Mir ist gerade eben wieder alles eingefallen und …“

„Nein, bitte, erspar uns das. Erzähl mir nicht, dass dir genau jetzt auf wundersame Weise dein Gedächtnis zurückgeschenkt worden ist. Genau jetzt, wo ich dir auf die Schliche gekommen bin.“

„Auf die Schliche gekommen …?“, fragte sie fassungslos. Sie hatte gehofft, dass er Verständnis für alles aufbringen würde, was geschehen war, dass die Gefühle, die sie füreinander hegten, alle Probleme beseitigen würden. Aber seine Stimme klang zornig und anklagend. Als ob sie ihm aus niederen Beweggründen alles vorgespielt hätte!

„Was für ein Glücksfall das für dich war. Du besteigst als – Entschuldigung – kleiner Niemand das Flugzeug. Dein Geschäft ist gescheitert, du hast kein Geld und keine Verwandten. Und dann, Abrakadabra, wachst du nach einem schweren Unglück wieder auf und bist urplötzlich eine Millionenerbin. Fein, was?“

Adrienne stand auf. Ihre Augen schimmerten feucht. „Nein“, protestierte sie. „Du unterstellst mir da Dinge …“

„Und ich habe dir sogar das Märchen von dem rein zufällig entdeckten Designertalent abgekauft. Hast du von Anfang an geplant, deine Klamotten Darlene zu zeigen? Hast du Cynthias Verbindungen nutzen wollen, um deine Karriere voranzutreiben?“

„Warum sollte ich das wohl tun? Das wäre dann ja nicht meine Karriere, sondern Cynthias. Dieses ganze Leben hat Cynthia gehört, und ich habe da von Anfang an nicht reingepasst. Aber alle haben mir ja immer wieder eingeredet, dass ich Cynthia bin. Und dass ich mich über kurz oder lang wieder an alles erinnern würde.“

„Wobei man sich an ein Leben, das man nie gelebt hat, natürlich nur schwerlich erinnern kann.“

Er klang so hart, so aggressiv! Jetzt konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten. „Wie … wie hast du alles herausgefunden?“

„Du hättest mich niemals verführen dürfen, Adrienne. Dr. Takashi hat ja nur dein Gesicht wiederhergestellt. Es war verflixt riskant, dich mir nackt zu zeigen und zu hoffen, dass ich keinen Unterschied feststelle.“

„Und du hast natürlich Unterschiede gesehen …“

„Ja – vor allem eine eindeutige Sache. Cynthia hatte eine tätowierte Rose auf der Pobacke. Du nicht.“

Das erklärte seinen erstaunten Gesichtsausdruck gestern Nacht, als sie ins Badezimmer gegangen war! Vorher hatten sie nur im Dunkeln oder Halbdunkeln Liebe gemacht, da war ihm noch nichts aufgefallen.

„Natürlich habe ich kein Tattoo. Mich so stechen zu lassen – das würde ich niemals über mich bringen.“

„Aber eine Familie auszunutzen, die eigentlich den Verlust ihrer Tochter betrauern sollte, damit hast du keine Probleme, was?“

Wie konnte er ihr nur solche Charakterlosigkeit unterstellen! Hatte er in den vergangenen Wochen nicht gesehen, was für ein Mensch sie war? „Ich habe das alles nicht gewusst, ich schwöre. Erst gerade eben ist mein Gedächtnis zurückgekommen, als ich im Kleiderschrank diese Bluse …“

„Ach, halt den Mund. Ich will deine Lügen gar nicht hören.“

„Nenn mich nicht Lügnerin. Ich habe dir mein Herz geschenkt, Will. Das hätte ich nie getan, wenn alles nur eine große Lüge gewesen wäre. Ich würde dir nie absichtlich wehtun – so wie sie es getan hat.“

Damit hatte sie offenbar das Falsche gesagt. Will lief rot an. „Lass gefälligst Cynthia aus dem Spiel. Sicher, sie war nicht vollkommen, aber sie hat mir niemals vorgespielt, eine andere zu sein.“

„Dafür hat sie dir vorgespielt, dich zu lieben.“ Adrienne konnte nicht anders, sie musste ihm jetzt kontra geben. „Wahrscheinlich hat sie dich niemals auch nur halb so sehr geliebt wie ich dich. Stattdessen hat sie einen mittellosen Künstler aus der Bronx geliebt. Dich hat sie nur behalten, um nach außen die Fassade zu wahren. Damit ihre Freunde aus der High Society über sie und ihren Umgang nicht die Nase rümpften.“

Wills Verärgerung wich einer großen Niedergeschlagenheit. „Wie tief kann man sinken? Ich bin sehr enttäuscht von dir.“

Adrienne wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Nur eines blieb ihr noch. „Ich liebe dich, Will.“

„Verschwinde.“

Verschwinde? Meinte er das ernst? Wollte er sie einfach so auf die Straße setzen? Sie hatte doch nichts! Kein Geld, kein Handy, nichts!

