Mit jedem Tag wächst meine Sehnsucht

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Zum Wohl ihrer kleinen Tochter Chloë, erklärt die aparte Künstlerin Lucy sich bereit, mit dem erfolgreichen Journalisten Daniel Grayling eine Vernunftehe einzugehen. Es ist der einzige Weg, das Sorgerecht für Chloë zu behalten. Doch mit jedem Tag, den Lucy mit Daniel in seiner eleganten Londoner Stadtvilla verbringt, wird die Situation komplizierter. Mal küsst Daniel sie zärtlich, dann zieht er sich wieder zurück. Wenn Lucy nur wüsste, wie Daniel für sie empfindet, wenn er nur reden würde! Aber er zieht sie nur in seine Arme - und schweigt ...


  • Erscheinungstag 22.04.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733777302
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Es stimmte also wirklich. Während der ganzen Fahrt von Shropshire in die Londoner Klinik hatte Lucy Grayford sich eingeredet, es müsse ein Irrtum vorliegen. Jetzt wurde ihr jedoch klar, dass es sich nicht um ein Missverständnis handeln konnte.

„Genetisch gesehen ist Chloë nicht Ihr Kind“, sagte Dr. Shorrock vorsichtig. „Die Embryonen, die in Ihre Gebärmutter eingepflanzt wurden, stammten von einem anderen Paar.“

Eigentlich müsste es noch mehr wehtun, dachte Lucy. Bei solchen Nachrichten musste man doch fast den Verstand verlieren.

„Aber … aber ich habe Chloë zur Welt gebracht.“ Nach einer elf Stunden dauernden Geburt und siebzehn Stichen hatte sie ihre kleine, dreieinhalb Kilo schwere Tochter in den Armen gehalten: rot, runzelig und einfach vollkommen. Von diesem Moment an hatte sich Lucys ganzes Leben um dieses kleine Wunder gedreht.

„Ich weiß, das ist schwer zu verstehen, Mrs. Grayford.“ Nervös schob Dr. Shorrock seine Papiere hin und her. „Sie haben Chloë zwar ausgetragen und zur Welt gebracht, doch der Samen und die Eizelle stammten von einem anderen Paar und …“

„Sie gehört zu mir“, fiel Lucy ihm ins Wort. Das Ganze kam ihr vor wie ein entsetzlicher Albtraum. Erst nach und nach begriff sie, was Dr. Shorrock ihr gesagt hatte: Chloë war nicht ihr Kind, sondern das eines anderen Paares.

„Chloë ist seit sechs Jahren meine Tochter. Man kann sie mir jetzt doch nicht plötzlich wegnehmen!“

„Es tut mir Leid, aber der Irrtum hatte noch weiter reichende Folgen.“

Lucy traute sich kaum zu atmen. Der Arzt hatte doch bereits ihre ganze Welt zum Einstürzen gebracht. Was konnte noch schlimmer sein?

„Damals, als der … der Irrtum geschah, waren in derselben Klinik auch drei lebensfähige Embryonen von Ihnen und Ihrem verstorbenen Mann. Sie wurden in die Gebärmutter einer anderen Frau eingepflanzt, die später dann ein gesundes Mädchen zur Welt brachte.“

„Mein Baby?“ Ihr Herz schlug wie verrückt.

„Genetisch gesehen war es Ihr Baby und das Ihres Mannes. Und bei dem Ehepaar handelt es sich um Chloës leibliche Eltern.“

Mit zittriger Hand strich Lucy sich über die Stirn. Ihr Kopf schmerzte, als hätte sich ein Eisenring darum gelegt. Der etwas selbstgefällig wirkende Mann mit der beginnenden Glatze redete von „Irrtümern“ und „Embryonen“. Aber in Wirklichkeit ging es hier um menschliche Schicksale.

