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Ein Fremder, der aus dem Nichts auftaucht, so wild und anziehend, dass es ihr den Atem raubt. Für Studentin Sienna Cummings ist Jesse Blackwolf eine Naturgewalt, und das nicht nur, weil er ihr während einer Expedition in den schroffen Felsen des Black Canyon das Leben rettet. Nein, es ist seine ungezähmte Männlichkeit, die sie in seinen magischen Bann zieht: Dieser einsame Wolf duldet keine Kompromisse, er nimmt sich, was er braucht, und das ist sie! Ihr Herz beschwört Sienna, ihm zu folgen, aber etwas steht zwischen ihnen, etwas das größer scheint als ihre Liebe …


  • Erscheinungstag 20.12.2016
  • Bandnummer 2263
  • ISBN / Artikelnummer 9783733709709
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Blackwolf Canyon, Montana, 5.34 Uhr

Tag der Sommersonnenwende, 21. Juni 2010

Der Mond war bereits vor Stunden untergegangen, dennoch harrte die Nacht unnachgiebig über dem Land aus. Die zerklüfteten Felswände des Canyons schienen entschlossen, die Kälte der Dunkelheit nicht weichen zu lassen. Ein scharfer Wind blies um die Felsspitzen und fuhr raschelnd durch das trockene Gebüsch, sein unheimliches Pfeifen das einzige Geräusch, das die Stille durchschnitt.

Sienna Cummings erschauerte.

Es war eine raue Gegend, kahl und schroff. In diesen letzten Minuten, bevor das Licht der Morgendämmerung in den Canyon einfallen würde, meinte Sienna, die uralte, oft blutige Geschichte des Landes nahezu greifbar zu spüren.

Ein schwerer Arm legte sich um ihre Schultern. „Komm, ich wärme dich auf“, sagte Jack Burden, Leiter der Expedition.

Mit einem gezwungenen Lächeln machte Sienna sich aus der Umarmung frei. „Es geht schon, danke“, erwiderte sie höflich. „Ich bin einfach nur aufgeregt. Wegen der Sonnenwende“, fügte sie schnell an, damit Burden nicht seine übliche Taktik anwandte, mit der er alles, was sie von sich gab, als doppeldeutige Anspielung auslegte.

Vergeblich.

„Ich bin auch aufgeregt. Ich fasse mein Glück kaum – hier, allein mit dir, in dunkler Abgeschiedenheit …“

Allein waren sie nun wahrlich nicht. Vier weitere Leute nahmen an der Expedition teil: zwei Examensstudenten, ein Professor für Anthropologie und eine junge Frau, die Burden als seine Sekretärin vorgestellt hatte. So, wie das Mädchen ihn anhimmelte, bezweifelte Sienna allerdings ernsthaft, dass es für Burden nur arbeitete, aber das sollte ihr recht sein. So ließ ihr aufdringlicher Boss sie wenigstens in Ruhe.

Nur manchmal eben nicht, so wie jetzt.

Völlig uninteressant, dass sie kurz vor einem faszinierenden Schauspiel standen. Dass, sobald die Sonne ein Drittel über Blackwolf Mountain aufgegangen wäre, ihre Strahlen auf einen Kreis fallen würden, den ein heiliger Mann vor über tausend Jahren in den Felsen geschlagen hatte. Völlig unwichtig, dass es seit Jahrzehnten zum ersten Mal wieder Fremden erlaubt war, den Canyon zu betreten. Oder dass alles hier sich verändern würde, weil das Land an einen Entwickler verkauft werden sollte. Nein, Jack Burden dachte nur daran, wie er sie am besten verführen könnte.

Sicher, im einundzwanzigsten Jahrhundert gab es Gesetze gegen sexuelle Belästigung. Sienna musste nur eine offizielle Beschwerde bei der Universitätsleitung einreichen – und sich dann damit arrangieren, dass ihre akademische Karriere zu Ende war.

„Es ist fast so weit“, verkündete einer der Examensstudenten atemlos.

