Mit dir auf der Insel der Sehnsucht

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Allein mit Nicolas César auf einer paradiesischen Insel im Mittelmeer - das ist die reinste Folter für die unscheinbare Marietta! Nicht nur, dass sie ihre Unabhängigkeit aufgeben musste, damit der attraktive Securityboss sie Tag und Nacht vor einem gefährlichen Verfolger beschützt. Viel schlimmer ist seine unwiderstehlich männliche Ausstrahlung, die sie in den Bann zieht. Denn so sehr sie sich nach seiner Liebe sehnt, fragt sie sich insgeheim: Was findet ein Mann wie er, dem die Frauen zu Füßen liegen, an ihr? Verführt er sie nur aus Mitleid?


  • Erscheinungstag 27.02.2018
  • Bandnummer 2325
  • ISBN / Artikelnummer 9783733709983
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Mamma mia! Da kommen wieder welche.“

In der leisen Stimme ihrer Assistentin lag eine eindeutige Vorahnung. Mariettas Finger erstarrten auf der Computertastatur, und sie wusste nicht mehr, was sie eigentlich hatte schreiben wollen. Als sie aufblickte, sah sie den Kurier, der gerade die Glastüren zu der Galerie im edlen Parioli-Viertel mitten in Rom aufstieß. Er brauchte beide Arme, um den üppigen Strauß Rosen zu tragen.

„Bellissimo.“ Lina kam aus dem Lagerraum und stellte sich erwartungsvoll neben Mariettas Schreibtisch. „So schöne hatten wir noch nie!“

Nur widerstrebend stimmte Marietta ihr zu. Aber Lina hatte recht: Die langstieligen Rosen waren tatsächlich wunderschön, jede Blüte – und es waren mindestens zwei Dutzend – war perfekt geformt. Das dunkle Rot der samtigen Blütenblätter kam vor den weißen Wänden der Galerie besonders intensiv zur Geltung und erinnerte Marietta an Blut.

Kurz dachte sie an die eleganten weißen Orchideen, die Anfang der Woche geliefert worden waren – überraschenderweise, denn eigentlich kamen die Blumen immer freitags. Auch die Orchideen waren zart und bezaubernd gewesen, aber Marietta hatte ihren süßlichen Duft noch in der Nase gehabt, nachdem sie die Blumen längst entsorgt hatte.

Selbst die kleine Karte, die an dem Strauß gehangen hatte, war parfümiert gewesen, und Marietta hatte das Bedürfnis gehabt, sie sofort in den Müll zu werfen. Am liebsten hätte sie die Nachricht in winzige Stücke gerissen und die Toilette hinuntergespült.

Aber sie musste die Karten aufbewahren, denn es konnte sein, dass daran irgendwelche Spuren hafteten. Deshalb hatte sie die Karte zu all den anderen in die Schublade gelegt und sich geschworen, dass sie, wenn alles vorüber war – wenn ihr heimlicher Verehrer, den sie eher als Stalker empfand, geschnappt war oder es einfach satthatte, sie mit Blumen zu bombardieren –, all die Nachrichten verbrennen würde.

Der Kurier kam über den polierten Betonboden auf sie zu, und Marietta spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Sie wollte die Rosen nicht entgegennehmen.

„Ciao.“

Der junge Mann schenkte ihr ein strahlendes, unbekümmertes Lächeln, doch das konnte Marietta nicht besänftigen. Jetzt richtete er seinen Blick auf Lina. Das wunderte Marietta nicht, denn ihre Assistentin war groß und gertenschlank. Dann aber veränderte sich die Miene des Lieferanten, denn der Mann, der hinter Marietta gesessen hatte, erhob sich.

Mit langen Schritten kam er hinter dem Schreibtisch hervor und stellte sich dem Kurier in den Weg. Dieser wurde leichenblass angesichts des Hünen, der sich vor ihm aufbaute. Fast hatte Marietta Mitleid mit ihm, denn Nicolas César – ehemaliger Legionär, Kopf der weltweit operierenden Sicherheitsfirma César Security und noch dazu ein guter Freund ihres Bruders – war tatsächlich Furcht einflößend.