„Selbstverständlich wird eine umfassende Untersuchung stattfinden. Seien Sie versichert, dass uns die ganze Angelegenheit furchtbar Leid tut.“

Lucy ließ die Hand in ihren Schoß sinken. „Ich verstehe das alles nicht. Wie … wie konnte so etwas nur passieren? Das ist doch ganz unmöglich!“

„In der Embryologie kommen Fehler zwar äußerst selten vor, aber natürlich sind Menschen nicht unfehlbar. Alle Kliniken müssen sich an ein strenges Kennzeichnungssystem halten und sämtliche Embryonen vor der Implantation zweifach überprüfen. Die Klinik, in der Sie waren, hat ganz korrekt Buch geführt, um derartige Irrtümer auszuschließen. Aber in allen Bereichen der Medizin geht dann und wann etwas schief.“

„Weiß das andere Paar bereits davon?“

Dr. Shorrock betrachtete kurz seine Aufzeichnungen. Dann hob er den Kopf und blickte sie fest an. „Ja. Das Blut ihrer Tochter wurde untersucht. Dabei stellte man fest, dass sie eine Blutgruppe mit negativem Rhesusfaktor hat. Da dies bei beiden Eltern nicht der Fall ist, war klar, dass die Kleine nicht ihre leibliche Tochter sein konnte.“

„Ich habe einen negativen Rhesusfaktor.“ Sie ballte die zitternden Hände zu Fäusten, so dass ihre Fingernägel sich in die Handflächen gruben. Es war erleichternd, etwas anderes zu spüren als den furchtbaren Schmerz, der sie erfüllte. Oh nein, bitte nicht … nein!

Lucy wusste, wie es sich anfühlte, wenn die Welt plötzlich stillzustehen schien und alles in tiefer Dunkelheit versank. Sie hatte befürchtet, niemals über den Tod ihres Mannes Michael hinwegzukommen. Doch was sie jetzt erlebte, war unfassbar. Es war, als hätte sie ihn ein zweites Mal verloren und mit ihm den einzigen Menschen, der in der Lage gewesen war, ihr Trost zu spenden. Allein Chloë hatte ihr damals Lebenswillen gegeben. Nur ihretwegen hatte sie sich eines Tages wieder lebendig gefühlt, sogar glücklich. Doch jetzt erschien ihr alles schlimmer als je zuvor.

„Sie müssen sich irren!“ flüsterte sie.

Dr. Shorrock senkte den Blick, als könnte er ihren Schmerz nicht ertragen. „Auf Grund der bisher durchgeführten Tests bin ich sicher, dass es vor der Implantation zu einer Verwechslung der Embryonen gekommen ist. Möglicherweise hatte das mit den Namen zu tun. Trotzdem …“ Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf. „Ich kann Ihnen leider nicht genau erklären, wie es passiert ist. Nicht, bevor alles sorgfältig untersucht wurde und ich einen detaillierten Bericht habe. Aber ich möchte Ihnen mitteilen, dass der Leiter der Abteilung fristlos entlassen worden ist und die entsprechenden Behörden informiert wurden.“

Als ob sie das interessieren würde! Sie kannte die Angestellten der Klinik doch gar nicht.

„Was wird mit Chloë und mir jetzt passieren?“

„Das Wohlergehen der Mädchen muss selbstverständlich an erster Stelle stehen. Es gibt keine genauen Vorschriften darüber, wie man vorzugehen hat, wenn zwei Embryonen vertauscht wurden. Aus den bestehenden Regelungen geht allerdings hervor, dass Sie Chloës Vormund bleiben, bis sie die Volljährigkeit erreicht hat.“

Vormund? Was meint er damit, dachte Lucy. Chloë ist doch seit ihrem ersten Atemzug meine Tochter!

„Während das Gericht über die rechtliche Seite diskutiert, sollten Sie sich Gedanken darüber machen, was Sie selbst möchten. Irgendwann wird man festlegen müssen, zu wem die Kinder juristisch gehören.“

Er redete weiter, aber Lucy hörte ihm nicht mehr zu. Immer wieder gingen ihr dieselben Worte durch den Kopf. Chloë ist nicht meine Tochter. Und doch war sie es – auf die einzige Art und Weise, die zählte. Als Chloë Windpocken gehabt hatte, war sie, Lucy, die ganze Nacht bei ihr geblieben und hatte sich um sie gekümmert. Und bei Gewittern hatte sich das kleine Mädchen nachts immer in dem großen, leeren Ehebett an sie geschmiegt. Sie gehört zu mir, dachte Lucy. Und ich werde mit all meiner Kraft um sie kämpfen.