Sienna richtete ihre Aufmerksamkeit entschlossen auf den zerklüfteten Gipfel vor sich. Eine halbe Stunde würde es sicherlich noch dauern, aber das Warten gehörte eben mit dazu. Sie hatte viele alte Stätten besucht, hatte die Sonne im Chaco Canyon aufgehen sehen, hatte die Hieroglyphen des großen Tempels von Chichén Itzá aufgezeichnet, und einmal hatte sie sogar eine magische Nacht zwischen den Steinen von Stonehenge verbracht.

Dennoch lag hier an diesem Ort etwas ganz Besonderes in der Luft. Sie spürte es. Bis ins Mark, bis in ihr Herz. Natürlich würde sie das niemals laut aussprechen. Sie war Wissenschaftlerin. Und die Wissenschaft belächelte Menschen, die sich auf ihr Bauchgefühl beriefen.

Sie musste einen Laut von sich gegeben haben, vielleicht hatte sie auch etwas geflüstert, denn Jack Burden lehnte sich näher zu ihr.

„Bist du nicht froh, dass ich dich mit hergebracht habe?“

Er ließ es wie einen persönlichen Gefallen klingen, dabei war es das keineswegs. Sienna stand kurz vor dem Abschluss ihrer Dissertation, zwei Jahre lang hatte sie alles, was es über den Blackwolf Canyon an Material gab, gesammelt, studiert und ausgewertet. Den Platz in dieser Expedition hatte sie sich verdient. Sie wusste alles, was es über die Geschichte zu wissen gab, angefangen von den ersten Ureinwohnern, die sich hier niedergelassen hatten, über die Komantschen- und Sioux-Krieger, die um dieses Land gekämpft hatten, bis hin zu dem zuletzt bekannten Besitzer, Jesse Blackwolf, dessen Schicksal bis zum heutigen Tage ungeklärt war.

Auch er war ein Krieger gewesen. Er hatte in Vietnam gekämpft, eine volle Dekade, bevor sie überhaupt geboren wurde, war nach Hause zurückgekehrt und dann wie vom Erdboden verschwunden.

Sie hatte versucht herauszufinden, was aus ihm geworden war, hatte sich eingeredet, es hätte mit ihrer Doktorarbeit zu tun, doch das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Dieser Mann hielt ihre Fantasie gefangen. Was natürlich lächerlich war. Anthropologen untersuchten Kulturen, nicht einzelne Individuen. Trotzdem … da war etwas an Jesse Blackwolf …

„Nur noch ein paar Minuten!“, tönte es von einem der Studenten.

Sienna nickte, schlang die Arme um sich und wartete.

Blackwolf Canyon, Montana, 5.34 Uhr

Tag der Sommersonnenwende, 22. Juni 1975

Der Hengst schnaubte ungeduldig.

„Nicht mehr lange“, sagte Jesse leise und strich dem Tier besänftigend über den Hals.

Mit zusammengekniffenen Augen starrte Jesse auf die Bergspitze vor sich. Noch eine halbe Stunde, dann konnte er von hier wegreiten, ohne einen Blick zurückwerfen zu müssen.

Seine Vorfahren waren hergekommen, um ihre Götter anzubeten. Er war hergekommen, um sich zu verabschieden. In seinem Leben gab es keinen Raum für solchen Unsinn.

Er hatte diesen letzten Besuch auch gar nicht geplant. Wieso hätte er? Eine Sommersonnenwende war eine Sommersonnenwende. Die Sonne erreichte die größte nördliche Deklination, und das war’s. Seine Vorfahren hatten das entdeckt und ein Riesentheater um den längsten Tag des Jahres veranstaltet. Er nicht.

Es war nicht Aberglaube, der ihn hierhergeführt hatte, sondern das genaue Gegenteil. Als Junge hatte er an die Geschichten geglaubt, doch er war schon lange kein Junge mehr. Er war ein Mann, älter und weiser als beim ersten Mal, als er zur Sonnenwende hier herausgekommen war.

