Miss Noras Liebesexperiment

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Statt um die Aufmerksamkeit der Gentlemen des ton zu buhlen, beschäftigt sich Miss Nora Langley lieber mit dem Studium der Heilkräuter. Leider möchte niemand auf gute Ratschläge hören, wenn sie von einer Dame stammen, weshalb Nora sich im Schriftverkehr als ihr verstorbener Vater Dr. Langley ausgibt. Eine besondere Brieffreundschaft verbindet sie mit Constantine Sinclair – doch als der attraktive Erbe plötzlich vor ihrer Tür steht, erwachen ganz neue, wilde Begierden in der sonst so rationalen Wissenschaftlerin! Dabei ist Constantine ihr gar nicht wohlgesonnen. Im Gegenteil: Erbost über ihre Maskerade droht er, ihr Geheimnis zu verraten!


  • Erscheinungstag 24.08.2024
  • Bandnummer 165
  • ISBN / Artikelnummer 9783751526876
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sophie Jordan

Geschichten über Drachen, Krieger und Prinzesssinnen dachte Sophie Jordan sich schon als Kind gerne aus. Bevor sie diese jedoch mit anderen teilte, unterrichtete sie Englisch und Literatur. Nach der Geburt ihres ersten Kindes machte sie das Schreiben endlich zum Beruf und begeistert seitdem mit ihren eigenen Geschichten. Die New-York-Times-Bestsellerautorin lebt mit ihrer Familie in Houston, und wenn sie sich nicht gerade die Finger wund tippt bei einem weiteren Schreibmarathon, sieht sie sich gerne Krimis und Reality-Shows an.

THE VILLAGE GAZETTE

Zu unserem größten Bedauern müssen wir vermelden, dass am vergangenen Dienstag, dem 14. des Monats, in der Grafschaft Esswick der letzte verbliebene Sohn des hochangesehenen Dukes und der verehrten Duchess of Birchwood im Alter von nur dreißig Jahren das Zeitliche gesegnet hat. Lord Winston Birchwood verstarb am Wundfieber, nachdem er sich eine eiternde Splitterverletzung zugezogen hatte. Sein überschwängliches Gemüt und seine ansteckende Fröhlichkeit werden nicht nur seinen Angehörigen und Freunden schmerzliche fehlen, sondern auch allen Einwohnern von Hampleton, dem Ort des altehrwürdigen Familiensitzes der Birchwoods. Möge er in Frieden und Gottes Gnade neben seinen kürzlich verstorbenen Brüdern Lord Albert Birchwood und Lord Malcolm Birchwood ruhen, die ihm im vergangenen Februar beziehungsweise Mai vorangingen, um ihren himmlischen Lohn zu empfangen.

1. KAPITEL

Januar 1866

Oberst Constantine Sinclair neigte nicht zum Trunk, andernfalls hätte er zu diesem Zeitpunkt bereits tief ins Glas geschaut und wäre auf bestem Weg in einen sinnlosen Rausch.

Sorgfältig legte er das Schreiben vor sich auf den Tisch, lehnte sich im Stuhl zurück und starrte ins Leere. Von draußen drangen gedämpft männliche Stimmen und gelegentliches Gelächter ins Zelt, vermischt mit den noch schwächeren Geräuschen des abendlichen Dschungels.

Seit fast acht Monaten kampierten sie nun schon hier. Die meisten der hier lebenden Wildtiere blieben auf Distanz, doch er vergaß nie, dass sie immer da waren und um das Lager herumschlichen. Vergangene Woche erst hatte sich einer der Soldaten nachts zu weit von den Zelten entfernt und in der Dunkelheit verirrt. Am nächsten Morgen fanden sie nur noch seine Überreste – eine lebenswichtige Ermahnung für sie alle, stets wachsam zu bleiben.

Die Welt war voller wilder und unbezähmbarer Dinge, die nur drauf warteten, einen zu verschlingen, mal war es ein Tiger, mal eine Splitterverletzung. Das Leben bot keinerlei Garantien. Das hatte er zwar schon immer gewusst, doch dieser Brief brachte es ihm noch einmal besonders nachdrücklich in Erinnerung.

Sobald die Gespräche der Männer versiegten und alle sich zum Schlafen zurückzogen, würde er auch das Rauschen des nahen Flusses hören können. Das war stets der friedvollste Teil des Tages, wenn der Lärm sich legte und Ruhe einkehrte – oder zumindest die Illusion von Ruhe.

Im Morgengrauen, wenn die Welt erneut erwachte und die grünen Berge, die sie umgaben, allmählich aus dem Frühnebel auftauchten, unternahm er oft einen Ritt am Fluss entlang. Um diese Jahreszeit war das Klima angenehm, ein deutlicher Unterschied zu der lähmenden Hitze, die bei ihrer Ankunft hier geherrscht hatte.

Nun würde er all das verlassen müssen … aber nicht aus freiem Willen.

Die Pflicht rief ihn nach Hause.

Durch die Planen seines Zeltes hindurch konnte er das Aroma von Essen riechen, das über Lagerfeuern gegart wurde. Constantine hatte bereits gegessen, und sein Dinner lag ihm jetzt schwer wie ein Wackerstein im Magen. Irgendwo in der Ferne spielte jemand die Mandoline. Mehrere Stimmen vereinten sich im Gesang, der das Instrument begleitete, doch auch das vermochte seine Stimmung nicht zu heben.

Abende wie dieser waren keine Seltenheit, auch das Lied war ihm nicht neu. Korporal Jones gab „Fair Rosamond“ ziemlich oft zum Besten. Die Ballade zählte zu den Lieblingsstücken der Männer.

Das einzig Unvertraute hier war der Brief, den er gerade auf seinen Schreibtisch geworfen hatte. Er stammte vom Verwalter des Dukes of Birchwood. Und enthielt die Aufforderung, umgehend nach Hause zurückzukehren.

Nach England.

Nach Hause.

Nach Birchwood House.

Constantine ertappte sich dabei, wie er das Schreiben so wütend anfunkelte, als könnte er es durch Willenskraft in Flammen aufgehen lassen und zu einem schwelenden Aschehaufen reduzieren.

Seit vielen Jahren hatte er an jenen Ort nicht mehr als sein Zuhause gedacht. Sein halbes Leben lang war ein Armeezelt für ihn sein Zuhause gewesen. Zum Teufel. Sogar ein schlammiges Schlachtfeld fühlte sich mehr nach zu Hause an als das, was er als Grünschnabel in England zurückgelassen hatte. Diesen Grünschnabel, der er einst gewesen war, gab es schon lange nicht mehr.

