Mitgiftjäger wider Willen

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Heiraten? Ein Graus! Die hübsche Cassie zeigt sich von ihrer frechsten Seite, um die Mitgiftjäger abzuschrecken. Aber was sie diesen Herbst auch ausheckt: Einen Mann scheint sie nicht zu vergraulen, sondern zu bezaubern. Peter, Viscount Townend, wirbt beharrlich um sie …


  • Erscheinungstag 02.05.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733716844
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Major Anthony Lyndhurst

lädt für den 30. September 1819

herzlich zu einer House Party

nach Lyndhurst Chase

u. A. w. g.

September 1819

„Ich muss dich um einen Gefallen bitten, Peter“, sagte Benedict Townend, Marquis of Quinlan, zu seinem ältesten Sohn. „Die Sache ist verdammt ärgerlich, aber nicht zu ändern. Es gibt keinen anderen Ausweg, und ich kann es nicht selbst erledigen. Der Alkohol, du weißt schon.“ Leicht angeekelt deutete er mit einer Flasche süßen Weins auf seinen Schritt. „Schlecht für die Männlichkeit. Macht verflucht schlapp.“

Peter, Viscount Townend, stellte die weiße Einladungskarte aus edlem Papier wieder auf den Kaminsims des Gesellschaftszimmers, auf dem bereits all die anderen Einladungen aufgereiht waren, die zur Teilnahme an den letzten Festivitäten und gesellschaftlichen Höhepunkten der Saison aufforderten. Noch immer war der Marquis of Quinlan in einigen Häusern willkommen, obwohl sich seine Angewohnheit, den Weinkeller des Gastgebers leer zu trinken, längst herumgesprochen hatte. Allerdings nahm er seit geraumer Zeit keine Einladungen mehr an und verließ nur noch ganz selten das Haus.

Peter drehte sich zu seinem Vater um. Er war tief in seinen Lehnstuhl neben dem marmornen Kamin gesunken. Seine rechte Hand lag auf dem Griff eines abgenutzten Gehstocks, während er mit der Linken den Flaschenhals umfasste. Er verzichtete auf ein Weinglas und kippte die Flasche alle paar Minuten gegen seine leicht geöffneten Lippen. Er trug einen Morgenmantel, auf dem Jagdszenen abgebildet waren, und sein zerzaustes Haar war schon lange nicht mehr mit einem Kamm in Berührung gekommen.

Die Aufmachung des Marquis passte auf erschreckende Weise zu den dekadenten Wandmalereien, dem Reigen nackter Putti und mäßig bekleideter Schäferinnen. Weder Quinlan House noch sein Besitzer waren für einen verfeinerten Stil bekannt.

Peter hingegen kleidete sich elegant und maßvoll, als ob er unbewusst gegen die Ausschweifungen des Vaters rebellierte. Er trug einen strengen dunkelblauen Gehrock und helle Pantalons und wirkte inmitten des barocken Prunks wie ein Fremdkörper.

„Mein Mitgefühl ist Ihnen gewiss, Sir“, erwiderte Peter höflich. „Aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen könnte.“

„Du musst eine reiche Erbin heiraten“, erklärte der Marquis und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab. „Heiraten, die Braut ins Bett legen, die Ehe vollziehen …“

„Ich verstehe, Sir“, unterbrach Peter seinen Vater, um ihn an weiteren Ausführungen zu hindern. „Sie haben diese Bitte bereits vor einiger Zeit ausgesprochen.“

„Diesmal bitte ich dich nicht, ich befehle es dir“, fuhr ihn der Marquis gereizt an. „Ich will kein ewiges Hin und Her! Die Sache muss baldmöglichst in trockenen Tüchern sein.“

Peter musterte ihn nachdenklich. Sein Vater wich den Blicken bewusst aus und konzentrierte sich ganz darauf, mit zittriger Hand die Falten seines Morgenmantels zu glätten. Wie immer verspürte Peter eine Mischung aus Abscheu und tiefem Mitleid. Seit Jahren trank der Marquis of Quinlan sich ins Grab und stellte seinen Besitz dem Untergang anheim.