Der mächtige graue Hengst schnaubte wieder, und Jesses Mundwinkel bogen sich leicht nach oben. Fast hätte man es für ein Lächeln halten können. „Na schön, vielleicht hast du recht. Älter bestimmt, aber weiser nicht unbedingt.“

Der Hengst warf den Kopf zurück, als wollte er – Was tun wir hier draußen zu dieser unmöglichen Zeit? Wir sollten beide noch schlafen! sagen. Jesse konnte es Cloud nicht verübeln. Doch vor einer Stunde war er aus einem unruhigen Schlaf aufgeschreckt, hatte Cloud aus dem warmen Stall geholt, war dem unerklärlichen Impuls gefolgt und zum Canyon geritten, um sich den Sonnenaufgang anzusehen.

Sei ehrlich, verdammt!

Es war kein Impuls gewesen, sondern alles lange durchdacht. Er musste die Verbindung zwischen sich und den alten Traditionen ein für alle Mal durchtrennen. Man musste nicht Sioux oder Komantsche sein, um zu wissen, wann die Sonnenwende stattfand, dafür reichten die angelsächsischen Gene seiner Mutter. Oder die Jahre, die er auf der Uni vergeudet hatte. Die Sonne stand in einem bestimmten Winkel am Himmel, und zweimal im Jahr erfolgte dann die Sonnenwende.

Das war real. Die Mythen dagegen waren Schwachsinn. Von wegen Erneuerung der Erde, des Geistes! Dieser Humbug sollte angeblich das Leben eines Mannes auf immer verändern.

Jesse lachte bitter auf. Sein Vater hatte daran geglaubt, sein Großvater auch, und vor ihm sein Urgroßvater. Vermutlich jeder einzelne Blackwolf-Krieger, dessen DNS an ihn weitervererbt worden war. Nun, für die ersten dreißig Jahre seines Lebens hatte er es ebenfalls geglaubt. Nicht alles, schließlich war er ein Mann des zwanzigsten Jahrhunderts mit einem Universitätsabschluss. Da nahm man Mythologie nicht unbedingt allzu ernst. Aber er hatte die Tradition respektiert, die Kontinuität der alten Werte. Und es schadete doch nichts, wenn man Ereignissen wie einer Sonnenwende ein wenig Respekt zollte, oder? Selbst wenn man den wissenschaftlichen Grund kannte.

Sein Vater hatte ihn hergebracht, da war er zwölf gewesen.

„Bald wird die Sonne aufgehen“, hatte er gesagt. „Das Licht der Vergangenheit und der Zukunft wird auf den heiligen Stein fallen. Der Eid, den ein Mann in der Sonnwendnacht leistet, wird auf immer den wahren Weg festlegen, der seinem Leben vorbestimmt ist. Bist du bereit, den Eid zu leisten, mein Sohn?“

In dem Alter waren Jesses Kopf und sein Herz angefüllt mit den Geschichten, die sein Vater ihm über die tapferen Krieger, die seine Ahnen gewesen waren, erzählt hatte. Seine Mutter, deren Eltern nie einen Indianer gesehen hatten, bis sie ihren Schwiegersohn kennenlernten, hatte ihm aus den Märchenbüchern vorgelesen, die sie schrieb und illustrierte.

Natürlich war Jesse bereit gewesen. Bei Sonnenaufgang hatte er die Arme den Strahlen entgegengehoben und sich der Obhut der Geister seiner kriegerischen Ahnen anvertraut.

Sein Vater war so stolz auf ihn gewesen. Seine Mutter hatte ihn umarmt und geküsst. Selbst als er älter wurde und erkannte, dass die alten Geschichten eben nur Geschichten waren, war er froh gewesen, den Eid geleistet zu haben, froh darüber, dass sein Vater ihn in die alten Traditionen eingeführt hatte.

