Miss Brimford und das Geheimnis von Venedig

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„Ihre Lippen sind eine Einladung zum Küssen.“ Bei Lord Dominic Wrexhams skandalöser Bemerkung ringt Miss Phoebe Brimford nach Luft. Sie wohnen im selben Palazzo-Hotel in Venedig, aber damit enden ihre Gemeinsamkeiten auch! Denn während Phoebe eine unauffällige Undercover-Spionin im Auftrag der Krone ist, scheint dieser Lebemann nur lasterhafte Vergnügungen im Kopf zu haben. Leider ist er so verboten attraktiv, dass sie sich seinem Charme nicht entziehen kann. Doch allmählich beschleicht Phoebe ein Verdacht: Verbirgt Dominic sein wahres Selbst hinter einer Maske – wie nah muss sie ihm kommen, um herauszufinden, wer er wirklich ist?


  • Erscheinungstag 01.04.2025
  • Bandnummer 424
  • ISBN / Artikelnummer 9783751531603
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Der Palazzo Gioconda, Venedig, September 1822

„Da bin ich anderer Meinung.“ Lord Wrexhams tiefe Stimme drang bis zum anderen Ende des großen Salons im Palazzo, wenn seine Worte auch eher undeutlich waren. „Nicht alle Liebeslieder handeln von Unzucht. Eins der besten wurde über einen Baum geschrieben, und ich bezweifle sehr, dass König Xerxes daran dachte, ihn mit etwas anderem als seiner Streitaxt zu durchdringen.“

Die Stille, die seiner Äußerung folgte, wurde nur von dem Lied eines Gondoliere unterbrochen, der auf dem Kanal unter ihnen vorbeifuhr. Phoebe Brimford unterdrückte ein Seufzen und versuchte, sich auf ihr Buch zu konzentrieren. Nach vierzehn Tagen im Palazzo-Hotel Gioconda überraschte sie Lord Wrexhams weindurchtränkter Schalk nicht mehr.

Die Reaktionen der übrigen Bewohner des Hotels fielen aus, wie zu erwarten war. Mr. George Clapton, Sohn des britischen Konsuls in Venedig, musterte Lord Wrexham, als wäre er eine Schnecke, die aus seiner Suppe gekrochen war, und der arme Mr. Arthur Hibbert, Lord Wrexhams einziger Verbündeter im Palazzo, zupfte bedrückt an seinem Krawattentuch.

Abgesehen von Phoebe und ihrer Tante waren die einzigen weiteren Gäste Mrs. Banister und Mr. Rupert Banister, eine wohlhabende Witwe und ihr zurückhaltender Sohn. Die Ohren des armen Rupert hatten bei Lord Wrexhams Worten eine interessante Rosaschattierung angenommen, und seine Mutter klopfte mit dem Fächer auf Phoebes Knie und verlangte laut zu wissen: „Was war das über einen Baum?“

Phoebe legte ihr Buch nieder und lächelte höflich. „Lord Wrexham bezog sich auf eine Arie von Händel, Mrs. Banister. Ombra mai fu. Darin singt König Xerxes über seine Bewunderung für die Platane.“

„Ein Lied über einen Baum? Was werden sich diese Ausländer noch einfallen lassen?“

Mama!“, flüsterte Rupert Banister eindringlich.

Phoebe war kurz davor, darauf hinzuweisen, dass Mrs. Banister als Engländerin in Venedig ebenfalls zu dieser von ihr verpönten Kategorie gehörte, aber ihre Stellung als Lady Graftons Gesellschafterin verbot ihr, so direkt zu sein. Ihre Dienstherrin und Tante, die ihr gegenüber auf dem Sofa saß, bedachte sie in diesem Moment mit einem äußerst amüsierten und warnenden Blick aus ihren dunkelbraunen Augen. Stattdessen meinte sie also: „Fairerweise muss man sagen, dass Händel den größten Teil seines Lebens in London verbracht hat.“

„Das stimmt“, sagte Lord Wrexham und schlenderte zu ihrer Seite des Salons herüber. „Er war genauso englisch wie unser lieber erster König George und sehr viel sympathischer, wenn die Geschichten über ihn wahr sind. Er jedenfalls zeugte keinen Haufen Bastarde mit seinem Haufen von Mätressen. Ach, reg dich doch nicht so auf, Hib. Ich bin nicht ganz bis zum Stehkragen voll. Ich brauche noch mindestens zwei weitere Flaschen, um ihn zu erreichen.“

„Wir ziehen uns auf unsere Zimmer zurück, Rupert“, verkündete Mrs. Banister mit einem niederschmetternden Blick auf Lord Wrexham. „Ich finde die Luft im Salon recht stickig.“

„Ja, Mama.“ Mr. Banister sah Phoebe und ihre Tante entschuldigend an und beeilte sich, seiner Mutter aus dem Raum zu helfen.

„Armer Hund.“ Lord Wrexham stützte sich auf die Rückenlehne von Phoebes Sessel, während er Mrs. Banisters hoheitsvollen Abgang betrachtete. Seine Jacke duftete nach Zimt und Whisky, keine unangenehme Mischung. „Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass er sich von ihr befreien kann, bevor sie tot und begraben ist.“

Phoebe konnte dem nicht wirklich widersprechen, also sagte sie nur: „Er ist ein sehr angenehmer junger Mann.“

„Das mag ja sein, aber setzen Sie Ihre Hoffnungen nicht auf ihn, Tigerauge. Dieser Drachen wird ihn nicht so leicht freigeben.“

„Dom!“ Hibberts Stimme klang ungeduldiger als gewöhnlich. „Es ist schon arg genug, was du alles über Händel und König George von dir gibst, aber jetzt gehst du zu weit.“

„Was habe ich denn gesagt?“, verteidige Lord Wrexham sich störrisch. „Warum sollte Händel nicht ein Liebeslied über einen Baum schreiben? Der nörgelt wenigstens nicht und bettelt einen auch nicht um teuren Schmuck an.“

„Und er betrinkt sich auch nicht bis zur Besinnungslosigkeit, Lord Wrexham“, warf Phoebe schärfer ein, als sie sich für gewöhnlich zugestand. Sie war aufgebrachter über seine Bemerkung über ihre Augen als die Andeutung, sie hätte vor, Mr. Banister einzufangen. Es machte ihr nichts aus, unscheinbar zu sein, aber ihre Augen fand selbst sie zu absonderlich und sogar verstörend. Selbst eine Brille verhinderte nicht, dass die Menschen die von einem dunkelbraunen Rand umgebene bernsteingelbe Iris wahrnahmen.