Jetzt musterte er den Kurier und streckte fordernd seine riesige Hand aus. „Geben Sie mir die Blumen.“

Nicos volltönende Stimme strahlte jene Art natürlicher Autorität aus, der sich nur ein Idiot ohne jeglichen Sinn für Selbstschutz widersetzen würde. Der junge Mann zögerte keine Sekunde. Er überreichte Nicolas die Rosen mit einer derart hastigen Bewegung, dass Marietta gelacht hätte, wenn an dieser Situation auch nur irgendetwas zum Lachen gewesen wäre. Kurz schoss der Blick des Kuriers noch einmal zu Lina, doch die konzentrierte sich vollkommen auf den Wachmann. Der andere schien zu begreifen, dass er gegen diese geballte Männlichkeit nicht ankam, sah ein letztes Mal verwirrt zu Marietta hinüber und verschwand dann eilig aus der Galerie.

Marietta umklammerte die Titangriffe ihres passgenau angefertigten Rollstuhls und kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück. Obwohl Nico auf der anderen Seite des Tisches stand, brauchte sie diesen Abstand, ehe sie ihn wieder ansehen konnte.

Und zwar nicht, weil sie nicht daran gewöhnt gewesen wäre, zu anderen Leuten aufzusehen. Nach dreizehn Jahren im Rollstuhl hatte sie sich mit dieser Perspektive abgefunden. Auch wenn viele Menschen den Ausdruck gebrauchten, jemand sei an seinen Rollstuhl gefesselt – als wäre das Hilfsmittel das Gefängnis, nicht die Beine, die den Dienst versagten –, empfand Marietta das moderne, ultraleichte Hilfsmittel als große Chance, sich einen Teil ihrer Mobilität zu bewahren. Der Rollstuhl verlieh ihr die Freiheit, zu arbeiten und auch zu reisen. Die Freiheit, ein unabhängiges Leben zu führen, von dem die meisten ehrgeizigen Singlefrauen Anfang dreißig nur träumen konnten.

Doch Nicolas César war anders als die Menschen, mit denen es Marietta normalerweise im Alltag zu tun hatte, und das lag nicht nur an seiner Größe und der extrem geraden Haltung. Was Mariettas Hormone in Wallung brachte, war die ungezügelte Stärke, die er ausstrahlte.

Und das irritierte sie ziemlich.

Sexuelle Anziehungskraft und die Komplikationen, die sie mit sich brachte, waren nichts, was sie im Moment in ihrem Leben brauchen konnte – oder überhaupt jemals brauchen konnte. Insbesondere, wenn es um einen Mann ging, der rein körperlich in einer so völlig anderen Liga spielte als sie.

„Willst du ihn nicht verhören?“, wollte sie wissen, und ihre Stimme klang herrischer als beabsichtigt.

Nico kniff die Augen zusammen und musterte sie. Schlagartig bekam sie ein schlechtes Gewissen. Er war hier, um ihr zu helfen, weil ihr Bruder ihn darum gebeten hatte. Und es war nicht Nicos Schuld, dass Leo nicht vorher mit ihr darüber gesprochen hatte. Ihn jetzt dafür verantwortlich zu machen, war kindisch. Ungerecht.

Er hielt ihren Blick, und sie errötete. Doch was sich da in ihrem Innern abspielte, hatte mit Schuldgefühlen wenig zu tun. Sie wandte den Blick nicht ab, und sie war sich nicht einmal sicher, ob sie es gekonnt hätte. Seine Augen waren von einem dunklen, schimmernden Blau. Wenn sie ihn ansah, war es, als würde sie in die Tiefe eines riesigen Sees gezogen. Sie konnte kaum mehr atmen.

Unwillkürlich öffnete sie den Mund, um Luft zu holen und sich dann zu entschuldigen, doch Nico kam ihr zuvor.

