Mit Vollgas ins große Glück

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Langsam wandert sein Blick von ihrem Po weiter nach oben, als sie vor ihm die Treppe hinaufsteigt. Niemals hätte Taylor Stiles gedacht, dass er in diesem kleinen Dorf mitten im Nirgendwo auf eine so faszinierende Frau wie Shelby treffen würde. Leider ist sie auch seine Chefin und sehr kratzbürstig – eine ganz besondere Herausforderung für einen Mann wie Taylor …


  • Erscheinungstag 25.12.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512398
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Etwas leuchtend Rotes auf dem Parkplatz direkt vor der Tür der Praxis ließ Dr. Shelby Wayne aufsehen. Das musste der berüchtigte Arzt sein, den ihr Onkel ihr angekündigt hatte – und nur sechs Stunden zu spät.

Neugierig spähte sie durch das staubige Fenster auf das elegante Sportwagencabrio. In diesem Teil von Westtennessee besaß niemand so ein schickes Auto. Hier fuhr man große Trucks und keine noblen Karossen.

Den Babysitter für Onkel Genes neuestes Projekt spielte sie nicht gerade gern. Aber da sie wirklich dringend Hilfe in der Praxis brauchte, konnte sie ihn auch nicht einfach zurück nach Nashville schicken. Für zwei Wochen kostenlose medizinische Hilfe würde sie sich ein Bein ausreißen, um ihrem Onkel entgegenzukommen. Wenn sie es richtig anstellte, könnte sie diesen Arzt vielleicht davon überzeugen, dass seine Fähigkeiten hier in Benton dringender gebraucht wurden als dort, wo er im Moment arbeitete.

Um die Praxis zu erhalten, musste sie schleunigst Hilfe finden.

Sie warf einen Blick auf das Klemmbrett, um zu sehen, wer ihr nächster Patient war, und suchte dann im Wartezimmer nach Mrs Stewart. Die liebenswerte, alte Frau war schwerhörig, darum wollte sie gerade auf sie zugehen, als es im Zimmer plötzlich ganz still wurde und alle aus dem Fenster schauten.

Gebannt sah auch Shelby zu, wie ein Mann aus dem Sportwagen stieg. Durch das Fenster begegneten sich ihre Blicke, und Shelby stockte der Atem.

Dann musterte er die Läden der beinahe menschenleeren Einkaufsmeile. Hätte sie seinen verächtlichen Blick nicht bemerkt, hätte sie ihn als „gefährlich attraktiv“ eingestuft.

Wie kam er dazu, so zu tun, als wäre Benton unter seinem Niveau? Nach dem Tod ihres Mannes Jim war es die beste Entscheidung gewesen, weiter hier zu wohnen und zu arbeiten. Ihre Eltern hatten sie gedrängt, wieder in ihre Heimatstadt zu ziehen und dort zu praktizieren, doch sie hatte entschieden, dass sie hierhergehörte. Hier hatten Jim und sie sich ein Heim geschaffen. Und während sie trauerte, hatten die Einwohner von Benton sie bedingungslos unterstützt. Hier fühlte sie sich sicher.

Aufmerksam beobachteten die wartenden Patienten, wie der Mann auf die Eingangstür zuging und daran zog. Allerdings stand sein Auto so weit auf dem Fußweg, dass es die Tür blockierte.

Shelby unterdrückte ein Kichern. Er hinterließ bei den Einheimischen im Wartezimmer wirklich einen bemerkenswerten ersten Eindruck. Heute Abend würde jeder davon gehört haben. Das war das Gute an einer Kleinstadt, obwohl es auch das Schlimmste sein konnte. Jeder wusste alles. Bei einem Unglücksfall unterstützten Freunde und Nachbarn, aber es ließ sich auch niemand die Gelegenheit entgehen, den neuesten Tratsch zu verbreiten.