Lord Wrexham heftete den verschleierten Blick seiner dunkelblauen Augen auf sie. Er lächelte schief und sein dunkles Haar war zerzaust, aber dennoch war er bei Weitem der bestaussehende Mann im Palazzo, was er sehr gut wusste. Und er war offensichtlich nur allzu bereit, sein Aussehen zu benutzen, um die Gemüter zu besänftigen, die er aufgebracht hatte.

„Ganz richtig, Schätzchen. Aber Männer sind verdammt unzuverlässige Geschöpfe. Viel besser, sein Herz einem Baum oder einem Klumpen Erde zu geben, oder?“

„Viel besser, sein Herz niemandem zu geben, Mylord. Ich bin sicher, ich werde sehr viel besser damit umgehen als irgendjemand sonst.“

„Da ist viel dran, oder, Hib?“, bemerkte er, klopfte seinem Freund auf die Schulter und torkelte ein wenig. Mr. Hibbert hielt ihn am Arm fest und seufzte.

„Komm, Dom. Vielleicht solltest du ein wenig ruhen, bevor du …“

Doch Lord Wrexham befreite sich einfach von ihm und merkte nicht einmal, dass er dabei auf dem Weg zum Garten hinter dem Palazzo einen kleinen Tisch umwarf. Der arme Mr. Hibbert stellte den Tisch wieder auf, und Mr. Clapton kicherte schadenfroh, ganz offensichtlich amüsiert von diesem Spektakel.

„Wahrscheinlich ist er dabei, seinen Whisky wieder von sich zu geben.“

Phoebe ignorierte Claptons Bemerkung, dachte aber, dass es das Beste wäre, wenn Lord Wrexham wirklich zu diesem Zweck im Garten verschwunden war. Je weniger er vom Alkohol bei sich behielt, desto besser.

Nicht, dass es einen großen Unterschied machen würde. Sie hatte mit ansehen müssen, wie ihr geliebter Onkel Jack sich zu Tode getrunken hatte, und sie hatte so oft gehofft, dass es ihm gelingen würde, damit aufzuhören. Bis sie schließlich akzeptiert hatte, dass er es einfach nicht konnte. Dass sie nichts tun konnte, um den Mann zu retten, der sie vor einem unglücklichen Leben bewahrt und ihr und ihrer Tante einen Zweck und Selbstwertgefühl geschenkt hatte.

Am Ende würde der Alkohol sehr wahrscheinlich auch Lord Wrexham von ihnen nehmen. Auf die eine oder andere Weise. Am vorigen Abend hatte lediglich Mr. Hibberts schneller Reaktion seinen Freund davor bewahrt, die Fische im Canal Grande zu füttern, als er fast vom Anlegesteg des Hotels spaziert wäre.

Auch daran hatte Mr. Clapton sich ergötzt und Hibbert darauf hingewiesen, dass ein Eintauchen ins kalte Wasser seinen Freund wenigstens ernüchtert hätte. Phoebe teilte Claptons Optimismus ganz und gar nicht. Gewohnheitstrinker würden bei einem solchen Sturz in den Kanal sehr viel eher ertrinken.

Nicht, dass außer dem freundlichen Mr. Hibbert und einigen der Spieler und den meisten Frauen in der Stadt sehr viele trauern würden, wenn Dominic Allerton, Marquess of Wrexham und Erbe des Duke of Rutherford, diese Welt verließ. Offenbar nicht einmal sein eigener Vater. Vielleicht ganz besonders sein eigener Vater nicht. George Clapton hatte Lady Grafton und Phoebe erzählt, dass der Duke es überhaupt nicht bedauern würde, sollte sein ältester Sohn ein vorzeitiges Ende finden und den Weg für seinen jüngeren Halbbruder frei machen, den Inbegriff herzoglicher Rechtschaffenheit.

Der arme Mr. Hibbert tat sein Bestes, seinen Freund zu beschützen, aber Lord Wrexham, wie viele Trinker, schlug den Weg zu seinem Verderben mit all dem Überschwang eines religiösen Pilgers ein. Und währenddessen flirteten die Damen und seufzten darüber, was für eine Verschwendung es doch sei, und die Gentlemen sahen überheblich grinsend zu.

Phoebe beobachtete und wunderte sich und sagte nichts.

„Ich möchte mich für Dom entschuldigen“, unterbrach Hibbert die Stille. „Er kann ein großartiger Bursche sein, aber …“

„Machen Sie sich nicht die Mühe, Mr. Hibbert“, warf Lady Grafton auf ihre gelassene Weise ein. „Es ist liebenswert von Ihnen, dass Sie sich Gedanken um ihn machen, aber ich glaube nicht, dass Sie auch nur den geringsten Einfluss auf jenen schönen jungen Mann haben.“

„So jung auch nicht mehr“, bemerkte Mr. Clapton, der sich jetzt zu ihnen gesellte. „Er muss um einiges über dreißig sein.“

„Mein lieber Mr. Clapton.“ Lady Grafton klang etwas weniger liebenswürdig. „Er und Sie sind beide junge Männer für mich. Seien Sie so nett und verschwinden Sie zu Ihren Freunden, ja? Dieser ganze Aufruhr bekommt meinem Teint überhaupt nicht.“

George Clapton errötete über die Zurechtweisung und stolzierte davon. Mr. Hibbert seufzte wieder und folgte ihm. Phoebe wartete, bis beide außer Hörweite waren, bevor sie ihrer Tante zulächelte.

