Miss Daisy und der geheimnisvolle Verführer

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Schockiert beobachtet Miss Daisy den leidenschaftlichen Kuss zwischen ihrer Arbeitgeberin und dem teuflisch gut aussehenden David Blackwood. Als sie damit droht, den Ehebruch zur Anzeige zu bringen, hat Mr. Blackwood zu ihrer Überraschung jedoch nichts dagegen: Sein Geschäft besteht darin, verzweifelten Frauen den Ausweg aus einer unglücklichen Ehe zu eröffnen, indem er einen Scheidungsgrund liefert. Von seinen noblen Beweggründen ist Miss Daisy sehr angetan, und der Kuss, den sie beobachtet hat, sah ebenfalls verlockend aus … Doch plötzlich steht der schreckliche Verdacht im Raum, dass David einen ungeliebten Ehemann ermordet haben soll!


  • Erscheinungstag 25.05.2024
  • Bandnummer 162
  • ISBN / Artikelnummer 9783751526845
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lorraine Heath

Lorraine Heath wurde in England geboren, zog jedoch als Kind mit ihren Eltern in die USA. Geblieben ist ihr eine tiefe Zuneigung zu beiden Ländern. Die Charaktere in ihren erfolgreichen Romanen werden oft als besonders lebensnah bezeichnet, was die New-York-Times-Bestseller-Autorin auf ihre im Psychologiestudium erworbenen Kenntnisse zurückführt. Lorraine Heath lebt mit ihrem Mann in Texas. Noch mehr über die Autorin erfahren Sie auf ihrer Homepage: www.lorraineheath.com

1. KAPITEL

London

April 1875

Läufer, der Lump

David Blackwood, genannt Läufer, fand, dass ein Mann schlimmer beschimpft werden konnte. Er saß am Mahagonischreibtisch in seiner eleganten Bibliothek und las die Klatschspalten. Es war schon erstaunlich, wie schnell und endgültig der gute Ruf eines Mannes durch einen Skandal zerstört werden konnte. Im letzten Herbst waren zwei Verstöße gegen die guten Sitten an die Öffentlichkeit gezerrt worden und jetzt wurden sie in den Klatschspalten noch einmal durchgekaut. Sie sollten den frisch in die Gesellschaft eingeführten Debütantinnen und den anderen Damen, die auf der Suche nach einem Ehemann waren, eine Warnung sein: sich mit ihm einzulassen war der sichere Weg in den Ruin. Er war zwar nicht der Einzige, der auf dieser verteufelten Liste stand, aber er schien einen Spitzenplatz innezuhaben. Offenbar war er derjenige, dem man am dringendsten aus dem Weg gehen musste. Zum Glück konnte er das eher amüsant finden als kränkend, denn er war nicht auf der Suche nach einer Ehefrau. Weder diese Saison noch in der nächsten oder den folgenden fünfzig. Ihm war wohl bewusst, welche Fallstricke eine Ehe mit sich brachte, und hatte nicht vor, sich zu binden, bis er seinen letzten Atemzug tat.

„Sir?“

Er sah zu seinem feingliedrigen, grauhaarigen Butler auf, der stocksteif im Türrahmen stehengeblieben war. „Was gibt es denn, Perkins?“

„Ich bitte um Entschuldigung für die Störung, ich weiß, dass Sie zu tun haben, aber eine Mrs. Mallard bittet um Ihr Gehör.“

Er holte seine goldene Taschenuhr aus der Westentasche und sah nach, wie spät es war. Kurz nach sieben. Um neun wollte er sich mit den Schachfiguren treffen, ein Spitzname, den man ihm und seinen drei engsten Freunden wegen ihrer skrupellosen strategischen Investitionen gegeben hatte, während sie in Oxford studiert hatten. Dort hatten sie fleißig gelernt und Unruhe gestiftet. Genau diese Skrupellosigkeit war der Grund dafür, dass er jetzt tun und lassen konnte, was er wollte, ohne sich um das Urteil der vornehmen Gesellschaft kümmern zu müssen. „Ich kann sie empfangen, aber bitte lassen Sie die Kutsche vorfahren. Ich möchte sofort aufbrechen, wenn die Angelegenheit erledigt ist.“

Sobald sein Butler verschwunden war, legte er die Zeitung weg, ebenso wie die zahlreichen Berichte über verschiedene Investitionsmöglichkeiten, die er in Erwägung ziehen wollte. Als sein Schreibtisch aufgeräumt genug war, schob er den stabilen, ledergepolsterten Stuhl zurück, auf dem er saß, und stand auf, um sich in die Mitte des riesengroßen Raumes zu begeben. Er hatte dieses lächerlich große Haus gekauft, weil sein Vater es gewollt hatte, und Läufer hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, seinem Erzeuger alles zu verweigern, was der sich wünschte.

Jetzt wartete er geduldig auf seinen Gast. Es kam nie etwas Gutes dabei heraus, wenn man vorschnell urteilte, und er hatte schon vor langer Zeit gelernt, abzuwarten, bis sich die Situation, in der er sich befand, in all ihren Aspekten offenbart hatte.

Es vergingen nur wenige Minuten, bis Perkins zurückkehrte. Die Frau, die ihm folgte, erinnerte ihn an eine Ente. Sie war klein und trug ein dunkelblaues Kleid, das bis unters Kinn zugeknöpft war. Ihr blondes Haar war unter einem Hut mit schmaler Krempe aufgesteckt, dessen Kopf nur mit ein paar hellblauen Blüten und einem grünen Zweig geschmückt war.

„Mrs. Ava Mallard“, verkündete Perkins feierlich und die Lady zuckte so erschrocken zusammen, als ob er ihr in den Hintern gekniffen hätte. Sie sah aus, als würde sie jeden Augenblick die Flucht ergreifen, wenn man ihr einen Grund dazu gab. Ein lautes Geräusch. Eine unerwartete Bewegung. Das Flackern einer Gaslampe.

Er gab sich Mühe, ruhige, lange Schritte zu machen, die nicht bedrohlich wirkten, als er auf sie zuging. Sie stand wie angewurzelt da. „Mrs. Mallard, wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

Sie sah erst Perkins an und wandte ihre Aufmerksamkeit dann wieder ihm zu. Mit einem kaum hörbaren Flüstern fragte sie: „Sind Sie der Läufer?“

„Einfach nur Läufer, das ist ein Spitzname, den meine Freunde mir verpasst haben, als wir noch Studenten waren. Ich muss zugeben, dass er an mir hängen geblieben ist.“

„Mrs. Winters hat gesagt, Sie hätten ihr im letzten Herbst geholfen.“

„Das habe ich, in der Tat.“ Diese Hilfe hatte ihn fünftausend Mäuse gekostet, nachdem Mr. Winters ihn auf Schadensersatz verklagt hatte, aber er hielt es für eine sinnvolle Ausgabe und sein Vermögen hatte keinen bleibenden Schaden davongetragen. „Wollen Sie sich nicht setzen und wir unterhalten uns in Ruhe über den Grund für Ihren Besuch?“

Sie sah sich um und nagte dabei an ihrer Unterlippe. „Wenn ich es mir genau überlege, hätte ich wahrscheinlich nicht herkommen dürfen.“

„Sie haben hier bei mir nichts zu befürchten, Mrs. Mallard. Perkins, bitte lassen Sie uns Tee bringen.“

„Jawohl, Sir.“ Der Butler zog sich hastig zurück. Ihm war in Gegenwart der Damen, die oft zu Besuch kamen, noch nie ganz wohl gewesen, und er war schrecklich schlecht darin, sein Missfallen über ihre Anwesenheit zu verbergen.

Läufer zog sich ein paar Schritte zurück. „In diesem Sessel hier werden Sie es am bequemsten haben, denke ich. Ich bleibe neben dem Kamin stehen. In Ordnung?“

Sie nickte halb, ehe sie zu einem großen Ohrensessel hinüberschlurfte. Er blieb vor seinem Barwagen stehen, und schenkte sich einen Scotch ein, ehe er zu dem riesengroßen Kamin hinüberging, sich anlehnte und die Frau musterte, die nervös zuckend vor ihm saß. „Ich nehme an, Sie sind zu mir gekommen, weil Sie sich eine Scheidung wünschen.“

Sie nickte zögerlich und verschränkte die Hände fester ineinander. „Er ist nicht untreu, aber er ist auch kein guter Mann. Er hat unglaublich hohe Erwartungen und wenn diese nicht erfüllt werden …“

Er schüttelte mitfühlend den Kopf. „Sie brauchen mir die Einzelheiten nicht zu erzählen, Mrs. Mallard. Dass Sie sich von ihm befreien wollen, ist für mich Grund genug.“

„Ich mache mir allerdings Sorgen, ob ich das Unausweichliche nicht vielleicht schon zu lange aufgeschoben habe. Ich glaube, er möchte mich loswerden, vielleicht einweisen lassen … oder noch Schlimmeres.“

Er hörte Porzellan klappern und hielt einen Finger an die Lippen. Wenn er diesen Frauen mit Erfolg zu ihrer Freiheit verhelfen wollte, durfte niemand erfahren, was genau er für ein Verhältnis zu ihnen hatte.