Die Zeltklappe wurde aufgeschlagen, und sein Bursche kam herein. „Puh.“ Morris nahm seine Kappe ab und strich sich durchs Haar. „Der Wind hat aufgefrischt. Von Osten nähert sich ein Sturm.“

In der Tat, ein Sturm näherte sich.

„Nun, ich werde mich morgen entschieden westlich orientieren.“

Sein Bursche, der sich bereits auf seiner Pritsche niedergelassen hatte, schaute ihn scharf an. „Haben Sie Befehl erhalten, uns weiter nach Westen zu verlegen?“

„In gewisser Weise.“ Wieder starrte Constantine auf den Brief. „Ich habe meinen Marschbefehl erhalten. Sie und die Männer bleiben hier.“

Stirnrunzelnd folgte Morris dem Blick seines Vorgesetzten. „Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.“

„Man hat mich nach Hause beordert, Morris.“

„Nach Hause heißt nach England?“

Constantine antwortete nicht gleich, zu sehr damit beschäftigt, die unvermutete Wendung in seinem Leben zu verarbeiten. Schließlich nickte er, das Schreiben mit dem vage vertrauten herzoglichen Siegel so argwöhnisch beäugend, als wäre es ein Wesen aus Fleisch und Blut, das ihn jeden Moment mit gefletschten Zähnen attackieren könnte. „Auf Wunsch des Dukes of Birchwood.“

Der noble Aristokrat war noch immer unauslöschlich in Constantines Gedächtnis eingebrannt, mit seinem buschigen grauen Backenbart und dem eisblauen Blick, der einen förmlich durchbohren konnte. Tatsächlich war der Duke die wohl markanteste seiner Kindheitserinnerungen, über alles andere hinausragend wie ein mächtiges Gemäuer. An seine Eltern konnte Constantine sich kaum erinnern, sie waberten allenfalls wie Fetzen aus verschwommenen Wasserfarben-Skizzen durch sein Gemüt.

Er war erst sieben Jahre alt gewesen, als sie beide an Cholera erkrankten und starben, und er hatte sich nach dem Verlust seiner Mutter und seines Vaters verzweifelt nach der Liebe und Anerkennung des entfernten Verwandten gesehnt, auf dessen Türschwelle man den kleinen Waisenjungen abgesetzt hatte.

Constantines Vater war ein einfacher Jurist gewesen, seine Mutter stammte aus noch bescheideneren Verhältnissen, hatte vor ihrer Heirat als Ladenmädchen im Londoner East End gearbeitet. Die finanzielle Situation der kleinen Familie war alles andere als rosig gewesen, doch die zärtliche Art, in der seine Mum ihm das Haar zurückgestrichen hatte, während sie ihn in den Schlaf sang, zählte zu Constantines wenigen kostbaren Erinnerungen an seine frühe Kindheit.

Die Stadtresidenz des Dukes in Mayfair war dem verstörten kleinen Jungen wie ein Palast erschienen, mit ihren zahllosen livrierten Dienstboten, dem glanzvollen Inventar, den prachtvollen Gemälden und grandiosen Gewölbedecken, die bis in den Himmel zu reichen schienen.

In den zehn folgenden Jahren wechselte der Duke nur selten ein Wort mit ihm, doch niemand konnte leugnen, dass der Mann nach dem Tod von Constantines Eltern gut für ihn sorgte. Niemand hatte ihn dazu gezwungen. Er war ein Duke, einer der höchsten Adeligen Großbritanniens, und er hatte Constantine aufgenommen, ihm ein Dach über dem Kopf gegeben, ein eigenes Zimmer, regelmäßige Mahlzeiten. Und er hatte ihn zusammen mit seinen drei Söhnen unterrichten lassen.

Constantine war ihm etwas schuldig.

Vor allem, wenn man bedachte, wie absolut nachvollziehbar es gewesen wäre, ihn an ein Waisen- oder Arbeitshaus weiterzureichen. Schließlich konnte man ihre familiäre Verbindung bestenfalls als unbedeutend bezeichnen – Constantines Vater war nur über sehr, sehr viele Ecken mit dem Duke verwandt. Dennoch hatte der seinem damals siebzehnjährigen Schützling sogar ein Patent gekauft, und mitnichten ein schäbiges. Constantine war als Offizier in die Armee eingetreten und bereits mit dreißig Jahren Oberst geworden. Gern würde er glauben, dass er dank seiner militärischen Fähigkeiten so schnell durch die Ränge marschiert war, doch seine Beziehung zum Duke of Birchwood blieb bei keiner seiner Beförderungen unerwähnt.

Nun, kaum ein Jahr nach dem letzten Karrieresprung, gab es bereits Andeutungen, dass ein weiterer bevorstehen könnte. Doch das hatte sich jetzt vermutlich erledigt.

„Warum hat man Sie nach Hause gerufen?“

„Wie es aussieht, ist der Sohn des Dukes bedauerlicherweise von uns gegangen.“ Constantines ausdruckslose Stimme verriet nichts von seinem inneren Aufruhr.

„Tot?“, hakte Morris nach.

„Ja.“

Er empfand einen Anflug von Kummer über das Schicksal seines Cousins. Winston war ihm vom Alter her am nächsten gewesen und hatte den toleranten Ton im Umgang mit dem armen Waisenjungen vorgegeben, die beiden jüngeren Brüder waren seinem Beispiel gefolgt. Trotzdem konnte Constantine nicht behaupten, dass er den Söhnen des Dukes besonders nahegestanden hatte. Stets war da eine Kluft zwischen ihnen gewesen, ein unausgesprochenes Bewusstsein, dass er kein echter Birchwood war, sondern nur ein Findelkind von der falschen Seite des Familienstammbaums. Sie waren nie unfreundlich zu ihm … nur gleichgültig. Auf kühle Art desinteressiert. Im Grunde hatten sie ihn wie eine streunende Katze behandelt, die man meist ignorierte, aber gelegentlich hinter den Ohren kraulte.

Und nun, nachdem dieser Brief ihn darüber informiert hatte, dass Winston gestorben war, so entsetzlich bald nach Constantines beiden jüngeren Cousins, fühlte er nichts anderes als eine Art schockierte Benommenheit und tiefe Bestürzung über die persönlichen Folgen der Tragödie für ihn selbst.