„Aber mir erlaubst du nicht, die Krallen zu zeigen, Milly.“

„Zu mir passt es besser, Phoebe. Was für ein Jammer um den armen Lord Wrexham. Er mag ja ein mittelloser Trunkenbold sein, aber er ist bei Weitem der bestaussehende Engländer in ganz Venedig. Man sagt, deswegen sei Byron nach Ravenna weitergereist, weißt du. Konnte es nicht ertragen, in den Schatten gestellt zu werden.“

Phoebe nahm ihr Buch wieder auf. „Unsinn.“

„Nun, so heißt es jedenfalls. Oder sagte man, Byron hat sich Hals über Kopf in unseren Adonis verliebt, aber Dominic zog die Reize der Contessa Morosini vor? Ach, ich bekomme die Geschichten immer durcheinander.“

„Mir ist seit unserer Ankunft aufgefallen, dass man sehr viele widersprüchliche und meist völlig erdichtete Dinge über Lord Wrexham sagt. Zweifellos ist Lord Byron abgereist, weil er sich verschuldet hatte. Wieder einmal. Oder er langweilte sich. Wieder einmal. Und sollte er sich wirklich in Lord Wrexham verliebt haben, was mich nicht überraschen würde, da er sich in seinem jungen Leben in Dutzende Männer und Frauen verliebt zu haben scheint, bin ich sicher, dass seine enorme Eitelkeit ihm erlaubt hat, sich sehr schnell von der Enttäuschung zu erholen. Es würde mich wundern, wenn er wüsste, was Liebe ist.“

„Aber du weißt es, meine liebste Phoebe?“ Lady Grafton lächelte und gähnte.

„Touchée, Milly“, gab Phoebe zu und erwiderte das Lächeln.

„Ach, es ist schon ein sehr seltsames Grüppchen, mit dem wir hier zusammen wohnen. Ich bin es gewohnt herauszustechen, aber Venedig überstrahlt mich wie die Sonne den Mond. Findest du es nicht merkwürdig, dass Lord Wrexham und Mr. Hibbert hier untergekommen sind? Es scheint mir eine eher zahme Unterkunft für jemanden von Dominics Veranlagung zu sein.“

Phoebe nickte. „Es sieht so aus, als würde der Palazzo Gioconda gestrandete Engländer anziehen. Clapton ist ein übler Bursche, aber wenigstens können er und die gefürchtete Agatha Banister uns als großartige Quellen für den neuesten Klatsch dienen, also sollten wir ihre Gesellschaft pflegen.“

Milly machte ein Geräusch wie eine große, zufriedene Katze. „Ich pflege jedermanns Gesellschaft, meine Liebe. Selbst die von Wüstlingen. Und jetzt sei so lieb und schließe die Tür. Der arme Junge hat sie offen gelassen, und es zieht fürchterlich. Ich fühle mich wie ein Eiszapfen.“

Phoebe achtete nicht auf die Übertreibung und durchquerte den Salon bis zur Tür, die in den Hof führte. Der Marmorboden war von vielen Jahren der Vernachlässigung rissig und verschrammt, aber die Dunkelheit verbarg den Verschleiß recht gut. Den riesigen Kronleuchter zierten Spinnweben, und Phoebe nahm an, dass er schon seit einem Jahrhundert nicht mehr benutzt worden war. Aber sie und Milly hatten auf ihren Reisen bessere und auch schlimmere Unterkünfte vorgefunden.

Im Hof war es dunkel, und es herrschte absolute Stille. Statt die Tür zu schließen, wie ihr befohlen worden war, ging Phoebe die breiten Steinstufen hinunter und blieb einen Moment, umhüllt von der kühlen, dunklen venezianischen Nacht, stehen. Der Hof war zum größten Teil leer. Nur hier und da am Rand gab es einige große alte Vasen, in denen früher einmal Pflanzen geblüht haben mochten, die heutzutage aber nur dazu benutzt wurden, das Regenwasser zum Wäschewaschen aufzufangen. Im Dunkeln sahen sie wie gebeugte Gestalten aus, die eine Verschwörung anzettelten.

Am anderen Ende sah sie die gewölbte Holztür, die zum San-Stefano-Platz führte. Lord Wrexham war sehr wahrscheinlich in jene Richtung gegangen, auf der Suche nach noch mehr Wein, Weib und Gesang. Oder vielmehr Wein, Weib und Karten. Zumindest nahm sie an, dass seine Abende auch Frauen einbezogen. Aus irgendeinem Grund schienen sowohl Frauen als auch Männer ihn zu umkreisen wie Fliegen eine überreife Melone. Ohne Zweifel standen dem attraktiven Engländer die Schlafzimmertüren beider Geschlechter in Venedig offen, falls er geneigt sein sollte, sie aufzusuchen.

Phoebe war in dieser Hinsicht nicht so voreingenommen wie einige der anderen englischen Gäste. Sie und auch ihre Tante hatten nach einem Leben in einer fanatisch frömmlerischen Gemeinschaft in Northumberland genug von Predigten und übertriebener Rechtschaffenheit. Jedem das Seine, war Phoebes Motto.

„Wollten Sie nachsehen, ob ich tot umgef… gefallen bin?“

Die leicht lallende Stimme ganz in der Nähe riss Phoebe aus ihren Gedanken, und sie drehte sich erschrocken um. In der Dunkelheit hatte sie ihn nicht auf der Steinbank neben dem Gebäude sitzen sehen. Er hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und hielt ein silbernes Fläschchen in der einen Hand.

„Nein, Lord Wrexham“, erwiderte sie ruhig. „Ich wollte die Tür schließen. Sie haben sie offen gelassen, und Lady Grafton verträgt keine Zugluft.“

„In diesen Mausoleen gibt es immer Zugluft. Man könnte genauso gut in einem Zelt wohnen.“

„Ich denke nicht, dass es ganz so schlimm ist.“

„Aber Sie haben ja auch noch nie in einem Zelt gewohnt, oder?“, meinte er herausfordernd.