Das Ausmaß des Problems war Peter erst bewusst geworden, als er vier Jahre zuvor aus dem Krieg zurückgekehrt war. Der körperliche Verfall seines Vaters hatte ihn furchtbar erschreckt. Doch all seine Bemühungen, den Marquis von der Flasche fernzuhalten, erwiesen sich als vergeblich. Um den Entwöhnungsprozess zu unterstützen, hatte er verschiedene Ärzte kommen lassen, die sich einen Ruf als Experten erworben hatten. Aber der Marquis hatte sie alle rasch abgefertigt, indem er rundheraus erklärte, dass ihm seit dem Tod von Peters Mutter nichts mehr bedeute als sein Weinkeller und er keinesfalls beabsichtige, daran etwas zu ändern.

Peter versuchte, ruhig zu bleiben. „Warum auf einmal diese Eile, Sir?“

Unruhig rutschte der Marquis auf dem Sessel hin und her, als ob er auf heißen Kohlen säße. Er hob die Flasche, bemerkte, dass sie leer war und ließ den Kopf auf die Brust sinken.

„Bank … Hypothek … Aufkündigung … keine weiteren Kredite …“, waren die einzigen Wörter, die Peter aus dem undeutlichen Gemurmel seines Vaters heraushören konnte, aber sie reichten ihm völlig aus, um den Ernst der Lage zu erkennen. Der Marquis of Quinlan war bankrott.

„Wie viel?“, fragte Peter leise.

Der Marquis wand sich und stöhnte, gab aber immerhin eine verständliche Antwort. „Dreißigtausend.“

Im Geiste verdoppelte Peter die Zahl, um eine halbwegs realistische Einschätzung zu haben. Er verzog keine Miene. Als Erbe des verarmten Marquisats war ihm klar gewesen, dass die Aussicht auf seinen Titel eines Tages im Austausch für das Vermögen einer Dame zu Markte getragen würde. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass er zu diesem Schritt mit solch rücksichtsloser Hast getrieben werden würde. Dazu gab es nicht mehr viel zu sagen. Sein Vater hatte sein Erbe den Bach hinuntergehen lassen, und sofern er noch irgendetwas davon retten wollte, musste er unverzüglich heiraten.

Triumphierend zog der Marquis eine weitere Flasche unter dem Tischchen aus Walnussholz hervor und hob sie in die Höhe, als wollte er ein Prosit ausrufen. „Kein Grund zur Sorge, mein Junge. Du musst nicht lange herumpirschen, denn ich bin bereits für dich fündig geworden! Eine besonders fette Taube habe ich dir ausgesucht, du brauchst nur noch dein Gewehr herauszuholen und …“

„Bitte ersparen Sie mir Ihre Jagdmetaphern, und kommen Sie zur Sache“, schnitt ihm Peter das Wort ab. Und spöttisch fügte er hinzu: „Wer ist die Glückliche, die Sie für mich auserwählt haben?“

„Es ist Anthony Lyndhursts Cousine“, erwiderte der Marquis. „Nimm direkt den Ehevertrag mit meiner schriftlichen Einwilligung mit, dann kann alles geschwind erledigt werden, und keine Anstandsdame wird dir Hindernisse in den Weg legen.“

Peter starrte auf die weiße Einladungskarte auf dem Kaminsims, deren schwarze Buchstaben bereits sein unausweichliches Schicksal anzukündigen schienen. Lyndhursts Cousine. Er runzelte die Stirn und versuchte, sich an die Lyndhurst-Familie zu erinnern.

„Ich wusste gar nicht, dass Anthony Lyndhurst noch enge weibliche Verwandte hat“, sprach er langsam. „Ich dachte, der Earl of Mardon und sein Bruder, dieser William Lyndhurst-Flint, seien seine nächsten Angehörigen.“

„Cousine ersten oder Cousine zweiten Grades, was macht das für einen Unterschied?“ Der Marquis zuckte mit den Schultern, wodurch das wilde Muster seines Morgenmantels in Bewegung geriet. „Dieses Mädchen ist reich wie Krösus. Das ist das Einzige, was zählt.“

„Und hat sie auch einen Namen, Sir?“, erkundigte sich Peter mit einem bitteren Unterton in der Stimme.

Der Marquis hielt inne und wirkte ein wenig aus dem Konzept gebracht. „Einen Namen? Da es üblich ist, wird sie wohl einen haben. Nur dass er mir jetzt, verflucht noch einmal, nicht einfällt.“ Er trank einen Schluck Wein. „In der Familie Lyndhurst gibt es viel böses Blut und Schändlichkeit, aber das ist nicht zu ändern. Für ein Vermögen von einhunderttausend Pfund würde ich auch meinen Segen geben, wenn du den Teufel persönlich heiraten würdest.“

„Sehr großzügig von Ihnen, Sir“, murmelte Peter. Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Einhunderttausend Pfund. Das war eine gewaltige Summe.