„Will, bitte. Lass uns das vernünftig ausdiskutieren.“

„Ich habe gesagt, du sollst verschwinden“, schrie er so laut, dass seine Stimme von den Wänden widerhallte.

In diesem Moment wusste Adrienne, dass sie verloren hatte. Will war vernünftigen Argumenten einfach nicht zugänglich. „Du glaubst, du weißt genau, was passiert ist“, sagte sie resigniert. „Du hältst mich für einen schlechten Menschen, und das kann ich dir nicht ausreden. Aber als ich dir gesagt habe, dass ich dich liebe … habe ich das wirklich so gemeint.“

Er schwieg und wich ihrem Blick aus. Er hatte die Anklage verkündet, das Urteil gesprochen und die Strafe verhängt. Für ihn war Adrienne gestorben. So wie für alle anderen auch.

Mit gesenktem Kopf verschwand Adrienne aus dem Apartment. Und aus Wills Leben.

11. KAPITEL

Unendlich traurig stand Adrienne vor dem kleinen Laden, der einmal ihre Boutique gewesen war. Ein Banner im Fenster verkündete, dass hier in Kürze die Filiale einer Luxuskette für Babybekleidung eröffnen würde. Überteuertes Zeug für Yuppie-Babys. Überall machten sich diese vermaledeiten Ketten breit. Wenn sie da an ihre liebevoll entworfenen und handgenähten Kleider dachte … Am liebsten hätte sie einen Stein ins Schaufenster geworfen.

Schlimm genug, dass sie ihren Laden verloren hatte. Aber jetzt hatte sie auch noch eine weitere Niederlage hinnehmen müssen. Gerade noch war sie – wenn auch als Cynthia – kurz davor gewesen, mit ihren Entwürfen neu durchzustarten. Und nun war auch dieser Traum geplatzt.

Genau wie der Traum von einem Leben mit Will. Würde er seine Meinung noch einmal ändern? Sicher nicht. Und falls doch – dann wäre es zu spät. Dann wäre sie bestimmt schon wieder in Milwaukee, in einem Teilzeitjob als Verkäuferin oder Schneiderin. Und er hätte gar keine Chance, sie zu finden.

Irgendwie war es ihr besser gegangen, als sie noch tot war!

Sie fröstelte. Kein Wunder, schließlich war sie nur für einen gemütlichen Sonntag zu Hause angezogen gewesen, mit Jeans und T-Shirt, als Will sie hinausgeworfen hatte. Sie hätte sich lieber noch schnell einen Mantel schnappen sollen, aber sie hatte nicht gewollt, dass er sie beschuldigte, Cynthias Sachen zu stehlen. Ein Wunder, dass er sie nicht splitterfasernackt vor die Tür gesetzt hatte!

Aber die Kälte war noch ihr geringstes Problem. Viel schlimmer war, dass der Mann, den sie liebte, sie hasste. Und ihre – das heißt Cynthias – Verwandten würden sie auch hassen, sobald sie die Wahrheit erfuhren. Adrienne war ratlos. Was sollte sie nur tun?

Sie wusste ja nicht einmal, wo sie heute Nacht bleiben sollte.

Plötzlich spürte sie, wie eine Hand sie fest an der Schulter packte. Na toll, jetzt werde ich auch noch überfallen, schoss es ihr durch den Kopf.

Sie fuhr herum, bereit, ihr Leben zu verteidigen – und sah sich Nigel gegenüber.

„Was soll das denn?“, schrie sie. „Du hast mich zu Tode erschreckt!“

Nigel sah furchtbar aus. Seit der Party hatte er sich weder umgezogen noch rasiert. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal geschlafen. Seine Augen waren blutunterlaufen. Er wirkte, als wäre er zu allem fähig.