„Noch nicht. Sie etwa?“

„O ja. Wenn wir Zelte hatten. Sonst schliefen wir unter freiem Himmel.“

Jetzt erinnerte sie sich wieder. Hatte Mr. Hibbert nicht erwähnt, dass sie im Krieg im selben Regiment gedient hatten? Vielleicht erklärte das auch, warum dieser arme Mann ein Trunkenbold war. Viele Männer waren als gebrochene Menschen aus dem Krieg zurückgekehrt und waren nie wieder geworden wie vorher. Sie musterte den schwachen Umriss seines hinreißenden Profils.

Es war wirklich ein Jammer um diesen Mann. Aber gutes Aussehen garantierte nicht, dass der Mann moralische Vorzüge besaß – oft war es das genaue Gegenteil. Sie lehnte sich mit der Schulter an den Türrahmen.

„Nun, wenn man schon in einem zugigen Zelt oder Mausoleum wohnen muss, dann ist Venedig im Herbst ein großartiger Ort.“

„Lieber Himmel, Sie sind doch hoffentlich nicht einer dieser unverbesserlichen Optimisten.“

„Lieber Himmel, Sie sind doch hoffentlich nicht einer dieser verwöhnten Miesepeter.“

Er wandte ihr das Gesicht zu, und das Licht aus einem der Fenster ließ seine Augen silbern aussehen – wie die Augen eines Wolfes.

„Sie glauben, ich bin ein … ein Miesepeter?“ Seine Stimme klang seltsam. Phoebe konnte nicht sagen, ob sie Empörung oder Belustigung ausdrückte.

„Ich glaube …“ Sie riss sich im letzten Moment zusammen. „Ich glaube, Sie möchten bestimmt nicht wissen, was ich glaube, Lord Wrexham. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“

„Warten Sie. Und wenn ich es doch wissen möchte?“ Er lehnte sich an die Mauer, die Arme vor der Brust verschränkt und die Flasche an sein Herz gedrückt.

„Ich bedaure Ihren Kammerdiener. Ihre Jacke wird voller Gips sein. Aber das ist sicher immer noch besser, als wenn Sie im Kanal gelandet wären.“

„Ich habe keinen Kammerdiener. Kann mir keinen leisten. Oder sonst irgendetwas, was das angeht. Deswegen sind Hib und ich auch gezwungen, dieses Hotel mit meiner Anwesenheit zu verunreinigen. Aber das war es nicht, was Sie dachten.“

„Sie können nicht wissen, was ich gedacht habe.“

„Nein, aber etwas sehr viel Vernichtenderes als nur Ihre Sorge um meine Jacke. Ihre mitleidigen Blicke sind mir nicht entgangen.“

Phoebe war dankbar, dass es so dunkel war. Wahrscheinlich stimmte, was er sagte. Was dumm von ihr gewesen war.

„Das bezweifle ich. Ich glaube gewiss nicht, dass Sie Mitleid verdienen, Lord Wrexham.“

„Entschuldigung, sagen wir also lieber: tadelnde Blicke. Sie und Clapton und Mrs. Banister und Hibbert und die anderen.“

„Übertriebenes Misstrauen ist ein beunruhigendes Zeichen für geistigen Verfall, Lord Wrexham. Und was Mr. Hibbert angeht, sind Sie nicht nur ungerecht, sondern auch lieblos. Er spricht nur freundlich und großzügig über Sie, und das in einem Maß, das ich verblüffend finde. Kein einziges Mal hat er angedeutet, dass er sich wegen Ihrer Schwäche Ihnen gegenüber überlegen vorkommt. Und da Sie jetzt nüchtern genug zu sein scheinen, um in Selbstmitleid zu zerfließen, warum machen Sie sich nicht einen Tee und gehen früh zu Bett?“

Sie hatte sehr viel mehr gesagt, als sie beabsichtigt hatte, und wartete jetzt auf einen Wutausbruch, aber Lord Wrexham lachte nur kurz. Seltsamerweise verließ ihn sein Missmut, wann immer er nüchtern wurde. Zweifellos würde er bald wieder Zuflucht beim Whisky suchen, aber in diesen seltsamen Augenblicken, wenn er aus der Trunkenheit hervorkam und bevor er wieder darin versank, erhaschte Phoebe einen kurzen Blick auf den Mann, der er einmal gewesen war. Und in diesen Augenblicken bemitleidete sie ihn wirklich. Nicht, dass sie ihm das verraten würde.

„Was für eine lange Rede für jemanden, der sonst immer so still ist“, sagte er. „Sie haben recht, was Hib angeht. Er ist ein guter Kerl. Ich kann ihn einfach nicht davon überzeugen, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin. Er glaubt, ich habe ihm das Leben gerettet. Was natürlich Humbug ist. Es war reiner Zufall, dass meine Kugel den Soldaten außer Gefecht setzte, der auf ihn gezielt hatte. Der Gedanke macht ihn ganz sentimental. Warum halten Sie nicht lieber ihm eine Standpauke, was für eine Zeitverschwendung es ist, sich mit Müßiggängern wie mir abzugeben?“

„Weil ich im Gegensatz zu ihm meine Zeit nicht mit hoffnungslosen Fällen verschwende.“

„Au, das hat wehgetan. Sie gehen sofort an die Kehle, was, kleine Miss Primel?“

„Primel?“, fragte sie verwundert.

„Prüde und rosig mit Ihrem fuchsroten Haar. Sie kleiden und benehmen sich wie eine Gouvernante, aber hinter Ihrer Brille glitzern die Augen einer Katze, die hoch oben auf einer Mauer sitzt und verächtlich auf die Hunde, die sich unter ihr versammeln, herabschaut. Sie wissen, dass Sie sie nicht überwältigen können, aber Sie sind vollkommen davon überzeugt, dass Sie sie überlisten werden.“

Phoebe errötete, halb verärgert, halb beunruhigt. Zum Glück war es dunkel.

„Interessant. Mir ist oft aufgefallen, dass einige Leute in betrunkenem Zustand netter sind. Sie scheinen da keine Ausnahme zu sein, Sir.“

Er lachte wieder und klopfte mit der Hand auf die Bank neben sich.