Leise fluchend drehte sich der Mann um und ging zu seinem Auto zurück, öffnete die Fahrertür und stieg genauso elegant wieder ein, wie er ausgestiegen war, blieb aber mit einem Fuß auf dem Gehweg. Dann ließ er den Motor an. Die Praxisfenster vibrierten leicht, als er mit dem Wagen zurücksetzte, bis der Fußweg wieder frei war. Sofort schaltete er den Motor wieder aus, stieg aus und knallte die Tür zu.

Mit langen Schritten ging er erneut auf die Praxistür zu. Allein daran, wie er sie aufriss, merkte man deutlich, dass er verärgert war.

Freundlich lächelte Shelby ihn an, er sollte nicht denken, sie lachte ihn aus. „Sie müssen Dr. Stiles sein. Ich hatte Sie schon vor Stunden erwartet.“

„Sind Sie Dr. Wayne?“

Sie reichte ihm die Hand. „Dr. Shelby Wayne.“

Er schüttelte ihre Hand. „Ich hatte eigentlich einen Mann erwartet. Taylor Stiles.“

Sein Griff war fest, warm und trocken. Kein lascher, feuchter Händedruck, wie sie ihn von einem schick gekleideten Großstadtarzt mit protzigem Auto erwartet hätte.

„Tut mir leid, Sie zu enttäuschen“, antwortete Shelby mit einem Hauch von Sarkasmus.

„Wenn ihr beiden jungen Leute damit fertig seid mit Flirten …“ Mrs Stewart warf Taylor Stiles einen vielsagenden Blick zu. „… könnte sich dann vielleicht einer um meinen Ischias kümmern?“

Taylor blinzelte verblüfft.

Amüsiert räusperte sich Shelby. Die forsche alte Frau war ihr sehr ans Herz gewachsen. „Natürlich, Mrs Stewart. Sie sind die Nächste.“ Shelby reichte Dr. Stiles das Klemmbrett. „Rufen Sie den nächsten Patienten unter Mrs Stewarts Namen auf und bringen Sie ihn in Behandlungsraum zwei.“ Sie deutete den kurzen Flur entlang. „Ich komme sofort, nachdem ich mich um Mrs Stewart gekümmert habe.“

Dr. Stiles zog leicht eine Augenbraue hoch, nahm aber das Klemmbrett entgegen. Er war es wohl nicht gewöhnt, Anweisungen zu bekommen. Trotzdem rief er den kleinen Greg Hankins auf, während sie Mrs Stewart in Behandlungsraum eins begleitete.

„Ziemlich versnobt, der Neue, aber trotzdem sehr attraktiv“, bemerkte Mrs Stewart, als sie im Behandlungszimmer auf einem Stuhl Platz nahm.

„Ich schätze, da haben Sie recht“, antwortete Shelby, während sie die Krankenakte der Vierundsiebzigjährigen durchblätterte.

„Man hat Ihnen deutlich angesehen, dass Sie es auch bemerkt haben. Doc Shelby, Sie müssen wieder anfangen zu leben. Es sind jetzt drei Jahre. Ihr Jim ist tot, aber Sie nicht.“

Die Erinnerung daran war wie ein schmerzhafter Stich ins Herz. Sie hatte nichts mehr tun können. Obwohl sie nicht weit hinter Jim gewesen war, hatte sich sein Truck bereits um einen Baum gewickelt, als sie den Unfallort erreichte. Nichts, was sie versucht hatte, stoppte die Blutungen. Es war schrecklich gewesen. Und der Geruch nach Blut … Jetzt, drei Jahre später, tat sie alles in ihrer Macht Stehende, um seinen Traum zu erfüllen, indem sie die Praxis am Laufen hielt. Die Leute in Benton brauchten die medizinische Versorgung und sie das Gefühl, gebraucht zu werden.

„Mrs Stewart …“ Shelby lächelte ihre Patientin freundlich an. „… eigentlich soll ich mich hier um Sie kümmern und nicht umgekehrt.“

„Nun, junges Fräulein, ich habe aber das Gefühl, dass Sie sich vernachlässigen, also muss ich das wohl tun.“

„Darf ich erst Sie untersuchen, bevor wir uns um mich kümmern?“ Sie setzte ihr pinkfarbenes Stethoskop auf und hörte die Brust ihrer Patientin ab.