„Bruno hat die Mitarbeiter des Blumenladens überprüft, einschließlich der Lieferanten. Es gibt also keinen Grund für mich, den jungen Mann …“, er machte eine Kunstpause, „… zu verhören.“

Angesichts der Art, wie er das Wort betonte, fühlte Marietta sich unbehaglich. Sie fand es keineswegs schwierig, sich Nicolas César im Verhör vorzustellen. Innerhalb von kürzester Zeit würde jeder Gauner um Gnade flehen. Gleichzeitig wurde ihr klar, dass ein Mann wie er – jemand mit dieser dunklen, kraftvollen Anziehungskraft – von allen Frauen bewundert wurde. Wo er auch auftauchte, überall umringten sie ihn. Und das, noch ehe er den Mund aufgemacht hatte und sie seine tiefe, wohltönende Stimme hören konnten …

Marietta unterdrückte einen Schauer.

Ob die Frauen auch um Gnade flehten?

Der Schauer wich einer heißen Welle, die Mariettas Körper durchspülte. Himmel, was war nur los mit ihr?

Es ging nicht, dass sie ihre Gedanken in diese Richtung wandern ließ. Nico war der Freund ihres Bruders. Das Leben hatte ihr einige harte Lektionen erteilt, und sie war realistisch genug, um zu wissen, dass sie ihre Zeit nicht mit Fantasien vergeuden sollte, die niemals Wirklichkeit werden würden.

Aber auch wenn sie ein realistischer Mensch war, hatte sie doch ihre Ziele: Sie wollte ihren Platz in der Kunstwelt manifestieren, selbst als Künstlerin erfolgreich und anerkannt sein, und sie wollte unabhängig vom Geld und dem Einfluss ihres Bruders leben. Das waren ihre Ziele, die sie morgens aus dem Bett trieben.

Und sie hatte eine Liste mit Dingen, die Magie in ihr Leben bringen könnten – da unterschied sie sich nicht von anderen. Immerhin gab es Querschnittsgelähmte, die Fallschirmsprünge wagten, Flugzeuge steuerten oder andere Dinge machten, die abenteuerlich waren. All das war machbar. Aber wie groß war die Chance, dass sich ein Mann, der ohne große Anstrengung jede – gesunde – Frau der Welt bekommen konnte, gerade in sie verlieben würde?

Das war pure Fantasie, unerfüllbar. Mit solchen Tagträumen würde sie nicht ihre Zeit verschwenden.

Vielmehr musste sie sich darauf konzentrieren, was wirklich wichtig war: auf ihren Job, ihre Unabhängigkeit, ihre Kunst. Ganz besonders auf ihre Kunst.

All das war plötzlich in Gefahr, weil sie von einem offensichtlich irren Typen gestalkt wurde.

Seit sechs Wochen bekam sie riesige Blumensträuße und Karten, über die sie sich anfangs amüsiert hatte. Doch mit der Zeit waren die Texte intensiver, drängender und persönlicher geworden. Besitzergreifender.

Der Strauß dunkelroter Rosen, der am Freitag vor zwei Wochen geliefert worden war, war der erste gewesen, der sie wirklich erschreckt hatte.

Das Kleid, das du gestern getragen hast, war wunderschön, amore mio. Rot ist die perfekte Farbe für dich – und noch dazu meine Lieblingsfarbe. Erkennst du es? Wir sind füreinander geschaffen! S.

Sie hatte sich gefühlt, als würde eine eiserne Faust ihr Herz umklammern. Und zum ersten Mal war ihr bewusst geworden, dass der Fremde sie verfolgte, sie beobachtete, sie stalkte.

Diese Erkenntnis hatte sie so sehr erschüttert, dass sie ihre Schwägerin Helena ins Vertrauen gezogen hatte. Im Rückblick war das ein Fehler gewesen. Denn obwohl Marietta sie angefleht hatte, ihrem Mann, Mariettas Bruder, nichts zu erzählen, hatte Helena ihm alles anvertraut. Und natürlich war Leo ausgeflippt. Sofort hatte er sie angerufen, ihr Vorwürfe gemacht, weil sie sich nicht sofort bei ihm gemeldet hatte, und sie gedrängt, zur Polizei zu gehen.