„Dann brauchen Sie lediglich ein halbes Stündchen in meiner Nähe zu bleiben. Sobald ich wieder kräftiger bin, werde ich meine Flasche nachfüllen. Dann werde ich Sie mit Komplimenten überschütten, wenn es das ist, was Sie wünschen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das wünsche ich mir nicht.“

„Sind Sie sicher? Jeder hört ab und zu gern ein nettes Wort. Zum Beispiel könnte ich Ihnen sagen, wie verlockend prüde und gleichzeitig rosig Ihr Mund im Augenblick aussieht. Eine wirklich schwierige Kombination. Die Oberlippe ist ein wenig dünn, aber schön geschwungen, während die Unterlippe eine Einladung zur Sünde ist. Sind Sie sicher, Ihnen gefallen nächtliche Schäferstündchen nicht genauso wie Ihrer Herrin, Rosie?“

Sie errötete noch heftiger, aber ihre Stimme blieb ausdruckslos. Er wollte sie ganz offensichtlich aus der Fassung bringen, aber sie würde ihm nicht den Gefallen tun und ihm zeigen, dass es ihm gelungen war. Ihr Stolz ließ nicht zu, dass sie als Erste das Handtuch warf.

„Wenn es so wäre, würde ich es Ihnen gewiss nicht verraten, Lord Wrexham. Und ich würde bestimmt keinen Mann wählen, der so betrunken wäre, dass er sich am folgenden Morgen nicht einmal mehr an meinen Namen erinnern würde.“ Es folgte Stille nach ihrem recht schonungslosen Hieb, und diesmal errötete Phoebe vor Scham über ihre Gemeinheit. „Das hätte ich nicht sagen sollen. Es war grausam.“

Er lachte leise. „Aufrichtigkeit ist oft grausam. Es ist ein Wunder, dass Sie auch nur zehn Minuten hintereinander Ihren Posten als Gesellschafterin behalten konnten, wenn Sie immer so freimütig Ihre Meinung sagen.“

„Nein, tue ich nicht.“

„Nun, ich weiß nicht, ob ich mich geschmeichelt fühlen soll, dass Sie bei mir eine Ausnahme machen und mich mit Ihrer Offenheit beglücken. Oder ist es eine etwas umständlichere Art des Flirtens?“

„Nein, ist es nicht.“

„Nein. Das wäre nicht Ihr Stil. Ein Jammer. Dann mach ich mich wohl besser auf den Weg, bevor die Dummköpfe da drin sich fragen, ob ich gerade versuche, mich an Ihnen zu vergreifen.“

Einen Moment lang klang er völlig nüchtern. Kein Wunder, dass er es kaum erwarten konnte, seine Flasche neu aufzufüllen. Phoebe war versucht, ihm wieder zu raten, nicht so viel zu trinken… Sie schüttelte den Kopf über sich. Es hatte keinen Sinn. Jahrelang hatte sie versucht, ihren Onkel vom Trinken abzuhalten. Wenn sie nicht einmal den wichtigsten Menschen in ihrem Leben retten konnte, wie wahrscheinlich war es dann, dass sie einen Fremden beeinflussen konnte?

„Gute Nacht, Lord Wrexham. Passen Sie bitte auf, wohin Sie treten, wenn Sie die Brücken überqueren. Es wäre schade, wenn Sie es nicht schaffen sollten, die Nacht zu überleben.“

2. KAPITEL

Passen Sie auf.

Dominic bezweifelte sehr, dass irgendjemand im Palazzo Gioconda es sehr bedauern würde, sollte er heute Nacht wirklich den letzten Atemzug tun. Außer vielleicht Hib, aber Hib zählte nicht.

Und nach ihren harten Worten würde vielleicht auch Miss Rosie Primel Schuldgefühle bekommen. Ein Gewissen war nicht sehr angenehm.

Er lächelte über den Spitznamen, den er ihr gegeben hatte. Er hatte ihr offensichtlich nicht gefallen, aber er passte zu ihr. Leute wie sie fühlten sich nicht gern in ihrer Würde verletzt. Sie hielten anderen Leuten vielmehr gern Standpauken über die Würde, was ganz schön vermessen war, wenn man bedachte, welch schamloses Vergnügen ihre Tante an den fleischlichen Genüssen fand.

Andererseits musste er Miss Rosie Primel etwas zugutehalten – sie zeigte niemals Verachtung für ihre Tante. Entweder sie empfand keine, oder sie war eine hervorragende Schauspielerin mit ausgeprägtem Selbsterhaltungstrieb. Aber eigentlich glaubte er eher, dass es ihr einfach gleichgültig war. Ihr Leben und ihre Umstände hatten sie so betäubt, dass sie einfach die Augen vor dem Lebenswandel ihrer Tante verschloss, solange jene sie nur weiter ernährte.

Er warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Er hätte sich nicht auf ein so langes Wortgefecht mit Miss Rosie Primel einlassen sollen. Er war spät dran. Jetzt überquerte er die Ponte dell’Accademia und blickte kurz über die Schulter.

Passen Sie auf, wohin Sie treten.

Ihre kühlen Worte fielen ihm wieder ein. Von der anderen Seite des Kanals aus und im Dunkeln sah die maurische Fassade des Palazzo Gioconda nicht baufällig aus. Kerzen flackerten in einigen der oberen Zimmer, wo die Gäste sich auf eine weitere Nacht der Wonnen einstimmten. Schon bald würden sie sich zu Hunderten anderer Nachtschwärmer um Venedig herum gesellen und sich dem Glücksspiel, der Völlerei und der Unzucht hingeben. Es war die perfekte Stadt für Männer wie ihn, die aus ihrer eigenen Welt verstoßen worden waren und sich an eine andere klammerten.

Perfekt für Verschwörer und Diebe.

Er wandte dem Anblick den Rücken zu und begab sich tiefer in den Stadtteil Dorsoduro, wo er die Steinbrücke überquerte, die über einen schmalen Kanal führte, um seine Spur zu verwischen. Venedig hatte Augen, wie er nur allzu gut wusste – Augen und Dolche, die stets bereit waren, jemandem in die Brust gestoßen zu werden.