„Sie denken nur an die Praxis. Aber jetzt, wo Dr. Kildare hier ist, können Sie vielleicht auch ein wenig Spaß haben“, murrte die alte Frau.

„Dr. Kildare?“

„Ja, das war einer dieser gut aussehenden Fernsehärzte, aber vor Ihrer Zeit. Dieser neue Arzt erinnert mich an ihn, so groß und dunkelhaarig und attraktiv.“

Shelby lachte. „Mrs Stewart, Sie sind mir vielleicht eine. Sie kennen ihn doch gar nicht, und ich eigentlich auch nicht. Außerdem wird er nur ein paar Wochen aushelfen.“

„Schon, aber Sie könnten in der Zeit etwas Spaß haben. Genießen Sie Ihr Leben.“

Sanft tätschelte Shelby den Arm ihrer Patientin. „Für Sie werde ich es versuchen, versprochen.“

Diesmal hatte Taylor es gründlich vergeigt. Der Richter war nicht von seinem Urteil abzubringen gewesen; gemeinnützige Arbeit in einer ländlichen Gegend. Dabei hatte ihn sein Anwalt davor gewarnt, sich mit dem Richter anzulegen. Wenn er nicht so einen Bleifuß hätte, wäre er jetzt in Nashville, in seinem schönen, modernen Traumazentrum statt in einer Stadt wie Benton. Vor Jahren war er aus einer ähnlichen Stadt geflüchtet und nie dorthin zurückgekehrt.

Taylor hob den für sein Alter großen Zweijährigen auf den metallenen Untersuchungstisch. Wo fand man heutzutage noch medizinische Ausrüstung aus den 1950ern?

Die schmale, zerbrechlich wirkende Mutter des Jungen stellte vorsichtig eine braune Papiertüte auf den Boden. Sie erinnerte Taylor an seine eigene Mutter – erschöpft von der Arbeit und traurig.

„Was stimmt denn nicht mit Greg?“, fragte Taylor sie, während er das zappelnde Kind festhielt.

Früher war er selbst einmal wie dieser kleine Junge gewesen, schmutzig und bekleidet mit abgelegten Sachen aus der Kleiderkammer der Kirche. Für einen Moment ließ ihn die Erinnerung daran erstarren, dann schob er sie resolut beiseite. Seit Jahren hatte er nicht mehr über seine traurige Kindheit nachgedacht, und da würde er bestimmt jetzt nicht damit anfangen.

„Ich glaube, er hat etwas in seiner Nase. Wir werden warten, bis Doc Wayne es entfernen kann.“

Sie vertraut mir nicht. Das gefiel Taylor überhaupt nicht. Schließlich arbeitete er in einem angesehenen Krankenhaus, und sie stellte seine Fähigkeiten infrage.

„Nun, ich kann mir das ja schnell mal ansehen, okay?“ Taylor setzte sein professionellstes Lächeln auf und suchte dann nach dem Otoskop, das eigentlich an der Wand hätte hängen sollen. „Äh, entschuldigen Sie mich, ich muss eine Lampe finden.“

„Dort, in der Schublade, liegt eine kleine Taschenlampe.“ Die Frau deutete auf den Beistellwagen aus Metall neben ihm.

Taylor zog die Schublade auf und fand, was er brauchte, ebenso wie Einmalhandschuhe. Er schaute in die Nase des Jungen. „Da ist es ja. Im linken Nasenflügel. Ich glaube, es ist eine Limabohne. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich sie entferne? Dr. Wayne wird noch eine Weile beschäftigt sein.“

„Ich denke, das geht in Ordnung“, antwortete die Mutter gleichgültig.

„Ich muss nur …“

„Dieses große Pinzettenteil steckt in dem Becher auf dem Wagen“, erwiderte die Frau trocken.

„Wie oft war Greg denn schon mit diesem Problem hier?“, fragte Taylor, als er nach dem Instrument griff.