Mit diesem Vermögen konnte er die Quinlan-Ländereien auf Vordermann bringen. Die neuesten agrarwirtschaftlichen Ideen, für die er sich so begeisterte, ließen sich damit in die Tat umsetzen. Es war eine verlockende Vorstellung. Früher war sein Vater ein guter Grundherr gewesen, bevor er der Trunksucht anheimfiel. Seitdem hatte er sich nicht mehr um die Landwirtschaft und um seine Besitztümer gekümmert.

„Ein Zeitvertreib für Landadlige“, hatte der Marquis abgewinkt, als Peter ihn dazu bewegen wollte, dass er selbst die vernachlässigte Wirtschaft von Quinlan auf Vordermann brachte. „Das ist alles schön und gut für Landbarone, aber keine Beschäftigung für einen Viscount. Lass es gut sein.“

Nach dieser Unterredung hatte Peter getan, was in seiner Macht stand, um wenigstens die Not der Pächter zu lindern. Dabei war ihm bewusst, dass sein Vater seine Einmischung missbilligte. Offenkundig wäre es dem Marquis weitaus lieber gewesen, wenn sein Sohn sich in der Stadt verlustiert, Frauen verführt und keinen Handschlag getan hätte, um den Familienbesitz zu retten, der durch schlechte Bewirtschaftung und lasterhafte Verschwendung völlig heruntergekommen war. Müßiggang schien in den Augen seines Vaters für einen verarmten Viscount das Angemessene zu sein.

Peters Vision von ländlichem Glück verschwand sofort wieder vor seinem inneren Auge. Niemals würde er diesen Traum mit dem Geld seiner künftigen Ehefrau verwirklichen. Vielleicht war er zu stolz, doch es ging ihm einfach gegen den Strich. Falls er eine Erbin heiratete, würde er so wenig wie möglich von ihrem Vermögen anrühren, lediglich die dringendsten Schulden begleichen und nur ein paar kleine Verbesserungen für die Bewirtschaftung der Quinlan-Ländereien einführen. Und selbst das widersprach im Grunde seinem Ehrgefühl.

„Ich weiß nicht, was du gegen die Lyndhurst-Familie einzuwenden hast“, sagte er, weil ihn die abschätzige Bemerkung seines Vaters wunderte. „Ich dachte, Anthony Lyndhurst sei ein hoch angesehener Mann.“

Der Marquis schnaubte verächtlich. „Der Mann hat seine Frau ermordet! Von Stil und gutem Benehmen kann da wohl nicht die Rede sein.“

Peter setzte eine finstere Miene auf. „Das ist völliger Unsinn, Sir“, widersprach er. Er hatte als junger Leutnant in Waterloo unter Major Lyndhurst gedient und mit eigenen Augen gesehen, wie selbstlos und tapfer der Major selbst unter heftigem Beschuss kämpfte. Es war lächerlich, ihm einen Mord zu unterstellen, nur weil seine Ehefrau unter rätselhaften Umständen verschwunden war.

Der Marquis verschüttete etwas Wein auf dem türkischen Teppich. „Kein Grund sich aufzuregen, mein Junge! Ich weiß, dass der Mann ein verdammter Kriegsheld ist. Ich habe nur das allgemeine Gerede wiedergegeben.“

„Dann bitte ich Sie, solche Bemerkungen künftig zu unterlassen, Sir“, forderte Peter ihn verärgert auf. „Zumindest, wenn Sie möchten, dass ich bleibe und den Brandy austrinke.“

Der Marquis lächelte halb betrunken, halb spöttisch. Mit dem Kopf deutete er in die Richtung von Peters unberührtem Glas. „Dann stärk dich mal schön. Du wirst es brauchen können.“

Peter verzog die Lippen. „Wieso das? Haben Sie etwa noch mehr böse Überraschungen für mich auf Lager?“

„Die Braut“, erwiderte der Marquis vage.