Das Mondlicht hob sich wie eine Narbe vom tintenschwarzen Wasser ab, das die Fenster in den hohen Mauern zu beiden Seiten zu beobachten schienen. Vielleicht hatten sie gesehen, wie Männer von den Kanälen verschluckt worden waren, aber wenn ja, würden sie es niemandem verraten.

Es mochte sehr gut sein, dass er irgendeine dieser Nächte nicht mehr überleben würde, aber Dominic bezweifelte sehr, dass ein Sturz von einer Brücke der Grund dafür sein würde.

„Hast du dich mit dem schönen bösen Jungen von Venedig gut unterhalten?“ Lady Grafton lehnte sich behaglich in den Berg von Brokatkissen auf ihrem Bett zurück. In ihrem weinroten Morgenrock, den sie wie einen blutigen Flügel fächerförmig auf dem Bett ausgebreitet hatte, sah sie aus wie eine dekadente Kaiserin. Nur das Lockenpapier in ihrem dunklen Haar verdarb den Eindruck ein wenig, genau wie das Lachen in ihren Augen.

Phoebe seufzte und setzte sich auf das kleine Sofa neben den Fenstern, die auf den Kanal hinunterblickten.

„Sei nicht albern, Milly. Es ist nicht unterhaltsam, einem Mann dabei zuzusehen, wie er sich selbst zerstört, auch wenn er es mit einem Scherz und einem Lächeln tut. Ich war nur neugierig.“

„Neugierig weswegen?“

„Oh, wegen vieler Dinge. Er gestand, dass er in den Casinos viel Geld verloren hat und somit gezwungen ist zu sparen, aber das erklärt nicht, warum er das Gioconda ausgesucht hat. Es ist zu … zahm für ihn.“

„Was hat dann George Clapton hier zu suchen? Zahm ist ganz und gar nicht das Wort, mit dem ich diesen unangenehmen jungen Mann beschreiben würde.“

„Stimmt, aber offenbar genießt er die Zeit, die er nicht unter dem Daumen seines Vaters leben muss.“

„Nur verständlich. Sir Henry ist wirklich der langweiligste Stockfisch, den man sich vorstellen kann.“

„Aber Stockfische können leicht in Zorn geraten, liebste Milly. Und das erklärt immer noch nicht, was Lord Wrexham hier tut.“

„Du zerbrichst dir einfach zu sehr den Kopf, Phoebe. Das Gioconda hat viele Vorteile für einen Mann seiner Sorte. Es ist in der Nähe seiner geliebten Casinos, und obwohl es sich ein Hotel nennt, hat es so wenig Bedienstete, dass man kommen und gehen kann, wann immer man will, ohne bemerkt zu werden. Darf ich dich daran erinnern, dass wir es ebenfalls aus genau diesen Gründen gewählt haben? Ich möchte gewiss nicht, dass irgendwelche neugierigen Diener über meine nächtlichen Aktivitäten klatschen.“

Phoebe antwortete mit einem flüchtigen Lächeln, und Milly seufzte. „Irgendetwas macht dir noch zu schaffen, und das verheißt nichts Gutes für uns. Was ist es?“

„Ich weiß nicht. Bisher läuft alles gut. Der hiesige Adel findet Gefallen an dir und wir werden überallhin eingeladen. Selbst Mrs. Banister denkt wohl, dass dein Titel und Vermögen deine skandalöse Angewohnheit aufwiegt, mit unangemessenen Ausländern in der Nacht zu verschwinden.“

„Sie ist einfach nur entzückt darüber, dass wir da sind.“ Milly lachte. „Nichts freut einen Menschen wie sie mehr als die Möglichkeit, auf jemanden herabzusehen. Wer mir wirklich leidtut, ist ihr armer Sohn. Ich hoffe, er findet den Mut, sich gegen sie aufzulehnen.“

„Das bezweifle ich. Und falls er es doch tut, dann auf eine Weise, die ihm eher schaden wird als ihr.“

„Meinst du, das ist es, was Wrexham zugestoßen ist?“, überlegte Milly. „Agatha Banister sagte, seine Mutter sei gestorben, als er noch ein Baby war, und offenbar ist der Duke ausgesprochen rechtschaffen und stolz.“

Phoebe rümpfte die Nase. „Die schlimmste Sorte. Was hat sie noch gesagt?“

„Er sei von seiner Großmutter, der Dowager Duchess, erzogen worden, die furchtbar skandalös war und stets Künstler und Schauspieler zu sich einlud. Keine besonders zuträgliche Umgebung für ein Kind.“

„Ich weiß nicht. Es klingt angenehmer als die frömmelnde Atmosphäre, in der wir aufwuchsen.“

„Frömmigkeit ist nicht, was unserer Familie schlecht bekommen ist, Phoebe. Ich bin nicht der Meinung, dass es unbedingt zur Grausamkeit führen muss, wenn man Gott dient.“

„Natürlich nicht. Nun, was immer schuld an seinem Verlangen ist, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken, es ist einfach ein Jammer. Er war einmal ein sehr intelligenter Mensch.“

Milly strich über den Seidenstoff ihres Morgenrocks. „Das ist er immer noch, meine Liebe. Unterschätze ihn nicht, nur weil er ein Trunkenbold und Spieler ist.“

„Nein. Ich habe gesehen, wie klug er im Kasino spielt, bevor der Alkohol seinen Verstand benebelt. Und Onkel Jack war jahrelang einer der besten Agenten der Krone, bevor er sich zu Tode trank. Vielleicht erinnert er mich an ihn.“

„Meine Liebe, ich vergötterte Jack, das weißt du, aber er war das, was man unscheinbar nennt, während Dominic einer der schönsten Männer ist, die ich je gesehen habe, und das will was heißen. Deswegen ist es doch so jammerschade. Aber dennoch, er mag sich im Exil befinden, mittellos sein und sich langsam zu Tode trinken, aber du kannst mir glauben, kaum geht sein Papa ins Jenseits über und Dominic wird der nächste Duke of Rutherford, werden sich die besten Familien Londons mit ihren Töchtern anstellen, um den verarmten Duke zu ergattern. Und mehr noch, jene Töchter werden nicht den geringsten Widerstand leisten.“

Phoebe musterte ihre Tante nachdenklich. „Gefällt er dir?“

„Lieber Himmel, nein. Du weißt, mir gefallen große Bären, keine geschmeidigen nervösen Panther. Mir sind große kräftige Männer lieber als Kunstwerke wie unser Dominic.“ Sie seufzte glückselig, sodass Phoebe lächeln musste.