„Das ist das dritte Mal in zwei Wochen.“

„So oft?“ Taylor nickte nachdenklich. „Greg, lehn dich ein wenig zurück und halt still.“ Mit einem sanften Ruck entfernte er die Bohne und entsorgte sie zusammen mit den Handschuhen im Mülleimer.

„Okay, junger Mann, das war’s.“ Er hob den Jungen vom Tisch und stellte ihn wieder auf die Füße.

Als hätte Taylor einen Knopf gedrückt, begann der Junge zu schreien und zu weinen. Seine Mutter nahm ihn auf den Arm. „Shh, was ist denn los, Liebling? Hat dir der Doktor wehgetan?“

Toll, jetzt macht sie dem Kleinen Angst vor mir.

„Lutscher, ich will einen Lutscher“, jammerte das Kind.

Taylor ahnte etwas. „Hat ihm Dr. Wayne jedes Mal einen Lutscher gegeben, wenn sie ihm etwas aus der Nase entfernt hat?“

Die Frau nickte.

„Greg“, sagte Taylor so streng, dass der Junge aufhörte zu weinen. „Wenn du dir eine Woche lang nichts in die Nase steckst, kommst du mit deiner Mutter her und bekommst den Lutscher. Verstehst du mich?“

Der Junge nickte zustimmend und steckte sich seinen schmutzigen Daumen in den Mund.

„Gut, dann sehen wir uns nächste Woche.“

Als sie das Behandlungszimmer verließen, reichte die Mutter Taylor die braune Papiertüte, die sie so vorsichtig behandelt hatte. „Ihre Bezahlung.“

„Danke.“

Während Mutter und Kind über den Flur zum Wartezimmer gingen, öffnete Taylor die Tüte. Darin lagen sechs braune Eier. Schnell schloss er die Tüte wieder. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie seine Mutter aus Geldmangel ihre Putzdienste als Gegenleistung für die medizinische Versorgung ihrer Kinder angeboten hatte. Von allen Orten, wo der Richter ihn hätte hinschicken können, warum ausgerechnet hierher?

„Wo ist mein Patient?“, fragte Dr. Wayne und sah an ihm vorbei in den Behandlungsraum.

„Gegangen.“

„Wohin?“

„Ich habe ihn untersucht und dann nach Hause geschickt.“

Verärgert straffte sie die Schultern, wodurch ihre Brust vorgestreckt wurde. Den Anblick hätte er gern genossen, wenn ihre grauen Augen nicht so verärgert gefunkelt hätten.

„Das war nicht das, was ich Ihnen aufgetragen hatte.“

„Ich bin Arzt und habe einen Patienten behandelt. Punkt.“

Ruhiger als ihr Gesichtsausdruck vermuten ließ, sagte sie: „Kommen Sie bitte mit in mein Büro.“

Abrupt drehte sie sich um und ging zum Ende des Flurs. Erst vor ihrer Bürotür bemerkte sie, dass er keine Anstalten machte, ihr zu folgen. Wütend blitzte sie ihn an.

Obwohl es ihm gar nicht passte, wie ein Schulkind ins Büro des Direktors zitiert zu werden, musste sich Taylor wohl mit ihrem herrischen Verhalten abfinden. Der Richter hatte ihm unmissverständlich klargemacht, entweder die Praxis oder Gefängnis.

„Ich komme schon, Dr. Wayne“, entgegnete er ironisch.

Nachdem er das Büro betreten hatte, schloss sie die dünne Tür hinter ihm. „Dr. Stiles, Sie kommen nicht sechs Stunden zu spät in meine Praxis und tun, was Ihnen gefällt. Wären Sie pünktlich gewesen, hätte ich Ihnen das Praxisprotokoll erklären können.“

Ihr glattes, haselnussbraunes Haar reichte ihr bis auf die Schulter und bewegte sich leicht, als sie sprach. Für Taylor sah sie aus wie eine niedliche Studentin. Obwohl ihre praktische, schwarze Hose und die weiße Bluse ihre Figur nicht gerade betonten.