Doch als Jesse dann auf dem College war, änderte sich alles. Es gab Krieg, in einem fernen Land. Die Jungs, mit denen er aufgewachsen war, starben in diesem Krieg. Ihn zog man nicht ein, Studenten kamen nicht auf die Listen der Armee.

Es schien so völlig falsch. Er stammte doch von Kriegern ab. Was tat er dann in muffigen Seminarräumen?

Mit zwanzig wusste Jesse, es wurde Zeit, den Eid zu wahren, den er mit zwölf geleistet hatte. Er verließ das College. Meldete sich freiwillig. Sein Vater war stolz auf ihn, seine Mutter weinte. Er zog das Grundtraining durch, stach aus der Gruppe heraus und wurde Teil einer Elitetruppe, der Special Forces. Er diente zusammen mit ehrenvollen Männern, kämpfte zusammen mit ihnen für eine ehrenvolle Sache …

Und musste mit ansehen, wie alles, an was er glaubte, zu Staub zerfiel.

Cloud wieherte und stampfte mit dem Huf auf. Jesses Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, zurück an diesen Ort hier, wo alles angefangen hatte. Wo der Weg in ein Leben begonnen hatte, das ihn getäuscht hatte.

Die Sonne stieg höher. Das letzte Mal, als er hier auf dem Rücken eines Pferdes gesessen hatte, war er voll von kindlichem Idealismus gewesen. Heute nicht mehr. Er hatte seine Erfahrungen gemacht und alles verloren – den Vater an den Krebs, die Mutter an Trauer und Verzweiflung ein paar Monate später und die eigene Ehre an einen Krieg, der nur aufgrund von Lügen geführt worden war.

Ja, er würde noch einen Eid leisten, wenn die Sonne aufging. Er würde dem Aberglauben abschwören. Er würde den Canyon und die Tausende von Hektar Land verkaufen. Dass seine Leute hierherkamen und zelebrierten, was sie einen heiligen Ritus nannten, hatte er bereits unterbunden. Junge Männer, vor allem Jungen, noch halbe Kinder, sollten ihre Hoffnungen nicht auf etwas setzen, das letztendlich alles, an was sie glaubten, verspottete.

An diesem Ort hier lebten die Lüge und die Dummheit. Es wurde Zeit, dem einen Riegel vorzuschieben. Die Papiere für den Verkauf lagen schon auf seinem Schreibtisch, er brauchte sie nur noch zu unterschreiben und seinem Anwalt zu übergeben, und dann würde dieser ganze Unsinn endlich …

Cloud wieherte. Jesse sah zum Gipfel. Die Sonne schob sich langsam zwischen die beiden Felsspitzen. Er holte tief Luft. Sein Puls raste, ihm war leicht schwindlig. Teufel noch eins, Aberglaube konnte eine enorme Macht ausüben …

Was, verflucht, war das?

Dieser grüne Blitz, der den Himmel teilte? Da, da war es wieder! Wie ein elektrischer Stromstoß.

Der Hengst begann nervös zu tänzeln. Jesse hielt die Zügel straffer, murmelte beruhigende Worte – für das Pferd, für sich selbst.

Ein Blitz am wolkenlosen Morgenhimmel? Ohne Donner? In der Farbe von Smaragden? Sicher, das Wetter in Montana war oft unberechenbar, aber …

„Verdammt!“

Noch ein Blitz. Die Sonne verschwand, Dunkelheit legte sich über den Canyon. Cloud stieg auf die Hinterläufe, wieherte in Panik, versuchte Jesse abzuwerfen. Grünes Licht zuckte zwischen den Felsspitzen über dem heiligen Zirkel …

Dann hörte es jäh auf. Die Sonne stand wieder an einem klaren blauen Himmel, erhellte den Canyon, schien auf Felswände und Gebüsch. Doch Jesses Augen blieben an einer Stelle haften.

Eine menschliche Gestalt lag reglos wie tot in der Mitte des heiligen Steins.