„Wie Alexei Razumov?“

Milly tat so, als fächelte sie sich Luft zu. „Endlich einmal beschenkt mich unsere Mission mit einem äußerlich so vielversprechenden Material. Nur schade, dass er nicht die Intelligenz oder den Mut besitzt, der zu seinem Äußeren passen würde. Dennoch wird er für unsere Zwecke hier reichen.“

„Er scheint jedenfalls sehr von dir eingenommen zu sein. Aber übereile nichts. Noch befinden sich nicht alle Figuren auf dem Brett.“

„Ich habe es gewiss nicht eilig, liebe Phoebe. Im Moment sind wir nicht mehr als das, was wir scheinen – eine vermögende Witwe und deren sanftmütige Gesellschafterin, die gekommen sind, um sich an den Genüssen dieser schönen Stadt zu erfreuen.“

3. KAPITEL

Die Sonne schien fröhlich auf ganz Venedig herab und drang sogar durch die verstaubten Fensterscheiben in Signor Martellis Buchgeschäft in einer engen Gasse in Dorsoduro. Dort gelang es den Strahlen, sich auf einem schlichten Strohhut niederzulassen und unbekümmert mit dessen orangefarbener Schleife zu spielen.

Dominic hielt vor dem Fenster inne und beobachtete die beiden Menschen im Geschäft.

Die orangefarbene Schleife war neu, aber er kannte den Strohhut und die sittsame Frau, die ihn trug – eine Frau, die sich auf keinen Fall eine halbe Stunde Fußweg vom Palazzo entfernt in einem recht anrüchigen Teil von Venedig aufhalten sollte, das von mittellosen Künstlern und hungrigen Dichtern bevölkert wurde, die einfach nicht aufhören wollten zu glauben, dass die Stadt ihnen zu Ruhm und Reichtum verhelfen würde.

Passen Sie auf, wohin Sie treten.

Miss Rosie Primels letzte Worte am vorigen Abend wollten ihm die ganze Nacht nicht aus dem Sinn gehen und hatten seinen nächtlichen Unternehmungen eine zusätzliche Würze verliehen.

Aber offensichtlich war sie ein weiteres Beispiel für jemanden, der sich nicht an die eigenen Ratschläge hielt.

Dominic gab der Versuchung nach und betrat das Buchgeschäft, nur zu erfreut über die Gelegenheit, ihr eine Predigt zu halten. Der Geschäftsinhaber schien mit ihm übereinzustimmen. Er drückte ein Buch an seine Brust, schwitzte ganz offensichtlich und sprach hilflos in einer Mischung aus Italienisch und Englisch auf sie ein.

„Aber signorina, dieses Buch ist gar überhaupt nicht per giovani donne innocenti … es ist … wie sagen Sie … es ist … ah, mio …“

„Ich glaube, er versucht Ihnen zu sagen, dass das Buch zu aufreizend für vornehme junge Damen ist, Miss Primel. Erlauben Sie mir, Signor Martelli.“ Dominic lehnte sich an den Tresen und streckte die Hand nach dem Buch aus.

Miss Brimfords bereits kerzengerader Rücken straffte sich noch mehr, als sie seine Stimme hörte. Ihre Haltung würde sogar einem Schweizer Reisläufer Ehre machen. Sie drehte sich zu ihm um und heftete den Blick ihrer außergewöhnlichen gelbbraunen Augen auf ihn, die es trotz ihrer Farbe stets fertigbrachten, kühl auszusehen.

„Ja, seien Sie doch so freundlich und erklären Sie, Lord Wrexham. Ich fürchte, mein Italienisch reicht nicht aus, um kompliziertere Themen zu bereden, und so muss ich mich auf Ihre ausgezeichneten Sprachkenntnisse verlassen. Warum genau stellt dieses Buch eine Bedrohung für eine so vornehme junge Dame wie mich dar?“

Da diese Rede auf Italienisch erfolgte, strich Dominic sich mit der Hand über das raue Kinn, um sein Lächeln zu verbergen.

„Nun gut. Es liegt mir fern, mich zwischen eine Frau und ihre …“ Er öffnete das recht ramponierte Buch. „Meine Güte … Fanny Hill?“

„Lieber Himmel, er kann lesen“, sagte Miss Brimford trocken und nahm ihm das Buch aus den im Moment völlig kraftlosen Händen. Sie legte einige Münzen auf den Tresen und ging hinaus. Signor Martelli zuckte die Achseln.

„Ich habe es versucht. Aber selbst die innocenti müssen es ja irgendwo lernen.“

„Ausgezeichnete Philosophie, Martelli. Aber man würde doch denken, dass sie auf einer niedrigeren Stufe beginnen und sich dann langsam nach oben arbeiten sollten.“

Dominic verließ das Geschäft gerade noch rechtzeitig, um sie in einer engen Gasse verschwinden zu sehen, die zum Osten führte. Sie ging ohne Zögern durch das Labyrinth der Gassen und Brücken und ignorierte die gelegentlichen anzüglichen Zurufe von Gondelfahrern und Händlern.

Dominic holte sie bald ein. Sie blieb stehen.