„Mir ist egal, warum Sie hier sind, ich erwarte, dass Sie meine Anweisungen befolgen.“

Für wen hielt diese Frau sich eigentlich? Vorsichtig stellte Taylor die Tüte mit den Eiern auf den Tisch und stützte sich dann auf der Tischkante ab. „Und ich lasse mich nicht zur Krankenschwester degradieren. Ich bin Chefarzt der Unfallchirurgie in einem großen Krankenhaus in Nashville. Sie haben in dieser kleinen, altmodischen Praxis garantiert nur mit wenigen Problemen zu tun, bei denen Sie mir die Hand halten müssen. Mir gefällt es genauso wenig, hier zu sein, wie es Ihnen gefällt, mich hier zu haben, aber ich kann Ihnen versichern, ich bin ein guter Arzt. Ohne dass ich eine Wahl hatte, sind Ihre Patienten für die nächste Zeit auch meine Patienten, also würde ich vorschlagen, wir kümmern uns um das volle Wartezimmer.“

Verdutzt öffnete und schloss sie ihren Mund, und Taylor genoss es, dass er sie zum Schweigen gebracht hatte. Wenn man die letzten Minuten betrachtete, würden die nächsten Wochen nicht langweilig werden.

Dieser unmögliche Arzt rief bereits seinen nächsten Patienten auf, als Shelby wieder zur Besinnung kam und ihm aus dem Büro und den Flur hinunter folgte. Er brachte sie völlig durcheinander. Wie sollte sie die zwei Wochen überstehen, wenn sie ihn ständig vor der Nase hatte?

Außerdem, was dachte er, wer sie war? Die Arztpraxis gehörte ihr. Sie war ihr und Jims Traum gewesen. Später würde sie ihm klarmachen, wer hier das Sagen hatte. Aber für den Moment hatte dieser selbstherrliche Arzt recht, es warteten Patienten auf sie.

Der Nachmittag verging, und ihr Kontakt zu Dr. Stiles beschränkte sich auf ein gelegentliches Aufeinandertreffen im Flur. Leider war der so schmal, dass sie sich zwangsläufig streiften, wenn sie aneinander vorbeigingen. Jetzt bedauerte sie, nicht darauf bestanden zu haben, beim Umbau der Räume den Flur zu verbreitern.

Als sie sich das erste Mal berührten, spannte sich ihr Körper wie eine Harfensaite und kribbelte. Sie redete sich ein, dass es nur daran lag, weil sie wütend auf ihn war. Das nächste Mal sah er mit seinen dunklen Augen auf sie hinunter und fragte: „Wo ist eigentlich die Krankenschwester?“

„Ich habe keine. Normalerweise hilft mir eine junge Frau, aber sie ist heute krank.“

„Wirklich?“, erwiderte er erstaunt. Für einen Moment schien sie in seinem Blick Bewunderung zu entdecken. Sie war nicht sicher, warum, aber ihr gefiel die Vorstellung, dass er von etwas beeindruckt war, das sie tat.

Als er endlich weiterging, fühlte sie sich wie nach einem heißen Bad – erhitzt von Kopf bis Fuß. Zum Glück schaffte sie es, ihm danach aus dem Weg zu gehen.

Schluss mit diesen Gedanken! schimpfte Shelby insgeheim mit sich, als sie sich bückte, um verschütteten Saft aufzuwischen. Sie wünschte, sie könnte statt Hose und Bluse ein hübsches Sommerkleid zur Arbeit tragen, aber da sie hier auch putzen musste, wäre das einfach unpraktisch gewesen.

Nachdenklich warf sie einen Blick auf das rote Auto, das vor der Praxis parkte. Mit dem Geld, das es gekostet hatte, hätte sie die Praxis über Wochen am Laufen halten können. Trotzdem wäre sie unheimlich gern eingestiegen, hätte sich die Haare vom Wind zerzausen lassen und für eine Weile ihre Sorgen vergessen. Seufzend nahm sie stattdessen den Fensterreiniger. Leider hätten alle ihre Sorgen bei ihrer Rückkehr hier auf sie gewartet.