Eine anmutige junge Frau, die er nicht kannte, kam mit einem Teetablett in den Händen in seine Bibliothek. Ihr blondes Haar hatte dieselbe Farbe wie der Honig, mit dem er morgens seine Scones bestrich. Sie hatte es unter ihrem weißen Häubchen zu einem festen Knoten aufgesteckt. Ihre Augen hatten ein hypnotisierendes, strahlendes Blau wie der Rittersporn, den seine Mutter mit so großer Freude gezüchtet hatte. Ihr Blick war aufmerksam und voller Neugier. Sie schien ihre Umgebung in allen Einzelheiten wahrzunehmen und sich alles genau zu merken. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid und eine mit Rüschen besetzte weiße Schürze, aber sie brauchte auch keinen weiteren Schmuck, um die schönste Frau zu sein, die er je in seinem Leben gesehen hatte. Perkins kümmerte sich um Einstellungen und Entlassungen beim Personal und Läufer interessierte sich in der Regel kaum dafür. Aber bei ihr war das irgendwie etwas anderes, sie zog Aufmerksamkeit auf sich, einfach nur, indem sie da war. Sie stellte das Tablett auf einem Beistelltisch direkt neben Mrs. Mallard ab.

„Hat man Sie mir schon vorgestellt?“ Es war nicht üblich, dass er Fragen stellte, auf die er die Antwort bereits kannte – wenn er ihr schon einmal auf einem Flur begegnet wäre, hätte er es nicht vergessen – aber er hatte nach etwas Unverfänglichem gesucht und „Wer zum Teufel sind Sie?“ schien ihm nicht der richtige Weg zu sein.

Sie hatte seinen Gast angesehen, aber sie wandte ihm sofort ihre Aufmerksamkeit zu und machte einen schnellen Knicks. „Nein, Sir. Ich bin seit weniger als einer Woche in Ihren Diensten.“

„Ihr Name?“

„Daisy.“

Er runzelte die Stirn. Für ihn sah sie überhaupt nicht wie eine Daisy aus. Der Name klang viel zu gewöhnlich und er nahm an, dass sie alles andere als durchschnittlich war. Es lag an dem Selbstbewusstsein, mit dem sie sprach und seinen Blick erwiderte. Im Gegensatz zum Rest des Personals wirkte sie in Gegenwart ihres Dienstherrn weder eingeschüchtert noch ehrfürchtig. Er hätte ihr gerne weitere Fragen gestellt, aber dafür war jetzt keine Zeit. „Schenken Sie Mrs. Mallard bitte Tee ein.“

Seine Besucherin hatte sich ein wenig beruhigt, während er mit dem Dienstmädchen gesprochen hatte. Vielleicht hatte sie jetzt nicht mehr das Gefühl, verhört zu werden. Es war ihm lieber, wenn die Frauen, die ihn aufsuchten, nicht zu nervös waren. Das Dienstmädchen schien es jedenfalls nicht zu sein. Sie machte sich ohne viele Umstände am Teetablett zu schaffen.

„Milch und Zucker?“, fragte sie mit sanfter Stimme, in deren Tonfall etwas Vornehmes mitschwang. Er selbst war zwar nicht in den Hochadel hineingeboren worden, aber er hatte Freunde, die aus dieser Schicht stammten. Er hatte sie hin und wieder auf Gesellschaften in ihren Kreisen begleitet und war genügend Bekannten von ihnen vorgestellt worden, um deren vornehme Sitten zu erkennen, wenn sie ihm begegneten. Er fragte sich, wie es dazu gekommen war, dass sie ein Dienstmädchen geworden war.

„Ja, bitte“, sagte Mrs. Mallard.

Es war nicht gut, dass er gebannt zusah, wie sie mit zarten, makellosen Händen erst Tee und dann Milch in die Porzellantasse mit dem rosafarbenen Rosenmuster goss – sein gesamtes Porzellan zeigte die Lieblingsblumen seiner Mutter. Anschließend fügte das Dienstmädchen zwei Stück Zucker hinzu und rührte um. Mit einem sanften Lächeln reichte sie der verheirateten Lady die Tasse, ehe sie ihm ihre Aufmerksamkeit zuwandte. „Und für Sie, Sir?“

Er hob sein Glas ein Stück. „Ich bevorzuge Getränke mit ein bisschen mehr Biss.“

„Darf ich Ihnen nachschenken, ehe ich mich zurückziehe?“

Nein. Das hätte er sagen sollen. Sie musste aus der Bibliothek verschwinden, damit er die Angelegenheit mit Mrs. Mallard klären konnte. Immerhin hatte er noch eine Verabredung. Doch was stattdessen aus seinem Mund kam, war ein Ja.

Was zum Teufel war los mit ihm? Er hatte früher überhaupt gar keine Kontrolle über sein Leben gehabt und jetzt hatte er in jeder Hinsicht die Zügel in der Hand. Er sagte auf jeden Fall nie etwas, das er nicht meinte. Trotzdem hörte er sofort auf, sich selbst wortlos zu schelten, sobald sie ihm so nah war, dass er den leichten Duft süßer Veilchen riechen konnte und daran erinnert wurde, wie seine Mutter ihm die zarten Blüten auf ihren Spaziergängen durch den Wald gezeigt hatte und wie oft er sie als Geschenk für sie gepflückt hatte. Bei ihnen zu Hause hatte es immer nach Veilchen geduftet.

Als sie ihm das Glas abnahm, berührte sie mit ihren warmen, nackten Fingern seine Hand und er erstarrte vollkommen, atmete nicht einmal mehr. Sein Blick suchte ihren, nicht so sehr wegen des Erschreckens über die ungebührliche Berührung, sondern wegen der Gefühle, die sie in ihm weckte, als könne er spüren, wie wunderbar sich ihr ganzer Körper anfühlen würde, wenn er an seinem ruhte.

Dann war das Glas verschwunden und sie ebenfalls, seinen Verstand hatte sie mitgenommen. Er konnte sich nicht erinnern, dass ihn schon einmal eine Frau so durcheinandergebracht hätte. Er sah zu, wie sie zum Barwagen hinüberging. Sie hob den Stöpsel von einer Karaffe, roch daran und steckte ihn wieder an seinen Platz, ehe sie es mit der nächsten versuchte. Aus dieser Karaffe füllte sie sein Glas nach. Sie kannte sich also mit Spirituosen aus. Mit teuren. Sie kam zu ihm zurück und hielt ihm das Glas hin. Er war dieses Mal vorsichtiger, als er es entgegennahm, und gab sich Mühe, ihre Hand mit keinem Teil von seiner Hand zu berühren.

„Brauchen Sie sonst noch etwas, Sir?“, fragte sie.

„Heute Abend nicht mehr.“ Er hätte beinahe die Augen zugekniffen, weil er damit angedeutet hatte, dass er an einem anderen Abend vielleicht etwas brauchen könnte, etwas, das nicht zu ihren Dienstpflichten gehörte. Ein langsames Streicheln seiner Hand über ihre Wirbelsäule, eine Berührung ihres Halses mit seinen Lippen, ein Lecken an ihrer Haut. Alles gefährliche Pfade. Verboten. Wege, die er niemals gehen würde, weil er sich nicht an seinem Personal vergriff. Niemals, unter gar keinen Umständen.

„Sehr wohl, Sir.“

„Schließen Sie bitte die Tür hinter sich.“ Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass seine Worte so barsch klangen, beinahe wütend, aber er war es nicht gewöhnt, von einer Frau so aus dem Konzept gebracht zu werden.

„Ja, Sir.“ Falls sein barscher Tonfall ihr aufgefallen war, ließ sie sich nichts anmerken. Sie machte noch einen schnellen Knicks, ehe sie langsam hinausging, und er wäre ihr am liebsten gefolgt.

Lieber Gott. Er stürzte den Scotch herunter und bemerkte dabei, dass sie eine Spur ihres Veilchendufts an dem Glas hinterlassen hatte. Oder vielleicht hatte sich der Duft einfach im Raum verteilt. Das war äußerst unglücklich, weil er sofort aufhören musste, über sie nachzudenken.

„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte ihn eine ruhige, zögernde Stimme wie aus dem Nichts. Er wandte sich schnell wieder Mrs. Mallard zu. Er hatte sie vollkommen vergessen. Es sah ihm gar nicht ähnlich, so gedankenverloren zu sein. Mit was für einem Zauber hatte das hinreißende Dienstmädchen ihn belegt? „Nein, es ist alles in Ordnung. Wo waren wir?“

„Die Drohungen meines Ehemannes?“, erwiderte sie eilfertig, obwohl sie am Ende die Stimme so sehr hob, dass es klang, als ob sie sich nicht ganz sicher sei, dass ihre Antwort korrekt war.

In diesem Augenblick hasste er den Mann dafür, dass er in der Lage war, diese Frau geistig so zu unterdrücken, dass sie überhaupt kein Selbstvertrauen mehr besaß. Er wollte den Mistkerl verrotten sehen und sie von ihm befreit. „Gut. Haben Sie Kinder?“

„Nein.“

Er war froh darüber. Kinder und das Sorgerecht für sie brachten zusätzliche Komplikationen mit. Ganz abgesehen davon, wie verstört sie sein konnten, wenn sie noch zu klein waren, um richtig zu begreifen, was vor sich ging.