„Ich dachte, die beiden Söhne des Duke of Birchwood wären bereits tot? Das hat man Ihnen doch vor Monaten mitgeteilt. Warum ruft man Sie jetzt nach …“

„Oh, da muss ich wohl etwas richtigstellen. Diesmal handelt es sich um einen dritten Sohn“, erwiderte Constantine schnell und schüttelte den Kopf, der sich momentan so anfühlte, als hätte er einen kräftigen Schlag abbekommen. Das alles war schon sehr verwirrend. „Birchwoods ältester und dritter Sohn ist gestorben. Alle drei sind jetzt tot.“

Alle drei.

Tot.

Alle drei Söhne des Duke of Birchwood waren nicht mehr von dieser Welt. Es war noch kein Jahr her, seit Constantine über Malcolms und Alberts viel zu frühes Dahinscheiden informiert worden war, und nun war auch Winston tot.

Wie können drei Brüder binnen eines Jahres sterben? Jeder an etwas anderem? Wie gering war die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas passierte? Winston war einer Splitterverletzung erlegen. Albert war an einem Stück Wildbret erstickt. Malcolm hatte sich das Genick gebrochen.

Jetzt verfügte der Duke über keinen Erben mehr, an den er seinen Titel und Besitz weitergeben konnte – zumindest keinen direkten. Eine Situation, die niemand hätte vorhersehen können, nachdem die Duchess ihm gleich drei Nachkommen geschenkt hatte.

„Hölle und Teufel“, murmelte Morris und rieb sich die Stirn.

Constantine stand auf und griff nach der Flasche Brandy, die auf einem Beistelltisch in der Nähe stand. Er trank nur selten. Es kam allzu oft vor, dass er aus dem Schlaf gerissen wurde, um sich um die ein oder andere Angelegenheit zu kümmern, und zog es vor, bei diesen Gelegenheiten einen klaren Kopf zu haben. Doch jetzt schien der passende Moment, eine Ausnahme zu machen.

Er füllte ein Glas mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit und leerte es auf einen Zug. „Hölle und Teufel, in der Tat.“

„Wer kann sich so was Tragisches vorstellen? In einem Jahr alle seine Söhne zu verlieren?“ Morris Stimme erstarb.

Er hatte im Dienst der Krone wahrlich schon mehr als genug Tragödien mitansehen müssen. Trotzdem, dass drei behütete, privilegierte Duke-Söhne kurz hintereinander in England zu Tode kamen, war extrem ungewöhnlich.

Constantine drehte sich zu seinem Burschen um. Seit mehr als zehn Jahren waren sie zusammen im Einsatz. Con wusste, dass Morris auch seinem Nachfolger ehrenhaft dienen würde.

„Und doch ist es passiert. Sie sind alle tot. Und ich bin jetzt der Erbe des Dukes.“ Er atmete tief ein, um seine plötzlich viel zu enge Lunge mit dringend notwendiger Luft zu füllen. „Morgen reise ich nach England ab“, verkündete er grimmig.

Man hatte ihn herbeizitiert. Die Pflicht gebot, dass er dem Ruf folgte.

Morris nickte düster. „Nie hätte ich gedacht, dass Sie all dies zurücklassen“, er machte eine raumgreifende Geste, die auch das Lager vor dem Zelt mit einschloss, „um ein verdammter Aristo zu werden.“

Constantine hätte sich ein solches Schicksal ebenso wenig ausmalen können. Er war davon ausgegangen, sein ganzes Leben beim Militär zu verbringen, und hatte sich nie etwas anderes gewünscht. „Mir bleibt keine andere Wahl.“

Er würde tun, was jeder Soldat in der Schlacht tat. Er würde die Fahne dort aufheben, wo die Gefallenen sie zurückgelassen hatten, und sie weitertragen.

Er würde der Duke werden und all die Pflichten auf sich nehmen, die dem wahren Erben zugedacht gewesen waren, den drei wahren Erben vor ihm, und weitermachen.

Denn so gehörte es sich für einen ordentlichen Soldaten.

Sein Leben würde nie wieder ihm selbst gehören.

2. KAPITEL

Es gab weibliche Wesen, die waren dazu geboren, Ehefrauen und Mütter zu sein.

Schon in dem Moment, in dem sie dazu imstande waren, aus Silben Worte zu bilden, war ihnen klar, dass dies ihre Bestimmung sein würde. Es war in ihre Seelen geätzt, floss als unverbrüchliche Gewissheit durch ihre Adern. Sie nahmen dieses Schicksal aus vollem Herzen an.

Als kleine Mädchen spielten sie mit Puppen und Puppenhäusern und winzigen Kinderwagen, stellten damit exakt die häuslichen Situationen nach, die sie bei ihren Müttern und Tanten und Nachbarinnen beobachten konnten. Eleanora Langley kannte solche Mädchen gut. Ihre eigenen Schwestern hatten früher Mütter und Ehefrauen gespielt. Jetzt waren sie tatsächlich welche.

Das entsprach wohl der naturgegebenen Ordnung, vermutete Nora. Allerdings war sie nie ein Mensch gewesen, der der naturgegebenen Ordnung folgte.

Als Kind hatte sie Papa nachgeahmt und so getan, als wäre sie eine Ärztin, die sich um ihre kranken Puppen und die gebrochenen Gliedmaßen ihrer Plüschtiere kümmerte. Das unterschied sie deutlich von ihren Schwestern und anderen Mädchen.

Und jetzt war aus dem Spiel in jeder Hinsicht Wirklichkeit geworden. Ihre Schwestern waren verheiratet und Mütter (oder werdende Mütter), während sie nichts dergleichen war. Stattdessen kümmerte sich Nora jetzt, statt um Puppen und Plüschtiere, um die Krankheiten und Knochenbrüche echter Menschen.

Eine Berufung, die sie definitiv aus der Masse heraushob.

Sie war auch die Erste, die nach dem Gottesdienst von der Kirchenbank aufsprang und nach draußen eilte. Anders als die anderen Frauen aus dem Dorf war sie nicht erpicht darauf, sich mit ungezählten Nachbarn und Freunden auszutauschen. Für heute hatte sie genug erzwungene Geselligkeit genossen, gewürzt mit pädagogischen Fegefeuer-Drohungen des Pastors. Das würde problemlos bis nächsten Sonntag reichen, wenn sie wieder auf der angestammten Familienbank festsitzen würde.