Schritte erklangen, und schnell machte Shelby Platz für den letzten Patienten des Tages. „Wie geht es Ihnen, Mrs Ferguson?“, fragte sie die blasse, übergewichtige Frau.

„Mir würde es besser gehen, wenn Sie nicht zu beschäftigt gewesen wären, mich zu untersuchen“, beschwerte die Patientin sich.

„Warum denn das? Hat sich Dr. Stiles nicht gut um Sie gekümmert?“ Er würde heute noch nach Hause fahren, wenn er Mrs Ferguson aufgeregt hatte.

„Ich mag es nicht, wenn mich fremde Ärzte untersuchen“, schimpfte die.

Erleichtert, dass es nur daran lag, beobachtete Shelby, wie Taylor näherkam. Mrs Stewart hatte recht, er sah wirklich gut aus, aber sie interessierten ausschließlich seine Fähigkeiten, und an denen konnte sie wirklich nichts aussetzen. Er hatte mitangepackt, das musste sie ihm lassen. Viele der Patienten hatten zuerst gezögert, sich von ihm untersuchen zu lassen, und erst vorsichtig zugestimmt, als sie hörten, wie lange sie hätten warten müssen, um von ihr untersucht zu werden. Insgeheim freute sich Shelby, dass die Patienten lieber von ihr behandelt werden wollten.

„Dr. Stiles hilft nur bis zum Ende des Monats aus.“

„Gut“, entgegnete Mrs Ferguson und balancierte ihre riesige Tasche auf ihrer ausladenden Hüfte. „Dann wird wieder alles so, wie es war.“

„Sprechen die Damen über mich?“ Dr. Stiles gesellte sich zu ihnen und lächelte Mrs Ferguson an.

Kannte das Ego dieses Mannes eigentlich Grenzen? „Nein.“ Ihr Tonfall bestätigte ihm nur, dass sie genau das getan hatten.

Und das Funkeln in Taylors Augen sagte ihr deutlich, dass er es auch wusste. „Kommen Sie, ich bringe Sie nach draußen, Mrs Ferguson.“

Überrascht sah sie ihn an. „Ich schätze, das geht in Ordnung.“ Die Frau umklammerte mit ihren dicken Fingern ihre Tasche und ging schwerfällig zur Tür.

Während Taylor seiner Patientin in ihr Auto half, putzte Shelby weiter das Fenster. Eine Sommerbrise zerzauste sein braunes Haar, als er zur Praxis zurückkam. Fühlte es sich so weich und seidig an, wie es aussah?

Bei dem Gedanken schüttelte Shelby über sich selbst den Kopf und rieb besonders gründlich über einen Fleck auf dem Glas. Dank Taylors Hilfe war es heute leichter gewesen, aber sie konnte es sich nicht leisten, sich daran zu gewöhnen. Er würde nicht lange bleiben. Außerdem brachte er sie viel zu leicht auf die Palme. Heute Abend musste sie ihm die Grundregeln klarmachen. Das war ihre und Jims Praxis. Sie hatte das Sagen.

Shelby trat nach draußen, um die andere Fensterseite zu putzen, als er die Tür erreichte.

„Eine mürrische, alte Dame und ein Herzinfarkt, der nur darauf wartet zuzuschlagen“, sagte er und rieb sich über sein stoppeliges Kinn.

Erst jetzt bemerkte sie die dunklen Ringe unter seinen Augen. Er wirkte müde. „Ich weiß, aber sie kann einfach nicht auf Kohlenhydrate verzichten“, erwiderte sie.

Shelby sprühte Reiniger auf das Fenster und putzte weiter. Hinter ihr verfärbte sich die Sonne rosa über den sanft geschwungenen Hügeln in üppigem Sommergrün. Es wurde bald dunkel.

„Ich bin erledigt. So, wie ich es verstanden habe, kann ich bei Ihnen wohnen?“, fragte Taylor, als er die Tür öffnete.

„Ja, wenn ich hier fertig bin, können wir fahren.“

„Haben Sie keinen Putzdienst?“

„Sicher doch. Manchmal übernimmt das Carly, meine Empfangskraft, wenn sie nicht gerade ein Date hat, was eigentlich immer der Fall ist.“ Sie warf ihm einen verstohlenen Seitenblick zu. Er stand mit den Händen in der Hosentasche da und sah sie ungläubig an.