„Wie wollen Sie für Ihren Lebensunterhalt aufkommen, Mrs. Mallard? Er ist nicht verpflichtet, Ihnen Unterhalt zu zahlen, weil Sie diejenige sein werden, die man der Untreue überführen wird.“

„Ich habe bereits eine Stellung als Gesellschafterin einer alten Witwe gefunden, falls alles gut geht und ich meine Freiheit erlange. Da wir uns hervorragend verstehen, wird sie damit warten, die Stelle zu besetzen, bis ich weiß, was meine Zukunft bringt.“

Es beeindruckte ihn, dass sie sich bereits um ihre finanzielle Situation gekümmert hatte. Manche Frauen, denen er half, kehrten in den Schoß der Familie zurück. Andere suchten sich eine Stellung. Eine hatte ihr Kleidergeld gespart und er hatte ihr nach der Scheidung dabei geholfen, es so zu investieren, dass sie von den Erträgen ein bescheidenes, aber glückliches Leben führen konnte.

Er bewegte sich auf den Sessel zu, der ihr gegenüberstand, und sie riss erschrocken die Augen auf. „Wie ich vorhin gesagt habe: Sie haben von mir nichts zu befürchten, aber ich möchte, dass Ihnen vollkommen klar ist, was auf dem Spiel steht, und wenn ich nicht zu Ihnen herabschauen muss, macht das unser Gespräch viel einfacher.“

Ein Nicken, in Schluck Tee und er nahm an, dass sie sich überlegte, wie sie sich am besten so hinsetzen konnte, dass sie ihn mit dem heißen Getränk überschütten konnte, falls es nötig wurde. Er war sogar dankbar dafür, dass sie so rebellisch war.

Er ging zum Sessel und setzte sich. Mit dem Glas in beiden Händen beugte er sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel. „Eins möchte ich ganz deutlich sagen: Das alles wird sehr unangenehm für Sie werden. Eine Scheidung ist nur zulässig, wenn Untreue im Spiel ist. Es könnte Wochen dauern, bis Ihr Ehemann merkt, was wir vorhaben, aber um Erfolg zu haben, müssen wir ihn und das Gericht davon überzeugen, dass wir eine außereheliche Beziehung miteinander haben. Die Zeitungen werden zweifellos darüber berichten. Und Ihre gesamte Familie – Eltern, Geschwister, Cousinen – werden davon erfahren. Ihre Freundinnen. Feindinnen. Fremde. Wahrscheinlich werden Sie entehrt. Sie müssen sehr gründlich darüber nachdenken und sich ganz sicher sein, dass Sie diesen Weg wirklich gehen wollen.“

Sie hielt die Teetasse auf der Untertasse mit beiden Händen ganz still. Nicht einmal ein Zucken. Kein Zittern. „Wenn ich nichts unternehme, werde ich wahnsinnig. Ich habe bereits gründlich darüber nachgedacht, Herr Läufer …“

„Nur Läufer.“

Sie fing wieder an, an ihrer Unterlippe zu kauen. Wenn er so dicht vor ihr saß, konnte er die Narben von früherem Kauen erkennen. „Ich glaube, ich habe keine andere Wahl.“

„Sind Sie sicher, dass er keine Affäre hat?“

„Sehr sicher. Aber selbst wenn er eine hätte, muss eine Frau zwei Gründe für eine Scheidung vorbringen, ein Mann aber nur einen.“

Da sie über diese Bedingung schon Bescheid wusste, hatte sie vielleicht bereits mit einem Advokaten gesprochen oder Mrs. Winters hatte ihr die Ungerechtigkeit der Gesetzeslage erklärt. Läufer hatte seinem Freund, dem Duke of Kingsland, gegenüber schon mehrmals erwähnt, dass dieser Teil des Gesetzes geändert werden musste, damit Frauen nicht mehr Gründe vorbringen mussten als Männer, um eine Ehe zu beenden. Aber die Gentlemen, die Gesetze erließen, hatten Angst, dass mehr Männern der Stuhl vor die Tür gestellt wurde, wenn sie es Frauen zu einfach machten, sich aus einer Ehe zu befreien. Läufer fand, dass es eine sehr einfache Lösung für dieses spezielle Problem gab: Man durfte die Frau, die man zum Altar geführt hatte, eben nicht schlecht behandeln. „Sie hatten erwähnt, dass er Sie nicht gut behandelt. Würden Sie so weit gehen, von Grausamkeit zu sprechen?“

Sie nickte. „Aber wie soll ich das beweisen? Mein Wort steht doch gegen seins. Das Personal wird sich nicht gegen ihn auflehnen. Er ist Advokat und hat viel zu viel Macht und Einfluss. Aber selbst wenn sich die Hausangestellten auf meine Seite stellen sollten, erfülle ich nicht die nötigen Voraussetzungen für eine Scheidung, weil er, wie gesagt, nicht untreu gewesen ist.“

Vielleicht nicht körperlich, aber seinen Schwur, zu lieben und zu ehren hatte er gebrochen. Läufer seufzte und lehnte sich zurück. „Aber Sie glauben, dass er eine Scheidung beantragen wird, wenn er herausfindet, dass Sie ihm untreu sind?“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass sein Stolz ihm keine andere Wahl lassen wird.“ Sie neigte den Kopf ein wenig und ließ die Untertasse auf ihren Schoß sinken. Sie musterte ihn, als wäre er eine völlig neuartige Hunderasse. „Warum tun Sie das? Frauen aus einer Zwangslage heraushelfen? Er wird Sie mit Sicherheit auf Schadensersatz verklagen, weil Sie illegitimen Umgang mit dem hatten, was er als sein Eigentum betrachtet. Andere Ehemänner haben genau das getan. Was haben Sie zu gewinnen?“

Er antwortete ihr nicht, sondern trank den Rest seines Scotch aus und stand auf. „Überlegen Sie es sich gut, Mrs. Mallard. Wenn Sie es immer noch tun wollen, denken Sie sich einen Vorwand aus, um Ihr Haus ohne Ihren Mann zu verlassen, und kommen Sie am nächsten Dienstag um acht Uhr abends wieder hierher. Dann wird unsere Affäre beginnen.“

Daraufhin klapperte die Tasse ein wenig auf ihrer Untertasse. „Mrs. Winters hat mir versichert …“

„In Wirklichkeit wird überhaupt nichts passieren, aber wir werden es so aussehen lassen, als ob. Wenn Ihr Ehemann einmal Verdacht geschöpft hat, wird er mit Sicherheit einen Detektiv engagieren, um Beweise zu beschaffen. Es steht Ihnen frei, die Wahrheit zu sagen und zu leugnen, dass wir miteinander involviert sind. Aber man wird Ihnen nicht glauben. Mein Ruf wird dafür sorgen.“

Wie der Butler ihr vorhin befohlen hatte, saß Daisy auf einem mit Brokat bezogenen Sessel am Ende des Korridors und wartete darauf, dass der Mann, den alle, einschließlich seines Personals, Läufer nannten, seine Angelegenheiten mit der Frau hinter der verschlossenen Tür geregelt hatte, so dass sie das Teetablett abräumen und saubermachen konnte. Sie würde zweifellos Sofakissen auf dem Boden vorfinden. Vielleicht sogar zerbrochenes Geschirr oder Porzellanfiguren. Auch wenn die Begegnung dort drinnen ruhiger verlief, als sie erwartet hatte.

Seit sie als Informationsagentin arbeitete, als Privatermittlerin, wusste sie alles über David Blackwood. Sie war gerade wegen seines Rufs hergekommen. Ihr neuester Klient, Martin Parker, war sich ziemlich sicher, dass seine Frau eine unschickliche Affäre mit dem Mann hatte. Deswegen hatte Daisy eine Stellung als Dienstmädchen angenommen, so dass sie das Weib auf frischer Tat ertappen konnte. Am Mittwochabend um kurz nach neun war eine Frau zu Besuch gekommen. Daisy hatte einen Blick auf die Lady werfen können, bevor Läufer mit ihr die Treppe hinauf in seine Schlafkammer gegangen war. Es war nicht die Ehefrau gewesen, nach der Daisy suchte. Aber das musste nicht heißen, dass Mrs. Parker nicht zu seinen Geliebten gehörte. Im letzten Jahr war er in zwei Scheidungsverfahren als Ehebrecher benannt worden. Jetzt, nachdem sie ihn mit einer zweiten Frau bei sich zu Hause gesehen hatte, fragte sie sich, wie viele er brauchte, um seine Lust zu befriedigen.

Hier war sie nun also und hoffte, dass ihr Klient recht hatte, und nicht ihre Zeit verschwendete. Sie hoffte außerdem, dass sie sich dem Reiz von Läufer entziehen konnte. Der Mann sah viel zu gut aus mit seinem Gesicht, das wie aus Stein gemeißelt wirkte. Es war vielleicht ein wenig grob an den Kanten, aber trotzdem eine fesselnde Landschaft wie ein majestätischer Berg mit interessanten Spalten und Höhlen, die erkundet werden wollten. Dunkles Haar und dunkle Augen, Augen die zu viel sahen. Er war groß mit bemerkenswert breiten Schultern, die zweifellos jede Last tragen konnten, und seine Kleider saßen sehr gut an ihm. Er hatte offensichtlich einen sehr guten Schneider und gab sich große Mühe mit seiner Erscheinung. Als sie ihm das Glas abgenommen hatte, hatte sie die einzigartigen Knöpfe an seiner Weste bemerkt. Schwarzer Onyx mit einem eingelegten goldenen B.