2. KAPITEL

Die Kletterpartie hinauf zu dem Plateau war ebenso schwierig und gefährlich, wie Jesse in Erinnerung hatte. Die knapp fünfzehn Meter kamen ihm endlos vor, weil man nach Vorsprüngen und Einbuchtungen für Hände und Füße suchen musste. Dass Adrenalin durch seine Adern pumpte, half nicht. Jesse spürte, wie seine Muskeln sich verkrampften.

Er verharrte an der Felswand, atmete tief und regelmäßig durch. Schweißtropfen liefen ihm zwischen den Schulterblättern hinunter. Wenn er abstürzte, dann hätten die Geier gleich zwei Mahlzeiten angerichtet.

Zwei was? Hatte er da oben tatsächlich einen Menschen gesehen? Verdammt, für solche Fragen blieb jetzt keine Zeit.

Der Felsvorsprung hing direkt über ihm. Jetzt kam der schwierigste Teil. Er musste sich zurücklehnen, mit nichts als Luft im Rücken, und einen sicheren Griff finden, um sich hochziehen zu können. Wäre das nicht die Krönung, wenn er oben ankam und das, was er gesehen hatte, gar kein Mensch war? Hier draußen rannte genug Wild herum. Elche und Hirsche … aber die würden nicht so hoch klettern. Ein Wolf? Nein, der auch nicht. Vielleicht ein Bär. Oder ein Puma.

Möglich, dass er diese Strapaze auf sich genommen hatte, nur um ein totes oder verletztes Tier zu finden. Vielleicht hatten Wilderer seine Verbotsschilder ignoriert. Sicherlich keiner der Ansässigen von hier, aber Fremde …

Herrgott, du hast doch oft genug gesehen, was die Idioten, die sich Jäger nennen, anrichten können. Falls er da oben einen verwundeten Grizzly fand … Jesse atmete noch einmal durch. Jetzt war es zu spät, darüber hätte er sich vorher Gedanken machen sollen.

Eine letzte Anstrengung, ein letztes Mal alles aus den kraftvollen Muskeln herausholen, und er zog sich auf den Vorsprung.

Ja, da lag tatsächlich ein Körper, und es war kein Tier.

Sondern eine Frau.

Sie war bewusstlos, aber sie lebte. Ihr Gesicht war weiß wie der Bauch eines toten Fisches, doch er konnte erkennen, wie ihre Brust sich mit jedem Atemzug hob und senkte. Verletzungen ließen sich auf den ersten Blick nicht ausmachen, das musste allerdings nichts heißen. Vielleicht war sie ja von diesem seltsamen Blitz getroffen worden. Vielleicht hatte das ihr Herz in Mitleidenschaft gezogen. Oder sie war gestürzt und hatte sich den Kopf angeschlagen …

Er sagte sich, dass sie es sich selbst zuzuschreiben hatte. Unbefugte Eindringlinge hatten hier nichts verloren. Trotzdem … der Instinkt in ihm übernahm. Er war ausgebildet worden, um Leben zu retten – und um es zu nehmen. Er kniete sich neben die Fremde und sah sie sich genauer an.

Sie zitterte nicht. Das war schon mal gut. Er legte die Hand an ihren Hals. Die Haut war warm. Auch das war gut. Er konnte den Puls schlagen – nein, rasen sehen. Er legte die Hand über ihr Herz. Der Herzschlag war kräftig und regelmäßig … und ihre Brust passte perfekt in seine Handfläche.

Er riss seine Hand zurück und setzte sich auf die Fersen. „Wachen Sie auf“, sagte er scharf.

Sie rührte sich nicht.

„Kommen Sie, öffnen Sie die Augen.“

Sie stöhnte. Ihre Lider flatterten, hoben sich, enthüllten Iris in der Farbe von Veilchen.

„Sind Sie verletzt? Haben Sie Schmerzen?“

Ihre Zungenspitze schnellte vor und befeuchtete ihre Lippen. Sie blickte in sein Gesicht, aber er bezweifelte, dass sie irgendetwas sah oder erkannte.