„Aber Sie putzen doch nicht alles allein nach Feierabend?“

„Dr. Stiles …“

„Taylor. Nach Feierabend denke ich, können wir uns duzen.“

Irgendwie erschien es ihr kleinlich, abzulehnen. „Taylor, das ist eine staatlich unterstützte Praxis, und die Förderung ist nicht gerade üppig – ich muss ständig den Bedarf nachweisen. Da stecke ich lieber jeden Dollar in die Patientenversorgung.“

Taylor warf einen Blick in den Raum mit den Wasserflecken an der Decke und den bunt zusammengewürfelten Stühlen. Shelby klang stolz, aber er sah nur einen armseligen Ort, der alles repräsentierte, was er nur zu gern hinter sich gelassen hatte. Er konnte gar nicht schnell genug in sein hervorragend ausgestattetes Krankenhaus zurückkehren. Resigniert fragte er: „Wo steht das Putzzeug?“ Wenn er bald etwas Schlaf bekommen wollte, konnte er genauso gut helfen.

„Warum?“

„Ich dachte, ich helfe.“

„Ich schaffe das schon.“

War sie so ein Kontrollfreak, dass sie alles selbst machen musste? „Es geht schneller, wenn ich helfe.“

„Gut, da hast du recht. Die Sachen stehen im Schrank in meinem Büro.“

Taylor ging über den Flur und holte den Eimer mit dem Putzzeug. So einen Plastikeimer hatte seine Mutter auch gehabt, wenn sie die Häuser anderer Leute putzte. Sie hatte sechs Tage die Woche gearbeitet, und selbst damit hatten er und seine beiden Brüder nicht immer Kleidung und etwas zu essen gehabt. Sein betrunkener Vater …

„Wenn du mir das gibst, übernehme ich die Toilette. Ich möchte schließlich nicht, dass du dir deine schönen Schuhe dreckig machst“, spottete Shelby.

„Oh, das ist schon längst passiert. Der kleine Jack Purdy hat sich schon vor Stunden darauf übergeben.“

Sie verzog das Gesicht. „Das tut mir leid.“

„Gehört zum Job. Ich wische, dann können wir los.“

„Gut, ich komme dann morgen etwas eher und kümmere mich um die Behandlungsräume.“

Gab es irgendwas, um das sie sich nicht kümmerte?

Dreißig Minuten später schloss Shelby die Tür hinter ihnen ab und schob den Henkel ihrer Tasche auf ihrer Schulter nach oben. „Folg mir einfach.“

Noch bevor sie ihren uralten, schwarzen Pick-up auf dem Parkplatz erreichte, hatte er bereits ausgeparkt und wartete. Er beobachtete, wie Shelby einstieg. Sie war vielleicht klein, besaß aber ein starkes Rückgrat.

Das jammernde Geräusch ihres Anlassers und dass sie frustriert auf das Lenkrad schlug, bedeuteten wohl, dass er ihr anbieten sollte, sie mitzunehmen. Taylor fuhr zu ihr und hielt vor dem Truck. „Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?“

Sie beugte sich aus dem geöffneten Fenster. „Ja, sosehr ich es auch hasse, das zuzugeben.“

„Liegt es daran, dass du mit mir fährst, oder daran, dass der Truck nicht startet?“

„An beidem.“ Mit einem ironischen Lächeln stieg sie aus dem Auto, nahm ihre Tasche und kam zu seiner Beifahrerseite.

Als der Richter ihn hierzu verdonnerte, hatte er keine Ahnung gehabt, was ihn erwartete, aber niemals hätte er damit gerechnet, hier, in diesem kleinen Ort im Nirgendwo, jemanden zu finden, der so clever, stur und überraschend faszinierend war. Warum war sie hier?