„Wollten Sie noch etwas, Lord Wrexham? Vielleicht den Weg zum nächsten Weinkeller?“

„Nicht nötig, ich kenne jeden einzelnen. Ich wollte nur ein Ritter sein und mich vergewissern, dass Sie sich nicht verirren. Denn ich bin noch immer nicht ganz sicher, dass Sie wissen, wo Sie sind.“

„Die Ponte dell’Accademia befindet sich genau fünf Wegbiegungen von hier – links, rechts, links, rechts und wieder links. Auf dem Weg dorthin treffen wir auf Signora Cavallis Geschäft. Dort werde ich einen Einkauf tätigen, für den ich vielleicht fünf Minuten brauchen werde. Wenn Sie wünschen, können Sie warten und meine Päckchen zum Palazzo tragen. Ich selbst werde eine weitere halbe Stunde weitergehen, um zur Basilika zu kommen.“

Bis er sich von seiner Empörung genügend erholt hatte, um ihr zu antworten, war sie schon wieder fort.

In den zwei Wochen, seit er im Palazzo wohnte, und bis zum vorigen Abend hatte Miss Brimford selten mehr als zehn Worte an ihn gerichtet. Das holte sie jetzt ganz gehörig nach. 

Er sollte ihr sagen, was sie mit ihren Päckchen tun konnte, soweit es ihn anging. Vielleicht sollte er es wirklich tun, nur um zu sehen, wie ihre faszinierenden Augen wieder aufblitzten. Lächelnd machte er sich an ihre Verfolgung. Nach der rauen Nacht könnte ein wenig Unterhaltung nicht schaden.

Verdammt.

Phoebe war in der Hoffnung länger als gewöhnlich in Signora Cavallis Zeitschriftenladen geblieben, dass Lord Wrexham sich langweilen und gehen würde. Aber der verflixte Mann lehnte noch immer lässig an der Mauer vor dem Geschäft, die Arme vor der Brust verschränkt, das Kinn im zerknitterten Krawattentuch.

Für gewöhnlich gelang es ihr, ihre Gedanken von allem anderen abzulenken, wenn sie einige Blätter von Signora Cavallis exquisitem Briefpapier auswählte. Aber heute ruinierte ein gewisser anmaßender Trunkenbold den Morgen, der so schön begonnen hatte. Es gab keinen Grund, verlegen zu sein, weil sie John Clelands freizügiges Buch gekauft hatte, aber dennoch war sie es. Sie war sogar versucht gewesen, ihm zu sagen, dass sie es nicht für sich erstand, aber das wäre feige gewesen.

„Sagen Sie nicht, dass Sie ebenfalls zur Feder greifen und ein Meisterwerk in Form eines Briefromans schaffen wollen“, sagte der Grobian, kaum dass sie das Geschäft verlassen hatte. „Es scheint der Ehrgeiz fast jeder Engländerin hier in Venedig zu sein, wenn sie nicht gerade darauf aus ist, den vollkommenen Sonnenuntergang über dem Markusdom in einem Aquarell einzufangen.“

„Der Wein muss nicht nur Ihren Verstand, sondern auch Ihren Orientierungssinn beeinträchtigt haben, Lord Wrexham. Der Markusdom liegt im Osten des Markusplatzes. Sollte die Sonne je über ihm untergehen, wird David Hume sich aus seinem Grab erheben und rufen: Da habt ihr es!“

Leise lachend folgte er ihr. „Fanny Hill auf der einen Seite, und David Humes Untersuchung über den menschlichen Verstand auf der anderen. Ich würde viel darum geben, mir Ihre Bücherregale ansehen zu dürfen, Miss Brimford.“

Sie seufzte. Also hatte sie recht gehabt. Irgendwo in seinem umnebelten Verstand gab es noch die Überreste einer vernünftigen Erziehung. Was für eine Verschwendung. Wenn sie ihren Eltern ähnlich wäre, hätte sie es sich zur Aufgabe gemacht, den Taugenichts zu bessern und wieder auf den richtigen Weg zu bringen.

Glücklicherweise war sie ganz anders. Sie machte sich keine Illusionen, was die angeblich angeborene Tugend der Männer anging, ebenso wenig wie das angeblich angeborene Böse der Frauen.

„Nun, ich würde viel darum geben, Sie von hinten zu sehen“, murmelte sie vor sich hin, während sie die Stufen zu einer der vielen Brücken hinaufstieg.

„Hm. Zufällig heißt es, dass ich von hinten auch ganz passabel aussehe.“

Das Buch fiel ihr aus den Händen und rutschte auf die Öffnungen der hölzernen Brüstung zu. Phoebe sah Fanny Hill bereits in den trüben Gewässern des Kanals versinken, doch Lord Wrexham sprang vor und packte es, während es noch am Rand schwankte. Es ging so schnell, dass es aussah, als würde er vom Schwung der Bewegung ebenfalls in den Kanal stürzen. Phoebe packte ihn an der Jacke, aber er richtete sich schon ächzend auf, steckte sich das Buch unter den Arm und nahm ihr das Briefpapier aus der Hand.

„Ich glaube, ich werde wirklich Ihre Einkäufe für Sie tragen, Miss Brimford. Es ist sicherer für uns beide.“ Beide Gegenstände unter dem Arm, fügte er weniger scharf hinzu: „Sie können jetzt meine Jacke loslassen. Ich glaube, ich habe mein Gleichgewicht wieder.“

Also gab sie ihn frei und presste die Hände zusammen. „Können Sie schwimmen?“

Er hob die dunklen Augenbrauen. „Ja. Warum?“

„Es scheint unvermeidlich, dass Sie eines Tages in einem Kanal landen. Also wüsste ich gerne, ob Sie wenigstens eine kleine Chance haben, es zu überleben.“

Er lächelte, und seine Augen hatten plötzlich die Farbe des Wassers hinter ihm. „Wie fürsorglich. Ich bin gerührt. Und Sie? Können Sie schwimmen?“

„Ja.“

„Natürlich.“

„Wieso natürlich?“

„Weil es die unwahrscheinlichere Antwort ist. Unerwartet. Wie Sie.“

Es war kein Kompliment, aber es fühlte sich wie eins an. Zum Henker mit dem Mann, sie würde ihm nicht den Gefallen tun zu erröten. Sie setzte den Weg nach Osten wieder fort.

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