„Konzentrieren Sie sich auf meine Worte. Sind Sie verletzt?“

Ihr Blick wurde klarer, ihre Augen wurden dunkler. Ihre Lippen teilten sich.

„Gut so. Sehen Sie mich an. Sagen Sie mir, ob Sie …“

Und dann öffnete sie den Mund. Ihr Schrei zerriss die Stille des Canyons.

Siennas Schrei gellte laut durch die Luft, schrill und voller Panik. Denn Panik war genau das, was sie fühlte.

Ein Mann beugte sich über sie. Sein Gesicht war angemalt wie das eines Wilden, schwarze Streifen auf den hohen Wangenknochen und über den Wangen. Sein Haar war ebenfalls schwarz. Lang. Mit einem Lederband zusammengehalten. Ihr Blick wanderte an ihm herab. Da hing eine Adlerkralle an einem Lederband um seinen Hals und baumelte gegen – großer Gott! – eine muskulöse nackte Brust.

Pure Angst raste durch ihre Adern. Es gab nur eine einzige Erklärung: Hier in den Bergen von Montana lief ein Verrückter frei herum, und sie war auf ihn gestoßen.

Schrei nicht, mahnte sie sich verzweifelt. Ja nicht mehr schreien. Bleib ruhig, ganz ruhig … „Fassen Sie mich nicht an!“ Sie stützte die Ellbogen hinter sich auf und versuchte, von ihm fortzukommen, als er sich näher beugte.

Sie hatte nicht die geringste Chance. Er packte sie bei den Schultern und drückte sie auf den harten Boden.

„Rühren Sie sich nicht.“

Seine Stimme war tief und rau, und jetzt war sie sicher, dass er verrückt war. Sie sollte sich nicht rühren? Natürlich würde sie sich rühren! Sie würde rennen wie der Wind! Sobald sie seine Hände abgeschüttelt hatte!

„Ich sagte, halten Sie still“, knurrte er. „Oder ich muss Sie fixieren.“

Fixieren? Welcher Wahnsinnige benutzte ein solches Wort?! Und tat er das nicht bereits? Ihr Blick ging über seine Schulter hin zu der gleißenden Sonne, die am Himmel stand.

Die Sonne. Die Sonnenwende. Das war es. Sie hatte auf den Sonnenaufgang gewartet, auf den Moment, da die Sommersonne ihre Strahlen durch die Felsspitzen senden würde, die sich wie Wächter um den heiligen Kreis erhoben. Und dann hatte ohne jegliche Vorwarnung ein Blitz den Himmel geteilt. Ein grüner Blitz, der zwischen die Steine gefahren war.

Vor ihr hatte sich ein schwarzes Loch aufgetan. Sie war hingezogen worden, in ein Nichts, so kalt, dass sie meinte, versteinert zu sein. Sie war von der Leere verschluckt worden.

Doch natürlich stimmte das nicht, denn sie war ja hier. Und neben ihr hockte ein Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte. Ein Wilder mit einem Gesicht so hart wie aus Stein gemeißelt, mit Augen so schwarz und kalt wie Obsidian und einem Mund, so schmal wie die Schneide eines Schwertes.

Sienna wollte schlucken, doch es gelang ihr nicht. Die Angst hatte ihren Mund staubtrocken gemacht.

Der Mann hatte die Bewegung mitverfolgt, dann wanderte sein Blick wieder zu ihrem Gesicht. „Sind Sie verletzt?“

War sie? Vorsichtig bewegte sie ihre Finger, ihre Zehen, ihre Schultern. „Ich weiß nicht.“

„Tut Ihnen etwas weh?“

Was sollte ihn das kümmern? Trotzdem antwortete sie automatisch. „Mein Kopf.“

Eine seiner Hände hob sich von ihrer Schulter, fasste an ihren Kopf. Sie wäre zurückgezuckt, hätte er sie mit der anderen Hand nicht weiter festgehalten. Er befühlte ihren Schädel, behutsam und sanft. Es war ein so scharfer Kontrast zu seinem Gesicht, seiner Stimme, seinem Körper. Aber das musste nichts bedeuten. Sie hatte Kulturen studiert, in denen die Krieger ihre Gefangenen mit relativer Fürsorge behandelten, bis sie sie …

„Au!“ Sienna stieß zischend die Luft durch die Zähne.