Doch sie hatte keinen Wirbel um die Sache machen wollen, nur weil ihr Bruder mal wieder übervorsichtig war. Es grenzte schon an ein Wunder, dass er achtundvierzig Stunden gewartet hatte, bis er seinen Freund Nico um Hilfe gebeten hatte.

Und es hatte Marietta auch keineswegs enttäuscht, dass Nico, den sie zuvor zum letzten Mal auf Leos und Helenas Hochzeit gesehen hatte, zunächst seinen Mitarbeiter Bruno geschickt hatte, statt den Fall selbst zu übernehmen. Schließlich war Nicolas César ein viel beschäftigter Mann – er war Geschäftsführer eines weltweit operierenden Sicherheitsdienstes und arbeitete für internationale Firmen und einflussreiche Wirtschaftsbosse. Ein übereifriger Bewunderer stand da natürlich, trotz der Freundschaft zu ihrem Bruder, nicht ganz oben auf seiner Prioritätenliste.

Dennoch – jetzt war er hier. Und zwar in voller Lebensgröße, wie ihr bewusst wurde, als sie den Kopf weit in den Nacken legen musste, um ihn anzusehen. Noch immer hatte sich ihr Herzschlag nicht beruhigt. Seit Nico vor einer Dreiviertelstunde völlig überraschend in der Galerie aufgetaucht war, raste ihr Puls.

Nach einer kurzen, höflichen Begrüßung hatte er die Karten sehen wollen, die der Stalker ihr geschrieben hatte. Und dann hatte er jedes einzelne intime Detail gelesen, während Mariettas Wangen dunkelrot angelaufen waren. Angesichts der Tatsache, dass es Freitagnachmittag war und somit die nächste Blumenlieferung ins Haus stand, hatte Nico einen der bequemen Besuchersessel für sich beansprucht und auf den Kurier gewartet.

„Wo ist eigentlich Bruno?“, erkundigte sich Marietta. Es interessierte sie nicht wirklich, aber sie hoffte, den Moment hinauszögern zu können, bis sie erneut einen der schmalen weißen Umschläge öffnen musste.

„Er geht einem Hinweis nach“, erklärte Nico.

„Was für einem Hinweis?“, hakte sie nach.

Doch er blieb die Antwort schuldig und wandte sich stattdessen an Lina.

Marietta versuchte, ihre Verärgerung zu unterdrücken, doch als sie ihre Assistentin ansah, kochte ihre Wut nur noch höher. Santo cielo! Hatte dieses Mädchen denn keinen Funken Stolz? Am liebsten hätte Marietta dafür gesorgt, dass dieser Rehaugenblick aus ihrem Gesicht verschwand und sie sich gerade hinstellte, statt ihre Hüfte so anzüglich zur Seite zu kippen. Wahrscheinlich war Lina gar nicht bewusst, wie aufreizend sie wirkte.

Nico nahm den Umschlag aus dem Rosenstrauß und reichte die Blumen dann weiter an Lina. „Entsorgen Sie den Strauß.“

Das einfältige Mädchen strahlte ihn an, als hätte er ihr ein Kompliment gemacht und nicht einfach nur einen Befehl gegeben. Alles in Marietta sträubte sich angesichts dieses Benehmens. Doch Lina merkte nichts. Ohne sich bei ihrer Chefin zu vergewissern, dass sie einverstanden war, nahm sie die Rosen und brachte sie hinaus.

„Das war nicht besonders freundlich“, bemerkte Marietta, nachdem Lina außer Hörweite war.