Nora schritt rüstig aus. Im Kirchhof angekommen, hielt sie ihr Gesicht in die Morgensonne und atmete zufrieden ein, bevor sie nach der Kutsche mit dem Familienwappen Ausschau hielt. Nachdem sie ihre sonntägliche Pflicht erfüllt hatte, wollte sie nur noch nach Hause, wo viele Aufgaben auf sie warteten, denen sie sich liebend gern widmen würde.

Während sie ihre Handschuhe überstreifte, blinzelte sie zum Himmel, wo die Sonne gerade einen zaghaften Kampf gegen die hartnäckigen Wolken ausfocht. Zumindest regnete es nicht. Die vergangenen Wochen hindurch hatte es gegossen wie aus Kübeln, und Nora war mehr als bereit für ein paar schöne Frühlingstage, an denen sie endlich wieder über Land streifen und Kräuter sammeln konnte.

Ungeduldig schaute sie über ihre Schulter, in der kühnen Hoffnung, dass ihre Schwestern ihr auf dem Fuße folgten. Ein wahrlich vergeblicher Wunsch. Kaum traten die beiden aus der Kirchentür, wurden sie von den Harken-Dales belagert. Nora seufzte. Natürlich.

Ihre Schwäger waren gleichfalls sehr populär und wurden sofort von Gentlemen umringt. Derlei Anbiederei konnte den ganzen Nachmittag dauern.

Nora trat müßig von einem Fuß auf den anderen. Sie war weit weniger gefragt als ihre Verwandten, was nichts Neues für sie darstellte und ihr Selbstwertgefühl nicht weiter in Mitleidenschaft zog.

Beliebtheit war kein Ziel gewesen, um das sie sich jemals bemüht hatte. Bälle, Teegesellschaften und Partys waren schön und gut, aber Nora arbeitete lieber in ihrem Labor oder ackerte in ihrem Kräutergarten oder kümmerte sich um einen Patienten.

Ihre Schwestern waren verheiratet und damit, wie Nora feststellen musste, in der Achtung der Welt enorm gestiegen, vor allem in der Achtung der Dorfbewohner von Brambledon. Das mochte nicht fair sein, entsprach aber nun mal den Tatsachen.

Charlotte, ursprünglich die zurückhaltendste der Langley-Schwestern, war mittlerweile die bei Weitem beliebteste. Der Grund für ihre plötzliche Popularität fiel sofort ins Auge – in Gestalt eines entzückenden zehn Monate alten Babys auf ihrem Arm. Mutterschaft war offensichtlich ein weiterer Grund für Beliebtheit.

Tatsächlich schien Mutterschaft womöglich sogar noch schwerer zu wiegen als der Ehestand als solcher. Denn während ihre Schwestern durch Heirat in den Augen der Welt an Wert gewonnen hatten, katapultierte die Mutterschaft sie in ungeahnte Höhen.

Ein erneuter Blick über Noras Schulter ergab, dass Mrs. Harken-Dale sich mittlerweile gurrend über Charlottes Baby gebeugt hatte. Hinter ihr bildete sich rasch eine Schlange.

„Oh je.“ Nora stieß einen tiefen Seufzer aus. „Das dauert noch ewig.“

Sie bewunderte ihre Nichte genauso sehr wie jeder andere. Mehr sogar. Schließlich waren sie verwandt. Aber sie hatte keine Lust zu warten, bis sich die allgemeine Begeisterung über die kleine Cordelia gelegt hatte.

Entnervt schaute sie zu ihrer ältesten Schwester. Marians Schwangerschaft war jetzt deutlich sichtbar, und die Leute machten fast so viel Gewese um sie wie um Charlotte und Klein-Cordelia.

Während ihre Schwestern weiter von den Matronen des Dorfs umlagert wurden, ging Nora energisch zur Kutsche der Warringtons. Sie würde einsteigen und drinnen warten, vielleicht konnte sie den Rest der Familie auf diese Weise ja dazu ermutigen, sich etwas zügiger zu verabschieden und aufzubrechen.

Niemand versuchte sie aufzuhalten. Nora war nicht gefragt, es sei denn, jemand hatte ein Furunkel, das aufgestochen werden musste.

Ein livrierter Stallknecht ließ die Stufe herunter, öffnete den Verschlag und streckte seine rechte Hand aus, um Nora beim Einsteigen zu helfen.

„Danke, Thomas“, murmelte sie, ließ sich ins Polster sinken und fasste sich in Geduld.

Allerdings war Geduld nicht unbedingt ihre Stärke. War es noch nie gewesen. Um sich irgendwie zu beschäftigen, zog sie die Handschuhe wieder aus und strich geistesabwesend über die Schwielen in ihren Handflächen.

„Verflixt noch mal.“ Ohne den Stallburschen zwecks Hilfestellung heranzuwinken, verließ sie die Kutsche durch die von der Kirche abgewandte Tür. Sie drehte sich kurz um und registrierte Thomas’ verwirrte Miene.

Sie wedelte mit einer Hand. „Es ist so ein angenehmer Tag. Sagen Sie meinen Schwestern, dass ich nach Hause laufe.“

Ohne auf seine Reaktion zu warten, marschierte sie los. Nora war es gewohnt, ihren Alltag so zu gestalten, wie es ihr gefiel. Ihre Schwestern waren es ebenfalls gewohnt und würden über ihren vorzeitigen Aufbruch nicht überrascht sein.

Während Nora gemächlich durch die sommerliche Landschaft spazierte und den geschäftigen Kirchhof und das Dorf hinter sich ließ, breitete sich tiefe Zufriedenheit in ihr aus. An vielen Bäumen und Büschen hatten sich bereits Knospen gebildet, die den Beginn des Frühlings einläuteten. Es wäre ein idealer Tag zum Kräutersammeln, wenn sie ihre Schultertasche dabeigehabt hätte. Nora beschloss, sich gleich nach ihrer Rückkehr rasch umzuziehen, alles zusammenzupacken, was sie zum Kräutersammeln brauchte, und wieder aufzubrechen.

Bei ihrer Ankunft in Haverston Hall stellte sie fest, dass Marian und ihr Mann noch nicht da waren. Du liebe Zeit, wenn Nora sich nicht davongestohlen hätte, würde sie immer noch vor der Kirche festsitzen.