Die meisten Dienstherren achteten kaum auf ihr Personal. Als er sie nach ihrem Namen gefragt hatte, hatte ihr Herz schneller geschlagen vor Furcht, dass ihre Tarnung aufgeflogen war. Aber er war offenbar nur neugierig gewesen. Ein leichtes Zittern war durch sie hindurchgefahren, während sie den Tee für seinen Gast eingeschenkt hatte. Sie war froh gewesen, dass das Porzellan nicht geklappert hatte. Kein anderer Gentleman hatte sie jemals so gründlich gemustert. Sie hatte das Gefühl gehabt, nackt zu sein. Er hatte sie nicht anzüglich angesehen, aber seine Aufmerksamkeit hatte ihr das Gefühl gegeben, dass er sie wirklich sehen konnte, dass er all ihre Geheimnisse aufdecken würde.

Endlich wurde die Tür zur Bibliothek geöffnet und die Frau kam, gefolgt von Läufer, heraus. Er drehte den Kopf sofort in Daisys Richtung, als ob ihre Anwesenheit ihn ebenso heftig getroffen hätte, wie seine sie, als er vorhin vor ihr gestanden hatte. Warum zum Teufel hatte sie in seiner Gegenwart so heftige Gefühle?

„Daisy, was machen Sie denn hier?“ Beim Klang seiner tiefen, vollen und melodischen Stimme fragte sie sich, ob die hypnotische Macht seines Tonfalls mit dafür verantwortlich war, dass er Frauen so leicht in sein Bett locken konnte.

Sie erhob sich schnell. „Mr. Perkins hat mich darum gebeten, zu warten, bis Sie Ihre … Angelegenheiten abgeschlossen haben, so dass ich gleich das Teetablett mitnehmen und aufräumen kann.“

„Hm, verstehe. Nun, ich bringe Mrs. Mallard nach Hause und mache mich dann auf den Weg zu meiner Verabredung. Perkins hat hoffentlich daran gedacht, meine Kutsche vorfahren zu lassen.“

„Ich bin mir ganz sicher, dass er das getan hat, Sir. Er ist sehr zuverlässig.“

„Ja, das ist er.“ Er musterte sie eine ganze Minute lang, während Mrs. Mallard sie beobachtete, mehr aus Neugier als aus Eifersucht. Wahrscheinlich wussten die Frauen aufgrund seines Rufs bereits, dass sie nicht die Einzige für ihn waren und es keinen Sinn hatte, sich deswegen aufzuregen. „Also dann, ich will Sie nicht von der Arbeit abhalten.“

Ohne seinen Gast auch nur zu berühren, führte er sie den Korridor entlang auf die große Eingangshalle zu, in der sich die Treppe und der Flur befanden. Wenn Daisy sich auf einen Mann eingelassen hätte, dann nur auf einen, der nicht in der Lage war, die Finger von ihr zu lassen. Aber andererseits würde sie auch Treue von ihm erwarten.

Sie schlenderte in die Bibliothek, wo ihr sofort sein Duft nach Bergamotte und Orangen auffiel und darunter der sanftere Rosenduft seiner Besucherin. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es hier so frisch und sauber riechen würde, denn sie hatte angenommen, dass mit sexuellen Aktivitäten auch die Luft in irgendeiner Weise in Mitleidenschaft gezogen werden müsste. Sie hatte so etwas zwar noch nie selbst erlebt, also konnte sie es nicht genau wissen, aber ihr war klar, wie so etwas vonstattenging. Eine gute Freundin hatte ihr nach ihrer Heirat alles genau erklärt und diese Erklärung – über den Schmerz, die Unbequemlichkeiten und Peinlichkeiten – hatte dafür gesorgt, dass Daisy beschlossen hatte, so etwas nach Kräften zu vermeiden.

Die Erlebnisse ihrer Freundin konnte man allerdings vielleicht nicht verallgemeinern. Da Daisy ihren Lebensunterhalt seit zwei Jahren damit verdiente, herauszufinden, ob Frauen tatsächlich Affären hatten, verwirrte es sie, warum diese Frauen die Begegnung mit anderen Männern suchten, wenn es wirklich eine Übung in Widerstandskraft und kein Geschenk der Lust war. Vielleicht, wenn es der richtige Mann mit der richtigen Frau war? Aber woher sollte man das wissen, wenn man jede sexuelle Begegnung vor der Ehe vermeiden musste?

Sie war in ihrem Leben schon ein paarmal geküsst worden. Zum ersten Mal mit zwölf Jahren, als ein Stallbursche sie zu einer kleinen Ungezogenheit überredet hatte. Sie hatte sogar zugelassen, dass er einen der Knöpfe ihres Kleides geöffnet hatte. Sie hätte sich vielleicht sogar auf mehr eingelassen, wenn er in seiner Eile nicht diesen einen Knopf quer durch den Stall und ins Heu hätte fliegen lassen. Sie hatten gute zehn Minuten gebraucht, um ihn wiederzufinden, so dass sie ihn mithilfe des Nähzeugs des Jungen wieder annähen konnte, ehe sie ins Herrenhaus ihres Onkels zurückgekehrt war. Sie hatte die ganze Zeit fürchterliche Angst gehabt, dass jemand von ihrem Fehlverhalten erfuhr und sie gezwungen sein würde, den Jungen zu heiraten.

Hatten die Frauen, die außereheliche Affären hatten, fürchterliche Angst? Lag der Reiz zum Teil darin, dass man Angst haben musste, erwischt zu werden? Oder war es die Liebe, die sie ins Bett eines anderen führte?

Sie sah sich um und entdeckte nichts, was wieder zurechtgerückt werden musste. Selbst die Tasse und ihre Untertassen waren an ihren Platz gestellt worden. Seufzend hob sie das Tablett hoch.

Nach seinem heißen Blick von vorhin hatte sie versengte Möbel erwartet. Wenn es zwischen den beiden keine sexuelle Beziehung gab, warum war die Frau dann hier?

Daisy schüttelte den Kopf. Die Antwort auf diese Frage war nicht von Belang. Niemand bezahlte sie dafür, sich Gedanken über Mrs. Mallard zu machen. Sie sollte beweisen, dass Mrs. Parker etwas mit diesem Läufer hatte. Hoffentlich tauchte die Frau bald auf.

Sie ließ den Blick schweifen, sah zum Schreibtisch hinüber, von dort zu der Tür, vor der kein Lakai Wache stand, und wieder zurück zum Schreibtisch. Sie war ganz allein. Abgesehen vom Pochen ihres Herzens und dem Ticken der Uhr auf dem Kaminsims war keine Bewegung zu hören.

Sie ging zu dem großen Möbelstück hinüber und stellte das Tablett auf einer Ecke ab. Auf einer Seite lagen mehrere Zeitungen ordentlich aufeinandergestapelt. Sie interessierte sich nicht dafür. Sie öffnete den Riegel eines eleganten Holzkästchens, in dem sich Briefe befanden. Sie blätterte die Mitteilungen schnell durch und stellte fest, dass sie sich auf geschäftliche Angelegenheiten bezogen, nicht auf Geliebte. Sie hatte auf eine Schatztruhe voller Liebesbriefe von Frauen gehofft, die seine Gesellschaft gesucht hatten, vor allem von Mrs. Parker. Das wäre pures Gold gewesen. Auf der anderen Seite des Tisches lag ein Stapel Notizbücher. Zweifellos betrafen diese ebenfalls geschäftliche Angelegenheiten. Trotzdem blätterte sie das oberste durch und entdeckte nichts als Zahlenreihen. Sie hob das zweite an und ihr stockte der Atem, als ihr Blick auf das dritte fiel. In goldenen Lettern war „Termine“ auf den Deckel gedruckt. Es konnte nicht so einfach sein, zu bekommen, was sie brauchte.

Sie leckte sich die Lippen und warf noch einen Blick auf die Tür. Es war niemand zu sehen. Keine schattenhaften Gestalten, die auf das unmittelbar bevorstehende Auftauchen von irgendjemandem hindeuteten. Kein Geräusch in der Ferne.

Sie legte den Kalender in die Mitte des Schreibtischs. Zwischen den Seiten lugte ein schmales blaues Seidenbändchen hervor. Sie zog an ihm und schlug das Buch am heutigen Freitag auf. Jeder Tag hatte eine eigene Seite und am Rand des Blattes standen Uhrzeiten. Heute um neun Uhr abends stand dort „Schachfiguren, Twin Dragons.“

Dort wollte er also hin. Er würde sich wegen Mrs. Mallard verspäten. Bedeutete das, dass ihr Besuch unerwartet gewesen war? Hatte es Streit zwischen ihnen gegeben? War sie gekommen, um diesen Streit beizulegen? War sie aus anderen Gründen gekommen? Auch wenn Mrs. Mallard sie nichts anging, war Daisy immer schon neugierig gewesen und sie stellte sich immer unzählige Fragen, wenn ihr etwas neu war oder sie verwirrte. Sie hatte immer schon gern solche Rätsel gelöst.