Fragend sah Nico sie mit seinen unglaublich blauen Augen an. „Entschuldigung?“

„Lina“, erklärte sie. „Du hättest ein bisschen freundlicher sein können. Hier bellt niemand Befehle.“

Beinahe unmerklich hob er eine seiner kräftigen Augenbrauen. „Sie schien aber nicht sauer zu sein.“

Natürlich nicht. Verzaubert und sehnsüchtig, das traf es wohl eher. Wahrscheinlich hätte sie Nico am liebsten in den Lagerraum gedrängt und ihm die Kleider vom Leib gerissen.

Marietta war überzeugt davon, dass Nico das auch nicht entgangen war.

Allerdings hatte er Lina nicht ermutigt, das musste sie zugeben. Tatsächlich schien er kaum Notiz von ihr zu nehmen, im Gegensatz zu den meisten anderen männlichen Besuchern der Galerie, die sich mehr für Linas lange Beine interessierten als für die Skulpturen und Bilder an den Wänden.

Und das Mädchen hatte echt tolle Beine und einen ebenso perfekt geformten Körper, den sie durchaus in Szene zu setzen wusste! Warum hätte sie das auch nicht tun sollen? Sie war groß, anmutig und trotz ihrer Weiblichkeit extrem schlank.

Und sie war gesund.

Alles das, was Marietta nicht war – wegen eines schicksalhaften Augenblicks in ihrem Leben. Wegen einer jugendlichen Dummheit. Dieser Moment hatte ihr ganzes Leben verändert.

Aber alles in allem hatte sie noch Glück gehabt. Das hatten ihr einige wohlmeinende, wenn auch wenig einfühlsame Menschen während der quälend langen Monate ihrer Genesung immer wieder gesagt.

Sie hatte überlebt.

Im Gegensatz zu den drei Freunden – inklusive des angetrunkenen Fahrers –, die mit ihr im Wagen gesessen hatten. Zwei waren direkt beim Zusammenstoß mit der Betonmauer gestorben, die Dritte auf dem Weg ins Krankenhaus, obwohl das Notärzteteam alles getan hatte, um sie zu retten.

Nachdem Marietta begriffen hatte, dass sie die einzige Überlebende dieses Unfalls war, hatte es Tage gegeben, an denen sie eine undurchdringliche Dunkelheit umgeben hatte. In den schlimmsten Augenblicken hatte sie an die Decke ihres Krankenhauszimmers gestarrt und sich gewünscht, sie wäre ebenfalls gestorben.

Irgendwann aber hatte sie sich ins Leben zurückgekämpft.

Ihrem Bruder zuliebe, der sich die Schuld an dem Unglück gab, und für ihre Freunde, die keine zweite Chance mehr bekommen hatten. Und auch für ihre Mutter, die gewollt hätte, dass Marietta ebenso mutig und unerbittlich kämpfte, wie sie selbst versucht hatte, den Krebs zu bekämpfen – auch wenn die Krankheit den Kampf schließlich gewonnen hatte. Letztendlich hatte sie es auch für ihren Vater getan, der die Dämonen der Trauer nach dem Tod seiner Frau nicht mehr losgeworden war.

Bei diesem Gedanken hob sie energisch den Kopf. Sie war noch hier. Und sie würde nicht zulassen, dass irgendein Fremder dieses Leben zerstörte, das sie sich so mühsam aufgebaut hatte.

Zielstrebig streckte sie die Hand nach dem Umschlag aus. Nico zögerte, dann aber reichte er ihr die Karte. Marietta bemühte sich, ihre Finger nicht zittern zu lassen, während sie den Umschlag öffnete und die Nachricht herauszog. Dann atmete sie einmal tief durch und begann zu lesen. Ihr wurde übel.

Er sah, wie ihre Hand anfing zu zittern. Als sie aufblickte, waren ihre kaffeebraunen Augen so dunkel, dass Nico nicht mehr erkennen konnte, was Iris war und was Pupille.

Das Gefühl, das er in ihrem Blick erkannte, hatte er schon oft gesehen: Es war blanke Angst.