„Wie hast du mich gefunden? Hast du mich verfolgt?“

Nigel nickte. „Ich habe das Apartmenthaus beobachtet und gesehen, wie du es verlassen hast. Dann bin ich dir gefolgt. Weil ich dich zur Vernunft bringen muss.“

„Das heißt, du schleichst seit Stunden hinter mir her?“ Ihr wurde angst und bange. Schon auf der Party hatte er sie ja bedroht, und jetzt war er ihr wie ein Stalker gefolgt …! Sie trat einen Schritt zurück. Falls er ein Messer oder so etwas hatte, wollte sie lieber außer Reichweite sein.

„Wie gesagt, ich muss dich zur Vernunft bringen. Wir müssen reden.“

Etwas Gefährliches, Derangiertes, Wahnhaftes ging von diesem Mann aus. „Es gibt nichts zu bereden, Nigel“, sprach sie besänftigend auf ihn ein. „Weil ich nicht Cynthia Dempsey bin.“

„Ach, hast du dir eine neue Geschichte zurechtgelegt?“, fragte Nigel höhnisch. „Und wer belieben Sie jetzt zu sein, Miss Hochwohlgeboren?“

Warum nur wollte ihr nie jemand glauben, wenn sie die Wahrheit sagte?

„Es hat nach dem Flugzeugunglück eine Verwechslung gegeben. Ich heiße Adrienne. Alle haben gedacht, ich wäre Cynthia, aber inzwischen habe ich mein Gedächtnis wiedergefunden und weiß jetzt, dass ich es nicht bin.“

Nigel musterte sie misstrauisch und runzelte die Stirn. „Schöne Märchenstunde. Hältst du mich wirklich für so dumm?“

Wie konnte sie es ihm nur beweisen? Was Will überzeugt hatte, sollte eigentlich auch für Nigel genügen. „Ich habe kein Rosentattoo auf dem … du weißt schon. Das Rosentattoo bei der echten Cynthia hast du doch bestimmt schon mal gesehen. Ich werde jetzt nicht hier auf der Straße die Hose runterlassen, aber du kannst mir glauben. Will hat mich aus dem Apartment geworfen, weil ihm aufgefallen ist, dass ich das Tattoo nicht habe. Deswegen laufe ich jetzt ja ohne Mantel und ohne Geld durch die Stadt.“

Nigel dachte einen Moment nach. „Aber wenn du diese … diese Adrienne bist – wo ist dann Cynthia?“

Adrienne kniff die Augen zusammen. Konnte er denn nicht eins und eins zusammenzählen? Musste ausgerechnet sie es sein, die ihm die schlechte Nachricht überbrachte? Aber sie hatte wohl keine andere Wahl, wenn sie wollte, dass er sie in Ruhe ließ. „Nigel, es tut mir sehr leid – aber Cynthia ist bei dem Flugzeug­unglück ums Leben gekommen.“

Nigel lief rot an. „Hör auf, mir solche Lügen zu erzählen!“, schrie er. Dann schlug er ihr die Faust ans Kinn.

Sie sackte zusammen und knallte mit dem Kopf auf dem Bürgersteig auf.

„Ich verstehe das einfach nicht. Was hat sie denn nur in diesem Teil der Stadt gesucht – ohne Geld, ohne Papiere? Ist sie ausgeraubt worden?“

Adrienne erkannte die Stimme, die sich vor Aufregung fast überschlug. Es war die Stimme von Pauline Dempsey. In ihrem Gehirn raste alles durcheinander. Wo waren sie? Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war der Schlag von Nigel auf der Straße. Wie kam sie jetzt in ein Zimmer, zusammen mit Cynthias Eltern? Sie war neugierig, wollte aber auch die Augen nicht aufschlagen. Sie hatte starke Kopfschmerzen, und helles Licht würde ihr jetzt bestimmt nicht guttun.

„Möglich, dass es ein Raubüberfall war, aber ich glaube eher nicht. Die Polizei vermutet, dass sie von jemandem angegriffen wurde, den sie kennt. Denn der Anrufer in der Notrufzentrale hat ausdrücklich ihren Namen genannt.“

„Das war bestimmt der Mann, der sie schon auf der Party bedrängt hat. Ich hätte doch lieber die Security rufen sollen.“ Das war die Stimme ihres Vaters. Oder, besser gesagt, die Stimme von George Dempsey.

Lag sie wieder im Krankenhaus? Hatte Nigel so hart zugeschlagen?