Sie sah sich den gestrigen Tag an. Donnerstag. Nichts am Abend. Wenn er ausgegangen war, hatte sie nichts davon mitbekommen, aber zu ihren augenblicklichen Pflichten gehörte auch, dem Stubenmädchen zu helfen, das sich um die Zimmer im ersten Stock kümmerte. Es war außergewöhnlich, dass man sie heute Abend gebeten hatte, das Teetablett zu bringen. Sie blätterte zum Mittwoch zurück. „Acht Uhr. Blaue Augen.“

Das musste die Frau gewesen sein, die sie mit ihm die Treppe hatte hinaufgehen sehen. Sie war enttäuscht, dass er keine Namen benutzte. Aber vielleicht tat er das nur bei dieser Geliebten. Dienstagabend war ein Essen im Knight’s eingetragen. Montag war er mit Turm im Theater gewesen. Schachfiguren. Waren das ebenfalls Decknamen? Konnten das andere Geliebte sein? Jetzt war sie neugierig auf seine zukünftigen Verabredungen.

Sie blätterte zum nächsten Montag. „Neun Uhr Rabe.“ Mrs. Parker war schwarzhaarig. Konnte er sie damit meinen? Am Mittwoch hatte er eine weitere Verabredung mit „Blaue Augen.“ Donnerstagabend hatte er F&S eingetragen. War das eine weitere Dame oder vielleicht ein Club? Mit Sicherheit nicht das Fair & Spare. Dieses berüchtigte Etablissement war ein Ort für Junggesellen, alte Jungfern und Menschen, die nicht mehr verheiratet waren, aber für einen Abend Gesellschaft und vielleicht auch mehr suchten – einen Sexualpartner. Wozu sollte er sich dorthin begeben, wenn die Damen zu ihm kamen? War er so unersättlich?

Daisy hörte Schritte näherkommen. Sie klappte den Kalender schnell wieder zu und legte ihn mit den Notizbüchern an seinen Platz. Sie hatte das Tablett gerade wieder in die Hände genommen, als Mr. Perkins hereinstolziert kam und sie misstrauisch ansah. „Der Herr ist längst aufgebrochen. Was machen Sie denn noch hier?“

„Ich habe nur aufgeräumt, wie man mir gesagt hat. Es lagen ein paar Dinge herum.“

„Läufer mag es nicht, wenn wir uns an seinem Schreibtisch zu schaffen machen. Man stellt auch kein Teetablett auf ihm ab, nicht wahr?“

„Nein, aber es hat dort gestanden, als ich hereingekommen bin.“ Sie war inzwischen sehr geübt darin, überzeugend zu lügen.

„Sehr seltsam.“

„Vielleicht hat sein Gast es hier abgestellt, um sich selbst noch eine Tasse Tee einzuschenken.“

„Vielleicht.“ Er ruckte mit dem Kopf wie ein Vogel. „Dann los. Wenn das da abgewaschen ist, ist die Hausarbeit für heute erledigt und wir können uns zurückziehen.“

„Ja, Sir.“ Hastig folgte sie ihm hinaus. Bis Montag würde sie mit ein bisschen Glück die Informationen über die Ehefrau ihres Klienten gefunden haben, die sie brauchte. Die Herausforderung lag darin, sie auch zu beweisen.

„Du bist heute so schweigsam.“

Läufer sah den Duke of Kingsland – König – an, der rechts neben ihm saß. Springer und Turm waren ebenfalls gekommen und schienen neugierig auf seine Antwort auf die Bemerkung ihres gemeinsamen Freundes zu sein. Sie saßen alle in einer Ecke der Bibliothek im Twin Dragons, einem Club, der früher als Salon der Schwindler bekannt gewesen war.

Aus irgendeinem Grund musste Läufer an das neue Dienstmädchen denken. Er fragte sich, ob es schon einmal in einem Club gewesen war. Er bezweifelte es. Er bezahlte seinem Personal gute Löhne, aber sie kam ihm nicht vor wie eine Frau, die zu unnützen Ausgaben wie Mitgliedschaften neigte. Falls sie irgendeinem Club angehörte, war es wahrscheinlich Aidan Trewloves, in dem Frauen ihren Neigungen nachgehen konnten. Oder vielleicht war sie auch Mitglied in Griff Stanwicks Fair & Spare. Aber falls sie in letzterem Mitglied war, hatte er sie dort noch nie gesehen. Und er hätte sie bemerkt. Ihm entging nichts. „Ich habe in letzter Zeit viel zu tun.“

„Irgendetwas, wovon du uns erzählen möchtest?“, fragte Turm.

Hast du schon einmal eine Frau kennengelernt und das Gefühl gehabt, sie hätte sich in dein Gedächtnis gebrannt, eine Frau, an die du die ganze Zeit denken musst? Die deinen Kopf mit tausend Fragen füllt, die durcheinanderwirbeln wie Blütenblätter in einer heftigen Windbö, wie Herbstlaub, das durch einen Park geweht wird? Und wegen der du romantische Bilder für etwas findest, worüber du noch nie nachgedacht hast? „Nein.“

Die anderen sahen ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und Läufer wusste genau, dass es daran lag, dass er normalerweise nicht gerade wortkarg war. Er gab nach. „Wenn ihr es genau wissen wollt, ich denke über eine Blume nach.“

Turm lachte. „Wieso das denn?“

„Als weitere Zierde für meinen Garten.“ An einem Tisch, mit einer Teetasse vor sich, in einem gelben Kleid, mit einem breitkrempigen Strohhut auf dem Kopf. Den er ihr abnehmen würde, damit die Sonne ihre Wangen küssen konnte. Wahrscheinlich hatte sie als Kind Sommersprossen gehabt.

„Du hast doch ohnehin schon einen der gefeiertsten Gärten in ganz London. Ich kenne keinen, in dem so viele verschiedene Blumen wachsen wie in deinem.“

„So eine nicht.“

„Ich hatte mich gefragt, ob du vielleicht über deine wenig schmeichelhafte Beschreibung in den Klatschspalten nachdenkst“, sagte Springer. „Du hast den verheerenden Artikel doch sicher gelesen.“

„Das habe ich, in der Tat. Läufer der Lump hat poetische Qualitäten.“

„Gentlemen verzeiht man ihre Untaten normalerweise ziemlich schnell“, sagte König. „Es ist schon Monate her, dass deine ans Licht gekommen sind, ich verstehe nicht ganz, warum die Sensationsreporter immer weiter darauf herumreiten müssen.“

„Ich gehöre nicht von Geburt an in diese gesellschaftlichen Kreise, also wird mir nicht so bereitwillig verziehen. Ich hätte Verständnis dafür, wenn einer von euch nicht mehr mit mir in Verbindung gebracht werden möchte.“ Wenn er ganz ehrlich war, musste er zugeben, dass es ihn ohnehin überrascht hatte, dass sie ihn erwartet hatten, mit einem Glas Scotch auf dem Tisch vor seinem leeren Sessel noch dazu.

„Mach dich bitte nicht lächerlich“, sagte Springer. „Deine Angelegenheiten gehen nur dich etwas an. Ich habe auf jeden Fall schon von schwereren Verbrechen gehört.“

Er wusste ihre Loyalität zu schätzen, vor allem, weil er ihnen nie die Wahrheit über seine Affären gesagt hatte. Je weniger Menschen Bescheid wussten, desto besser. „Mit mir gesehen zu werden, kann nicht gut für euer gesellschaftliches Ansehen sein.“

„Zwing uns nicht dazu, mit dir nach draußen zu gehen und dir Vernunft einzuprügeln“, sagte Turm.

„Als ob einer von euch mir bei einer Prügelei das Wasser reichen könnte.“ Er hatte schon in sehr jungen Jahren gelernt, wie hilfreich es war, wenn man wirkungsvoll zuschlagen konnte. Er warf dem Mann, mit dem er sich in Oxford als erstem angefreundet hatte, einen Blick zu. „Du musst auch an deine Frau denken, König.“

„Penelope ist von uns allen die loyalste. Sie verurteilt nie irgendjemanden und interessiert sich nicht für die Klatschspalten.“ Er grinste. „Sie durchkämmt lieber Geschäftsberichte.“

Er hatte eine Frau geheiratet, die, genau wie sie alle, eine ausgezeichnete Investorin war. Läufer hatte es eilig, das Gespräch auf andere Themen als Klatsch zu bringen. „Wie gefällt dir das Eheleben?“

Es war eine alberne Frage, weil sie alle wussten, dass der Duke unglaublich verliebt in seine Frau war und das lange, bevor es ihm selbst klar geworden war.

„Es gefällt mir sehr gut. Du könntest es auch mal ausprobieren.“

„Ich glaube kaum, dass man die Ehe ausprobieren sollte. Die Grundlage ist doch eher eine Verpflichtung, eine, die ich nicht eingehen will. Im Gegensatz zu dir habe ich keinen Titel und brauche keinen Erben.“ Auch wenn sein augenblicklicher Ruf ihn nicht zu einem ungeeigneten Ehemann gemacht hätte, wollte er keiner Frau und keinem Nachkommen seine Vergangenheit zumuten. Er wollte sein Vermögen verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen hinterlassen.

„Es ist schön, dass deine Frau dir hin und wieder Ausgang gibt“, neckte Springer ihn.