Fluchend nahm er ihr die Karte aus der Hand. Sein Italienisch war nicht so gut wie seine Muttersprache Französisch oder wie sein Englisch, dennoch bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, die maschinengetippten Worte zu verstehen. Seine Finger krampften sich um das Papier, doch er bemühte sich um eine neutrale Miene. Marietta war eine starke Frau – das war ihm schon bei ihrer ersten Begegnung in Leos Büro aufgefallen, und auf der Hochzeit ihres Bruders hatte er diesen Eindruck bestätigt gesehen –, jetzt aber war sie fassungslos, und er musste sie beruhigen.

Sie sollte sich sicher fühlen, und dafür musste er sorgen – allein schon ihrem Bruder zuliebe. Leo und er hatten sich vor acht Jahren über einen gemeinsamen Kunden kennengelernt, und Nico hatte sofort erkannt, dass der Italiener ein Mann war, den er mögen und respektieren würde. Seither arbeiteten sie häufig zusammen, und im Laufe der Zeit waren sie enge Freunde geworden.

Jetzt steckte er die Karte zu den anderen in eine Plastikhülle. Abgesehen davon, dass die Texte einiges über die Gedankengänge ihres Verfassers aussagten, ließen sie keine Rückschlüsse über den Absender zu. Die Blumen waren immer im Internet bestellt, die Karten von einem Floristen anhand der vorgegebenen Texte ausgefüllt worden.

Anfangs war Bruno zuversichtlich gewesen. Online-Bestellungen ließen sich normalerweise über die IP-Adresse und eine Kreditkartennummer zurückverfolgen. Doch Mariettas Stalker war vorsichtig – und schlau. Die Bestellungen kamen von einem öffentlichen Internetzugang, und die Rechnungen waren per Postanweisung beglichen worden.

Das zeugte von einer sehr genauen Planung, die weder Nico noch Bruno erwartet hatten. Nico gefiel es gar nicht, die Bedrohung unterschätzt zu haben. Er war zunächst davon ausgegangen, dass sie es mit einem enttäuschten Exfreund zu tun hatten.

Aber jetzt war er hier, in Rom. Nachdem Bruno ihn gestern angerufen hatte, hatte Nico all seine Termine in New York abgesagt und war gekommen.

Und er würde diesen Typen finden! Vielleicht würden sie dafür ein paar Regeln brechen und bürokratische Hürden umgehen müssen. Aber sie würden ihn dingfest machen.

Er kam um den Schreibtisch herum und ging in die Hocke, um mit Marietta auf Augenhöhe zu sein. Sie zuckte unwillkürlich zurück, als wäre sie das nicht gewohnt, und kurz fragte er sich, ob man sich Rollstuhlfahrern gegenüber so nicht verhielt. Dann aber sagte er sich, dass er sich aufgrund seiner Größe zu jeder anderen Frau auch hinuntergebeugt hätte, um sie zu beruhigen.

„Wir werden ihn finden, Marietta“, versicherte er ihr.

Trotzdem sah sie ihn weiterhin mit schreckgeweiteten Augen an, alle Farbe schien aus ihrem Gesicht gewichen zu sein. „Er war bei mir zu Hause …“

Nico biss die Zähne aufeinander. „Nur vielleicht.“

„Aber die Karte …“

„… kann genauso gut Taktik sein, um dich zu beunruhigen“, fiel er ihr ins Wort. Doch sein Bauchgefühl und das ahnungsvolle Prickeln in seinem Nacken sagten ihm, dass die Realität nicht so harmlos war, sondern weitaus unheilvoller.

Ich habe dir ein Geschenk dagelassen, tesoro. Auf deinem Bett. Denk an mich, wenn du es auspackst. Schlaf gut, amore mio. S.

Ohne nachzudenken, griff Nico nach ihrer Hand. Schmal lag sie in seiner, aber er spürte die Kraft, die von ihr ausging.