Doch was war mit dem anderen Baby, ihrer und Michaels leiblicher Tochter? Das Kind war von einem anderen Paar aufgezogen und umsorgt worden, von Fremden. Der Gedanke tat ihr furchtbar weh. Auf die Fragen, die Lucy im Kopf herumgingen, gab es keine einfachen Antworten. Sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Eigentlich hatte sie nicht weinen wollen, doch die Tränen ließen sich nicht zurückhalten.

Dr. Shorrock schob eine Packung Papiertaschentücher über den Tisch. „Mir ist bewusst, wie schwer das alles für Sie ist, Mrs. Grayford. Zunächst sollten Sie versuchen zu verarbeiten, was ich Ihnen gesagt habe. Ich werde in der Zwischenzeit einige der Dinge veranlassen, die wir vereinbart haben.“

Hatten sie denn etwas vereinbart? Lucy wusste es wirklich nicht. Sie nahm ein Taschentuch und trocknete sich die Tränen. Es war sinnlos, denn sofort kamen neue.

Dr. Shorrock schrieb etwas in seinen großen Papphefter. „Eine Krankenschwester wird Ihnen Tee bringen und sich eine Weile zu Ihnen setzen. Ich kann nur noch einmal im Namen meiner Kollegen sagen, wie sehr wir das alles bedauern. Und ich werde mich bald wieder bei Ihnen melden.“

Daniel Grayling saß auf einer mit Graffiti besprühten Bank vor der Klinik. Er betrachtete die hinein- und herausgehenden Menschen, ohne sie jedoch richtig wahrzunehmen. Ich hätte nicht herkommen sollen, dachte er. Doch er hatte einfach nicht anders gekonnt. Seit dem vergangenen Freitag hatte er sich tausend Mal gesagt, dass die Zeit und der Ort, die auf seiner Akte vermerkt waren, alles Mögliche bedeuten konnten. Doch tief im Innern hatte er nicht daran geglaubt. Und sobald er alles gelesen hatte, war es unvermeidlich gewesen, dass er hierher kam und wartete.

Daniel blickte auf die Uhr und dann wieder zum Eingang der Klinik. Es war schon spät. Vielleicht hatte er sie also verpasst. Er war sicher gewesen, sie sofort zu erkennen. Denn bestimmt würden sie genauso wirken wie er, als er das Geschehene endlich begriffen hatte: verwirrt und voller Schmerz.

Er wollte nicht mit ihnen sprechen oder sich zu erkennen geben. Ihn interessierte nur, wie sie aussahen. Ob sie sympathisch wirkten und er sich vorstellen konnte, dass sein leibliches Kind glücklich bei ihnen aufwuchs. Das würde ihm genügen.

Die Automatiktüren öffneten sich. Eine Stimme mit weichem irischem Akzent fragte: „Wollen Sie wirklich nicht noch eine Weile bei mir sitzen bleiben? Ich lasse Sie nicht gern in dieser Verfassung gehen.“

„Nein, vielen Dank. Ich möchte jetzt nur nach Hause.“

Die zweite Stimme bebte leicht, klang leise und berührte Daniel zutiefst, denn sie erinnerte ihn an seinen eigenen Schmerz. Unwillkürlich wandte er sich um und sah die Frau an. Obwohl sie offenbar längere Zeit geweint hatte und es noch immer tat, war sie wunderschön. Braunes, leicht rötliches Haar umrahmte ihr ovales Gesicht. Sie sah genau aus wie Abby.

Leise fluchend zwang Daniel sich, den Blick abzuwenden. Langsam verlor er wohl den Verstand und sah Ähnlichkeiten, wo keine waren. London war schließlich voller dunkelhaariger Frauen. Außerdem suchte er doch nach einem Paar. Andererseits war er selbst ja auch allein …

Wieder sah er die Frau an. Mit dem olivfarbenen Teint erinnerte sie wirklich stark an seine Tochter. Außerdem war keiner der anderen Menschen infrage gekommen. Die Frau zog sich ihren schwarzen Mantel enger um den Körper und suchte in ihren Taschen nach etwas, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Vermutlich brauchte sie ein Taschentuch. Es kam Daniel vor, als würde er in einen Spiegel blicken. Er kannte diese Qual, die sich mit Worten nicht ausdrücken ließ.