König machte ein finsteres Gesicht. „Ich bin doch kein Kind. Außerdem ist Penelope mit einer Freundin ins Theater gegangen.“ Er sah auf die Uhr. „Ich mache mich in einer halben Stunde auf den Weg, um sie abzuholen. Wo ich bald gehen muss: Hat einer von euch in letzter Zeit von guten Investitionsmöglichkeiten gehört?“

Das Gespräch wandte sich verschiedenen Gelegenheiten zu, von denen sie gehört hatten oder die man ihnen nahegelegt hatte, aber Läufer hörte nur mit halbem Ohr zu, weil er mit seinen Gedanken schon wieder bei dem Dienstmädchen war. Sie hatte irgendwie trostlos ausgesehen, als er sie im Flur hatte sitzen sehen, wo sie darauf wartete, dass er sich von Mrs. Mallard verabschiedete. Danach war sie ihm unglaublich wachsam vorgekommen, als ob sie aus einem schönen Traum geweckt worden wäre. Er fragte sich, an wen sie wohl gedacht hatte, falls es ein Mann war, denn es musste auf jeden Fall einen Mann in ihrem Leben geben. Dienstboten waren normalerweise nicht verheiratet, also hatte sie keinen Ehemann. Aber vielleicht war sie in jemanden verliebt. So oder so war sie nichts für ihn. Er tat ihr keinen Gefallen, wenn er auch nur mit ihr flirtete. Sie stand in seinen Diensten. Doch das war noch nicht alles.

Er hatte immer schon seine Freude an Frauen gehabt. Die Entdeckung, was sie zu bieten hatten, war einer der Gründe, warum er sich gegen eine kirchliche Laufbahn entschieden hatte. Ein Mann Gottes sollte kein Sünder sein.

Als jemand, der sich schnell langweilte, konnte er sich nicht vorstellen, für den Rest seines Lebens mit nur einer Frau zufrieden zu sein. Und bis jetzt hatte er sich noch nie unter der Voraussetzung für eine Frau interessiert, dass sich etwas Dauerhaftes entwickeln könnte. Er wusste nicht einmal genau, wie man so etwas anstellen sollte, was überhaupt kein Problem war, weil er nicht vorhatte, so etwas anzustellen.

2. KAPITEL

Am nächsten Morgen sah Läufer sich seufzend die Berichte an, die auf seinem Schreibtisch ausgebreitet lagen, die Berichte, mit denen er sich in der vergangenen Stunde befasst hatte, um zu entscheiden, ob er in eine der Firmen investieren sollte, die um Kapital gebeten hatten. Sein Nacken und seine Schultern taten weh. Er durfte nicht so lange starr in derselben Haltung verharren. Er brauchte eine Pause. Vielleicht ein Spaziergang im Park oder …

Er richtete sich auf und zog die Klingel, dann rieb er sich den Nacken und wartete darauf, dass sein Butler auftauchte. Ein paar Minuten später betrat Perkins den Raum.

„Sie haben geläutet, Sir?“

„Ich könnte meine Uhr nach Ihnen stellen, Perkins.“

„Das nehme ich als Kompliment, Sir.“

„Das ist auch richtig so. Lassen Sie bitte Tee hereinbringen.“

Perkins sah sich stirnrunzelnd um, ehe er Läufer mit düsterem Blick musterte. „Erwarten wir Besuch?“

„Nein, warum?“

„Sie trinken keinen Tee, Sir. Sie haben mir sogar mit Entlassung gedroht, für den Fall, dass ich Ihnen jemals welchen servieren sollte.“

„Es sei denn, ich bitte darum. Jetzt bitte ich darum. Lassen Sie das neue Mädchen, Daisy, servieren.“

Normalerweise hätte Perkins jetzt schnell „Ja, Sir“, gesagt und eilig den Raum verlassen, um sich um das zu kümmern, was Läufer von ihm verlangt hatte. Diesmal öffnete er den Mund, schloss ihn wieder, blinzelte. Er machte eine seltsame Mundbewegung und Läufer hätte schwören können, dass er gehört hatte, wie er mit den Zähnen knirschte. „Gibt es ein Problem?“

„Sie ist ziemlich unschuldig, Sir.“

„Aber sie weiß doch, wie man Tee einschenkt, oder nicht?“

„Ja, Sir, aber vielleicht …“ Er sah sich noch einmal im Raum um, in dem sich keine Gäste befanden. „… könnte einer der Lakaien ihn hinaufbringen?“

Ach, er machte sich wegen seines berüchtigten Dienstherrn Sorgen um den guten Ruf der jungen Frau. Manchmal rückte ihn seine Bereitschaft, den Frauen dabei zu helfen, der Tyrannei ihrer Ehemänner zu entkommen, in ein schlechtes Licht. Da seine Dienstboten zuweilen als Zeugen berufen wurden, ließ er sie in dem Glauben, dass die Geschichten über ihn wahr seien, damit sie die Wahrheit sagen konnten, wie sie sie sahen, anstatt einen Meineid zu riskieren. „Habe ich mich den weiblichen Hausangestellten gegenüber jemals ungebührlich verhalten?“

„Nein, Sir, aber Sie haben auch noch nie eine von ihnen beim Namen genannt.“

Läufer stieß einen langen und tiefen Seufzer aus. Er zahlte diesem Mann ein gutes Gehalt, mehr als manch anderer in den Diensten des Hochadels verdiente, und er hatte es nicht nötig, dass sein Handeln in Frage gestellt wurde. Dennoch musste man Perkins dafür Respekt zollen, wie viel ihm am Wohlergehen der anderen Hausangestellten lag. „Die Tür soll offen bleiben und sie können auf der Schwelle Wache halten, um sicherzugehen, dass ich mich nicht daneben benehme, wenn Sie möchten. Mein Kopf tut weh und ich dachte, dass mir eine Tasse Tee vielleicht guttun könnte.“

Der Butler verneigte sich schnell. „Sehr wohl, Sir. Ich lasse Ihnen auch eine Prise vom Pulver der Köchin bringen, das gegen Kopfweh hilft.“

Dann war er verschwunden und Läufer sah davon ab, aufzustehen und sich einen Scotch einzuschenken. Er hatte keine Ahnung, warum er das Mädchen wiedersehen wollte. Aus irgendeinem gottlosen Grund konnte er nicht aufhören, an sie zu denken. Es lag nicht an ihrem hübschen Gesicht, dass sie seine Gedanken beherrschte, sondern an ihrem Benehmen. Sie schien sich ein umfassendes Bild vom ganzen Raum gemacht zu haben, ihn und seinen Gast genau gemustert zu haben. Jeder Dienstbote, den er je erlebt hatte, selbst die wenigen im Haus seines Vaters, hatten sich um ihre Angelegenheiten gekümmert, offensichtlich ohne sich um die von irgendjemand anderem zu scheren. Sie kümmerte jedoch alles. Er hatte genau gemerkt, wie ihr Fragen durch den Kopf gegangen waren. Wer ist diese Frau? Was hat sie hier verloren? Was haben Sie für ein Verhältnis zu ihr? Er fragte sich, ob er ihr raten sollte, niemals Karten zu spielen.

Aus einiger Entfernung hörte er das leise Klirren von Porzellan. Sein Herz hämmerte heftig gegen seine Rippen, aber er schlug sein Geschäftsbuch auf, tauchte die Feder ins Tintenfass und hoffte, dass er so nicht den Eindruck machte, gespannt auf ihr Eintreffen gewartet zu haben. Um sicherzugehen, dass sie merkte, dass er sie als Dienstbotin begriff und nicht als jemanden, der umworben werden wollte, durfte er nicht aufstehen.

Dann betrat sie seine Bibliothek. Perkins war nirgendwo zu sehen, Gott sei Dank. Er brauchte seinen Butler nicht, um sie zu bewachen oder als Anstandswauwau. Er war in der Lage, seine Lust zu beherrschen. Es war ja nicht so, dass er sich nach ihr gesehnt hätte. Sie hatte ihn bloß neugierig gemacht. Allerdings konnte sich zu viel Neugier auch als fataler Fehler erweisen.

„Wo soll ich den Tee hinstellen, Sir?“

„Auf denselben Tisch wie gestern Abend, aber ich nehme meine Tasse hier am Schreibtisch.“

„Sehr wohl, Sir.“

Sie stellte das Tablett ab und sah zu ihm hinüber. Er hätte die Vorhänge öffnen sollen, so dass das Sonnenlicht auf sie fallen und er sie deutlicher sehen konnte, aber er konnte sich einfach besser auf seine Arbeit konzentrieren, wenn es keine Ablenkungen in seinem Augenwinkel gab. Er gab sich große Mühe, alles zu vermeiden, was seiner Konzentration schaden konnte. Sie war eine Ablenkung, die ihm nichts auszumachen schien.

„Wie möchten Sie Ihren Tee, Sir?“

„So wie Sie ihn trinken würden.“

Sie machte große Augen, nicht vor Schreck, sondern vor Überraschung, bevor sie sich daran machte, seine Anweisung auszuführen. Er sah zu, wie sie Milch und Zucker – du lieber Gott, waren das fünf Stücke? – zum Gebräu in der Tasse hinzufügte. Sie rührte vorsichtig um und er hatte den Eindruck, sie würde in ihrem Kopf eine kleine Melodie summen. Sie schien ruhig und zufrieden zu sein und doch hatte sie eine Wachsamkeit an sich, als ob sie ständig ihre Umgebung sondieren würde, als ob ihr nichts entginge und sie ihm wahrscheinlich hätte sagen können, wie viele Geschäftsbücher aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch lagen und was der Inhalt war.