Taylor beugte sich hinüber und öffnete die Beifahrertür für sie. „Gib mir das.“ Er deutete auf ihre Tasche, und Shelby reichte sie ihm. „Was hast du denn da drin?“, fragte er neugierig, als er sie hinter ihren Sitz stellte.

„Krankenakten.“ Sie stieg ein.

„Wie lange hast du heute gearbeitet? Zwölf Stunden? Und jetzt noch Papierkram? Hast du kein Leben?“

„Die Praxis ist mein Leben.“

Nachdenklich musterte er sie. „Das sehe ich.“

Mit schmalen Augen sah sie ihn an. „Park morgen bitte nicht direkt vor der Tür. Manche Patienten wie Mrs Ferguson können nicht so weit laufen.“

Ergeben hob er eine Hand. „Okay, ich wurde adäquat gerügt. Wo lang?“

„Runter vom Parkplatz und dann nach links auf die Hauptstraße. Ich wohne nicht weit von hier.“

Warum wunderte ihn das nicht? Das Einzige, worauf er sich je so konzentriert hatte, war, so schnell wie möglich aus einer Stadt wie dieser zu verschwinden. Die Medizin war sein Weg gewesen, das Ziel zu erreichen. Er verzog den Mund. Ironischerweise hatte sie ihn auch wieder zurückgebracht.

„Nach dem weißen zweistöckigen Haus links abbiegen. Mein Haus ist das dritte auf der rechten Seite.“

Er bog in die mit Bäumen gesäumte Straße mit gepflegten Häusern und perfekt getrimmten Rasen ein. Viele Nachbarn genossen draußen den kühlen Abend und unterhielten sich, während die Kinder spielten. Vor einem anderen Haus mähte jemand den Rasen.

„Reine Vorstadtidylle“, murmelte Taylor.

„Darum habe ich auch hier mein Haus gekauft. Ich wollte an einem Ort wohnen, wo die Nachbarn miteinander sprechen und sich helfen, wo Kinder sicher spielen können.“

Sein Magen verkrampfte sich. Langsam atmete er aus, als er in Shelbys gepflasterte Auffahrt einbog. Das rote Backsteinhaus war im Ranchstil gebaut, mit einer separaten zweistöckigen Holzgarage, an deren Außenseite eine Treppe nach oben führte.

„Du wohnst dort.“ Shelby deutete auf die Garage, als er den Motor ausstellte.

„Ich wohne hier?“ Als wäre die Arbeit in der provisorischen Praxis nicht schon schlimm genug, diese Nachbarschaft würde ihn umbringen. „Bei dir?“

„Nicht bei mir. Eigentlich vermiete ich die Wohnung, aber im Moment ist sie frei.“

Sie sah über die Schulter zu ihren Nachbarn, die sie von der Straße aus beobachteten, bevor sie sich wieder zu ihm umdrehte und ihn frech anlächelte. „Du hast den Nachbarn schon ein Gesprächsthema geliefert. Hier in Benton sehen wir solche Autos nicht oft.“

„Vermutlich nicht.“ Verärgert presste Taylor die Lippen zusammen. Seine ganze Jugend über war er Tratschthema gewesen. Wenigstens sprachen diese Leute nicht in Bezug auf den stadtbekannten Alkoholiker über ihn.

Ihr Lächeln verblasste, als sie seinem Blick begegnete. „Weißt du, wenn du nicht möchtest, dass die Leute über dich reden, solltest du nicht so extravagant leben.“ Sie öffnete die Tür und stieg aus, bevor sie nach ihrer Tasche griff.

Zeigte er seine Gefühle so deutlich? Dabei hatte er jahrelange Übung darin, sie zu verstecken. Wie konnte ihn diese Frau, die er erst seit ein paar Stunden kannte, durchschauen?

Autor

Susan Carlisle
<p>Als Susan Carlisle in der 6. Klasse war, sprachen ihre Eltern ein Fernsehverbot aus, denn sie hatte eine schlechte Note in Mathe bekommen und sollte sich verbessern. Um sich die Zeit zu vertreiben, begann sie damals damit zu lesen – das war der Anfang ihrer Liebesbeziehung zur Welt der Bücher....
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