„Hinter Ihrem Ohr haben Sie eine dicke Beule.“ Seine Hände wanderten weiter, an ihrem Hals entlang, über ihre Schultern …

„Nicht“, sagte sie, doch er achtete nicht auf sie, arbeitete sich bis zu ihren Zehen hinunter. Seine Berührungen waren nüchtern und kompetent, keineswegs intim. Dennoch half ihr das nicht, die Panik im Zaum zu halten.

„Wie viele Finger?“

Sie blinzelte. „Was?“

„Wie viele Finger erkennen Sie?“

Sie starrte auf seine Hand. „Drei.“

„Und jetzt?“

„Vier. Wer sind Sie?“ Sie stützte sich auf die Ellbogen auf, spürte den kalten Stein an ihrer Haut.

Er beugte sich vor – sie wich zurück. Mit einem ungeduldigen Knurren hielt er sie bei den Schultern fest und starrte sie an.

„Was tun Sie da?“

„Ich prüfe Ihre Pupillen.“

Es war nervenaufreibend, wie diese schwarzen Augen sich in ihre bohrten. „Meine Pupillen sind in Ordnung.“

„Drehen Sie den Kopf. Langsam. Gut. Ich werde Sie jetzt auf den Bauch rollen.“

„Das werden Sie nicht …“

Doch da lag sie schon flach mit dem Gesicht auf dem Fels, und seine Hände tanzten über sie, nüchtern und unpersönlich. Als er fertig mit seiner Untersuchung war, drehte er sie auf den Rücken zurück, schob den Arm unter ihre Schultern und half ihr, sich aufzusetzen.

Die Welt kippte in Schräglage. In ihren Ohren rauschte ein aufgescheuchter Bienenschwarm. Sie wankte. Er fluchte und fasste sie fester.

„Es geht schon …“, murmelte sie.

„Beugen Sie sich vor.“

Sie gehorchte, allein schon deshalb, weil er sie so wütend anfunkelte. Sie hatte wirklich nicht vor, einen Verrückten noch wütender zu machen. Wieso war er überhaupt so verärgert? Gehörte Ärger zu den Symptomen einer Psychose? Hätte sie doch nur besser in den Psychologie-Seminaren aufgepasst!

„Atmen Sie tief durch“, ordnete er jetzt an. „Ja, so ist’s richtig.“ Er hielt sie noch einen Moment fest, dann ließ er sie los. „Ihr Name?“

Das war keine Frage, sondern ein Befehl.

Sollte sie ihm ihren Namen verraten oder nicht? Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass Gewalttäter grundsätzlich nichts über ihre Opfer wissen wollten, weshalb Psychiater ja auch rieten, den Versuch zu machen, eine persönliche Beziehung zu seinem Entführer oder seinem Vergewaltiger aufzubauen. Damit die Kriminellen einen als Individuum ansahen.

Seinem Vergewaltiger. Fast hätte Sienna hysterisch aufgelacht. Das klang so gewählt. Mein Friseur, mein Arzt, mein Anwalt.

Mein Vergewaltiger.

„Antworten Sie mir. Wie heißen Sie?“

Sie holte tief Luft. „Ich heiße Sienna Cummings. Und Sie?“

„Wie sind Sie hierhergekommen?“

Wohin? Ihr war nicht klar, dass sie das Wort laut ausgesprochen hatte, bis sie merkte, dass er sie mit zusammengekniffenen Augen anstarrte.