Sie hob die Untertasse mit der Teetasse an und kam zu ihm geglitten, wo sie beides auf den Schreibtisch stellte. „Sonst noch etwas, Sir?“

„Ja. Heißen Sie Margaret, Marguerite oder Margarete?“ Sie hielt inne, stand so still da, dass er nicht einmal sicher war, ob sie noch atmete.

„Wie bitte?“

Interessant. Ihre Worte klangen scharf und fordernd. Die höfliche, beflissene Dienstbotin war verschwunden und vor ihm stand jetzt eine Frau, die es nicht mochte, wenn man ihr Fragen stellte. Nein, das war nicht alles. Die es nicht zuließ, dass man ihr Fragen stellte. „Ich bezweifle sehr, dass Ihre Mutter Sie Daisy genannt hat. Daisy ist Englisch für Margerite, und deshalb frage ich mich, welche Version des Namens sie Ihnen gegeben hat.“

Sie presste die Lippen zusammen und musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen, ehe sie fast unmerklich nickte. „Marguerite. Sie war Französin. Meine Mutter. Sie war die Einzige, die mich Daisy genannt hat, und ich verwende diesen Kosenamen seit Kurzem, um mich an sie zu erinnern.“

„War?“

Sie nickte mehrmals ruckartig. „Sie ist gestorben, als ich noch ein Kind war. Genau wie mein Vater. Ich bin ein Waisenkind, die Schwester meines Vaters hat mich aufgezogen.“

„Das tut mir sehr leid.“

Sie hob eine schmale Schulter, als wolle sie seine Worte abstreifen. „Es ist jetzt zwanzig Jahre her. Ich habe mich daran gewöhnt, dass sie nicht bei mir sind.“

„Wir gewöhnen uns vielleicht an ihre Abwesenheit, aber das bedeutet nicht, dass sie uns nicht fehlen.“

„Ihr Tonfall scheint anzudeuten, dass Sie aus Erfahrung sprechen. Sind Sie ein Waisenkind?“

„Nicht ganz. Aber ich habe meine Mutter verloren, als ich noch sehr jung war.“ Noch zu jung, um die Tragödie zu verhindern, der sie zum Opfer gefallen war.

„Das tut mir leid.“

Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er erzählte den Leuten normalerweise nicht von seiner Mutter, weil er immer ein wenig Schuldgefühle hatte, weil er sie nicht hatte retten können. Trotz seiner Jugend hätte er in der Lage sein sollen, irgendetwas zu tun. Bevor er in das dunkle Loch der Reue fallen konnte, ergriff er die Teetasse, trank einen Schluck des Gebräus und stellte die Tasse wieder zurück auf ihre Untertasse. „Oh Gott, das ist abscheulich.“

Sie runzelte ihre feine Stirn. „Zu viel Zucker oder Milch?“

„Es liegt am Tee. Das verdammte Zeug hat mir noch nie geschmeckt.“

„Warum haben Sie dann darum gebeten, dass ich Ihnen welchen bringe?“

„Es ist eine Weile her, dass ich welchen getrunken habe, und ich dachte, ich probiere einmal, ob er so widerlich ist, wie ich ihn in Erinnerung habe. Aber er ist noch widerlicher.“ Warum rechtfertigte er sich vor ihr? Man brauchte sich vor seinem Personal nicht zu rechtfertigen. Und musste er dabei so verflucht verdrießlich klingen?

„Oh, ich verstehe.“ Sie trat einen einzigen Schritt zurück und er nahm an, dass sie wirklich verstanden hatte. Es war nicht der Tee, den er gewollt hatte, sondern ihre Anwesenheit.

„Ich muss außerdem zugeben, dass Sie mich faszinieren. Ihre Ausdrucksweise klingt nicht passend für den Dienstbotenbereich. Sie kommen mir wie ein Mensch vor, der zu unabhängig ist, um Befehle zu befolgen. Sie sind es gewohnt, welche zu geben.“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Ich bin mir nicht sicher. Sie kommen mir vor wie eine Mine, die erschöpft ist, aber der Besitzer versucht, sie zu verkaufen, indem er behauptet, sie wäre noch immer von Wert.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, das trifft es nicht ganz. Sie sind eher wie etwas, das wertvoll ist, aber so tut, als wäre das nicht der Fall. Was sich mir nicht erschließt. Trotzdem würde ich in Sie investieren, ohne groß darüber nachzudenken.“

„Mir ist nicht ganz klar, ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung war.“

„Bitte.“ Er zwinkerte ihr zu. „Kein Dienstbote wäre so unverfroren, auf meine Bemerkung zu antworten. Hätte einfach nur gefragt, ob ich sonst noch etwas brauche. Gestern Abend … Sie kennen sich mit Spirituosen aus. Die meisten Dienstmädchen tun das nicht.“

„Wie viele Dienstmädchen haben Ihnen schon einen Drink gebracht?“

Er lachte laut auf. „Keins.“

„Ihr Urteil über mich beruht also eher darauf, was Sie glauben, dass Dienstboten tun, als was sie tatsächlich tun.“

„Ich bin mit Personal aufgewachsen.“

„Genau wie ich.“

„Das überrascht mich nicht. Warum lassen Sie sich dann einstellen?“

Sie sah sich um.

„Ich merke es, wenn Sie lügen.“

Sie richtete den Blick wieder auf ihn und durchbohrte ihn richtiggehend. „Sicher?“

Er nickte energisch. „Ihre Miene verrät Sie, Sie sollten nie Karten spielen. Sie sind viel zu einfach zu durchschauen.“

Der Seufzer, mit dem sie sich geschlagen gab, hätte einen Drachen steigen und in die Wolken schweben lassen. „Meine Tante hat mir ein Ultimatum gestellt: heiraten oder ausziehen. Ich habe mich für ausziehen entschieden. Ich brauchte schnell eine Stellung und, nun ja, irgendjemand sucht immer gerade ein Dienstmädchen.“

„Sie könnten Gouvernante sein. Ich würde sagen, dass eine solche Stellung besser zu Ihnen passen würde.“

„Bei allem Respekt, Sir, ich glaube nicht, dass Sie mich gut genug kennen, um zu entscheiden, was zu mir passen würde.“

Das würde ich aber gerne. Sobald der Gedanke ihm gekommen war, unterdrückte er ihn auch schon. Sie war seine Hausangestellte und er hatte nicht vor, es dem Mann gleichzutun, der ihn aufgezogen hatte, indem er diese Grenze überschritt. Außerdem musste er mit seinem skandalumwitterten Ruf fertigwerden, was er bis zu diesem Augenblick nie als Last empfunden hatte, aber für eine Frau wie sie war er nicht gerade einnehmend und würde nur dafür sorgen, dass passierte, was die Klatschspalten behaupteten: zu ihrem Ruin zu führen. Sie hatte vielleicht recht damit, dass er nicht wusste, was zu ihr passte, aber er begriff vollumfänglich, das sie es nicht verdient hatte, eine gefallene Frau zu werden, vor allem nicht durch ihn. „Sie können den Tee wieder mitnehmen.“

„Ist das Verhör damit beendet?“

Er grinste breit. Verdammt, war sie ihm sympathisch. „Eine Dienstbotin würde ihrem Herrn gegenüber niemals einen so herablassenden Tonfall anschlagen.“

„Ich habe offenbar noch viel zu lernen.“ Sie nahm die Untertasse mit der Teetasse darauf und machte einen schnellen Knicks. „Guten Tag, Sir.“

Sie stellte das Geschirr auf das Tablett, hob es hoch und machte sich auf den Weg aus der Bibliothek.

„Guten Tag, Marguerite“, rief er ihr hinterher.

Sie blieb stehen, hielt einen Herzschlag lang inne, einen zweiten, ehe sie ihren Weg fortsetzte. Er fragte sich, was für eine Antwort ihr wohl auf der Zunge gelegen hatte. Wahrscheinlich Fahr zur Hölle.

Du darfst ihn nicht dazu bringen, dass er lächelt.

Du liebe Güte, was hatte er für ein umwerfendes Lächeln, mit dem er unbeschwert aussah, sorglos und lustig. Sie hätte am liebsten die Hand ausgestreckt und seinen Mund berührt, seine Wange, sein Kinn.

Und wie er ihren wahren Vornamen gesagt hatte … Marguerite hatte ihr nie gefallen. Der Name war ihr hochtrabend vorgekommen, zu groß für das Mädchen, das sie gewesen war, aber seine tiefe Stimme hatte ihn klingen lassen, als ob sie perfekt zu ihm passte. Sie war nie eine Schönheit wie ihre Mutter gewesen, aber in diesem Augenblick hatte sie sich gesehen gefühlt, geschätzt und wunderhübsch. Und entsetzt, weil kein Mann ihr jemals das Gefühl gegeben hatte, dass er sich wirklich für sie interessierte, in ihrer Gesamtheit, nicht nur für die Hülle, die ihre Mitgift umgab. Dass sie nie das Gefühl gehabt hatte, in die vornehme Gesellschaft hineinzupassen, lag zum Teil daran, dass sie nie nur als Aufseherin eines Haushalts gesehen werden wollte, Mutter von möglichst vielen Kindern. Deswegen hatte sie, zum Verdruss ihres Onkels und zur Enttäuschung ihrer Tante, ihr eigenes Geschäft gegründet, anstatt sich in ihre gesellschaftlichen Kreise aus Lords, Ladys und der Elite einzufügen.