Schließlich zog sie die leere Hand wieder aus der Tasche und trocknete sich mit den Fingern die Tränen. Es war kaum zu ertragen, sie so leiden zu sehen und ihr nicht helfen zu können. Daniel stand auf, ging zögernd auf sie zu und reichte ihr ein frisches weißes Taschentuch aus seiner Manteltasche.

„Danke.“ Sie schloss die Finger darum und tupfte sich die Wangen ab.

„Behalten Sie es.“

Sie betrachtete das feuchte Tuch in ihrer Hand. „Vielen Dank“, erwiderte sie.

„Nichts zu danken. Ich heiße übrigens Daniel Grayling.“

Sie sah ihn verständnislos an. Offenbar konnte sie mit seinem Namen nichts anfangen. Und warum auch? Er war nicht so arrogant, davon auszugehen, dass sie sich an den Fernsehdokumentarfilm erinnerte, den er zwei Jahre zuvor produziert hatte. Und selbst wenn die Frau zu dem Paar gehörte, das er suchte, würde sie seinen Namen nicht kennen. Die Klinik hatte diese Informationen gewissenhaft geheim gehalten. Er versuchte es noch einmal. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

Sie schüttelte den Kopf, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte. „Nein, ich komme schon zurecht. Trotzdem vielen Dank.“ Sie rang sich ein Lächeln ab und wandte sich zur Treppe.

Vielleicht lag es an ihrem Lächeln oder an ihren Bewegungen, doch Daniel konnte sie nicht einfach so gehen lassen. Er ging neben ihr die Stufen hinunter. „Eigentlich sollte ich das nicht tun, aber ich muss Ihnen eine Frage stellen.“

Sie blieb stehen und blickte ihn an. In ihren braunen Augen spiegelten sich Schmerz und auch ein wenig Angst.

Daniel atmete tief ein. Es würde albern klingen, aber er konnte sich diese Chance nicht entgehen lassen. Bald würden sich Menschen der Angelegenheit annehmen, denen es ausschließlich um die rechtlichen Belange ging. Es gab nur wenig Möglichkeiten, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, bevor das Leben aller Beteiligten noch mehr zerstört wurde, als dies jetzt schon der Fall war.

„Hat man Ihnen zufällig gerade mitgeteilt, dass Sie gar nicht die leibliche Mutter Ihrer Tochter sind?“ fragte er schnell, bevor der Mut ihn wieder verlassen würde. Als sie die Lippen bewegte, ohne etwas zu sagen, fuhr er fort: „Meine Frau und ich haben vor sieben Jahren durch künstliche Befruchtung ein Kind bekommen, und ich habe gerade erfahren, dass der Embryo damals …“ Er konnte die Worte nicht zu Ende sprechen. „Es tut mir Leid, ich hätte gar nichts sagen sollen. Eigentlich weiß ich überhaupt nicht, was ich hier tue.“

„Ich heiße Lucy Grayford“, sagte sie langsam. „Und Sie haben Recht mit Ihrer Vermutung.“

Ihm stockte der Atem. „Daniel Grayling“, stellte er sich nochmals vor. „Ich freue mich, Sie kennen zu lernen.“

Lucy wandte den Blick nicht eine Sekunde von seinem Gesicht ab. In ihren dunklen Augen spiegelte sich Unsicherheit, und sie schien sehr angespannt zu sein. Sie wirkte wie ein verängstigtes Reh.

„Ich finde, wir sollten uns unterhalten.“

Sie nickte.

Er hätte sie gern ein wenig getröstet. Aber was konnte er schon sagen, um ihr den Schmerz erträglicher zu machen? Es war, als erlebten sie einen furchtbaren Albtraum. Für keinen von ihnen würde es leicht sein, damit zurechtzukommen.

„Gleich hier um die Ecke ist ein Park. Dort könnten wir uns auch einen Kaffee kaufen. Vielleicht …“ Wieder unterbrach er sich. Schließlich kannten sie einander gar nicht. Würde sie sich darauf einlassen? Er könnte ja ein Verrückter sein. Er schob die Hand in seine Tasche und zog Stift und Notizblock heraus. „Ich kann Ihnen auch meine Telefonnummer geben, dann unterhalten wir uns zu einem späteren Zeitpunkt. Nachdem Sie Gelegenheit hatten, über alles nachzudenken.“ Er fing an zu schreiben.