Kopfschüttelnd lief sie in ihr Zimmer hoch und entledigte sich ihrer Kleidung, wobei sie sich fast verrenkte, um die Knöpfe im Rücken zu öffnen, ohne sie abzureißen. Schon so mancher Knopf war bei diesen Gelegenheiten quer durchs Zimmer geflogen.

Sie wusste, dass die Zofe, die man ihr nach ihrem Umzug nach Haverston Hall zugeteilt hatte, den Tag verfluchte, an dem sie bei ihr gelandet war. Entgegen aller Sitten und Gebräuche kleidete Nora sich selbst an und aus, kümmerte sich selbst um ihre Haare und ums Kaminfeuer und schlug auch jeden Abend eigenhändig die Bettdecke zurück. Sie war der Albtraum jeder Zofe, aber besonders der von Bea. Das hatte Bea ihr unumwunden mitgeteilt.

Unter Berücksichtigung der Art Tätigkeit, die sie sich für den Rest des Tages vorgenommen hatte, zog sie eins ihrer alten Kostüme an. Eine schlichte graue Bluse, dazu ein schlichter grauer Rock mit besticktem Gürtel. Diese Kombination hatte sie oft getragen, bevor Marian den Duke geheiratet hatte. Und Nora nichts anderes gewesen war als ein einfaches Mädchen vom Lande.

Ihr Alltag war schwierig gewesen, mit wenig Geld, ungeduldigen Gläubigern und oft hungrigem Magen. Sie hatten buchstäblich um ihre Zukunft fürchten müssen.

Das war nun vorbei. Dennoch war das Leben auch leichter gewesen, damals, als sie nichts gehabt hatte. Kein Geld. Und ganz gewiss keine Aussichten.

Nun gab es Erwartungen, sosehr sie diese Erwartungen auch verabscheuen mochte und den Druck, der wie eine Bürde auf ihr lastete.

Sie ging die Treppe hinunter und aus dem Haus, ohne jemandem zu begegnen, und atmete erleichtert durch. Außerhalb von Haverston Hall fiel ihr das Atmen immer leichter.

Nora genoss das schöne Wetter. Rasch trugen ihre ausgreifenden Schritte sie zu ihrem anvisierten Ziel am anderen Ende des Anwesens. Schon früher hatte sie den abgelegenen kleinen See des Öfteren aufgesucht, war als Kind hier geschwommen, auch wenn das in jenen Tagen streng genommen unbefugtes Betreten gewesen war.

Sie umrundete den Teich bis zu einer Stelle, an der mehrere Silberweiden das Ufer säumten und einen guten Teil des Wassers von der Sonne abschirmten. Nora war schon lange sehr vertraut mit diesen speziellen Weiden, hatte in jedem Frühling ihre Rinde geerntet, sogar schon, bevor Warrington nach Haverston Hall gekommen war … bevor er Marian kennen und lieben gelernt und schließlich geheiratet hatte.

Papa war derjenige gewesen, der ihr zeigte, wie man die Borke vom Stamm löste und wo in der Grafschaft man diese Weiden fand, zumindest jene, von denen er wusste. Einer der Bäume, der in unmittelbarer Nähe zu ihrem Haus gewachsen war, gedieh inzwischen nicht mehr. Papa hatte ihn Frühjahr für Frühjahr geplündert, so lange, bis er schließlich einging.

Nora war beglückt gewesen, als sie eines Tages beim Schwimmen nach oben schaute und die drei Weiden bemerkte. Sofort hatte sie sich daran gemacht, die Rinde zu ernten, aber mit Bedacht. Sie wollte nicht, dass die Bäume im Dienste der Medizin ihr Leben aushauchten. Außerdem – wem würde es nützen, wenn sie so viel von der Borke nahm, dass die Weiden starben und keine Borke mehr liefern konnten?

Die brauchte sie schließlich für ihre Arbeit.

Weidenrinde war Bestandteil von vielen ihrer experimentellen Elixiere. Nora suchte ständig nach Wegen, das Leiden der Kranken und Verwundeten zu lindern. Das war ein Gebiet von besonderem Interesse für ihren Vater gewesen, und Nora hatte das Banner übernommen.

Unwillkürlich kam ihr das Elixier in den Sinn, das sie für Charlotte zubereitet hatte, und sie verzog peinlich berührt den Mund. Nora war davon ausgegangen, dass das Mittel vollkommen harmlos war. Das Rezept hatte Weidenrinde enthalten. Und auch die übrigen Ingredienzien hatte sie bereits zuvor benutzt, manchmal zusammen, manchmal getrennt. Aber es war nichts Unbekanntes oder Neues dabei gewesen. Nora hatte nur das Mischungsverhältnis früherer Varianten abgewandelt.

Und doch hatte das Elixier Charlottes Leben dramatisch verändert.

Ihre Schwester litt von jeher an den Tagen vor ihrer Monatsblutung an schrecklichen Krämpfen. Als Nora ihr die neue Mixtur gab, hegte sie die Hoffnung, dass dieses spezielle Gebräu Charlotte von ihren Schmerzen befreien könnte. In keinster Weise hatte sie die unfassbare Wirkung vorhergesehen, die dann tatsächlich eintrat.

Wieder schnitt sie eine Grimasse. Tatsächlich hatte sie die Krämpfe ihrer Schwester reduzieren können, ihr dafür jedoch eine Reihe anderer Symptome bereitet, mit denen sie niemals hätte rechnen können. Denn Nora mochte dem Leben mit klinischem Blick begegnen und bestens im Bilde über die Funktionen des menschlichen Körpers sein, aber sie war immer noch Jungfrau. An Dinge wie Erregung oder Begehren hatte sie nie viele Gedanken verschwendet.

Und niemals hätte sie Lust als einen Faktor betrachtet, der genug Macht besaß, um die physischen Bedürfnisse eines Individuums über dessen Geisteskräfte triumphieren zu lassen, doch exakt das war Charlotte passiert, nachdem sie Noras Elixier eingenommen hatte.

Nora hatte ein Aphrodisiakum erfunden.

Das klang zwar unglaublich, entsprach aber doch der Wahrheit. Nora hatte ihre scheue, zurückhaltende Schwester in die Wogen der Leidenschaft katapultiert. Was dankenswerterweise nicht zum Desaster geführt hatte, ganz im Gegenteil.