Bis heute konnte Nico sich daran erinnern, wie er diese Hand zum ersten Mal genommen hatte. Es war vier, vielleicht auch fünf Jahre her. Damals waren sie sich im Büro ihres Bruders begegnet und einander vorgestellt worden. Obwohl sie nur einen kurzen Händedruck getauscht hatten, war ihm sofort aufgefallen, wie angenehm ihre Hand in seiner lag, wie zart die Haut an einigen Stellen war, wie schwielig an anderen. Dann hatte er Marietta auf Leos Hochzeit vor ein paar Jahren wiedergesehen. Es hatte ihn beeindruckt, wie gut sie mit dem Rollstuhl zurechtkam, mit welcher Selbstverständlichkeit sie sich damit bewegte.

Als sie vor der Braut durch den Mittelgang der Kirche gekommen war, hatte sie ruhig und mit sich im Reinen gewirkt. Ihre zukünftige Schwägerin hatte atemberaubend ausgesehen in dem schlichten weißen Brautkleid, doch während der gesamten Zeremonie hatte Nicos Aufmerksamkeit Marietta gegolten.

In den sechsunddreißig Jahren seines Lebens hatte er zwei weitere Hochzeiten mitgemacht – seine eigene, an die er nur ungern dachte, und eine opulente Trauung auf den Bahamas, zu der ihn eine Exfreundin mitgeschleppt hatte. Doch nirgends hatte er eine Brautjungfer erlebt, die es an Eleganz und Stil mit Marietta aufnehmen konnte.

Ihr volles Haar, dessen Ton an dunkles Mahagoni erinnerte, hatte sie an jenem Tag aufgesteckt getragen, und das türkisfarbene Seidenkleid hatte den goldenen Schimmer ihrer Schultern und ihres Dekolletés perfekt zur Geltung gebracht. Dass sie Ihm Rollstuhl saß, hatte ihrer Schönheit keinen Abbruch getan.

Und dann erst ihre Schuhe!

Sie hatte Stilettos getragen.

Aufreizende, sehr weibliche Stilettos, deren Türkis genau zur Farbe ihres Kleides passte.

Die Tatsache, dass Marietta niemals in diesen Schuhen würde laufen können, hatte seine Bewunderung für sie noch verstärkt. Es war eine Geste gewesen – als wollte sie ihrem Schicksal den Stinkefinger zeigen –, und diese Haltung hatte ihn amüsiert. Er hatte tatsächlich gelächelt. Und das passierte ihm äußerst selten.

„Nico?“

Marietta drehte ihre Hand in seiner und riss ihn aus seinen Gedanken. Unwillkürlich hatte er mit seinem Daumen kleine Kreise auf ihrem Handgelenk gezeichnet. Hastig zog er seine Hand zurück und stand auf. „Du bleibst zusammen mit Lina hier.“

Sie rollte ein Stück zurück und schaute zu ihm auf. „Und wohin gehst du?“

„Ich sehe mir deine Wohnung an.“

Sie runzelte zwar die Stirn, aber zumindest kehrte ein bisschen Farbe in ihre Wangen zurück. „Nicht ohne mich.“

„Es ist besser, wenn du hierbleibst“, erwiderte er ruhig.

„Warum?“

Als er den Bruchteil einer Sekunde zu lange zögerte, zeichnete sich Angst auf ihrer Miene ab.

Mio Dio. Du glaubst, er könnte noch dort sein, nicht wahr?“ Anklagend sah sie ihn an. „Aber du hast behauptet, die Karte sollte mich nur beunruhigen.“

„Das könnte so sein“, stellte er richtig. „Genau weiß ich es erst, wenn ich es überprüft habe.“

„Dann komme ich mit.“

„Mir wäre es lieber, wenn du hierbleiben würdest.“

Sie richtete sich auf, und ihr Blick, eben noch angsterfüllt, war mit einem Mal entschlossen. „Es ist meine Wohnung. Ich komme mit, ob es dir gefällt oder nicht.“ Sie reckte ihr Kinn. „Außerdem brauchst du mich dafür. Ohne meinen Code und meinen Schlüssel kommst du gar nicht hinein.“

„Du könntest mir auch beides geben“, hielt er dagegen. Er bemühte sich um einen entspannten Tonfall, obwohl er merkte, dass seine Geduld bald ein Ende haben würde. Er war es nicht gewohnt, dass die Leute mit ihm diskutierten.