„Nein“, sagte sie.

Er blickte auf.

Sie schüttelte energisch den Kopf. „Ich möchte noch nicht nach Hause.“

Das verstand Daniel nur zu gut. Er wusste, wie sich das anfühlte: plötzlich herauszufinden, dass die geliebte Tochter gar nicht die eigene war. Und dann sollte man einfach so tun, als hätte sich nichts geändert. Dabei schien die ganze Welt in sich zusammengestürzt zu sein. Er war zwei Stunden im Regen spazieren gegangen. Erst dann hatte er den Mut gefunden, zu Abby nach Hause zu fahren.

„Ich möchte lieber jetzt gleich mit Ihnen sprechen.“

Er nickte. Ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren, wandten sie sich um und gingen den Bürgersteig entlang. Keiner von ihnen sagte etwas, doch das Schweigen war sehr tröstlich.

Lucy schob die Hände tief in ihre Manteltaschen und ließ sich die Tränen vom Wind trocknen. Ihr Herz war noch immer voller Schmerz, sie fror und hatte Angst. Unauffällig blickte sie Daniel Grayling an. Unter anderen Umständen hätte sie ihn vielleicht sehr attraktiv gefunden. Er war groß, sportlich und schlank, hatte ein intelligent wirkendes Gesicht und freundlich blickende Augen. Er sieht ihr nicht sehr ähnlich, dachte sie. Chloës glänzendes aschblondes Haar war viel heller als seins. Aber auf irgendeine Weise glich sie ihm dennoch. War es die Gesichtsform? Oder seine Mimik?

Warum, um alles in der Welt, hatte sie einem sofortigen Gespräch zugestimmt? Sicher wäre es doch klüger gewesen, damit zu warten, bis die Experten sich um alles kümmerten. Sie würden ihr helfen, mit diesem Albtraum fertig zu werden. Doch wenn sie Daniel ansah, wusste sie, dass er ihren Schmerz genau nachvollziehen konnte. Der distanzierte Dr. Shorrock dagegen hatte nicht einmal annähernd ermessen können, was in ihr vorging.

„Hier können wir uns einen Kaffee holen.“

Seine tiefe Stimme riss Lucy aus ihren Gedanken. Daniel wies auf ein schmales Gebäude auf der anderen Straßenseite, über dem ein leicht verwittertes Schild mit der Aufschrift „Sarah’s Teas“ hing.

„Einverstanden.“

Sie überquerten die Straße. Daniel hielt ihr die Tür auf, und sie traten ein. Das Lokal war voller Menschen, die zu Mittag aßen. Einige saßen an runden, melaminbeschichteten Tischen, lasen Zeitung und aßen Sandwiches. Alles wirkte so normal, während ihr eigenes Leben in Scherben lag.

„Wie trinken Sie Ihren Kaffee?“

„Kaffee?“ wiederholte Lucy verwirrt, bis ihr wieder einfiel, warum sie hergekommen waren. „Mit Milch und einem Löffel Zucker, bitte.“

Sie ließ den Blick wieder durch den Raum gleiten und sah sich selbst in einem Spiegel. Ich wirke ganz normal, stellte sie überrascht fest. Ob auch alle anderen Menschen sie so wahrnahmen? Ihr Leben, wie sie es bisher gekannt hatte, war plötzlich zu Ende. Das musste man ihr doch ansehen! Aber auch nach Michaels Tod hatten ihr alle versichert, sie würde gut aussehen. Es hatte sie sehr verwirrt.

„Hier ist der Kaffee.“ Daniel reichte ihr einen Pappbecher mit Plastikdeckel. Wieder drückte sein Blick absolutes Verständnis aus. Er hatte sehr schöne stahlblaue Augen mit goldfarbenen Sprenkeln, die an Sonnenstrahlen erinnerten. Sie weckten Vertrauen.

Sie nahm den Becher entgegen. „Danke.“

„Der Park ist gleich hier in der Nähe, wirklich nicht weit.“

Die winzige Grünanlage war viel kleiner als die Parks bei ihr zu Hause. Sie lag inmitten eines dicht besiedelten Stadtteils und war von einem Eisenzaun umgeben. Die Betonwände eines Hochhauses waren mit Graffiti besprüht. Was für ein hässlicher Ort, dachte sie.