Genau genommen empfand Nora, wenn sie die ganze Situation rückblickend Revue passieren ließ, eine ungeheure Selbstzufriedenheit. Dank ihrem Elixier war Charlotte nun bis über beide Ohren verliebt, glücklich verheiratet und Mutter eines gesunden Kindes. Diese Einschätzung mochte eingebildet sein, aber Nora konnte nicht anders. Ob richtig oder falsch, sie war einfach stolz auf sich – oder vielmehr stolz auf ihr Elixier. Auch wenn sie nicht wusste, was sie weiterhin damit anfangen sollte. Schließlich konnte sie ja nicht einfach irgendwelchen x-beliebigen Leuten ein Aphrodisiakum verabreichen.

Doch es war bislang der spektakulärste Einsatz ihrer Fähigkeiten gewesen, nie zuvor hatte sie eine derart wegweisende Wirkung erzielt. Soweit sie wusste, hatte sie etlichen Menschen durch deren Krankheiten geholfen, aber niemals Leben gerettet. Bei dem Gedanken, dass sie am Zustandekommen der segensreichen Verbindung von Charlotte und Kingston – und dadurch an der Existenz ihrer kleinen Nichte – beteiligt gewesen war, wurde ihr warm ums Herz. Das Wissen um ihre Rolle bei all dem machte sie regelrecht schwindelig vor Entzücken.

Aufmerksam musterte Nora die drei Bäume, suchte die Bereiche, an denen sie bereits geerntet hatte. Besorgt nagte sie an ihrer Unterlippe, sie wollte dem empfindlichen Holz auf keinen Fall dauerhaften Schaden zufügen. Papa hatte sie vor allzu heftigen Einschnitten gewarnt. Dadurch könnte sie die Weide buchstäblich umbringen, und das durfte nicht passieren.

Abschätzend begutachtete sie die helleren Stellen an den Stämmen, wo in vorangehenden Jahren bereits Rinde entfernt worden war. „Nun denn“, sagte sie laut. Beim Arbeiten redete Nora oft mit sich selbst. „Ich muss das machen.“ Aber richtig.

Das bedeutete, sie würde auf den Baum klettern müssen, um die Rinde von einigen der oberen Äste abzuziehen, die beim vergangenen Beutezug verschont geblieben waren. Ja, es war definitiv klüger, heute von den Ästen zu ernten statt direkt vom Stamm.

Sie justierte den Riemen ihrer Umhängetasche über der Brust, raffte ihren Rock und stopfte den vorderen Saum in ihren Gürtel. Zum Glück hatte sie während ihrer Kindheit viel Zeit damit verbracht, auf Bäume zu klettern. Das letzte Mal lag zwar schon eine Weile zurück, aber sie glaubte nicht, dass sie aus der Übung war.

Beherzt umfasste sie den Stamm und schob sich mit Händen und Füßen daran hoch, bis sie die ersten Äste erreichte. Ihre Handflächen brannten. Nora wünschte, sie hätte Handschuhe angezogen.

Behutsam verlagerte sie ihr Gewicht und klemmt die Stiefel in eine Astgabel, um sicheren Halt zu haben. Dabei vermied sie bewusst, nach unten zu schauen. Das schien ihr vernünftig zu sein, auch wenn sie nicht an Höhenangst litt. Auf ihre Aufgabe konzentriert, schwang sie sich rittlings auf einen der stabileren Äste, umklammerte ihn mit den Oberschenkeln und kroch weiter nach vorn, wild entschlossen, sich so weit wie möglich von den Stellen zu entfernen, die sie bereits früher beschnitten hatte.

Sie hielt inne und tastete in der Tasche nach ihrem kleinen Schälmesser.

Es war eine heikle Angelegenheit. Nora bewegte sich vorsichtig, ängstlich bemüht, nicht die Balance zu verlieren, und begann, daumengroße Scheiben Rinde abzuschaben, die sie in ihrer freien Hand sammelte, bis ungefähr ein Dutzend Stücke beisammen waren.

Wieder tastete sie in ihrer Tasche, zog schließlich ein kleines Glas heraus, verstaute die Borkenstück darin und schraubte es fest zu.

„So“, murmelte sie zufrieden. Das sollte für einen ordentlichen Vorrat an Weidenrindentee reichen, und es würde noch genug übrig bleiben, um damit an diversen Tinkturen und Elixieren zu experimentieren.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung unter sich und erstarrte.

Dann schnappte sie nach Luft.

Da war ein Mensch. Ein Mann.

Direkt unter ihr im Wasser.

Bei dem unerwarteten Anblick zuckte sie unwillkürlich zurück. In ihrem Weiher war ein fremder Mann! Was erdreistete er sich!

Die plötzliche Bewegung brachte sie aus dem Gleichgewicht, der Ast, auf dem sie saß, geriet ins Wanken, und ihre zusammengekniffenen Knie verloren den Halt. Sie stieß einen spitzen Schrei aus, kippte seitwärts, stürzte … und plumpste mit einem reichlich würdelosen Platsch in den Teich.

3. KAPITEL

Prustend und spuckend tauchte Nora vor dem Individuum auf, das sie so unvermutet aus der Kurve geworfen hatte. Dem verflixten Individuum, das sich vollkommen unrechtmäßig im Warrington Weiher aufhielt. Wer war dieser Eindringling?

Sie schob sich die nassen, schweren Strähnen aus dem Gesicht und gaffte ihn perplex an. Er starrte ebenso verblüfft zurück, aus Augen, die die Farbe von Kohle hatten. Sein nasses Haar war ähnlich dunkel und klebte ihm als zerzauste Masse am Kopf.

„Was machen Sie hier?“, fragte sie scharf, während sie Wasser trat, was kein einfaches Unterfangen war, da ihr Rock sich aus dem Gürtel gelöst hatte und äußerst lästig um ihre wedelnden Beine schlang.

Er schaute von ihr zur Baumkrone hoch und kam zweifellos zu dem richtigen Schluss, dass sie aus der Weide und nicht vom Himmel gefallen war.

„Haben Sie meine Frage nicht gehört?“, hakte sie nach. Wasser spritzte gegen ihr Kinn und ihre Lippen, und sie musste kurz husten.

„Ich schwimme in diesem Weiher“, erwiderte der Fremde schließlich sachlich.

Viel zu sachlich. Als ob es vollkommen vernünftig und akzeptabel wäre, sich Zugang zum Besitz anderer Menschen zu verschaffen. Als ob es absolut in Ordnung und keineswegs illegal wäre, im Teich wildfremder Leute mal eben eine Runde zu schwimmen.