„Gedächtnisverlust vorzuschützen bringt Sie nicht weit. Genau so wenig nützt es Ihnen, meine Fragen nicht zu beantworten. Wieso sind Sie hier?“

„Wo ist ‚hier‘?“, fragte sie so kleinlaut, dass Jesse versucht war, ihr zu glauben.

Aber sie hatte ihm ihren Namen genannt. Sicher, das hieß nicht viel. Er hatte oft genug mit verwundeten Männern zu tun gehabt, um zu wissen, dass so etwas wie selektive Amnesie existierte. Man erinnerte sich an seinen Namen und an nichts sonst.

Oder, so dachte er kalt, die Lügen könnten natürlich auch ganz selbstverständlich über diese weichen rosigen Lippen fließen.

„Das hier“, sagte er grimmig, „ist mein Land.“

„Blackwolf Canyon?“ Sie schüttelte den Kopf. „Das Land gehört Ihnen nicht.“

„Glauben Sie mir, Lady, alles hier ist mein Besitz. Jeder Baum, jeder Stein, jedes Körnchen Dreck gehört mir.“

„Nein, tut es nicht“, beharrte sie starrsinnig.

Fast hätte Jesse gelacht. Sie war sich ihrer ja so verdammt sicher. Glaubte sie, mit dieser vorgegebenen Unwissenheit durchzukommen, um dann wie geplant mit ihrem Vorhaben weiterzumachen? Sie war leicht zu durchschauen – entweder war sie ein Hippie und hatte noch nicht akzeptiert, dass die Sechzigerjahre vorbei waren, oder sie war schlicht und ergreifend eine Diebin.

Es gab einen florierenden Markt für Relikte aus der Vergangenheit. „Sakrale Artefakte der Ureinwohner Amerikas“, wie der leicht einzuschüchternde Dicke es genannt hatte, den Jesse letztes Jahr auf seinem Land erwischt hatte, trotz der überall aufgestellten Betreten Verboten – Schilder.

Die echten Ureinwohner Amerikas selbst nannten sich ganz einfach Indianer. Was nun den sakralen Teil anbelangte …

Kompletter Schwachsinn.

Sicher, es gab genügend Leute in seinem Volk, die an diesen Blödsinn glaubten. Er war auch mal nahe daran gewesen, als Junge. Aber Vietnam hatte ihm das schnell ausgetrieben. Die Steine, die Malereien, die Tonscherben … sie waren Überreste aus einer anderen Zeit, mehr nicht. Dieses Plateau hier besaß keine geheimnisvolle Magie, es war reiner Hokuspokus.

Was nicht hieß, dass er Blumenkindern und Dieben freien Zugang gewähren würde.

Eine schnelle Musterung sagte ihm, dass diese Frau kein übrig gebliebenes Blumenkind war. Sie trug weder lange Perlenketten noch eine wallende Lockenmähne. Stattdessen war ihr Haar zu einem vernünftig nüchternen Pferdeschwanz zusammengefasst, sie trug T-Shirt und Jeans, Sachen, die aussahen, als würden sie oft benutzt werden. Somit war sie also eine Diebin, die sich auf sein Land geschlichen hatte. Und das ärgerte ihn fast ebenso sehr wie die Tatsache, dass er sie nicht bemerkt hatte, während er hier auf seinem Pferd gesessen und auf den Berg gestarrt hatte.

Na schön, es war dunkel gewesen, aber … Als Junge und als Soldat war er ausgebildet worden, genau zu beobachten, Dinge zu bemerken, die andere nicht sahen. Und doch war sie irgendwie an ihm vorbeigekommen.

Autor

Sandra Marton
<p>Sandra Marton träumte schon immer davon, Autorin zu werden. Als junges Mädchen schrieb sie Gedichte, während ihres Literaturstudiums verfasste sie erste Kurzgeschichten. „Doch dann kam mir das Leben dazwischen“, erzählt sie. „Ich lernte diesen wundervollen Mann kennen. Wir heirateten, gründeten eine Familie und zogen aufs Land. Irgendwann begann ich, mich...
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