„Wir können uns dort drüben hinsetzen“, schlug Daniel vor und wies auf eine Holzbank unter einigen alten Eichen. Er blickte Lucy freundlich an. „Eigentlich sollte ich Ihnen das nicht antun. Es ist zu früh. Sie stehen sicher noch unter Schock.“

„Das wird sich wohl so bald nicht ändern.“

Nach einem fast unmerklichen Kopfnicken ging er zur Bank und setzte sich.

„Möchten Sie mir erzählen, was man Ihnen gesagt hat?“ fragte er, als sie, neben ihm Platz nahm.

Lucy schüttelte den Kopf. „Nein“, flüsterte sie. „Das kann ich noch nicht.“

„Natürlich nicht“, stimmte Daniel ihr voller Mitgefühl zu.

Sie sah zu, wie er den Deckel seines Pappbechers abnahm und einen Schluck trank. Er blickte auf und bemerkte, dass sie ihn beobachtete. „Sie sollten Ihren Kaffee trinken. Zumindest ist er warm.“

Mit zittrigen Fingern entfernte sie den Deckel. Die heiße Flüssigkeit schwappte über und rann ihr über die Hand.

„Ganz ruhig“, sagte er und hielt vorsichtig ihren Arm fest.

Eine Weile herrschte Schweigen. Dann begann er, mit tiefer, leicht heiserer Stimme zu sprechen.

„Eloise, meine Frau, hatte von Geburt an einen Herzfehler. Sie hätte niemals … ich hätte niemals …“

Lucy wartete. Zum ersten Mal konnte sie jetzt seinen Schmerz spüren. Dieser Mann verstand genau, was sie empfand, denn er durchlebte denselben Albtraum. Niemand anders konnte nachvollziehen, wie es ihr ging.

Er begann wieder zu sprechen. „Eloise hatte sich immer Kinder gewünscht.“ Er senkte den Blick und malte mit dem Schuh ein Muster in den Sand. „Aber Monat um Monat verging, und sie wurde einfach nicht schwanger.“

Lucy trank einen Schluck von dem bitteren Kaffee und wartete, während Daniel nach den richtigen Worten suchte. „Damals wussten wir noch nichts von ihrem Herzfehler.“ Er blickte die Bäume an. „Später erfuhren wir es. Und man sagte uns, dass sie keine Kinder bekommen dürfe, denn das sei ‚ein erhebliches Risiko‘ für sie. Eloise war untröstlich. Ohne Kinder würde in ihrem Leben immer etwas fehlen, meinte sie. Ich habe versucht …“

Lucy kannte den übermächtigen Wunsch nach einem Baby, das endlose Warten, Monat um Monat, und das Gefühl, das eigene Kind jedes Mal aufs Neue zu verlieren. Sie hätte gern etwas gesagt, um Daniel zu trösten.

„Schließlich stimmte ich einer künstlichen Befruchtung zu. Als Eloise schwanger wurde, war sie überglücklich. Sie konnte es kaum erwarten, das Baby zu bekommen.“ Er straffte sich. „Aber beim Kaiserschnitt gab es Komplikationen. Eloise starb bei Abigails Geburt.“

Darauf war Lucy nicht vorbereitet. Wieder begann ihre Hand zu zittern. „Das tut mir schrecklich Leid“, sagte sie voller Mitgefühl.

„Abby ist mein ganzer Lebensinhalt.“ Er ließ den Kopf sinken.

Es war deutlich zu sehen, wie schwer das alles auf ihm lastete. Seine Frau war bei der Geburt eines Kindes gestorben, das nicht seins war. Doch er liebte seine Abby. Genauso, wie sie, Lucy, Chloë liebte.