Peter zog die Augenbrauen hoch. „Was ist mit ihr?“

„Es kann sich bei dem Mädchen um keine sittsame Debütantin mehr handeln“, antwortete der Marquis unverblümt. „Sie muss schon in den Dreißigern sein, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie noch Jungfrau ist.“

Peter nahm einen großen Schluck Brandy. Obwohl der Weinbrand von ausgezeichneter Qualität war und ihm gut schmeckte, widerstand er dem Bedürfnis, sich direkt noch einen zweiten Schluck zu genehmigen. Die Lage seines Vaters hatte ihn im Umgang mit Alkohol vorsichtig gemacht.

„Und worauf gründet sich Ihre erstaunliche Einschätzung, Sir?“, erkundigte er sich betont gelassen.

Der Marquis blickte seinen Sohn an. „Der Ruf des Mädchens wurde vor Jahren ruiniert, als sie Pfeife rauchend bei einem Treffen von Radikalen erwischt wurde. Das hat vielleicht einen Aufschrei gegeben! Sie haben ihrer Gouvernante die ganze Schuld in die Schuhe geschoben, aber das Mädchen soll auch danach noch stur und eigensinnig geblieben sein.“

Peter unterdrückte ein Grinsen. Er musste zugeben, dass sowohl Pfeiferauchen als auch radikale Politik nicht zu den üblichen Beschäftigungen und Interessen einer Dame gehörten, aber daraus ließen sich aus seiner Sicht keine so abwertenden Schlüsse ziehen.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, Sir“, entgegnete er. „Aber in diesem Fall müssen Sie schon deutlicher werden. Was hat das Pfeiferauchen mit der Keuschheit und Reinheit einer Dame zu tun – beziehungsweise mit einem Mangel daran?“

Der Marquis warf ihm einen gereizten Blick zu. „Diese verfluchten Radikalen! Ungebildet, dumm und lasterhaft! Die sind alle durch und durch verdorben. Verstecken sich hinter Hecken und zetteln Revolutionen an! So etwas ist verdammt unbritisch!“

Beinahe hätte Peter belustigt aufgelacht. Sein Vater hatte immer sehr traditionelle politische Ansichten vertreten, dennoch erschien es ihm ungerecht, die Ehre seiner zukünftigen Frau auf der Grundlage solch fadenscheiniger Behauptungen anzugreifen.

„Natürlich steht es Ihnen frei, meine Braut schlecht zu machen, solange ich sie nicht kenne“, bemerkte er. „Aber selbst wenn Ihre Befürchtungen zutreffen, ist sie dem Teufel gewiss vorzuziehen.“ Er seufzte. „Wenigstens werden wir dank ihres Vermögens die Mittel haben, um eine bessere Belüftung zu finanzieren, um den Pfeifenrauch zu vertreiben.“

Der Marquis starrte ihn an. „Du bist verdammt herzlos“, knurrte er. „Fällt dir dazu nichts anderes ein?“

Peter zuckte mit den Schultern. „Wir haben kein Geld, ich bin gezwungen zu heiraten, und Sie haben eine Erbin für mich gefunden“, erwiderte er. „Was gibt es da noch zu sagen? Sobald ich herausgefunden habe wie die Dame heißt, werde ich mich mit Ihrem Einwilligungsschreiben nach Lyndhurst Chase auf den Weg machen.“ Er leerte sein Brandyglas. „Vermutlich sollte ich mich glücklich schätzen“, fügte er hinzu. „Man munkelt, Lyndhurst veranstalte die besten Jagden in Berkshire. Seine House Party wird wahrscheinlich sehr vergnüglich. Aber jetzt mache ich mich in den Club auf. Soll ich nach Sumner läuten, damit er Ihnen ins Bett hilft?“

Der Marquis sank wieder in seinen Lehnstuhl zurück. „Nein, du kannst ihn rufen, damit er mir eine neue Flasche aus dem Keller holt.“

Peter läutete nach dem Butler, verließ das Zimmer. Wenig später schritt er die Stufen von Quinlan House hinunter und trat auf den Grosvenor Square hinaus. Die Londoner Herbstluft umfing ihn mit ihrem rauchigen Dunst. Obwohl der gepflegte Platz aufwendig begrünt war, roch es nach Kohle und Abwasser. Peter schaute in den dicht bewölkten Himmel und sehnte sich nach der würzigen Frische reiner Landluft. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten wollte er noch etwas trinken. Nach dieser unerfreulichen Unterredung war ihm seine grundsätzliche Zurückhaltung beim Genuss von Alkohol ausnahmsweise egal. Er würde auf seine zukünftige Frau anstoßen. Verbittert dachte er daran, dass sein Vater ihn als herzlos bezeichnet hatte, während er selbst seinen Erben ohne Skrupel wie eine Ware zum Markt trug. Seine Familie stammte von Kaufleuten des 15. Jahrhunderts ab. Handel lag ihnen also im Blut. Da keine andere Möglichkeit bestand, musste er eben zum Mitgiftjäger werden.