Zugegeben, sie hatte das ebenfalls jahrelang so gemacht, aber das tat hier nichts zur Sache.

„Das sehe ich sehr wohl. Und ich empfinde Ihre Anmaßung, hier zu schwimmen, als äußerst verwerflich, mein Herr.“

Mein Herr?

War das wirklich aus ihrem Mund gekommen? Sie klang wie eine eingebildete Gans. So verdrießlich und hochmütig wie Mrs. Pembroke aus dem Dorf. Nora hatte die erzwungene Gesellschaft dieser unangenehmen Frau viel zu oft ertragen müssen. Sie konnte die Dame kaum ertragen … und schon gar nicht die Vorstellung, dieser entsetzlichen Person in irgendetwas zu ähneln.

„Sie sind hier eingedrungen.“ Selbst in ihren eigenen Ohren klang ihre Stimme unerfreulich schrill.

Statt auf ihren Vorwurf einzugehen, antwortete er mit einer Gegenfrage. „Was haben Sie da oben im Baum gemacht?“

„Das geht Sie gar nichts an“, zischte sie verärgert. Warum war er immer noch in diesem Teich? Mit ihr? „Verschwinden Sie von hier! Sofort!“

Er hob eine Hand aus dem Wasser und strich damit über sein Gesicht, als ob er mit den Wassertropfen auch gleich die Erscheinung vor ihm wegwischen könnte. Natürlich vergeblich, sie befand sich immer noch sehr deutlich vor ihm, kein magisches Wesen, sondern eine Frau aus Fleisch und Blut.

Seine Wimpern waren lang und dunkel, nasse Stacheln, die Noras Aufmerksamkeit fesselten, trotz ihres aufgelösten Zustands. Eigentlich sollte es unter ihrer Würde sein, dieses kleine Detail zu bemerken. Normalerweise fielen ihr solche Dinge nie auf. Grundsätzlich verschwendete sie nur sehr wenige Gedanken an das männliche Geschlecht im Allgemeinen, es sei denn, der betreffende Mann war ein Patient, den es zu behandeln galt. Ganz gewiss hatten die Wimpern eines Mannes noch nie zuvor ihr Interesse geweckt.

Dieser Mann hier war wahrscheinlich in seinem Leben noch keinen einzigen Tag krank gewesen. Er wirkte recht kräftig. Die Gesundheit in Person. Und es bereitete ihm offensichtlich keinerlei Mühe Wasser zu treten. Das Wasser leckte an seinen ziemlich breiten und wohlgeformten Schultern.

„Diesen Teich zu verlassen, erweist sich als einigermaßen problematisch“, erwiderte er schließlich.

„Warum das denn?“ Mühsam riss sie sich vom Anblick seiner nackten Schultern los.

„Nun ja“, er schaute zum Ufer. „Meine Sachen liegen dort hinten.“

Sie folgte seinem Blick und sah auf den Kieseln am Strand einen Stapel Kleidung. Einen krächzenden Laut ausstoßend, wandte sie sich wieder ihm zu.

Augenscheinlich waren seine Schultern nicht der einzige Teil von ihm, der nackt war. Dieser Mann war gänzlich unbekleidet und nur Zentimeter von ihr entfernt. Zum Glück konnte sie durch das trübe Wasser den Rest von ihm nicht erkennen – auch wenn sie selbstverständlich gar nicht erst versucht hatte, einen Blick zu erhaschen.

Erwartungsvoll starrte er sie an. Offensichtlich rechnete er damit, dass sie sich in eine errötende, zimperliche Maid verwandelte, die in prüdes Protestgeschrei ausbrach.

Um Würde bemüht, reckte sie das Kinn. Ihr Mangel an theatralischem Getue würde ihn bitter enttäuschen. Sie hatte noch nie zu mädchenhaft geziertem Gebaren geneigt, noch etwas, das sie von anderen Damen unterschied.

„Ich kann Ihnen versichern, Sir, dass Sie über nichts verfügen, das ich noch nie zuvor gesehen habe.“

In seinen dunklen Augen flackerte Verwunderung auf … und noch etwas anderes. Interesse vielleicht? Eine Sekunde war es da, dann wieder verschwunden.

„Tatsächlich“, murmelte er gedehnt, als ob er ihre kühne Behauptung erst verdauen müsste.

Sie nickte kühl. „Tatsächlich.“

„Nun denn“, sagte er dann mit einer strengen Bestimmtheit, wie sie nicht mal ihr Schwager, der Duke, zustande brachte. „Wenn Sie keine Einwände haben.“

Er drehte sich um und schwamm aufs Ufer zu, mit glatten, kraftvollen Zügen, die ihr einen Blick auf seinen muskulösen Rücken erlaubten, der jugendlich und stark war und sich geschmeidig bewegte. In Noras Kehle bildete sich ein unwillkommener Kloß. Wer hätte gedacht, dass der Rücken eines Mannes so faszinierend sein kann?

Die Wasseroberfläche kräuselte sich kaum hinter ihm, was ihr ein Indiz für seine Agilität und Beweglichkeit zu sein schien. Nora hatte nicht viel Erfahrung mit agilen, beweglichen Männern. Die meisten waren Patienten, schon älter oder krank. Abgesehen von ihren Schwägern natürlich. Aber die betrachtete sie nicht als Männer. Sie waren mit ihren Schwestern verheiratet und gehörten damit zu einer ganz eigenen Kategorie.

Wenn Sie keine Einwände haben …

Oh, sie hatte Einwände. Und ob.

Innerlich kochte sie vor Zorn über das Eindringen dieses Mannes in ihren Teich und ihren Frieden … und darüber, dass er sie aus dem Gleichgewicht brachte.

Sie beobachtete ihn, wie erstarrt in der Mitte des Weihers, abgesehen von ihren tretenden Beinen, die sie vor dem Versinken bewahrten. Auch wenn die Vorstellung zu ertrinken ihr im Moment gar nicht so schrecklich vorkam, denn ihr Gesicht glühte vor Verlegenheit. Sie war nie eine Frau gewesen, die unverhohlen Männer angaffte, und doch tat sie nun genau das. Und das ärgerte sie. Nora hatte sich stets gegen solches Verhalten gefeit gefühlt, konnte aber nicht verhindern, dass sie nach Luft schnappte, als er aus dem Teich stieg und sich ihr Zentimeter für Zentimeter enthüllte, während Wasser an seinem langen, kräftigen Körper hinabströmte.