„Wie haben Sie herausgefunden, dass Abby …“, ihre Stimme stockte, als sie den ungewohnten Namen aussprach, „… dass Abby nicht Ihr leibliches Kind ist?“

„Sie hat eine Blutgruppe mit …“

„Mit negativem Rhesusfaktor. Ich erinnere mich, dass Dr. Shorrock es erwähnte.“ Sie lächelte ihm traurig zu. „Auch ich habe diese Blutgruppe.“

„Hätte ich es doch niemals herausgefunden.“ Daniel erwiderte ihren Blick. „Ich liebe Abby mehr als alles andere auf der Welt. Auch wenn sie nicht meine leibliche Tochter ist, gehört sie mehr zu mir als zu irgendjemandem sonst.“

Er verstummte, als wäre ihm plötzlich eingefallen, mit wem er sprach. Doch es machte Lucy nichts aus, denn sie wusste, dass Abigail bei Daniel sicher und geborgen war. Die Liebe zu ihr spiegelte sich auf seinem Gesicht.

Sicher und geborgen. So merkwürdig es war, auch sie fühlte sich in der Gegenwart des fremden Mannes so. Ihre Panik war schon ein wenig abgeklungen. Der Schmerz dagegen war noch so stark wie vorher. Doch wenn Lucy Daniel ansah, glaubte sie, dass sie es überstehen würde.

„Das kann ich gut nachempfinden“, sagte sie leise. „Ich liebe Chloë auch sehr.“

In seinen Augen standen Tränen. „Chloë“, wiederholte er. „Das ist ein wunderschöner Name.“

„Sie ist auch wirklich besonders hübsch. Ein unglaubliches kleines Mädchen.“ Lucy stand auf und warf ihren leeren Pappbecher in einen ausgebrannten Mülleimer. „Sollen wir ein bisschen spazieren gehen?“

„Ja.“ Sie schlenderten den Weg entlang, der über den Rasen führte.

„Abigail ist aber auch ein sehr hübscher Name.“

„Er bedeutet ‚Vaterfreude‘. Sie sollte wissen, dass ich ihr keine Vorwürfe machte, weil Eloise gestorben war.“ Er zuckte die Schultern. „Damals erschien mir das wichtig.“

Wieder wurde Lucy klar, wie sehr er gelitten haben musste, als seine Frau bei der Geburt gestorben war. Michael zu verlieren, war sehr schmerzlich gewesen, doch zumindest hatte sie sich nicht schuldig fühlen müssen. Daniel machte sich offensichtlich schwere Vorwürfe, weil er der künstlichen Befruchtung zugestimmt hatte. Trotz des furchtbaren Verlustes hatte er daran gedacht, seiner kleinen Tochter einen Namen zu geben, der ihr zeigte, wie sehr sie geliebt wurde. Er musste ein ganz besonderer Mensch sein.

„Sieht Abigail mir ähnlich?“ fragte sie unwillkürlich und drehte sich zu ihm um. Der Wind wehte ihr das Haar übers Gesicht.

„Ein bisschen. Sie hat dieselbe Haarfarbe. Aber vor allem hat sie die gleiche Art, sich zu bewegen.“

Lucy war ein wenig verlegen, weil der fremde Mann sie so aufmerksam ansah. Sie senkte den Blick.

„Und Chloë?“

„Ja“, erwiderte sie schnell. „Sie haben eine ähnliche Gesichtsform, ähnliche Hände …“ Ihr war bis zu diesem Moment gar nicht klar gewesen, dass sie seine Hände betrachtet hatte. Doch es stimmte: Chloë besaß dieselben langen, schlanken Finger. Lucy hatte sie von Anfang an besonders schön gefunden. „Künstlerhände“, hatte Michael immer dazu gesagt.

„Ich möchte sie kennen lernen.“ Daniels Stimme war sanft, doch seine Worte trafen sie wie ein Schlag.

„Nein!“

„Möchten Sie Abigail denn nicht auch sehen?“

Lucy ließ seine Worte auf sich wirken, ohne etwas zu erwidern.

„Wollen Sie wirklich darauf verzichten, sie kennen zu lernen?“ Er schwieg einen Moment. „Ob es uns gefällt oder nicht: Andere Menschen werden Entscheidungen für uns treffen. Als ich erfuhr, dass Abby …“ Er rieb sich den Nacken. „Mein erster Impuls war, es zu verschweigen und dafür zu sorgen, dass niemand von dem Irrtum erfährt. Abby sollte auch weiterhin nur zu mir gehören.“

Lucy spürte deutlich, wie sehr er an seiner kleinen Tochter hing. Sie sah ihn an, und sein eindringlicher Blick hielt ihren gefangen.