Er lenkte seine Schritte in Richtung St. James. Wie sein Vater verschwendete er keinen einzigen Gedanken an die Gefühle der Lyndhurst-Braut. Dass sie möglicherweise mindestens ebenso wenig einen Wunsch verspürte, einen verarmten Viscount zu ehelichen wie er ein radikales älteres Mädchen, kam ihm nicht in den Sinn.

1. KAPITEL

Miss Cassandra Ward, entfernte Cousine von Anthony Lyndhurst of Lyndhurst Chase, Erbin von hunderttausend Pfund und Sympathisantin radikaler Ideen, klammerte sich an die bemoosten Äste einer Eiche, während sie versuchte, ein unansehnliches selbst gemachtes Spruchband mit einer Schnur zu befestigen. Knoten waren noch nie ihre Stärke gewesen.

„Brot für die Armen!“ stand in großen ungleichen Lettern auf dem Spruchband. Die grellen grünen und roten Buchstaben waren unordentlich auf den weißen Stoff genäht. Nähen gehörte genauso wenig wie das Binden von Knoten zu ihren Lieblingsbeschäftigungen.

Mehrere Buchstaben flatterten bereits im Wind. Die Nähte hatten sich gelöst, als Cassie beim Erklettern des Baumes mit dem Spruchband an spitzen Zweigen hängen geblieben war. Es begann zu regnen, und der Nieselregen durchweichte sowohl das Spruchband als auch ihre Kleidung. Dennoch war sie wild entschlossen, den Viscount Townend mit ihrer Protestaktion derartig zu empören, dass er seinen Kutscher anweisen würde, sofort zu wenden und nach London zurückzukehren. Sie durfte nicht zulassen, dass Anthony, John und dieser eingebildete Adlige einfach über ihr Schicksal bestimmten. Vielmehr beabsichtigte sie, bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr unverheiratet zu bleiben, denn dann konnte sie ganz allein über ihr Vermögen bestimmen. So viel zu Cassie Ward und ihrer Meinung über eine Hochzeit.

Selbstverständlich hatte Anthony ihr den Vorschlag unterbreitet, als habe sie die freie Wahl. Viscount Townend war zur House Party eingeladen worden, um Cassie kennenzulernen und damit die beiden sehen konnten, ob sie zueinander passten. Wie Anthony war er ein ehemaliger Soldat und wurde schon deswegen als geeignete Partie erachtet. Zwar übte man keinen Druck auf sie aus, doch Cassie war sich ihrer Lage sehr wohl bewusst. Da sie keine engen Familienangehörigen mehr hatte, stellte sie für ihre Cousins eine Last dar. Sie würden sich zweifellos glücklich schätzen, sie gut verheiratet zu wissen. Und ab und an, wenn sie in Ruhe darüber nachdachte, musste sie einräumen, dass sie durchaus ein Verlangen nach einem eigenen Zuhause und einer eigenen Familie verspürte. Allerdings hatte man ihr stets nur um des Geldes wegen den Hof gemacht, und bei Lord Quinlan verhielt es sich nicht anders. Er war ein Mitgiftjäger und sie verabscheute Männer von diesem Schlage.

Cassie spähte zwischen den gelb verfärbten Blättern hindurch, um zu sehen, ob sich die Kutsche des Viscounts näherte. Aus zuverlässiger Quelle wusste sie, dass er an diesem Nachmittag eintreffen sollte, auch wenn eine genaue Zeitangabe unmöglich war. Wenn sie Pech hatte, musste sie noch stundenlang oben im Baum hocken, obwohl ihr schon jetzt die Glieder wehtaten und ihr die Nässe unter die Kleider kroch. Unter diesen Umständen konnte sie den Anblick der Kupfer- und Goldtöne, in die der Herbst die Landschaft getaucht hatte, nicht genießen. Es wurde immer ungemütlicher. Der zunehmende Wind, der von den Hügeln kam, kündigte ein Gewitter an. Die hohen Gräser entlang des Wegs, der vom Dörfchen Lynd nach Lyndhurst Chase führte, bogen sich immer wilder hin und her. Sie fröstelte.