Marietta verschränkte die Hände in ihrem Schoß und gab sich damit den Anschein von Ergebenheit. Allerdings straften ihre gestrafften Schultern und das trotzige Blitzen in ihren Augen diesen Eindruck Lügen.

„Springen die Leute immer, wenn du befiehlst?“

Er kreuzte die Arme vor der Brust. Nach außen hin blieb er ruhig, innerlich aber kochte er. „Oui“, sagte er, und in dem kleinen Wort schwang eine unmissverständliche Warnung mit, von der er hoffte, Marietta werde sie hören. „Zumindest wenn sie begriff, was das Beste für sie ist.“

Ihre Augenbrauen schnellten nach oben, gleichzeitig aber zuckte sie wenig beeindruckt mit den Schultern. „Tja, tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen …“, sie warf einen Blick auf ihre Beine, dann sah sie Nico wieder an, „aber vielleicht hast du bereits bemerkt, dass ich nicht springen kann.“

Nico presste die Lippen zusammen und erwiderte ihren Blick. „Du verschwendest deine Zeit, Marietta.“

„Ich?“ Wie schaffte sie es bloß, so unschuldig zu gucken? „Du bist doch derjenige, der die Sache aufhält, Nico. Wir könnten schon fast da sein.“

Er atmete tief ein und hörbar wieder aus. Leo hatte ihn gewarnt, dass Marietta stur sein konnte. Energisch. Halsstarrig. Zweifellos hatten diese Eigenschaften ihr geholfen, eine Menge Hürden zu überwinden. Er respektierte diese Haltung und bewunderte sie dafür. Im Moment allerdings hätte es ihm besser gefallen, wenn sie ein bisschen fügsamer gewesen wäre.

Doch das Blitzen in ihren braunen Augen verriet ihm, dass seine Chancen gleich null waren. Nico war sich nicht sicher, ob ihn das eher überraschte, beeindruckte oder ärgerte.

Einem Nicolas César bot niemand die Stirn.

Man gehorchte ihm.

Zum Glück für Marietta hatte er weder die Zeit noch die Geduld, hier herumzustehen und sich zu streiten. Er löste die Hände aus der verschränkten Haltung. „Warte hier“, knurrte er. „Ich hole den Wagen und nehme dich dann mit.“

Das Lächeln, das sie ihm schenkte, war es beinahe wert, dass er nachgegeben hatte, auch wenn ihm das einen fast körperlichen Schmerz bereitete. Mon Dieu. Ging sie mit diesem Lächeln immer so großzügig um? Wenn das so war, dann würde er wahrscheinlich noch Tausende heimliche Bewunderer finden, die irgendwo auf ihre Chance lauerten.

„Nicht nötig“, erklärte sie, griff nach ihrer großen Ledertasche und rollte zum Ausgang. „Mein Wagen parkt direkt an der Straße. Ich fahre selbst, und wir treffen uns bei mir zu Hause.“

In diesem Moment kam Lina ohne die Rosen zurück. Sie warf ihr blondes Haar über eine ihrer zu knochigen Schultern und schenkte Nico ein Lächeln, das ihn nicht annähernd so berührte wie Mariettas.

„Kannst du heute Abend bitte abschließen, Lina?“, wandte sich Marietta an ihre Assistentin. „Ich komme wahrscheinlich nicht zurück. Ruf mich an, wenn du noch irgendetwas brauchst. Sonst sehen wir uns morgen früh.“ Dann sah sie Nico an. „Ich gehe davon aus, dass du meine Adresse längst kennst?“

„Oui“, erwiderte er, und es gefiel ihm, wie sie die Lippen daraufhin zusammenpresste.

„Okay. Dann treffen wir uns dort.“ Sie fuhr weiter.

„Marietta“, rief er sie noch einmal zurück.

Sie hielt inne und warf ihm einen fragenden Blick zu.

Autor

Angela Bissell
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