„Aber das dürfen wir nicht tun, keiner von uns! Die beiden Mädchen haben ein Recht darauf, ihre Herkunft zu kennen. Für Chloë könnte das noch wichtiger sein als für Abby.“

Ein Schauder lief ihr über den Rücken, als sie verstand, was Daniel damit sagen wollte. „Könnte sie Eloises Herzerkrankung geerbt haben?“

„Das ist möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich.“

Lucy wandte sich ab, als sie erneut von Panik ergriffen wurde. „Ich … ich halte das nicht aus.“

„Wir müssen.“ Daniel nahm sie beim Arm. „Unsere Töchter sind erst sechs Jahre alt und noch viel zu klein, um damit fertig zu werden. Aber wir beide sind erwachsen, also ist es unsere Aufgabe.“

Er hielt sie sanft fest, so dass sie nicht weglaufen konnte. Lucy kam es vor, als würde die Wärme seiner Hand ihr Kraft geben. Sie drehte sich wieder zu ihm um und flüsterte: „Ich habe Angst.“

„Wenn ich Ihnen reinen Gewissens sagen könnte, dass alles gut wird, würde ich es tun. Aber ich weiß nur eins: Ich werde alles unternehmen, um Chloë und Abby vor den möglichen Konsequenzen zu beschützen. Um Aufsehen zu vermeiden, werde ich auch die Klinik nicht verklagen.“

Seine Worte eröffneten ihr einen ganz neuen Aspekt der Situation. Lucy hatte bisher noch keine Zeit gehabt, um über die weiteren Folgen nachzudenken. Dr. Shorrocks defensiver Tonfall war ihr nicht entgangen. Sie hatte ihn jedoch als Ausdruck seiner Verlegenheit gedeutet. Natürlich konnten sie die Klinik wegen Fahrlässigkeit verklagen. Aber was würde dann passieren? Eine tragische Verwechslung in einer Klinik – das war doch geradezu ein gefundenes Fressen für die Boulevardzeitungen.

Dann dachte Lucy an Chloë, ein aufgewecktes, fröhliches kleines Mädchen, das unter dem Verlust seines Daddys schon mehr als genug litt. Sie hatte viel zu wenige Erinnerungen an den Mann, der sie die ersten fünf Jahre ihres Lebens so geliebt hatte.

„Ich will auch kein Aufsehen.“

Daniel entspannte sich und ließ ihren Arm los. „Bestimmt wird auch das Gericht alles tun, um die Mädchen zu beschützen. Sie sind ja noch so klein … Natürlich möchte ich Ihnen und Ihrer Familie nicht alles noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist. Aber wir können auch nicht so tun, als wäre nichts passiert. Vermutlich werden wir unterschreiben müssen, dass wir auf sämtliche Rechtsansprüche hinsichtlich unserer leiblichen Kinder verzichten.“

Lucy runzelte die Stirn und versuchte, seinen Worten zu folgen. Daniel hatte mehr Zeit gehabt, sich mit der Situation auseinander zu setzen.

„Trotzdem möchte ich Chloë kennen lernen“, fuhr er fort. „Ich hätte gern ein Foto von ihr und einen Brief zu Weihnachten. Meine leibliche Tochter soll wissen, dass ich sie sehr lieb gehabt hätte und für sie da sein werde, wann immer sie mich braucht.“ Seine Aufrichtigkeit war deutlich zu spüren. „Sie wünschen sich für Abby doch sicher dasselbe, stimmt’s?“

Für das kleine Mädchen, dem sie nie begegnet war? „Ja“, erwiderte Lucy leise. „Das tue ich.“

„Meiner Meinung nach sind die beiden noch zu jung, um alles zu erfahren. Bitte erlauben Sie mir, Chloë gelegentlich zu sehen. Ich möchte nur mit ihr reden und sie ein wenig kennen lernen.“

„Und was ist mit Abby?“

Autor

Natasha Oakley
<p>Auf die Frage „Was willst du denn werden, wenn du groß bist?“ hatte Natasha Oakley schon in der Grundschule eine Antwort. Jedem, der es hören wollte, erzählte sie, dass sie einmal Autorin werden würde. Ihr Plan war es, zu Hause bei ihren Eltern in London, wohnen zu bleiben und sich...
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