Plötzlich näherte sich ein Reiter. Cassie beugte sich vor, um herauszufinden, ob es sich um den Mitgiftjäger handelte. Die äußeren Anzeichen schienen ihr widersprüchlich. Das Pferd ließ sich leicht als erstklassiges und reinrassiges Zuchtpferd identifizieren. Seit Jahrhunderten wurden auf Lyndhurst Chase Pferde gezüchtet, und Cassie besaß dafür einen untrüglichen Blick. Andererseits wurde der Gentleman von keinem Reitknecht begleitet und führte auch kein Gepäck mit sich. Vielleicht ritt der Viscount voraus, und seine Kutsche folgte hinterher. Cassie hielt sich mit einer Hand an einem stabilen Ast fest und beugte sich noch weiter vor, um das Gesicht des Gentlemans sehen zu können.

Der Reiter zog nur fünfzehn Meter vor dem Baum die Zügel an, nahm den Hut ab und schüttelte das Regenwasser von der Krempe. Cassie versuchte, so viel wie möglich zu erkennen. Sie sah, dass er jung war – viel jünger als sie sich den Mitgiftjäger vorgestellt hatte. Er hatte dunkles Haar und breite Schultern und saß lässig im Sattel, wobei seine Hände locker die Zügel umfassten. Seine Stärke und Eleganz ließen sie unerwartet erschauern. Auch ihre Hände bebten. Ihre Finger glitten von der rauen Rinde, und sie fasste erschrocken nach dem Ast. Die Blätter raschelten. Der Gentleman war inzwischen weitergeritten und befand sich nun genau unter ihr, schaute hoch und blickte sie direkt an.

Jetzt, wo sie ihn ganz aus der Nähe betrachten konnte, musste sie einräumen, dass er wirklich gut aussah. Sie hatte nicht viele zuverlässige Informationen über Viscount Townend einholen können, aber die mageren Berichte besagten, dass er mindestens dreißig Jahre alt war. Er galt als ausschweifend, und man behauptete, er trüge Unterhemden aus Flanell. Cassie ging allerdings davon aus, dass sich die beiden letzten Attribute gegenseitig ausschlossen, denn welche Frau mit Verstand würde sich wohl von einem Mann mit Flanellunterwäsche verführen lassen? Der Gentleman zu Pferde konnte also logischerweise nicht der Viscount sein, weil er viel zu jung und attraktiv für einen dekadenten Adligen war.

Nachdenklich musterte sie ihn. Seine blauen Augen wirkten wachsam und klug, und sie stellte sich vor, wie schön seine maskulinen Züge aussehen würden, wenn er lächelte. In diesem Moment lächelte er allerdings nicht. Genau genommen schaute er sie durchdringend an. Dass er sie derart interessiert anstarrte, verwirrte Cassie. Sie schluckte, und trotz des schlechten Wetters und des kalten Windes überlief sie ein heißer Schauer.

Mit einem Mal fiel ihr wieder ein, warum sie sich auf dem Baum befand, und sie beschloss, kein Risiko einzugehen, falls es sich bei dem Fremden doch um Viscount Townend handelte. Engagiert schwang sie das Spruchband und rief: „Brot für die Armen!“ Der Slogan klang aus ihrem Munde eher wie ein leises Krächzen und nicht wie der entschlossene radikale Aufschrei, den sie ursprünglich im Sinn gehabt hatte. Sie war sich nicht einmal sicher, dass der Gentleman sie überhaupt gehört hatte. Mit zur Seite gelegtem Kopf betrachtete er das Spruchband.

Autor

Nicola Cornick
<p>Nicola Cornick liebt viele Dinge: Ihr Cottage und ihren Garten, ihre zwei kleinen Katzen, ihren Ehemann und das Schreiben. Schon während ihres Studiums hat Geschichte sie interessiert, weshalb sie sich auch in ihren Romanen historischen Themen widmet. Wenn Nicola gerade nicht an einer neuen Buchidee arbeitet, genießt sie es, durch...
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