„Wir können von Glück sagen, dass keine der operierten Stellen wieder aufgeplatzt ist. So wie es aussieht, hat sie nur eine leichte Gehirnerschütterung. Nichts Ernstes.“

„Nichts Ernstes?“, rief George verärgert. „Meine Tochter weiß nicht mehr, wer sie ist, und Sie sagen, eine zusätzliche Gehirnerschütterung ist nichts Ernstes?“

Adrienne wollte nicht mehr tatenlos zuhören. Mühsam öffnete sie die Augen. „Autsch.“

„Cynthia?“

Sie dachten immer noch, dass sie Cynthia sei. Will hatte ihnen offenbar noch nichts erzählt. Das gab ihr die Möglichkeit, die Angelegenheit vernünftig aufzuklären. Auf keinen Fall wollte sie, dass das Ehepaar, das so nett zu ihr gewesen war, sie ebenso hasste wie Will.

Adrienne richtete sich etwas auf und sah sich um. Tatsächlich, sie lag wieder in einem Krankenhausbett. Vielleicht sogar im selben wie noch vor ein paar Wochen. Zu ihrer Linken waren Pauline und George, zu ihrer Rechten der Arzt. Und hinten, gegen die Wand gelehnt, stand Will.

Er sagte nichts, als sie ihn ansah. Er erwiderte nur ihren Blick mit kalter Gleichgültigkeit. Er hasste sie, das erkannte sie an seinem Gesichtsausdruck. Trotzdem hatte er Cynthias Eltern nicht die Wahrheit gesagt. Warum nicht? Er war doch wütend genug auf sie.

„Cynthia, wie geht es dir?“, fragte Pauline besorgt und ergriff ihre Hand. „Was ist passiert? Bist du überfallen worden?“

Adrienne riss ihren Blick von Will los und wandte sich der Frau an ihrer Seite zu. „Ich … ich bin nicht Cynthia“, sagte sie leise.

Verblüfft sahen Pauline und George sich an. „Was soll denn das jetzt schon wieder heißen?“, fragte Pauline verwirrt.

„Mein Gedächtnis ist zurückgekehrt, ich kann mich wieder an alles erinnern. Mein Name ist nicht Cynthia, sondern Adrienne. Adrienne Lockhart.“

„Herr Doktor, was hat das zu bedeuten?“, fragte George.

Stirnrunzelnd trat der Arzt ans Bett. Er strahlte ihr mit einer Diagnostikleuchte ins Auge und fragte: „Wissen Sie, welcher Tag heute ist, Miss?“ Es folgten weitere Fragen, um den Grad ihrer Verwirrung zu testen, die sie alle fehlerfrei beantwortete. Der Mediziner kratzte sich am Kinn. „Also, Sie sagen, Sie sind nicht Cynthia Dempsey?“

„So ist es“, bestätigte sie. „Mein Name ist Adrienne, und ich komme aus Milwaukee. Meine Eltern hießen Allen und Miriam Lockhart. Sie sind beide schon verstorben.“ Bedauernd sah sie zu Pauline und George hinüber. „Ich weiß wirklich nicht, wie das passiert ist. Wie ich mit einem anderen Menschen verwechselt werden konnte.“

Wie versteinert krallte sich Pauline an George fest. Beiden Eltern war sofort klar, was die Verwechslung bedeutete. Ihre Tochter konnte nicht mehr am Leben sein, denn die einzigen beiden anderen Überlebenden des Unglücks waren ein kleines Kind und ein Teenager.

„Durch Ihre starken Gesichtsverletzungen waren Sie nur sehr schwer zu identifizieren“, beteuerte der Arzt, der offenbar im Stillen schon befürchtete, verklagt zu werden. „Das … das ist alles sehr ungewöhnlich. Würden Sie uns bitte entschuldigen? Ich hätte einiges mit den Dempseys zu besprechen.“ Mit diesen Worten führte er Pauline und George hinaus.

Als sich die Tür von außen geschlossen hatte, atmete Adrienne tief durch und ließ sich wieder ins Kissen sinken. Am liebsten hätte sie losgeweint, aber Will war noch im Zimmer, und in seiner Gegenwart wollte sie keine Tränen vergießen. Er würde ihr doch nur vorwerfen, es seien Krokodilstränen, um Mitleid zu erheischen.

Noch immer stand er wortlos gegen die Wand gelehnt da und sah sie an. „Du hast ihnen nichts gesagt“, brachte Adrienne schließlich hervor.

Autor

Andrea Laurence
Bereits im Alter von zehn Jahren begann Andrea Laurence damit, Geschichten zu schreiben – damals noch in ihrem Kinderzimmer, wo sie an einer alten Schreibmaschine saß. Sie hat immer davon geträumt, ihre Romane eines Tages in der Hand halten zu können, und sie arbeitete jahrelang hart, bis sich ihr Traum...
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