Seinem ganzen Körper. Zumindest die Rückseite.

Seine breiten Schultern verjüngten sich zu einer schmalen Taille und schlanken Hüften. Doch es war sein Gesäß, das den Großteil ihrer Aufmerksamkeit auf sich zog. Die straffen, wohlgeformten Backen seines Hinterteils. Nora lief das Wasser im Mund zusammen, und sie verspürte den seltsamen Drang, diese Backen zu drücken, ihnen einen Klaps zu versetzen, um festzustellen, ob sie so fest waren, wie sie aussahen.

Das war Wahnsinn. Sie war keine lasterhafte Person. Der Drang war ausschließlich auf ihr wissenschaftlich orientiertes Gemüt zurückzuführen. Sie war eine neugierige Person, mehr nicht.

Er beugte sich vor, um seine Kleidung aufzuheben, und drehte sich dann zu Nora um. Sie sah, dass sein Bauch flach war, seine Brust leicht behaart, und die Sehnen seines Oberkörpers sich bei jeder Bewegung unter der straffen Haut anspannten.

Trotz seiner Größe und seiner breiten Schultern war er sehr schlank und langgliedrig und wirkte, als könnten ihm ein paar zusätzliche Mahlzeiten nicht schaden. Und doch war die Kraft, die von ihm ausging, unverkennbar. Man konnte sie spüren, auf dieselbe Art, wie die Luft sich vor einem herannahenden Gewitter aufgeladen anfühlte.

Natürlich war das wiederum nur ihre professionelle Einschätzung und nicht etwa der lüsterne und anerkennende weibliche Blick auf einen männlichen Körper.

Unvermittelt kam ihr ein vertrautes Zitat aus Shakespeares „Julius Cäsar“ in den Sinn … Der dort hat einen hohlen, hungrigen Blick. Er denkt zu viel: diese Leute sind gefährlich.

Nora schluckte, um eine plötzliche, merkwürdige Enge in ihrer Kehle zu vertreiben, und trat weiter Wasser.

„Dann überlasse ich Sie jetzt Ihrem Teich, Miss.“ Er verbeugte sich, was unter den obwaltenden Umständen eigentlich lächerlich sein müsste, und doch war an diesem Mann absolut nichts lächerlich. Ganz gewiss nicht. Die zum Bündel gerafften Kleidungsstücke hielt er so vor sich, dass sie sein Gemächt vor ihrem Blick verbargen. Nora starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an, als könnte sie durch die Sachen hindurchschauen. Was natürlich unmöglich war. Leider.

Leider?

Was war nur los mit ihr? Ganz offensichtlich ging die wissenschaftliche Neugier mit ihr durch und erstreckte sich auf ein neues Gebiet. Es handelte sich um erotische Neugier.

Was eigentlich kein Wunder war, schließlich tauschten ihre Schwestern ständig hitzige Blicke mit ihren jeweiligen Ehemännern – und kleine Berührungen, die sie für diskret hielten.

Vorsichtig schwamm sie zum Ufer, wobei sie sich in Erinnerung rief, dass sie diesen Mann überhaupt nicht kannte. In sicherer Entfernung von ihm stieg sie tropfend aus dem Teich. Ihre Sachen waren völlig durchgeweicht und vollgesogen. „Ich war nicht zum Schwimmen hier“, sagte sie mürrisch, ihn argwöhnisch musternd.

„Aber es ist Ihr Teich, in den ich eingedrungen bin?“

Sie zögerte kurz, nickte dann aber. Genau genommen handelte es sich um den Teich ihres Schwagers, aber dieses Detail würde sie gegenüber einem Fremden nicht weiter vertiefen.

„Nun denn. Wie gewünscht, hier ist Ihre Privatsphäre.“ Er machte eine schwungvolle Geste. „Sie können also ungestört weiter von Bäumen fallen.“

Nora schnaubte. Dachte er etwa, sie wäre absichtlich in den Teich gefallen? Wie erniedrigend. Sie war durchaus dazu imstande, auf Bäume zu klettern. Ihre plötzliche Tollpatschigkeit war allein seiner Gegenwart geschuldet. Er hatte sie erschreckt.

Doch bevor sie ihn auf seine Fehleinschätzung hinweisen konnte, hatte er sich bereits abgewandt und war im Unterholz verschwunden. Kurz darauf hörte sie irgendwo in der Nähe ein Pferd leise wiehern. Also war er nicht zu Fuß hier. Das bedeutete, dass er sich zügig von dannen machen konnte. Gut, dass sie ihn los war.

Als sie sicher war, wieder allein zu sein, öffnete sie die Tasche, die immer noch quer über ihrer Brust hing, und überprüfte das Glas. Erleichtert stellte sie fest, dass die Rindenstücke noch immer sicher verstaut waren. Der Deckel hatte gehalten, und dieser lästige Mann war weg. Beides ausgezeichnete Entwicklungen. Nora fand zu ihrem alten inneren Gleichgewicht zurück. Sie hatte wahrlich genug zu tun, auch ohne sich zusätzlich mit Angelegenheiten wie erotischer Neugier zu belasten. Das würde sie anderen überlassen, die darauf warteten, dass ein Mann ihnen die Erfüllung im Leben brachte.

Nora war keine solche Frau.

Zufrieden schob sie das Glas zurück in die Umhängetasche und setzte sich Richtung Haverston Hall in Bewegung. Die schweren, nassen Sachen klebten ihr unangenehm am Körper. Wenigstens war es nicht kalt heute. Sie hätte sich noch weit unbehaglicher gefühlt, wenn sie mitten im Winter in den Weiher gefallen wäre. Andererseits wäre in dem Fall er nicht dort gewesen, um sich ein erfrischendes Bad zu genehmigen. Diesen Vorteil zumindest hätte es gegeben.

Bei jedem Schritt spritzte Wasser aus ihren Stiefeln. Keine angenehme Erfahrung.

Autor

Sophie Jordan

Geschichten über Drachen, Krieger und Prinzesssinnen dachte Sophie Jordan sich schon als Kind gerne aus. Bevor sie diese jedoch mit anderen teilte, unterrichtete sie Englisch und Literatur. Nach der Geburt ihres ersten Kindes machte sie das Schreiben endlich zum Beruf und begeistert seitdem mit ihren eigenen Geschichten. Die New York...

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