Sie überlegte, ob sie Perkins ihre Kündigung übergeben und ihrem Klienten sagen sollte, dass er sich einen anderen Schnüffler suchen musste. Aber sie hatte noch nie so leicht klein beigegeben, vor allem nicht, wegen einer solchen Kleinigkeit wie einem kurzen Zusammentreffen, das Gefühle in ihr geweckt hatte. Läufer hatte so viel Charme, dass ihr völlig klar war, warum die Frauen in seine Arme sanken. Aber ihre Moralvorstellungen ließen nicht einmal den Gedanken zu, dass sie sich seiner Verführung ergab. Stattdessen fragte sie sich, ob er eine Frau anlächelte, mit der er Unzucht trieb. Sie nahm an, dass es so war und dass es berauschend und genussvoll wäre wie der beste Wein.

Sie fragte sich außerdem, warum er die Liebhaberinnen mit derselben Leichtigkeit und Häufigkeit wechselte wie andere Männer ihre Hemden. Langweilte er sich? Brauchte er eine ständige Auswahl von Frauen, um das Interesse nicht zu verlieren? Oder hatte er ein ungutes Gefühl, wenn die Ehemänner ihn verklagten? Oder waren die Frauen vielleicht enttäuscht, dass er nicht diskret genug gewesen war und ihre Liaison aufgeflogen war?

Nicht, dass irgendetwas davon von Bedeutung war. Der Mann war ein teuflisch gut aussehender Schürzenjäger und es stand ihr gut zu Gesicht, das nicht zu vergessen. Kein flatterndes Herz mehr, kein bebender Magen oder Wärme auf der Haut, wenn sie ihm begegnete.

Doch während die Tage bis zum alles entscheidenden Montag vergingen, ertappte sie sich immer wieder dabei, dass sie hoffte, dass sie ihm zufällig begegnen würde. Auf einem der vielen Korridore. Oder in einem der Zimmer, die sie sauber machte. Nach allem, was sie herausgefunden hatte, verbrachte er den größten Teil des Tages und den frühen Abend in seiner Bibliothek. Frühstück, Mittagessen und Abendessen wurden ihm dort von einem Lakaien serviert. Sie überlegte, ob sie sich bereit erklären sollte, diese Aufgabe zu übernehmen, aber sie konnte es nicht gebrauchen, dass er sie ablenkte, und sie bemühte sich darum, so unauffällig wie möglich zu sein. Samstag und Sonntag kam ihn niemand besuchen.

Am Sonntagabend jedoch sah sie ihn vom Fenster ihrer Schlafkammer aus durch den Garten schlendern und sie kam nicht umhin, festzustellen, dass er einsam wirkte. Sie konnte ihren Blick nicht von ihm lösen, überlegte sogar, ob sie aus dem Haus schlüpfen und sich zu ihm gesellen sollte. Ihre Neugier kannte, was ihn betraf, keine Grenzen, obwohl ihr klar war, dass nichts Gutes dabei herauskommen konnte, wenn sie Zeit mit ihm verbrachte. Sie musste unparteiisch und unvoreingenommen bleiben, denn sobald sie die Beweise beisammen hatte, würde sie vor Gericht gegen ihn aussagen. Sie durfte dann keine Schuldgefühle haben, weil sie ihn hintergangen hatte, und sie würde es nicht bereuen, wenn sie keine Vertraulichkeiten austauschten, wenn ihr Verhältnis so blieb, wie es sein sollte: das zwischen Angestellter und Dienstherr.

Und trotzdem kam es ihr so seltsam vor, dass er ganz allein draußen herumwanderte, obwohl es so viele Frauen gab, die sich nach seiner Gesellschaft sehnten. Sie fragte sich, ob er an eine von ihnen dachte, absurderweise wäre es ihr am liebsten gewesen, wenn er an die Augenblicke gedacht hätte, die er mit ihr verbracht hatte.

Sie war froh, als der Montag kam und mit ihm das Ende ihrer gemischten Gefühle über Läufer in Sicht war. Wie immer rief Mr. Perkins das Personal noch vor Sonnenaufgang in dem Raum zusammen, in dem sie alle ihre Mahlzeiten einnahmen, um sie auf die zusätzlichen Aufgaben für den bevorstehenden Tag aufmerksam zu machen. Daisy fand, dass eine weitere Stunde im Bett niemandem geschadet hätte. Sie war sich ziemlich sicher, dass ihnen dann immer noch genug Zeit geblieben wäre, ihre Aufgaben zu bewältigen, und wahrscheinlich hätten sie sogar besser gearbeitet, wenn sie einen klaren Blick gehabt und nicht mehr benommen von Schlaf gewesen wären. Aber der Butler nahm es mit den täglichen Abläufen sehr genau.

„Also gut“, fing er an. Sein Tonfall war streng und bestimmt. Sie war sich nicht sicher, ob er zum Lachen oder Lächeln überhaupt imstande war. „Wir haben einen arbeitsreichen Tag vor uns. Nach seinem Abendessen – wie immer auf einem Tablett in der Bibliothek – wird der Herr Besuch von einer Freundin bekommen. Mrs. Karson, er hat um eine Schale Erdbeeren gebeten, um weitere Süßigkeiten, die Sie auswählen können, und ein wenig Käse. Alles soll um kurz nach neun in seine Schlafkammer gebracht werden. Tom, Sie kümmern sich darum.“

„Ja, Sir“, antwortete der Hausdiener mit militärischer Präzision. Daisy hätte er wartet, dass er auch salutieren würde.

„Die Blumen für heute sind Lilien und Schleierkraut. Sarah, bitte sorgen Sie dafür, dass oben alles seine Ordnung hat.“

„Das tue ich immer, Sir.“

Er verzog kaum merklich das Gesicht, dann nickte er. „Alle anderen gehen bitte ihren gewöhnlichen Pflichten nach. Denken Sie bitte alle daran: Arbeiten, ohne gesehen zu werden.“

Das Hauspersonal schwärmte aus. Daisy war sich fast sicher, dass Perkins seine letzten Worte gestickt und eingerahmt über seinem Bett hängen hatte, denn er beendete all seine Anweisungen und Gespräche mit ihnen. Sie ging hinter Sarah her zu Wäscheschrank und streckte die Arme nach den frischen Laken aus, die das Stubenmädchen ihr reichte.

„Ich habe mich gefragt“, setzte Daisy zögernd an, „ob die Lady, die heute Abend kommt, vielleicht dieselbe ist, die ich am Freitag gesehen habe, als ich den Tee in die Bibliothek gebracht habe.“ Sie hielt es allerdings für unwahrscheinlich. Diese Frau war blond gewesen und hatte in keinster Weise an einen Raben erinnert.

„Oh nein“, sagte Sarah, als sie sich auf den Weg die Treppe hinauf machte. „Montags kommt Mrs. Parker.“

Daisy stockte der Atem. „Du kennst ihren Namen?“

„Ja. Tom hat ihn einmal gehört, als er ein Tablett in die Schlafkammer gebracht hat. Er hat es mir erzählt.“

„Hast du sie mal gesehen?“

„Nein.“ Sie zwinkerte. „Ich arbeite, ohne gesehen zu werden.“

Daisy lächelte. „Perkins sagt das wirklich gerne, oder?“

„Wir sollen leise sein, unaufdringlich. Der Herr des Hauses braucht nicht zu wissen, dass er Hausangestellte hat, nicht wahr? Wir sind wie Schusterkobolde, weißt du, wir kommen, machen die Arbeit, die zu tun ist, und die Leute glauben, es ist alles Zauberei. Aber er bezahlt wirklich gut, ich will mich nicht beklagen. Tom schimpft aber oft genug.“

„Warum ist er denn so unzufrieden?“, fragte Daisy, die sehr gut wusste, dass man die entscheidenden Informationen oft von dort bekam, wo man sie am wenigsten erwartete.

„Er findet, es ist unter seiner Würde, ein Tablett herumzutragen. Er findet, das ist eine Aufgabe, die am besten von Dienstmädchen erledigt werden sollte. Er findet, es ist eine Verschwendung seiner Fähigkeiten … und der kräftigen Muskeln, die er hat.“ Sie lächelte kleinlaut. „Mir fallen auch bessere Aufgaben für diese schönen Muskeln ein.“

„Zum Beispiel?“

Sarah lachte leise. „Für den Anfang könnte er mich diese Treppe hinauftragen.“

Auf dem Treppenabsatz vor einer Tür stand ein Tisch. „Leg die Laken da hin“, sagte Sarah. „Wir beziehen Läufers Bett frisch, wenn er aufgestanden ist.“

Sie öffnete die Tür, die zu dem breiten Korridor führte, von dem viele Schlafkammern abgingen. Wie immer, seitdem Daisy angefangen hatte, hie...

Autor

Lorraine Heath
<p>Lorraine Heath wurde in England geboren, zog jedoch als Kind mit ihren Eltern in die USA. Geblieben ist ihr eine tiefe Zuneigung zu beiden Ländern. Die Charaktere in ihren erfolgreichen Romanen werden oft als besonders lebensnah bezeichnet, was die New-York-Times-Bestseller-Autorin auf ihre im Psychologiestudium erworbenen Kenntnisse zurückführt. Lorraine Heath lebt...
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